Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan Bochum, im Mai 2012 Das 8. Gebot und das Recht oder: der richtige Umgang mit der Wahrheit 1. Das 8.Gebot als religiös/ethische Grundlage der Wahrheitspflicht. Nach Aussage des Alten Testaments (2. Buch Mose, Exodus) verkündete Gott dem Mose auf dem Berg Sinai 10 Gebote, die in Israel als verbindliche und strikt zu befolgende Regeln verstanden wurden. Sie galten nicht nur den Israeliten als Grundlage des von Gott mit ihnen als auserwähltem Volk geschlossenen Bundes, sondern nahmen und nehmen in unserer gesamten Kirchen- und Kulturgeschichte einen zentralen Rang ein. Das 8. dieser Gebote wird nach landläufigem Verständnis mit der Verpflichtung zur Wahrheit bzw. dem Verbot der Lüge in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich lautete es ins Deutsche übersetzt ursprünglich konkret: Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinen Nächsten.1 Dieses Gebot bzw. Verbot betraf zunächst nicht das allgemeine Gebot zur Wahrhaftigkeit auch im privaten Lebensbereich, sondern bezog sich auf die Pflicht, vor Gericht die Wahrheit zu sagen. Dem lag eine spezielle Beweisregel des israelischen Prozessrechts zugrunde, nach der ein Angeklagter oder Beklagter verurteilt wurde, wenn zwei gleichlautende Zeugenaussagen gegen ihn sprachen. Dass diese Regel zum eigenen Nutzen gezielt missbraucht werden konnte und auch wurde, indem man falsche Zeugenaussagen kaufte oder auf andere Weise für seine Sache zu gewinnen versuchte, um z.B. persönliche Feinde oder gefährliche Konkurrenten auszuschalten, liegt auf der Hand. Auf diese Weise konnten Menschen um Hab und Gut, um Leib und Leben gebracht werden.2 1 Buch Exodus 20, 16. 2 Schockenhoff, E. Zur Lüge verdammt? (Herder 2000) S. 150 ff. 1 Das 8. Gebot bzw. das Verbot, als Falsch- oder Lügenzeuge gegen den Nächsten aufzutreten, diente also zunächst neben der Wahrheitsfindung auch dem Rechtsfrieden durch Ausschaltung dieser Gefahrenquelle für ein geordnetes und friedliches Gemeinschaftsleben. Weil aber Lüge und Täuschung schon in alttestamentalischer Zeit nicht auf Gerichtsverfahren beschränkt waren, sondern in vielfältiger Form als gesellschaftliche Realität vorkamen, wurde schon im Alten Testament das Verbot der falschen Zeugenaussage verallgemeinert und auf jede Art von sprachlicher Täuschung oder betrügerische Rede erstreckt.3 Erst In der christlichen Lehre wurde aber daraus das Gebot der Wahrhaftigkeit. Die Lüge, also die bewusste Entscheidung gegen die Wahrheit und für die Unwahrheit, oder nach anderem Verständnis als bewusste Verweigerung der geschuldeten Wahrheit,4 wurde mit unterschiedlicher Rigorosität teils in toto missbilligt (Augustinus) aber auch, je nach Lebenssituation, als notwendigerweise durch die Tugenden der prudentia (Klugheit) und caritas (Liebe) abgemildert verstanden, die der Wahrhaftigkeit zeigen, welches Maß von wahrheitsgetreuer Aussage nach den Umständen des Einzelfalls notwendig und verträglich ist. Die Notlüge wurde deshalb mit einer gewissen Nachsicht behandelt bzw. toleriert (Thomas von Aquin), wenn nämlich die Wahrheit größeren Schaden anrichten würde als die Unwahrheit. 2. Was hat das mit unserem Recht zu tun? a) Wie wahrscheinlich jeder weiß, kann es unangenehme Folgen haben, wenn man vor Gericht die Unwahrheit sagt oder die Wahrheit verschweigt. Das ist eine Straftat (§ 153 StGB), die mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis 5 Jahren bedroht ist, wird sie sogar beeidet, ist das ein Meineid (§ 154 StGB), der dem vorsätzlich falsch Schwörenden eine Freiheitsstrafe beschert, die mindestens ein Jahr aber auch auf bis zu 15 Jahren lauten kann. Meineid ist nach den strafrechtlichen Regeln ein Verbrechen! Selbst der fahrlässige Falscheid, also im Vergleich eine lässliche Sünde, kann eine Strafe von bis zu einem Jahr Freiheitstrafe nach sich ziehen. (§ 161 StGB). Im alltäglichen Leben bleiben absichtliche Lügen oder gezielt in Schädigungsabsicht 3 Schockenhoff aaO S. 151. 4 LThK (1997) Band 6 S. 1106 unter dem Stichwort „Lüge“. 2 eingesetzte Unwahrheiten strafrechtlich etwa als Betrug (§ 263 StGB) oder als Falsche Verdächtigung eines Anderen (§ 164 StGB) nicht ohne Konsequenzen, wenn sie nachgewiesen werden. Im Zivilrecht berechtigt die arglistige Täuschung zur Anfechtung eines Rechtsgeschäfts (§ 123 BGB) oder begründet einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn dem Betreffenden in einer „gegen die guten Sitten verstoßende Weise“ – dazu gehört auch die arglistige Täuschung – vorsätzlich Schaden zugefügt worden ist (§§ 823, 826 BGB). b) Die Unwahrheit für eigene Zwecke und zum Nachteil Dritter zu instrumentalisieren, ist also dem Grundsatz nach rechtlich nicht erlaubt und wird sanktioniert, mit einer großen Ausnahme: in einem Strafverfahren ist der Beschuldigte oder Angeklagte nicht zur Wahrheit verpflichtet. Er kann schweigen bzw. hat das Recht, jede Angabe zu verweigern und darf sogar lügen, ohne dass ihm das zu seinem Nachteil angelastet werden kann, wenn er sich damit gegen den Anklagevorwurf verteidigt hat oder das wollte. Er hat allerdings keinen Anspruch darauf, dass ihm das Gericht auch Glauben schenkt! Auch sonst hält unsere Rechtsordnung für Notlagen oder Konfliktsituationen Sonderregelungen bereit, so etwa für den Zeugen oder Sachverständigen, der falsch ausgesagt hat, um von sich oder einem nahen Angehörigen die Gefahr der Bestrafung abzuwenden (§157 StGB), weil er bei wahrheitsgemäßer Aussage eine Straftat offenbaren müsste. Will er das ohne Falschaussage vermeiden, kann er die Aussage sogar verweigern (§ 55 StPO). Ebenso kann er mit Milde rechnen, wenn er eine bereits getätigte Falschaussage aus sonstigen Gründen rechtzeitig berichtigt (§ 158 StGB). Derartige Beispiele könnten auch noch für andere Rechtsgebiete aufgeführt werden, das ginge hier allerdings zu weit. Immerhin zeigen aber die genannten Beispiele, dass unser Recht die Pflicht zur Wahrheit als Grundregel eines geordneten Gemeinschaftslebens nicht nur anerkennt, sondern auch schützt. Werden Wahrheitspflichten schuldhaft verletzt oder wird Unwahrheit bewusst zum Schaden anderer instrumentalisiert, zieht dies in der Regel Strafe, Schadensersatzverpflichtungen oder andere negativ rechtliche Folgen nach sich. Dennoch ist die Wahrheit offensichtlich kein absoluter Wert. der in Konfliktlagen eine Relativierung nicht zulassen würde. 3 3. Und in der Medizin? a) Wahrheitspflicht als Grundregel. Der Arzt ist zur Wahrheit sowohl ethisch als auch rechtlich verpflichtet. Er muss seinen Patienten über den medizinischen Befund, die Art der geplanten Behandlung und deren typische Risiken aufklären, damit dessen Einwilligung wirksam ist. Dies besagt inzidenter, dass der Arzt wahrheitsgemäße Informationen erteilen muss. Bewusst unwahre Angaben sind damit nicht vereinbar, auch das Verschweigen von Fakten verträgt sich mit diesem Grundsatz nur schlecht. Im Zusammenhang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder dem nahe bevorstehenden Tod eines Menschen ist die Pflicht zur Wahrheit, die jedenfalls in Europa in der christlich/jüdischer Tradition tief verwurzelt ist - die aber auch dem Selbstverständnis des modernen Individuums in der gegenwärtigen Gesellschaft entgegenkommt, das für sich das Selbstbestimmungsrecht in allen denkbaren Lebenslagen in Anspruch nimmt - auch für den Überbringer der Wahrheit problematisch. Er weiß nicht, wie der Empfänger der Nachricht reagiert – in der Antike wurde der Überbringer schlechter Nachrichten gelegentlich sogar getötet dazu kommt es heute in der Regel zum Glück nicht mehr, aber die Wahrheit ist oft nur schwer zu ertragen und verführt zu unüberlegten Reaktionen. Medizinische Behandlung und ärztlicher Heileingriff sind nur aufgrund einer von Willensmängeln nicht beeinflussten Einwilligung des Patienten gemäß § 228 StGB gerechtfertigt.5 Eine frühe, aus dem Jahr 1958 stammende Entscheidung des VI. Zivilsenats des BGH hat außerdem einen, m.E. nicht unwichtigen und in den heutigen Diskussionen meines Wissens nicht oder nur am Rander als Argument verwendeten Aspekt angesprochen. Danach erfüllt die Einwilligung nur dann ihren Sinn und Zweck, nämlich dem Eingriff in den Körper des Patienten den Charakter 5 BGH, Urteil v.20.1.2004 – 1 StR 319/03 = NStZ 2004, 442. 4 des Rechtswidrigen zu nehmen und einen Teil der Verantwortung des Arztes auf den Patienten zu übertragen, wenn der Patient Klarheit über seine Lage hat.6 Es spielen also nicht nur Gesichtspunkte des Unzulässigen, Rechtswidrigen, oder Strafbaren eine Rolle, sondern auch der Verantwortungsteilung. Das korrespondiert nach meiner Auffassung mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch besser, weil ein Recht auch immer Verpflichtung und Verantwortung für etwas bedeutet, in diesem Falle für sich selbst. b) Eine wirksame Einwilligung setzt als Eigenschaft der Person die Einwilligungsfähigkeit des Patienten voraus, der über die notwendige Verstandesreife und Urteilsfähigkeit verfügen muss, ein Problem, das vor allem bei Jugendlichen und u.U. älteren Menschen eine Rolle spielen kann. Erforderlich ist also die Fähigkeit, Bedeutung, Tragweite und die Auswirkungen eines geplanten Eingriffs voll zu erfassen. Erforderlich ist deshalb die Kenntnis von Diagnose und Schwere der Erkrankung, sowie Art, Umfang sowie der Chancen und Risiken der geplanten Behandlung oder des geplanten Eingriffs voraus, denn nur so hat er die erforderliche Entscheidungskompetenz, ob er sich der beabsichtigten Behandlung unterziehen will oder nicht. Diese Kompetenz wird im Allgemeinen erst durch die ärztliche Aufklärung hergestellt („informed consent“). c) Ist die Aufklärung mangelhaft oder unzureichend, etwa weil der Arzt wesentliche Risiken nicht hinreichend verständlich angesprochen oder gar verschwiegen hat, führt das zivilrechtlich zu Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüchen, strafrechtlich steht die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung auf dem Spiel. Denn eine mit wesentlichen Mängeln behaftete Aufklärung macht die Einwilligung unwirksam und das darauf aufbauende ärztliche Handeln rechtlich zumindest obsolet, gegebenenfalls rechtswidrig und sogar strafbar. Ich kann jetzt nicht auf Einzelheiten der zivilrechtlichen Anforderungen7 an den Umfang und die Intensität der jeweils durch den Charakter des Einzelfalls und dem 6 BGHZ 59, 56 Rdn. 21, 25 = Urteil v. 9.12.1958 VI ZR 203/57. 7 Siehe dazu insbesondere die grundlegende Entscheidung des VI. Zivilsenats in BGHZ 59, 56, Fn. 5 System der Anspruchsvoraussetzungen geprägten notwendige Aufklärungen in ihren verschieden Spielarten8 eingehen, die im Strafrecht – trotz aller grundsätzlicher Gemeinsamkeiten – doch allgemeiner gefasst und weicher formuliert und im Ergebnis mit Blick auf den Grundsatz in dubio pro reo weniger rigoros umgesetzt werden, etwa weil der ärztliche Heileingriff generell Zwecke der Heilung und nicht der Schädigung des Patienten verfolgt, so dass Zweifel an einem möglichen Schädigungsvorsatz häufig nicht nur theoretischer Natur sind. Jüngste Beispiele hierfür sind ein vom 5. Strafsenat des BGH (5 StR 561/10)9 entschiedener Fall eines ambulant tätigen Chirurgen, der der Patientin verschwieg, dass bei der Operation kein Anästhesist anwesend sein würde und der sog. Zitronensaft – Fall des 3. Strafsenats10, bei dem nicht über eine bei der notwendig werdenden Nachoperation angewandte Außenseitermethode (nicht steril gewonnener Zitronensaft als Entzündungshemmer) aufgeklärt wurde, die aber letztlich auch nicht ursächlich für den Tod der Patientin geworden war, so dass über sie, strafrechtlich ex post betrachtet, auch nicht aufgeklärt werden musste. Es bleibt aber in Fällen der nachlässigen oder bewusst wahrheitsverschleiernden Aufklärung in der Regel der Fahrlässigkeitsvorwurf im Raum, der nicht ohne weiteres ausgeräumt werden kann, wenn man die Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht ernst nimmt. d) Nach strafrechtlichen Maßstäben ist die wahrheitsgemäße Aufklärung über Art der Erkrankung, Umfang, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs/der Behandlung zumindest in Grundzügen erforderlich, wobei sich nicht allgemein festlegen lässt, wie detailliert die Aufklärung sein muss. Sie richtet sich nach den Umständen des 8 Diagnoseaufklärung (Information über den ärztlichen Befund, Grund und Anlass einer Maßnahme), Eingriffsund Verlaufsaufklärung (Entwicklung des Gesundheitszustandes ohne Behandlung,Art, Umfang und Schwere des Eingriffs, mögliche Alternativen der Behandlung [Methodenaufklärung]), Risikoaufklärung (Gefahren der Behandlung,, möglich Folgen und Nebenwirkungen), Therapie- oder Sicherungsaufklärung (schadensvermeidendes Patientenverhalten, weitere Kontrollen und Untersuchungen sowie erforderliche Nachbehandlungen) 9 Urteil vom 7.7.2011 = NJW 2011 (Neue Juristische Wochenschrift), 2895. 10 BGH Urteil v. 22.12.2010 – 3 StR 239/10 = NJW 2011, 1088 6 Einzelfalls, bei denen auch die Dringlichkeit des Eingriffs und dessen Risikohöhe sowie ein erkennbares Patienteninteresse wichtig sein können. Die Aufklärung bezieht sich im Normalfall auf eine den Regeln der Wissenschaft und der ärztlichen Heilkunst, also den medizinischen Standards entsprechende Behandlung. Hierauf bezieht sich auch die Einwilligung des ausreichend aufzuklärenden Patienten. Wird die Behandlung jedoch nicht lege artis vorgenommen, ist die Einwilligung trotz Aufklärung unwirksam und der Arzt macht sich bei schuldhaftem Verhalten strafbar, so ausdrücklich der 3. Strafsenat des BGH in einem Fall, in dem bei der Tumorbehandlung mit Gammastrahlen die therapeutische Dosis fehlerhaft berechnet worden war,11 ebenso der 1. Strafsenat für den Verstoß gegen die anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst durch die Wiederverwendung einer angefangenen Flasche des Narkosemittels Propofol.12 Eine Aufklärung muss zudem hinsichtlich möglicher negativer Folgen umso ausführlicher sein, je weniger sie medizinisch indiziert ist, ein Grundsatz, der vor allem bei kosmetischen Operationen eine Rolle spielt. Auch auf Abweichungen von den üblichen Standards bei der geplanten Behandlung und alternative Behandlungsmethoden ist der Patient hinzuweisen, damit er das mögliche Risiko für sich beurteilen kann.13 Maßstab für das Erforderliche an Aufklkärungist im Übrigen der verständige Durchschnittspatient, dem die Aufklärung eine ausreichende Grundlage für die sinnvolle Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bieten muss. 4. Aufklärungspflicht und Wahrhaftigkeitsgebot versus Patientenwohl? Dass Wahrheit weh tun kann und nur schwer zu ertragen oder zu akzeptieren ist, ist eine allgemeine menschliche Erfahrung. Nicht jeder hat die Größe, die Wahrheit zu akzeptieren und sein Leben darauf einzustellen. 11 BGHSt. 43, 306, 309, Urt. v. 19.11.1997 – 3 StR 271/97. 12 BGH NStZ 2008, 278 f.=Beschl. v. 20.12.2007 1- StR 576/07. 13 Gössel/Dölling Strafrecht BT/1 § 12 Rdn. 62 mit weiteren Nachw. 7 a)Die dem Patienten vom Arzt eröffnete Diagnose einer schweren, vielleicht sogar in absehbarer Zeit tödlichen Erkrankung, stürzt den Patienten nicht selten in tiefe Verzweiflung, die Kurzschlussreaktionen verursachen kann. Auch derjenige, der die Nachricht überbringen muss, wird von der Last der Verantwortung unter Umständen erdrückt und er greift entweder bewusst zur Lüge oder er verschweigt einfach oder verschleiert das Ausmaß der Erkrankung und versucht, die notwendigen Behandlungsmaßnahmen mit harmlosen Begründungen zu erklären. Wenn der Patient dann mit der vorgeschlagenen Behandlung einverstanden ist, steht die anschließende Behandlung oder der erforderliche Eingriff rechtlich auf tönernen Füßen, da der Patient nicht in dem erforderlichen Maß aufgeklärt wurde. Allerdings wird unter dem Stichwort des „therapeutischen Privilegs“ (Privileg für die Unwahrheit aus therapeutischen Gründen) aufgrund eines aus der Fürsorgepflicht abgeleiteten Schonungsgrundsatz in der rechtswissenschaftlichen Literatur die – nachvollziehbare - Auffassung vertreten, dass die Aufklärungspflicht des Arztes dort ihre Grenzen findet, wo sie für den Patienten riskanter sein könnte als der Eingriff selbst, bzw. die Aufklärung gefährlicher ist als die Krankheit14 oder wo zumindest eine nicht nur vorübergehende seelische Beeinträchtigung oder eine nicht nur unerhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des Patienten als Folge der uneingeschränkten Offenbarung der Diagnose zu befürchten ist.15 b) Die Rechtsprechung ist erheblich zurückhaltender, wenn es darum geht, Ausnahmen oder Einschränkungen der ärztlichen Aufklärungspflicht zuzulassen. So hatte bereits das RG16 die Auffassung vertreten, dass auch der schwer Kranke es handelte sich um eine schon vorher psychisch labile Frau, bei der der geäußerte Verdacht auf eine Krebserkrankung einen Zustand tiefer Depression mit anschließender Aufnahme in einer Heilanstalt hervorrief – einen Anspruch auf Aufklärung habe. Allerdings könne die Persönlichkeit, die körperliche und seelische Befindlichkeit des Kranken von der Verpflichtung zur völligen Aufklärung befreien. 14 Vgl. Gössel/Dölling a.a.O. Rdn. 61; Schönke/Schröder/Eser StGB 27. Aufl. § 223 Rdn. 40 c und 42 jeweils mit weiteren Nachweisen. 15 Vgl u.a. Hirsch in LK 11. Aufl. § 228 Rdn. 24 mit weiteren Nachw. 16 RGSt. 66, 181, Urt. v. 29.7.1932 – II 57/32. 8 Daran schloss der damalige 2. Strafsenat des RG angesichts des recht unsensiblen Umgangs mit der Patientin die Bemerkung an, die Art und Weise wie der Arzt den Kranken wahrheitsgemäß aufkläre, sein eine Frage des ärztlichen Takts. Nicht jede Verletzung des Takts enthalte aber schon einen ärztlichen Kunstfehler. In dem, einem Urteil des 4. Strafsenats v. 18.11.195717 zugrunde liegenden Fall hatte der behandelnde Arzt vor der anstehenden Operation seiner Patientin nicht deutlich gesagt, dass er möglicherweise über die Entfernung einer großen Gebärmuttergeschwulst hinaus, den Uterus ausräumen müsse, weil er sie nicht unnötig beunruhigen wollte. Er ging davon aus, dass die Patientin damit schon einverstanden sein werde, wenn allein dadurch auch die Geschwulst beseitigt werden könne Bei der Operation erwies sich die Entfernung des ganzen Gebärmutterkörpers als medizinisch dringend geboten. Die Patientin war mit einem so weitgehenden Eingriff jedoch nicht einverstanden und zeigte den Arzt an, der wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt wurde. Den Freispruch des Landgerichts hob der BGH auf, weil das LG nicht geprüft hatte, ob der Arzt fahrlässig gehandelt hatte, als er es unterließ, sich vor der Operation die Zustimmung der Patientin zu einem weitergehenden Eingriff einzuholen, der sich möglicherweise bei der Operation als notwendig herausstellen könnte. Den Hinweis des Arztes, er habe die Patientin nicht mehr als notwendig beunruhigen wollen, wies der BGH als falsch verstandene Rücksichtnahme zurück. Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen - eigenmächtig und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen Billigung vornähme.18 Im Übrigen verweist der 4. Strafsenats auf die Rechtsprechung des. VI. Zivilsenats und dessen Grundsätze zur Aufklärungspflicht des Arztes und darauf, dass es durchaus Fälle geben könne, in denen der Arzt seiner Pflicht zur Heilung des Kranken gegenüber denjenigen zu seiner Aufklärung den Vorrang einräumen darf.19 17 BGHSt. 11. 111. 18 BGH aaO S. 114. 19 BGH a.a.O. S. 116 9 Danach kann zwar aus besonderen Gründen im Einzelfall dann auf eine Aufklärung insbesondere über den Krankheitsbefund verzichtet werden, wenn zu befürchten, dass die vollständige Aufklärung zu einer ernsten, nicht behebbaren Gesundheitsschädigung des Patienten führen würde.20 Das gilt aber nur unter engen Voraussetzungen. Eine lediglich „herabgedrückte Stimmung und ein herabgesetztes Allgemeinbefinden“ müssen als Folge der Aufklärung in Kauf genommen werden.21 Stets sind aber konkrete, auf den Patienten, seine Persönlichkeit und psychische Befindlichkeit bezogene Anhaltspunkte erforderlich, die dessen erhebliche Gefährdung bei einer wahrheitsgemäßen und umfassenden Aufklärung nahelegen. Bloß vage Befürchtungen oder generelle Vermutungen genügend für eine Einschränkung der Aufklärungspflicht nicht.22 Denn Sinn und Zweck der Aufklärung dürfen nicht unterlaufen bzw. ausgehebelt werden.23 5. Ein anderes Problem machen neuere medizinwissenschaftliche Erkenntnisse über den schädigenden Einfluss der menschlichen Psyche auf den Erfolg einer Heilbehandlung deutlich, die als Nocebo-Effekt bekannt geworden sind und als Bruder des Placebo-Effekts, jedenfalls aus medizinischer Laiensicht, angesehen werden können. Placebo kann ohne Wirkstoff heilen, Nocebo hat den gegenteiligen Effekt, der Hinweis auf möglich schädigende Folgen eines Medikaments kann dazu führen, dass Menschen tatsächlich solche Folgen bei sich feststellen. Die Erwartungshaltung bestimmt also die Wirksamkeit einer Behandlung mit. Das ändert aber rechtlich nichts an der Voraussetzung einer wahrheitsgemäßen Information des Patienten für eine rechtsmäßige medizinische Behandlung. Auch hier ist der Arzt nicht nur wegen seines Fachwissens, sondern auch als Psychologe gefragt, wen ihm als probates Mittel gegen unerwünschte gesundheitliche Reaktionen bei seinen Patienten 20 RGSt. 66, 181, 183; BGH NJW 1959, 815; BGH Z 59, 56. 21 RGZ 163, 129; BGHSt. 11, 111, 116 22 BGHSt. 11, 111, 115. 23 Schön ke/Schröder/ Eser § 23 Rdn. 42. 10 angeraten wird, zwar auch über mögliche ungünstige Folgen einer Behandlung aufzuklären, diese aber in einen positiven Rahmen zu verpacken.24 Erinnert sei an das RG, das schon früher in solchen Zusammenhängen auf den notwendigen ärztlichen Takt hingewiesen hat. Denn das war schon in vergangenen Zeiten bekannt: der Glaube kann Berge versetzen. 24 Ärzte Zeitung vom 24.1.2012 11