В.З. Демьянков К вопросу о контрастивно-семантическом анализе эмоций (семантические деревни Гневливки в русском и немецком языках) (Опубликовано на немецком языке) Zur kontrastiv-semantischen Analyse von Emotionen Semantische Ärgerdörfer im Russischen und im Deutschen VALERIJ DEM’JANKOV (Moscow State University) Summary A contrastive-semantic analysis of lexical items denoting anger and similar emotions in German and in Russian is given in the framework of a model of lexical description in which syntactic, semantic, and pragmatic properties of lexical items are being exploited. Semantic village as a metalinguistic notion is a logical continuation of more traditional notions of ‘word family’ and ‘semantic field’. Lexical items, like people, ‘dwell’ in certain places, having ‘family resemblances’ to other items. They also have ‘occupations’ or ‘jobs’, which corresponds to pragmatics or word use in actual speech. Provenance of a lexical item corresponds to (lexical) derivation. Thus, a lexical item may be ‘rooted’ in one village, where its root(s) semantically belong(s), but dwell in another, being an emigrant, if its lexical meaning belongs to a different semantic village. Villagers are grouped in ‘collective farms’, which correspond to (pre)theoretical taxonomies found mostly outside linguistics, in our case, in folk-psychological and/or properly psychological theories of emotions. These organizational, or institutional, taxonomies do not necessarily coincide with linguistic classification based on actual linguistic behavior, or ‘jobs’, of lexical items. When the language in question and the extra-linguistic theoretical background of the ‘lexical institutions’ change, both evolution and revolutions are possible, e.g. when a relatively more democratic ‘lexical organization’, à la German Genossenschaft, is superceded by a totalitarian system like a Soviet kolkhoz, with its utter centralization, or vice versa. In these and similar terms, semantics may be said to be an analogue of dwelling place, and pragmatics, as opposed to semantics, corresponds to both, - travelling, i.e. change of actual use of a lexical item which either ‘lives’ outside its usual dwelling place (analogously to what happened during the Cultural Revolution in China, when intellectuals were sent to villages, mostly to be occupied in new, far less intellectual activities) or is temporarily ‘occupied’ outside its usual collective farm (business trip), and - relations between an actual lexical meaning of a word and its ‘inner form’, or between emigrants and their relatives. 1. Die Metapher des Feldes in der semantischen Metasprache 2. „Semantisches Dorf“ in der lexikalischen Semantik 3. Deutsches ‘Ärgerdorf’, russisches ‘Gnevlivka’ und ihre Einwohner 4. Semantische „Beschäftigungen“ 5. Konzept und Bedeutung im Rahmen des semantischen Dorfes 6. ‘Dorfarbeiten’ und Wortgebrauch 7. Semantik und Pragmatik im semantischen Dorf 8. Vergleichende Tabellen Literatur -96- 1. Die Metapher des Feldes in der semantischen Metasprache Metaphern werden in der linguistischen Metasprache sehr häufig gebraucht. In der lexikologischen Terminilogie finden wir z.B. solche Metaphern, wie ‘Feld’ (‘semantisches Feld’, ‘Wortfeld’, usw.), ‘Familie’ (‘Wortfamilie’, im Russischen ‘Wortverwandschaft’ – ‘rodstvennye slova’, besonders in der Schulgrammatik), ‘domain’, ‘province’ etc. Der Begriff ‘Wortfeld’ (Ipsen 1924, Jolles 1934, Porzig 1934, Trier 1934), obschon nicht der Terminus selbst, wurde, wie Geckeler (1971: 86) zeigt, schon Mitte vorigen Jahrhunderts gebraucht und kann auf Ideen von Humboldt (1836) und Herder (1772) zurückgeführt werden. Interessante historische Angaben darüber enthalten auch Kronasser (1952) und Lyons (1977). Ähnliche Begriffe sind auch in der Geschichte der russischen Sprachwissenschaft bekannt (vgl. Pokrovskij 1895). Der Streit um die Angemessenheit der genannten Metaphern entsteht besonders oft in der lexikalischen Semantik. Als Argumente für oder gegen den Gebrauch einer Metapher gelten die Analogien (bzw. das Fehlen von Analogien) zwischen dem außermetasprachlichen und dem metasprachlichen Bereich. So handelt es sich bei der Metapher ‘Feld’ z.B. um ein physikalistisches Bild – das Bild des Magnetfeldes, in dem Kräfte wirken und Eisenkörper angezogen werden. Entsprechend zieht das Wortfeld die Wörter zusammen. Feld bezeichent auch eine Landschaft, in der verschiedene Pflanzen wachsen. Man kritisiert diesen Begriff (eine Systematisierung der Kritikrichtungen der Wortfeldstheorie ist in Chu [1990: 11] enthalten), weil: - “die semantische Facettenvielfalt des Einzelwortes in den Hintergrund trat; man wandte sich vor allem bestimmten Beziehungen zwischen den ganzheitlich konzipierten Einheiten in ausgewählten Wortverbänden zu und arbeitete vorzugsweise die halbwegs generalisierbaren Aspekte des Wortschatzes heraus” (Hundsnurscher 1995: 347); - diese Metapher kaum vernünftige Modifikationen gestattet, die das Ausgangsbild nicht zerstören (Herbermann 1995: 288); - der Begriff ‘Wortfeld’ es nicht gestattet, chaotisch aussehende Gruppen von Lexemen zu charakterisieren: die Metapher ist nur für gut strukturierbare Lexemgruppen hilfreich, einerseits, und andererseits kann man nicht hoffen, eine einheitliche Darstellung des Lexikons im Ganzen als eine Organisation von Feldern zu erreichen (Ullmann 1953: 227). -97Eine Modernisierung des Begriffs ‘Wortfeld’ wurde im späteren Werk Weisgerbers angeboten (Weisgerber 1956/57: 70), und zwar der Begriff ‘Sinnbezirk’: „ein relativ selbständig erscheinender Ausschnitt aus dem sprachlichen Weltbild, wobei außerund innersprachliche Bedingungen bei der Umgrenzung zusammenwirken. [...] in jedem Sinnbezirk Ausprägungen aller genannten Formen sprachlichen Zugriffs, grammatisch gesprochen also inhaltlicher Bestimmtheit, antreffen“. 2. „Semantisches Dorf“ in der lexikalischen Semantik Unter anderem fehlt der Metapher des Feldes ein menschliches Gesicht. Im Zeitalter der physikalistischen Erklärungen (etwa bis Anfang der achtziger Jahre) versuchte man, von dem menschlichen Faktor zu abstrahieren. Alles in der linguistischen Beschreibung mußte als etwas automatisch vor sich Gehendes ausgelegt werden. Gelang dies nicht, mußte man eine alternative Erklärung finden. Menschen - wie auch alles, was mit ihrer Intentionalität verbunden ist unterscheiden sich jedoch vom rein Physikalischen durch den Willen, die Absichten. In der Wortfeldtheorie dürfen Elemente eines lexikalischen Feldes den Magnetkräften keinen oder nur geringen Widerstand leisten. Die Menschen hingegen sind nicht so: Sie haben eigene Prädispositionen, auch von ihren Vorvätern geerbte Bräuche und Sitten, sogar rein individuelle, unikale Eigenschaften. In diesem Sinn ist der Begriff ‘Familie’ etwas menschlicher: Familienmitglieder sind letzten Endes menschliche Wesen, und die Metapher entspricht etwas besser dem heutigen Akzent auf dem menschlichem Handeln in allen Sphären der menschlichen Existenz. Und so dürfen auch die Wörter schon etwas menschlicher werden: sie dürfen auch individuelle und unikale Eigenschaften besitzen, was jedoch ihre Angehörigkeit zu einer Gruppe nichtverwandter Wörter nicht ausschließt. In unserem Fall geht es um eine kontrastiv-semantische Analyse von Bezeichnungen von Emotionen. Nietsche kritisierte die Vergöttlichung der Emotionen als naiv: "In derselben Weise, in der jetzt noch der ungebildete Mensch daran glaubt, der Zorn sei die Ursache davon, daß er zürnt, der Geist davon, daß er denkt, die Seele davon, daß er fühlt, kurz, so wie auch jetzt noch unbedenklich eine Masse von psychologischen Entitäten angesetzt wird, welche Ursachen sein sollen: so hat der Mensch auf einer noch naiveren Stufe eben dieselben Erscheinungen mit Hilfe von psychologischen Personal-Entitäten erklärt. Die Zustände, die ihm fremd, hinreissend, überwältigend schienen, legte er sich als Obsession -98und Verzauberung unter der Macht einer Person zurecht. ... Man konkretisiert einen Zustand in eine Person: und behauptet, dieser Zustand, wenn er an uns auftritt, sei die Wirkung jener Person. Mit andern Worten: in der psychologischen Gottbildung wird ein Zustand, um Wirkung zu sein, als Ursache personifiziert" (Nietzsche 1887: 99-100). Aber genau diese naive Metapher, diese Vergöttlichung oder eher die Vermenschlichung der Emotion, halte ich für produktiv bei der kontrastiv-semantischen Analyse. Ich möchte etwas weiter gehen und gebrauche den Begriff ‘semantisches Dorf’, um die Bilder vom ‘Sinnbezirk’ (oder ‘conceptual domain’) einerseits und von der ‘Wortfamilie’ andererseits zu vereinheitlichen. Dabei bleibt auch der Begriff der Wortfamilie für uns relevant, und zwar in dem Sinn, „daß die Mehrzahl der Wörter in morphologischer Hinsicht komplex sind und daß die zwischen den Wortkonstituenten bestehenden Relationen sowie die darauf beruhenden Beziehungen zwischen den entsprechenden Wörtern wesentliche Strukturelemente darstellen" (Splett 1993: xiii). Die Metapher des semantischen Dorfes hilft uns, die Prozesse zu veranschaulichen, bei denen Wortderivation (teilweise auch Etymologie oder ‘innere Wortform’), Semantik und Pragmatik (Wortgebrauch) in einer kontrastiven lexikalischen Beschreibung zusammenwirken. Es handelt sich hier nicht um eine neue Theorie, sondern eher um eine Phänomenologie, ein Instrumentarium zur Beschreibung sprachlicher Phänomene. Dieses Instrumentarium kann im Rahmen ganz verschiedener semantischer und / oder pragmatischer Theorien gebraucht werden, je nach dem, wie man die metasprachlichen Metaphern interpretiert. 3. Deutsches ‘Ärgerdorf’, russisches ‘Gnevlivka’ und ihre Einwohner Als illustratives Material gebrauche ich Lexeme, die Emotionen, und zwar Ärger, Zorn, Wut usw., im Deutschen und im Russischen bezeichnen: Substantive Ärger, Ärgerlichkeit, Ärgernis, bešenstvo, dosada, gnev, Empörung, Entrüstung, Grimm, isstuplenie, jarost’, nedovol’stvo, Groll, Raserei, Unwille, Verdruß, negodovanie, neistovstvo, Wut, Zorn neudovletvorenie, neudovletvorennost’, neudovol’stvie, ozloblenie, razdraženie, serditost’, vozmuščenie, zloba, zlost’ -99Epitheta ärgerlich, aufbrausend, aufgebracht, empörend, empört, entrüstet, erzürnt, grimmig, verärgert, verdrießlich, verdroßen, wütend, zornig bešenyj, dosadnyj, dosadujuščij, gnevnyj, gnevlivyj, isstuplennyj, jarostnyj, nedovol’nyj, negodujuščij, neistovyj, neistovstvujuščij, neudovletvorennyj, (neudovletvoritel’nyj,) ozloblennyj, razdražennyj, raz`jarennyj, rasseržennyj, serdityj, vzbešennyj, vozmuščennyj, vozmutitel’nyj, zlobnyj, zlobstvujuščij, zloj Prädikate ärgern, aufbrausen, empören, entrüsten, erzürnen, grollen, verdrießen, wurmen, zürnen besit’, besit’sja, besnovat’sja, dosadovat’, dosaždat’, gnevat’sja, gnevit’, negodovat’, neistovstvovat’, ozlobljat’, rasserdit’sja, razdražat’, razdražat’sja, razgnevat’sja, raz`jarit’, raz`jarit’sja, serdit’, serdit’sja, razozlit’sja, vozmuščat’, vozmuščat’sja, voznegodovat’, vzbesit’sja, zlit’, zlit’sja, zlobstvovat’ Tabelle 1: ‘Dorfbewohner’ In einem gegebenen semantischen Dorf, in unserem Beispiel im ‘Ärgerdorf’, gibt es recht viele Einwohner, die aus verschiedenen Wortfamilien stammen. Dabei gibt es solche Dorfbewohner, die in diesem Dorf geboren sind (Wut, Zorn, Groll, Grimm). Es gibt aber auch Aussiedler, deren ‘Wurzeln’ (im linguistischen Sinn des Wortes “Wurzel”) in einem anderen Dorf (nicht unbedingt in einem benachbarten Dorf) zu finden sind, z.B.: Raserei, Ärger, Ärgerlichkeit, Ärgernis, Unwille. Im Unterschied zum Deutschen wohnen im russischen Ärgerdorf fast ausschließlich Aussiedler. Nur jarost’ kann - rein historisch gesehen - als alter Bewohner dieses Dorfes angesehen werden: jarost’: vom altruss. jarъ, jaryj "zornig", "unbarmherzig". Dieselbe Bedeutung hatten auch: jarъkyj, jaro - "unbarmherzig"; jarъ, jarost’ "Zorn" (im IE. bedeutete jôros wohl "brennend", "rasend", "rennend"). Ein anderer in der modernen Sprache sehr gebräuchlicher und sogar prototypischer Dorfbewohner gnev bedeutete im Altrussischen eigentlich „Eiter“, „Verfaultes“, „Vermodertes“ (vgl. im modernen Russischen gnil’, gnoj). Die ältere Bedeutung war wahrscheinlich mit dem Zustand eines Kranken verbunden, der mit Schorf, Grind, eiternden Wunden bedekt war. Daher die alte Bedeutung gnoj (Eiter) im "Paremejnik" 1271. Bezüglich der Herkunft der anderen russischen Ärgerdörfer sei noch folgendes bemerkt. -100negodovanie: synonym krajnee nedovol’stvo, vozmuščenie “Entrüstung”, “Unwille”, etymologisch von negodovat’ (im Altrus. seit 11 Jh. negodovati) “unzufrieden sein”, “Unzufriedenheit äußern”, auch “schwer vertragen”, “leiden”, “abschlagen (eine Bitte)”, “verweigern”; vgl. godovati “gestatten” (Stamm god wie in ugoždat’, ugodit’, godnyj). Die Bedeutung “gestatten” entwickelte sich wohl aus der Bedeutung “Vergnügen machen” (ugoždat’). Andere Bedeutungen erschienen erst später. In negodovat’ entstand die Bedeutung "Empörung empfinden" wahrscheinlich aus der Bedeutung ne ugoždat’ “nicht das Vergnügen machen”, woher auch "nicht gestatten" kommt. vozmuščenie: von mutit’ "undurchsichtig machen", vgl. altrus. mutъ, mutъvъ (im heutigen Russisch: volnenie, smjatenie). neistovstvo: Verneinung von istyj "wirklich", "echt", "eifrig", vgl. altrus. isto "Kapital". isstuplenie: der Zustand, in dem man "außer sich, außer seiner Existenz" ist. bešenstvo: von bes “Teufel”. razdraženie “Verdruß”: von draznit’ (mundartlich: dražnit’) "absichtlich jemanden wegen Kleinigkeiten aus der Fassung bringen"; Epitheta: bessil’noe “kraftlos”, boleznennoe “krankhaft”, bujnoe “tobend”, burnoe “rasend”, gluxoe “taub”, žgučee “verbrennend”, želčnoe “gallig”, zlobnoe “boshaft”, zloe “böse”, zloradnoe “schadenfroh”, molčalivoe “schweigend”, mučitel’noe “quälend”, nevol’noe “unwillkürlich”, neizlitoe “nicht ausgegossen”, nemoe “stumm”, neponjatnoe “unverständlich”, nervnoe / nervoznoe “nervös”. nedovol’stvo, neudovol’stvie: Verneinung von dovol’nyj "zufrieden", altrus. (seit dem 11 Jhdt.) dovъl’nyj und dovol’nyj, im modernen Russisch: dovol’nyj, dostatočnyj, udovletvorjajuščij razmerami “genügend”, “von genügender Größe”. neudovletvorenie: Verneinung von dovlet’ "genug sein, ausreichen"; Derivat von vol(ja) "Wille". zloba, zlost’, ozloblenie “Groll”, “Grimm”: im Altrus. "Sünde", "Verbrechen", "das Böse", "Feindseligkeit", von zloj’ (zъl` - zъlyj) "schlecht", "böse", "gemein". dosada: (im Altrus. "iniuria") von do + sadit’ (vgl. “jemandem zusetzen” pristavat’, dosaždat’ k.-l.) “Verdruß”; Epitheta: velikaja “groß”, vidimaja “bemerkbar”, vnutrennjaja “inner”, gluxaja “taub”, gnevnaja “zornig”, gor’kaja “bitter”, grustnaja “traurig”, žgučaja “verbrennend”, -101- žestokaja “unbarmherzig”, zlobstvujuščaja “wütend”, izlišnjaja “überflüssig”, koljučaja “stechend”, krajnjaja “extrem”, ljutaja “böse”, mimoletnaja “flüchtig”, minutnaja “minutenlang”, nevol’naja “unwillkürlich”, otkrytaja “offen”, revnivaja “eifersüchtig”, sil’naja “stark”, skrytaja “verborgen”, smutnaja “unklar”, strašnaja “unheimlich”, tajnaja “geheim”, tupaja “stumpf”, užasnaja “schrecklich”. 4. Semantische „Beschäftigungen“ Die Aussiedler können die von ihren Eltern geerbten Bräuche und Sitten mitbringen, z.T. auch ‘Kleider’ (Epiteta) usw. Für das Russische gilt dies aber nur begrenzt, und zwar für gnev: izlit’ gnev (wörtl.) “den Zorn ergießen” kann darauf zurückgeführt werden, daß gnev früher eine Flüssigkeit bedeutete (“Eiter”), die sich eines schönen Tages aus der Wunde ergießt (das russische ego prorvalo [wört.] “er hat es ausgegossen” kann unter anderem auch einen plötzlichen Zornausbruch schildern). Auf diese Weise sind verschiedene Verhältnisse zwischen der Derivation des Wortes einerseits und seinem ‘Wohnort’ andererseits auszulegen. Was hier unter Wohnort gemeint ist, kann in einigen modernen linguistischen Konzeptionen als Analogie für semantische Beschaffenheiten des Wortes betrachtet werden. Ein ‘Aussiedler’, d.h. ein Familienmitglied, das nicht in seinem Heimatdorf, also von seinen Eltern weit entfernt wohnt, verliert aber zu anderen Familienmitgliedern die Beziehungen nicht. Seine Eltern können ihn anrufen oder einen Brief schreiben, in dem sie ihn davor warnen, sich zu weit von den angeborenen Eigenschaften zu entfernen. Dadurch daß neben den Stammbewohnern in einem Dorf auch Aussiedler wohnen, entstehen auch Familienähnlichkeiten zwischen den etymologisch sehr verschiedenen Dorfbewohnern. Aber außer der Semantik (d.h., außer dem ‘Wohnort’) haben Lexeme auch pragmatische Aspekte: das, was das Wort im Sprachgebrauch leistet. (NB: in dieser Redeweise geht es offensichtlich um eine Übertragung: denn es ist so, daß die Menschen die Wörter gebrauchen und etwas leisten, und nicht die Wörter selbst.) Diesen Aspekt nenne ich ‘Dorfarbeiten’. Die Dorfarbeiten bezeichnen die Funktionen, die ein Dorfbewohner (z.B. Ärger, Wut, Zorn usw.) im Rahmen einer größeren Einheit hat. Eine der Arbeiten kann man mit dem Prädikat BE bezeichnen, und zwar, wenn man konstatiert, daß ein bestimmter emotionaler Zustand vorherrscht (vgl. ärgerlich / verärgert sein - byt’ nedovol’nym), eine andere als BECOME (ärgerlich werden - razdražat’sja / rasserdit’sja) usw. Die Zahl und der Bestand der -102Dorfarbeiten variieren von Dorf zu Dorf und entsprechen dem, was man ‘Bedeutungsposition’ (Hundsnurscher & Splett 1982) oder ‘meaning position’ (Weigand 1996) nennt. Man kann für diese Positionen universale metasprachliche Bezeichnungen finden; diese sind es, die E.Weigand ‘Bedeutungsposition’ nennt, d.h. universale Konzepte, die unabhängig vom Ausdruck in konkreten Sprachen sind (Weigand 1996: 157). Um Mißverständnissen vorzubeugen, könnte man ‘realisierte Bedeutungspositionen’ und ‘abstrakte Bedeutungspositionen’ unterscheiden oder, um die Metapher des Dorfes zu gebrauchen, ‘Dorfarbeiten’ und ‘Dorfbeschäftigungen’. Die Psychologen, die Emotionen definieren und voneinander abgrenzen, haben mit ‘Beschäftigungen’ in unserem Sinn zu tun. Bei einer empirischen kontrastiv-semantischen Analyse kann man aufgrund des vorhandenen sprachlichen Materials der zu vergleichenden Sprachen zuerst ‘Dorfarbeiten’ auflisten, dann aber eine Liste der ‘Beschäftigungen’ erstellen, als Ergebnis des Vergleichs von zwei oder mehreren Listen der ‘Arbeiten’. Sobald die Listen aufgestellt sind, kann man wieder von ‘Dorfarbeit’ sprechen, aber dann bedeutet dieser Terminus einen Begriff, im Rahmen dessen die Fakten aller zu vergleichenden Sprachen (und nicht nur einer Sprache) beschreibbar sind. 5. Konzept und Bedeutung im Rahmen des semantischen Dorfes Um Dorfarbeiten zu leisten, vereinigen sich die Dorfbewohner in ‘Genossenschaften’, die vortheoretische und theoretische (d.h. psychologische und philosophische) Ansichten des Forschers wiederspiegeln. Unter anderem spiegeln die Genossenschaften auch verschiedene Definitionen und Klassifikationen der Emotionen wieder. ‘Emotionen’ definiert man z.B. im Unterschied zu ‘Gefühlen’ als “ausschließlich dem Menschen verfügbare, mittels Sprache systematisch ausdrückbare spezifische Bedeutungen”, d.h. als “theoretische Beschreibungsgrößen der Linguistik” (Wallner & Costazza 1995: 40). Ryle glaubte, daß Emotion mindestens folgendes bezeichnet: ‘inclinations’ (oder ‘motives’), ‘moods’, ‘agitations’ (oder ‘commotions’) und ‘feelings’(Ryle 1949: 83). Auf der Basis von Gesichtsausdrücken, die auf Photos abgebildet sind, unterscheidet man sechs Emotionskategorien: Freude “happiness”, Überraschung “surprise”, Angst “fear”, Ärger “anger”, Trauer “sadness” und Ekel / Verachtung “disgust / contempt”, (Ekman, Friesen & Ellsworth 1982; vgl. Bänninger-Huber 1996: 40). -103Bei der Analyse von deutschen und russischen ‘Ärgerdörfern’ kommt man nach dem Modell von Weigand (“The Vocabulary of Emotion”, in diesem Band) zu folgenden fünf ‘Genossenschaften’: Empörung, Entrüstung negodovanie, vozmuščenie Raserei, Wut, Zorn gnev, neistovstvo, jarost’, isstuplenie, bešenstvo Ärger, Ärgerlichkeit razdraženie, neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’, serditost’ Groll, Grimm zloba, zlost’, ozloblenie Verdruß, Unwille dosada Figur 1: ‘Genossenschaften’ Diese und ähnliche mit Emotionen verbundene metapsychologische Nomenklaturen werden weiter auch linguistisch analysiert. Oft vertritt man die Meinung, daß „emotion concepts encoded in the English lexicon constitute a coherent and reasonably self-contained (though not sharply delimited) cognitive domain, with a characteristic and specifiable type of semantic structure” (Wierzbicka 1996: 178). Wenn man unsere vermenschlichende Metapher annimmt, muß man auch postulieren, daß die Emotionen in demselben Sinn kohärent (oder unkohärent) sein können, wie die Beziehungen zwischen den Leuten. Verschiedene wissenschaftliche Definitionen und Aufteilungen entsprechen auch verschiedenen Versionen von Genossenschaften. Die Entwicklung einer (in unserem Fall psychologischen) Konzeption entspricht einer Umgestaltung von Genossenschaften, die selbst verschieden flexibel, ‘demokratisch’ (oder umgekehrt, ‘totalitär’, à la sowjetische Kolchose) sein können. Zur Zeit gibt es sehr viele Theorien der Emotion (zur Aufteilung der Emotionen und insbesondere des ‘Ärgerdorfes’ in neuerer Literatur s. auch: Eckensberger 1996, Konstantinidou 1997, Dickie 1996, Lycan 1996, Magai & McFadden 1995, Runggaldier 1996, Harré 1994). Unter ihnen sind folgende Ansichten für uns von besonderem Interesse (Aylwin 1985: 130-133): I. Emotionen haben eine wichtige kognitive Komponente: - Sie enthalten Bewertungen und sind im Grunde genommen Mittel zur Repräsentation von Objekten, Ereignissen oder Ideen als Träger von Werten oder hedonistischen Tönen (Aquin, James etc.); -104- Objektiv dieselben Emotionen können auf verschiedene Weise interpretiert und sogar empfunden werden, je nach dem, welche Benennung sie haben, welche Ursache (oder Vorgeschichte) man ihnen zuschreibt; - Emotion bezieht sich auf das Bewußtsein: es geht bei den Emotionen nicht bloß um eine Motivation, Handlung, Gesichtsausdrücke usw., sondern um das Bewußtsein (“awareness”) von ihnen. Deswegen haben die Emotionswörter eine Referenz zu Empfindungen (“experiences”); - Emotionen lassen nichts ungeändert, sie können die ganze Welt transformieren (Heidegger, Sartre). II. Es gibt emotionale Primitive (“emotional primitives”). Obschon es eine große Zahl von Emotionswörtern in der Alltagssprache gibt, glaubt man, daß sie theoritisch auf eine recht kleine Anzahl reduziert werden können, und zwar: - eine kleine Zahl von verschiedenen fundamentalen Emotionen, wie Freude, Ärger und Angst (Izard 1977) oder - eine kleine Zahl von bipolaren fundamentalen Dimensionen, z.B. angenehm - unangenehm, Ruhe - Reiz usw. (Wundt 1902-1903) oder - strukturelle Kombinationen von den beiden Arten von primitiven Elementen, z.B. Freude und Kummer sind gegenübergestellt und verbinden sich miteinander nicht, aber Liebe und Sicherheit präsupponieren einander oder - einige komplexe Emotionen (wie Depression) sind Kombinationen entweder von fundamentalen Emotionen oder von Emotionen mit anderen Prozessen (Izard 1977). III. Emotionen tragen sozial relevante Informationen. IV. Obschon sie komplex sind, sind die Emotionen aber zur selben Zeit einheitliche Phänomene: - sie sind als ‘Gestalteb’ organisiert, in denen physiologische, kognitive und andere Merkmale ein integrales Ganzes bilden (Izard 1977); - die Beziehungen zwischen den Konstituenten in diesem Ganzen können aber auch sehr locker und individuell variabel sein, von emotionalen Systemen verschiedener Personen abhängig. Daraus folgt, daß die ‘Emotionsdörfer’ unter sich in bestimmten Beziehungen stehen und daß verschiedene menschliche Werte (angenehm, gut vs. unangenehm, schlecht) analogisch den Postboten die Dörfer verbinden. Verschiedene Emotionen sind (Parkinson 1995: ix-x) mit verschiedenen evaluativen Bewertungsdimensionen verbunden: so impliziert Zorn, daß es etwas gibt, was verurteilt werden muß. Das heißt, ‘Emotion’ ist mehr als Redeweise über menschliches Handeln. -105Daraus folgt zum einen, daß wir uns bei der linguistischen Beschreibung von Emotionen auf einem metapsychologischen Niveau befinden, zum anderen aber auch, daß die psychologischen Theorien mit bestimmten semantischen Positionen (d.h. ‘Beschäftigungen’ im obengenannten Sinn) verbunden sind: sogar ein Neuerer in der Psychologie darf beim Gebrauch der Terminologie (die in der Regel mit den Wörtern der Alltagssprache zusammenfällt) die semantischen Beschäftigungen nicht vernachlässigen. Sonst wird er von anderen nicht (oder nicht immer) richtig verstanden. Im Ärgerdorf definiert man den Zustand der Wut wie folgt (vgl. Kernberg 1992/97: 36): der grundlegende Affektzustand, der die Aktivierung von Aggression in der Übertragung kennzeichnet. Gereiztheit ist ein leichter aggressiver Affekt, der das Potential für Wutreaktionen anzeigt und als chronische Gestimmtheit in Form von Reizbarkeit auftritt. Ärger ist ein intensiver Affekt als Gereiztheit und gewöhnlich differenzierter in seinem kognitiven Inhalt und in der Art der dabei aktivierten Objektbeziehung. Eine voll ausgeprägte Wutreaktion mit ihrem überwältigenden Charakter, ihrer diffusen Art und dem "Verschwimmen" spezifischer kognitiver Inhalte und entsprechender Objektbeziehungen kann irrtümlicherweise zu der Vorstellung verleiten, es handele sich dabei um einen "reinen" primitiven Affekt. In der Praxis zeigt die Analyse der Wutreaktion aber - genauso wie die anderer intensiver Affektzustände - eine dahinterstehende bewußte oder unbewußte Phantasie mit einer spezifischen Beziehung zwischen einem Aspekt des Selbst und einem Aspekt eines bedeutsamen Anderen. Man darf nur begrenzt die Meinung akzeptieren, daß Emotionen in erster Linie nonverbal ausgedrückt werden (vgl.: Thomas 1996: 43). The affective component is displayed primarily through non-verbal behavior, which is an extremely rich notion that ranges over voice (quality, intonation, and flow of speech), facial expression (including eye movement), body posture, and timing of behavior (words and deeds). Non-verbal behavior among human beings is ineluctably connected with the affective component, in that if human beings either lacked an affective component or it were radically different, the non-verbal behavior of human beings would also be substantially different from what it is presently. Die Sachlage ist komplizierter und differenzierter (vgl. Lazarus-Mainka & Siebeneick 1997: 10): Emotionale Inhalte sind rein privater Natur. Sie sind subjektiv und werden - auch wenn man über die Art ihrer Repräsentation keine endgültigen Aussagen machen kann - mittels Sprache veröffentlicht und damit für andere nachvollziehbar -106gemacht. Sie werden in ihrer Bedeutung und Intensität in Relation zu anderem Erlebten beschrieben, das im Gedächtnis in Wissensstrukturen abgespeichert ist. Mit dem Gebrauch der Sprache wird ein differenziert strukturiertes Regelsystem aktiviert, das auch die Beschreibung nicht primär sprachlicher, so z.B. emotionaler Inhalte mit determiniert. Auf die ‘Codierung von Emotionen’ scheinen verschiedene sprachliche Mittel spezialisiert zu sein (Grayshon 1975: 27, Fries 1996: 37-38); aber besonders oft werden Emotionen durch periphere Systeme ausgedrückt: prosodische Merkmale, Vokalquantität und Gebärden. Viel weniger effizient werden Emotionen mit Hilfe einer Proposition ausgedrückt, z.B. I am moderately angry with you, oder I’m entirely committed to this line of action. In der Alltagsrede findet man überhaupt kaum direkte Beschreibungen des aktuellen emotionalem Zustand in der ersten Person: Sätze wie Ich bin blaß vor Wut sind im Alltagsdialog kaum zu erwarten. Aber nicht so im Theater, besonders in den Epochen, in denen der Zuschauer aus technischen Gründen das Gesicht des Schauspielers nicht genau sehen konnte (z.B. trugen die Schauspieler Masken oder waren zu weit von den Zuschauern entfernt). Die ‘metapsychologischen Bemerkungen’ der handelnden Personen halfen den Zuschauern, die Handlung besser zu verstehen. Wenn man von eigenen Emotionen spricht und nicht bloß paralinguistische Mittel gebraucht, so weigert sich der Zuhörer, solche Äußerungen allzu ernst zu nehmen (Labov 1984: 43), und interpretiert sie als Theater (auch im wörtlichen Sinn von ‘Theater’). Das gilt besonders für Ärger / ANGER (vgl. das etwas unnatürliche Ich bin außer mir vor Wut), viel weniger für den Ausdruck der Gekränktheit (vgl. Ich bin auf Sie böse) und noch weniger für Liebeserklärungen (Ich liebe dich klingt ganz natürlich, und wird in Liebeserklärungen sogar quasi erwartet: ein einfaches Säufzen oder ein Bericht über Wettervorhersage sind dann weniger natürlich). Hier sei bemerkt, daß dem Ärger (Zorn etc.) keine illokutionären Verben entsprechen (Morin & O’Malley 1969), obschon die parenthetischen Verben, im Sinne von Urmson (1952) - regret, assume, believe, suppose, wonder, like to know, etc. - eine emotionale Wichtigkeit denotieren können. Eine kontrastiv-linguistische und sogar nicht-linguistische Analyse (z.B. in der Ethnographie) besteht nach Röttger-Rössler (1997: 201) in “der Aufdeckung der kulturspezifischen Besonderheiten des emotionalen Verhaltens in bezug auf die Fragestellung, inwieweit Emotionen kulturgebunden oder universal sind”. -107Eine kontrastiv-semantische Analyse von Emotionen basiert auf der (vor)theoretischen Taxonomie der Begriffe (also auf einer Organisation der ‘Genossenschaften’), die meistens mit nicht-linguistischen Methoden entdeckt werden. Aber: “Den direktesten und einfachsten Zugang zu den Emotionskonzeptionen einer anderen Kultur scheint die Sprache zu ermöglichen, d.h., die Erhebung des jeweiligen Emotionsvokabulars” (Röttger-Rössler 1997: 201). Die wichtigsten Komponenten, auf deren Basis die einzelnen Termini voneinander unterschieden werden, sind nach Röttger-Rössler (1997: 203-204): - die soziale Position desjenigen Individuums, das die Emotion fühlt / zeigt; - der Anlaß, der Grund der Emotion, d.h. die Frage, ob die Wut berechtigt oder unberechtigt ist; - die Ausdrucksformen der Wut, u.a. angemessene und unangemessene Ausdrucksformen. Ein wichtiger Aspekt ist desweiteren, ob die Wut verbalisiert wird oder nicht. 6. ‘Dorfarbeiten’ und Wortgebrauch Wie werden nun Dorfarbeiten geleistet werden? Es gibt folgende Möglichkeiten: I.Die Lexeme, die zu einem semantischen Dorf gehören, können in bestimmten Wortverbindungen in einer Bedeutung gebraucht werden, die nicht die Grenzen des ständigen ‘Wohnortes’ überschreiten. Dies ist ein Normalfall. II.Die Lexeme können in bestimmten Wortverbindungen in einer Bedeutung gebraucht werden, die außerhalb ihres ständigen ‘Wohnortes’ liegt. Diesen Fall kann man ‘Strafarbeiten’ nennen analog dazu, was während der Kulturrevolution in China oder in Rußland passierte: Als Strafe verbannte man Intellektuelle in ein fremdes Dorf, um sie für ungewöhnliche Arbeiten einzusetzen. Bei unserer Metapher kann diese ‘Verbannung’ aber keine lebenslange Strafe sein. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: - ein Bewohner des Ärgerdorfes wird in irgendein anderes Dorf verbannt; vgl. Zornader, Grimmdarm, Grimmen, grimmige Schmerzen, wo Zorn und Grimm nach ausserhalb des Ärgerdorfes verbannt werden; - ein Bewohner eines anderen semantischen Dorfes wird nach Ärgerdorf verbannt; z.B.: j-n böse machen (‘Strafarbeit’ für das Lexem böse), Igrat’ na nervax u kogo – “auf die Nerven gehen” -108(Strafarbeit für das Lexem Nerv), polezt’ na stenu “die Wand / Wände hochgehen” (Strafarbeit für Wand). III. ‘Dienstreise’: ein Lexem aus dem Ärgerdorf wird mit einer Dorfarbeit beschäftigt, die eine im Rahmen des Ärgerdorfes liegende Bedeutung ergibt: - ein Dorfbewohner hilft seinen Genossenschaftskollegen, vgl. Zornwut, wo Zorn und Wut einander helfen und zu derselben Genossenschaft gehören, - oder - ein Dorfbewohner beteiligt sich bei den Arbeiten einer anderen Genossenschaft, z.B. nichts als Ärger und Verdruß haben. Bei linguistischer Analyse, d.h. bei Ermittlung der in einem gegebenen semantischen Dorf einer konkreten Sprache existierenden Genossenschaften und Dorfarbeiten muß ein Forscher einen Muttersprachler fragen, ob eine gegebene Wortverbindung möglich ist. Es gibt folgende Möglichkeiten, die verschiedenen Zuständen des inneren Lexikons entsprechen: - Ja, sicher, ganz bestimmt - d.h. eine Position, ein Prädikatenrahmen (in anderen Terminologien Valenz usw.) ist positiv angegeben: das Lexem paßt bestimmt zum Prädikat. Diese Möglichkeit liegt z.B. vor, wenn man jemanden über den Status einer Wortverbindung wie j-n in Raserei (Wut, Zorn) versetzen fragt. - Nein, ganz bestimmt nicht - eine Position, ein Prädikatenrahmen usw. ist negativ angegeben: das Lexem paßt nicht zum Prädikat, z.B. j-n in *Empörung (*Entrüstung) bringen. - Vielleicht ja, aber ich bin nicht ganz sicher; viel besser wäre es mit dem Wort X, wobei gewönlich ein Nachbar im Dorf genannt wird; wie wenn man fragt: Wie komme ich bitte in die Hammerstraße? und man antwortet: Irgendwo dort, aber ich bin hier selbst fremd, fragen Sie noch jemanden. Im mentalen Lexikon finden wir keine direkte Angabe; man muß bei den nächsten Nachbarn fragen: zuerst bei den Genossenschaftskollegen, und wenn diese auch keine Antwort geben, dann muß man sich an andere Mitbewohner wenden. Z.B.: in *Raserei (Wut, *Zorn) kommen. Das heißt, man ist ganz sicher, daß *in Raserei / Zorn kommen unmöglich ist, aber nicht so sicher im Falle von in Wut kommen. Die ersten zwei Fälle sind in den existierenden Theorien des Lexikons verhältnismässig leicht behandelt, meistens durch eine Markierung in der Beschreibung einer lexikalischen Einheit (‘lexical entry’) und durch lexikalische Redundanzregeln (‘lexical redundancy rules’ oder ‘rules of lexicon’, à la Jackendoff 1972 oder Aronoff 1976). In unserer Terminologie -109geht es dabei um ein reserviertes ‘Instrument’, das ein Dorfarbeiter entweder geerbt und bei der Einsiedlung mitbringt (s. z.B. gnev) oder das organisch mit einer gegebenen Genossenschaft (un)verträglich ist, vgl. j-n in *Empörung (*Entrüstung) bringen und bei j-m Empörung (Entrüstung) hervorrufen. Der dritte von den genannten Fällen ist besonders interessant. Bei einem Zweifel in solchen Fällen (was übrigens eine kollossale intellektuelle Arbeit für den Informanten bedeutet) helfen einem nicht die gespeicherten Daten über die Genossenschaften, Instrumente, Dienstreisen und Strafarbeiten eines gegebenen Dorfes, sondern andere Weltkenntnisse, das ‘Weltbild’. Die Konstatierung des Zweifels selbst bei Beantwortung solcher Fragen ist für die kontrastive Lexikologie besonders wichtig. Solche Stellen markieren für den Lernenden gefährliche Zonen, die jeweiligen Grenzen der semantischen Dörfer, die der Studierende möglichst nicht überschreiten sollte. 7. Semantik und Pragmatik im semantischen Dorf Im Rahmen der vermenschlichenden Metapher des semantischen Dorfes, wobei der Semantik der ‘Wohnort’ eines Wortes entspricht, können wir sehen, daß Pragmatik kein einheitlicher Begriff ist. Zum einen, wenn man unter Pragmatik eine ‘nicht-wörtliche’ (u.a. auch etymologisch nicht ursprüngliche) Bedeutung versteht, geht es bei uns um Wohnortswechsel, und man kann sagen, daß die ‘Aussiedler’ pragmatisch motiviert sind; zum anderen entspricht die Pragmatik eines Wortes auch dem, was das Wort ‘leistet’, seiner ‘Dorfarbeit’ (konkret im gegebenen Dorf) oder ‘Beschäftigung’ (universal gesehen). Unsere Metapher gestattet es unter anderem, den Zusammenhang zwischen beiden Pragmatiken anschaulich zu machen. Die sprachlichen Einheiten suchen wie Menschen (und können oft auch finden) einen Wohnort, eine Genosseschaft usw., die ihren Leistungsfähigkeiten besonders gut entspricht. Und umgekehrt setzt ein Wohnort eine bestimmte Menge Beschäftigungen für die Einwohner voraus. Der Produktivität im Sprachgebrauch und im Sprachsystem entspricht der Fall, wo die Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Wortfamilie nicht zerstört sind, auch wenn ein Familienmitglied aus seinem Heimatdorf auswandert. ‘Verlorene Söhne’(und sogar ‘verlorene Väter’) dagegen sind diejenigen ausgewanderten linguistischen Einheiten, die im Laufe der Sprachentwicklung die Bedeutung ihrer Vorväter (bzw. Söhne, wenn die letzteren das Heimatdorf nicht verlassen haben) vollkommen verloren haben. -110Diese und ähnliche Analogien scheinen mir nicht weniger berechtigt und einleuchtend zu sein als andere Metaphern, die in der modernen linguistischen Metasprache üblich sind. 8. Vergleichende Tabellen (nach Weigand: “The Vocabulary of Emotion”, in diesem Band) deutsches ‘Ärgerdorf’ - russisches ‘Gnevlivka’ (S.110-115) I. Genossenschaft Neutral Ärger, Ärgerlichkeit Dorfarbeiten: BE ärgerlich / verärgert sein über sich ärgern Ärger haben / empfinden viel Ärger erleben wenn ... - dann gibt es Ärger (es riecht nach Ärger) ärgerliche Töne die Ärgerlichkeit seines Tons s. Ärger auslassen gegen / an seinem Ärger Luft machen BECOME ärgerlich werden in Ärger geraten Ärgernis nehmen an Ärger überfällt / packt / überkommt j. Ärger bekommen LOSE der Ärger verfliegt razdraženie, neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorennost’, serditost’ byt’ nedovol’nym + Instr. serdit’sja / byt’ serditym: na kogo-l., na čto-l. za čto-l. ispytyvat’ neudovol’stvie + Instr. ispytyvat’ / pokazyvat’ / vykazyvat’: razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’) razdraženie (nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’) tomilo ego esli ... to ty u menja polučiš’ delo paxnet neprijatnostjami razdražennyj ton razdražennost’ ego tona vymestit’ svoe razdraženie, neudovol’stvie, nedovol’stvo na kom-l. vypustit’ par razdražat’sja / rasserdit’sja iz-za čego-l., na čto-l. vpast’ v razdraženie; razdražat’sja rasserdit’sja na + Akk. razdraženie ovladevaet kem (Instr.) oščutit’ nedovol’stvo razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’, serditost’) der Ärger vergeht der Ärger läßt nach sich Ärger ersparen seinen Ärger unterdrücken seinen / den Ärger herunterschlucken CAUSE j-n ärgern; verärgern uletučivaetsja razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’, serditost’) proxodit razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’, serditost’) spadaet ne brat’ v golovu podavit’ svoe razdraženie prikusit’ gubu; smirit’sja; zabyt’ svoe razdraženie vyzyvat’ / vozbuždat’: razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’) j-n ärgerlich machen razdražat’ + Akk. (nur ohne Absicht!); serdit’ + Akk. ein Ärgernis sein für j-n byt’ pričinoj neudovol’stvija + Gen. Ärger, -nis erregen bei j-m / j-m vyzyvat’ razdraženie bereiten (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, neudovletvorennost’, serditost’) j-n in Ärger versetzen privesti v razdražennoe sostojanie ärgerliche Situation für j-n neprijatnaja / ščekotlivaja situacija dlja + Gen. das Ärgerliche an der Sache neprijatnost’ v tom, čto ... MOTIVATING CONCEPT außer sich vor Ärger vne sebja ot razdraženija (neudovol’stvija, nedovol’stva, neudovletvorennosti) grün und gelb vor Ärger zelenyj ot razdraženija aus Ärger etwas tun sdelat’ ot razdraženija zu meinem Ärger k moemu neudovol’stviju zum Ärgernis aller ko vseobščemu neudovol’stviju bei aller Ärgerlichkeit vopreki vsemu voller Ärger s razdraženiem (neudovol’stviem, nedovol’stvom, neudovletvoreniem, neudovletvorennost’ju) zum Ärger nazlo GRADING leiser Ärger legkoe neudovol’stvie, razdraženie heftiger Ärger sil’noe razdraženie (neudovol’stvie, nedovol’stvo, neudovletvorenie, großer Ärger viel Ärger / wenig Ärger neudovletvorennost’) velikoe neudovol’stvie izrjadnoe neudovol’stvie / nekotoroe neudovol’stvie očen’ serdit’sja pozelenet’ ot neudovol’stvija sich sehr ärgern sich schwarz / grün und blau / gelb und grün ärgern sich maßlos / unglaublich ärgern sil’no / črezvyčajno serdit’sja sich furchtbar ärgern strašno rasserdit’sja sich zu Tode / krank / ins Grab ot neudovol’stvija sleč’ (v ärgern postel’) sich über die Fliege an der Wand serdit’sja po pustjakam ärgern II. Genossenschaft INTENSIFIED Zorn, Wut, Raserei gnev, neistovstvo, jarost’, isstuplenie, bešenstvo Dorfarbeiten: BE zürnen, zornig / erzürnt / wütend gnevat’sja, neistovstvovat’; byt’ sein raz`jarennym, isstuplennym, vzbešennym ispytyvat’ gnev (neistovstvo, jarost’, isstuplenie, bešenstvo) dat’ volju svoemu gnevu (neistovstvu, jarosti, bešenstvu) neistovstvovat’ raz`jarennyj; jarostnyj besnovat’sja; vzbešennyj wutentbrannt / aufgebracht / polnyj / pripadok / vne sebja ot: aufbrausend sein gneva (neistovstva, jarosti, isstuplenija, bešenstva); pylat’ gnevom (jarost’ju) Zorn haben auf točit’ zub na + Akk. j. zürnt mir nekto besit menja von Zorn / Wut erfüllt sein ispolnennyj gneva / jarosti / neistovstva / bešenstva von Zorn ergriffen sein byt’ oxvačennym gnevom sein Zorn richtet sich gegen ego gnev / jarost’/ bešenstvo napravlen na + Akk. der Zorn der Götter trifft ihn kara gospodnja na nego pala Wut im Bauch haben kipet’ ot gneva (jarosti) wütende / zornige Stimme gnevnyj, razdražennyj, golos jarostnyj poryv neistovyj, gnevlivyj (po xarakteru) čelovek BECOME sich erzürnen, aufbrausen razgnevat’sja, raz`jarit’sja, vzbesit’sja in Zorn geraten / in Wut kommen prixodit’ / vpast’: v jarost’ (isstuplenie, bešenstvo) der Zorn packt / überkommt j-n gnev (neistovstvo, jarost’, bešenstvo) oxvatil ego die Wände hochgehen aus der Haut fahren LOSE Zorn / Wut legt sich, läßt nach CAUSE j-s Zorn / Wut erregen zornig / wütend machen, erzürnen MOTIVATING CONCEPT rot vor Zorn voll Zorn, voller Wut schäumend vor Wut aufbrausend vor Zorn außer sich vor Wut vor Wut kochen vspyška gneva (jarosti, bešenstva) polezt’ na stenu; polezt’ s kulakami vyjti iz sebja smenit’ gnev na milost’ navleč’ na sebja gnev ( jarost’) kogo-l. privodit’ v neistovstvo (jarost’, isstuplenie, bešenstvo) + Akk.;vyzyvat’ gnev (neistovstvo, jarost’, isstuplenie, bešenstvo) v kom-l.; dovodit’ do neistovstva (isstuplenija, bešenstva) kogo-l. gnevit’, besit’ kogo-l. krasnyj ot gneva; blednyj ot jarosti (bešenstva) v gneve (neistovstve, jarosti, isstuplenii, bešenstve) zadyxat’sja ot gneva (jarosti, isstuplenija, bešenstva) vspyxnut’ ot gneva, jarosti vne sebja ot gneva, jarosti kipet’ ot jarosti ne pomnit’ sebja ot gneva (jarosti, isstuplenija, bešenstva) s gnevom (neistovstvom, jarost’ju, isstupleniem) kogo-l. dušit gnev (jarost’, bešenstvo) kraska gneva GRADING aufflammender Zorn, Raserei jarost’ heller, lodernder Zorn kipet’ ot gneva, jarosti leidenschaftlicher Zorn isstuplennyj gnev heiliger Zorn svjatoj gnev gerechter Zorn gnev pravednyj dumpfe Wut gluxoe isstuplenie wilde Wut dikij gnev Zornanfall, Wutanfall pripadok, vspyška gneva, jarosti (Theater machen) ustraivat’ sceny III. Genossenschaft WEAKENED Verdruß, Unwille dosada Dorfarbeiten: BE Verdruß haben, empfinden pokazyvat’ / vykazyvat’: dosadu dosadovat’ na čto-l.;byt’ razdosadovannym čem-l verdrossen, ungehalten sein v dosade, dosadujuščij Unwillen erregendes Benehmen povedenie, vyzyvajuščee dosadu (Unwillen erregendes Erreignis) dosadnoe proisšestvie BECOME Verdruß kommt auf dosada voznikaet LOSE Verdruß vergeht dosada proxodit CAUSE Verdruß machen, bringen, vyzyvat’ dosadu v kom-l. bereiten verdrießen dosaždat’ MOTIVATING CONCEPT zum Verdruß k (ego) dosade IV. Genossenschaft SUPPRESSED / CURBED Groll, Grimm zloba, zlost’, ozloblenie Dorfarbeiten: BE Groll / Grimm empfinden, kipet’ / dyšat’: zloboj (zlost’ju, grollen ozlobleniem) pitat’ (bešenuju) zlobu (zlost’, ozloblenie) k komu-l. byt’ vne sebja / pozelenet’ / poblednet’ / lopat’sja / sebja ne pomnit’ / zadyxat’sja / drožat’: ot zloby (zlosti,ozloblenija) kipit zloba (zlost’, ozloblenie) v kom dat’ volju svoej zlobe (zlosti, ozlobleniju) so zloboj (so zlost’ju, s ozlobleniem) ozloblennyj; zlit’sja (na kogo-l., na čto-l.) etwas wurmt j-n kogo-l. (Akk.) gložet zloba, zlost’ BECOME Groll/Grimm kommt auf zloba (zlost’) vspyxivaet zlost’ menja vzjala vpadat’ v ozloblenie razozlit’sja (na kogo-l.) LOSE Groll / Grimm vergeht zloba (zlost’, ozloblenie) utixaet, proxodit CAUSE j-s Groll erregen vyzyvat’ zlobu (zlost’, ozloblenie) v kom-l. zlit’; ozlobljat’ kogo-l. V. Genossenschaft MORALLY Entrüstung, Empörung negodovanie, vozmuščenie Dorfarbeiten: BE empört, entrüstet sein über negodovanie (vozmuščenie) kipit E. erfüllt j-n, voller E. sein E. empfinden seiner E. Luft machen ein entrüstetes Gesicht (empörte Ausrufe) BECOME sich entrüsten, sich empören v kom-l. poblednet’ ot negodovanija (vozmuščenija) v negodovanii (vozmuščenii) negodovat’ (na kogo-l., na čto-l.) vozmuščat’sja (kem-l., čem-l.) oxvačennyj negodovaniem (vozmuščeniem) ispytyvat’ negodovanie (vozmuščenie) dat’ volju svoemu negodovaniju, vozmuščeniju vozmuščennoe lico negodujuščie vosklicanija prixodit’ v negodovanie voznegodovat’; vozmutit’sja ein Sturm der Entrüstung bricht burja gneva (vozmuščenija) los razratilas’ CAUSE etwas entrüstet / empört j-n privodit’ v negodovanie (vozmuščenie) kogo-l. j-n verärgern vozmuščat’ kogo-l. Entrüstung / Empörung erregen vyzyvat’ negodovanie (vozmuščenie) v kom-l. ein empörendes Benehmen vozmutitel’noe povedenie -116- Literatur (S.116-118) Aronoff, Mark H. 1976. Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, Mass. Aylwin S. 1985. Structure in thought and feeling. London & New York: Methuen. Bänninger-Huber, Eva. 1996. Mimik - Übertragung - Interaktion: Die Untersuchung affektiver Prozesse in der Psychotherapie. Bern etc.: Huber. Chu, Run 1990. Maschinenunterstützte semantische Analyse bilingualer Wortfelder. Diss. Bonn: Philos. Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Dickie, George 1996 The century of taste: The philosophical Odyssey of taste in the eighteenth century. New York & Oxford: Oxford University Press. Eckensberger, Lutz H. 1996. “Agency, action and culture: Three basic concepts for crosscultural psychology”. Asian contributions to cross-cultural psychology hg. von J.Pandey et al., 72-102. London, Newbury Park & New Delhi: Sage. 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Zur kontrastiv-semantischen Analyse von Emotionen : Semantische 'Ärgerdörfer' im Russischen und im Deutschen) // Contrastive lexical semantics. Ed. by E.Weigand. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins, 1998. S.95-118.