Das Telefon beim Kinderschutzbund klingelt häufiger. Die vielen Missbrauchsfälle stimmen Eltern besorgt. Der Leiter der Beratungsstelle, Lothar Steurer, warnt nun davor, nur die Fälle der Vergangenheit zu sehen. Herr Steurer, täglich neue Meldungen über Misshandlung und Missbrauch. Heißt das auch, es ist derzeit schwer, einen Termin bei Ihnen zu bekommen? LOTHAR STEURER: Die telefonischen Anfragen besorgter Eltern oder Erzieher sind sprunghaft angestiegen. Es ist aber nicht so, dass wir im Augenblick deutlich mehr Beratungsgespräche haben. Was für Fragen stellen sie? STEURER: Ein Fremder fotografiert in den Kindergarten, wie sollen wir damit umgehen? Oder: Der Vereinstrainer meiner Tochter erzählt zotige Witze, ist das ein Übergriff? Ist es einer? STEURER: Ganz klar: Ja. Ein Übergriff liegt vor, wenn ein Erwachsener seine Macht über ein Kind ausnutzt, um sich sexuell zu erregen. Gewalt muss nicht im Spiel sein. Das kann ein erotischer Witz sein. Es ist die Reaktion des Kindes, die Pädophile erregt. Er lässt Zeitschriften mit anzüglichen Bildern liegen, vergisst im Schwimmbad, die Kabine zu verriegeln. Zufälle gibt es da nicht. Auch wenn nicht jeder Punkt strafbar ist - Übergriffe sind es. Wie kann ich mein Kind schützen? STEURER: Das Selbstbewusstsein eines Kindes stärken. Ein offenes Verhältnis zum Kind, Vertrauen und Fürsorge als Grundlage der Beziehung. Aufklären. Jungen und Mädchen sollten mit zwei, drei Jahren Bezeichnungen für Genitalien kennen und wissen: Da darf mich niemand einfach so anfassen. Falls doch, dann kann ich es zu Hause erzählen. Wird ein Kind nicht erst recht ängstlich, wenn man ihm sagt, was alles passieren kann? STEURER: Im Gegenteil. Die Phantasien der Kinder sind bei vagen Aussagen oft schlimmer. Wenn ich einem Kind sage: Er fasst dich zwischen den Beinen an, dann kann es damit umgehen. Für Mädchen und Jungen sind Genitalien zunächst einmal nur Teil des Körpers. Es gibt in der Öffentlichkeit eine größere Sensibilität. Und immer mehr Menschen trauen sich zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. . . STEURER: Natürlich ist es positiv, wenn die Gesellschaft genauer hinschaut. Doch einiges in der Diskussion bereitet mir Bauchschmerzen. Nämlich? STEURER: Etwa, dass die katholische Kirche stark im Fokus steht. Dabei gibt es Missbrauch in vielen anderen Institutionen und vor allem auch in den Familien. Ist die Kirche nur ein Sündenbock? STEURER: Jedenfalls dürfen wir das Problem nicht nur auf die katholische Kirche abschieben. Es ist immer auch notwendig, sich aktiv mit der eigenen Rolle und der eigenen Institution auseinanderzusetzen. Manch einer argumentiert nun, ein paar Watschn seien früher völlig normal gewesen. STEURER: Auch wenn wir heute wissen, wie sehr es die Würde eines Kindes verletzt: Züchtigungen und damit auch die Watschn galten in der Nachkriegszeit tatsächlich als gängige Erziehungspraxis. Tatzen vom Lehrer verschwieg man zu Hause, sonst setzte es dort noch was. Missbrauch und Misshandlungen, zum Beispiel Stockschläge, die blutige Striemen hinterlassen, waren aber auch vor 60 Jahren strafbar. In Deutschland ist es gerade erst zehn Jahre her, dass körperliche Züchtigung und entwürdigende Bestrafung von Kindern per Gesetz unter Strafe gestellt wurden. Auch das sollte man sich immer wieder bewusst machen. Warum melden sich gerade jetzt immer mehr Opfer zu Wort? STEURER: Traut sich einer, trauen sich andere, von ihrem Schicksal zu berichten. Damit dies geschieht, bedarf es immer einer gewissen öffentlichen Aufmerksamkeit. Außerdem wird Gewalt gegen Kinder seit einigen Jahren ganz anders betrachtet. Öffentlich über sexuellen Missbrauch zu sprechen, ist seit etwa 15 Jahren möglich. Davor war das Thema nicht nur tabu, den meisten Menschen war gar nicht bewusst, dass es diese Fälle gibt. Birgt das Bekanntwerden so vieler Fälle nicht die Gefahr, dass die Öffentlichkeit des Themas überdrüssig wird? STEURER: Deshalb darf nicht nur, wie im Augenblick, vor allem rückwirkend diskutiert werden. Auch hier und heute werden Kinder misshandelt, belästigt, missbraucht. In 80 von 100 deutschen Haushalten ist die Ohrfeige oder der Klaps in der Erziehung noch völlig normal. Es geht nun darum zu fragen: In welchen Strukturen findet Gewalt gegen Kinder statt? Welche Bedingungen müssen in Heimen, in Vereinen und Institutionen herrschen, damit es nicht zu Übergriffen kommt? Wie könnte das aussehen? STEURER: Ein richtiger Schritt ist, dass Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit von Mai an Mitarbeitern ein erweitertes Führungszeugnis abverlangen müssen. Für Kinder sollte klar festgelegt sein: Wo sind meine Rechte? Wer darf was von mir verlangen? An wen kann ich mich wenden, wo bekomme ich Hilfe? Derzeit gibt es zudem Überlegungen, über den Ulmer Stadtverband für Sport eine selbstverpflichtende Ethikcharta für die rund 300 Sportvereine nach dem Vorbild der Schweiz anzustoßen. Darin geht es um Regeln zu Themen wie Hilfestellung, Betreten der Umkleide- und Duschräume, Auswärtsübernachtungen und ähnlichem. Sie haben viele Anfragen von Eltern, Lehrern und Erziehern. Gibt es denn Reaktionen der hiesigen Sportvereine? STEURER: Nein.