Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan Bochum, im Mai 2012 Das 8. Gebot

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Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan
Bochum, im Mai 2012
Das 8. Gebot und das Recht
oder: der richtige Umgang mit der Wahrheit
1. Das 8.Gebot als religiös/ethische Grundlage der Wahrheitspflicht.
Nach Aussage des Alten Testaments (2. Buch Mose, Exodus) verkündete Gott dem
Mose auf dem Berg Sinai 10 Gebote, die in Israel als verbindliche und strikt zu
befolgende Regeln verstanden wurden. Sie galten nicht nur den Israeliten als
Grundlage des von Gott mit ihnen als auserwähltem Volk geschlossenen Bundes,
sondern nahmen und nehmen in unserer gesamten Kirchen- und Kulturgeschichte
einen zentralen Rang ein.
Das 8. dieser Gebote wird nach landläufigem Verständnis mit der Verpflichtung zur
Wahrheit bzw. dem Verbot der Lüge in Zusammenhang gebracht. Tatsächlich lautete
es ins Deutsche übersetzt ursprünglich konkret: Du sollst kein falsches Zeugnis von
dir geben wider deinen Nächsten.1
Dieses Gebot bzw. Verbot betraf zunächst nicht das allgemeine Gebot zur
Wahrhaftigkeit auch im privaten Lebensbereich, sondern bezog sich auf die Pflicht,
vor Gericht die Wahrheit zu sagen. Dem lag eine spezielle Beweisregel des
israelischen Prozessrechts zugrunde, nach der ein Angeklagter oder Beklagter
verurteilt wurde, wenn zwei gleichlautende Zeugenaussagen gegen ihn sprachen.
Dass diese Regel zum eigenen Nutzen gezielt missbraucht werden konnte und auch
wurde, indem man falsche Zeugenaussagen kaufte oder auf andere Weise für seine
Sache zu gewinnen versuchte, um z.B. persönliche Feinde oder gefährliche
Konkurrenten auszuschalten, liegt auf der Hand. Auf diese Weise konnten Menschen
um Hab und Gut, um Leib und Leben gebracht werden.2
1
Buch Exodus 20, 16.
2
Schockenhoff, E. Zur Lüge verdammt? (Herder 2000) S. 150 ff.
1
Das 8. Gebot bzw. das Verbot, als Falsch- oder Lügenzeuge gegen den Nächsten
aufzutreten, diente also zunächst neben der Wahrheitsfindung auch dem
Rechtsfrieden durch Ausschaltung dieser Gefahrenquelle für ein geordnetes und
friedliches Gemeinschaftsleben. Weil aber Lüge und Täuschung schon in
alttestamentalischer Zeit nicht auf Gerichtsverfahren beschränkt waren, sondern in
vielfältiger Form als gesellschaftliche Realität vorkamen, wurde schon im Alten
Testament das Verbot der falschen Zeugenaussage verallgemeinert und auf jede Art
von sprachlicher Täuschung oder betrügerische Rede erstreckt.3 Erst In der
christlichen Lehre wurde aber daraus das Gebot der Wahrhaftigkeit. Die Lüge, also
die bewusste Entscheidung gegen die Wahrheit und für die Unwahrheit, oder nach
anderem Verständnis als bewusste Verweigerung der geschuldeten Wahrheit,4
wurde mit unterschiedlicher Rigorosität teils in toto missbilligt (Augustinus) aber
auch, je nach Lebenssituation, als notwendigerweise durch die Tugenden der
prudentia (Klugheit) und caritas (Liebe) abgemildert verstanden, die der
Wahrhaftigkeit zeigen, welches Maß von wahrheitsgetreuer Aussage nach den
Umständen des Einzelfalls notwendig und verträglich ist. Die Notlüge wurde deshalb
mit einer gewissen Nachsicht behandelt bzw. toleriert (Thomas von Aquin), wenn
nämlich die Wahrheit größeren Schaden anrichten würde als die Unwahrheit.
2. Was hat das mit unserem Recht zu tun?
a) Wie wahrscheinlich jeder weiß, kann es unangenehme Folgen haben, wenn man
vor Gericht die Unwahrheit sagt oder die Wahrheit verschweigt. Das ist eine Straftat
(§ 153 StGB), die mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis 5 Jahren bedroht ist, wird sie
sogar beeidet, ist das ein Meineid (§ 154 StGB), der dem vorsätzlich falsch
Schwörenden eine Freiheitsstrafe beschert, die mindestens ein Jahr aber auch auf
bis zu 15 Jahren lauten kann. Meineid ist nach den strafrechtlichen Regeln ein
Verbrechen! Selbst der fahrlässige Falscheid, also im Vergleich eine lässliche Sünde,
kann eine Strafe von bis zu einem Jahr Freiheitstrafe nach sich ziehen. (§ 161 StGB).
Im alltäglichen Leben bleiben absichtliche Lügen oder gezielt in Schädigungsabsicht
3
Schockenhoff aaO S. 151.
4
LThK (1997) Band 6 S. 1106 unter dem Stichwort „Lüge“.
2
eingesetzte Unwahrheiten strafrechtlich etwa als Betrug (§ 263 StGB) oder als
Falsche Verdächtigung eines Anderen (§ 164 StGB) nicht ohne Konsequenzen,
wenn sie nachgewiesen werden. Im Zivilrecht berechtigt die arglistige Täuschung zur
Anfechtung eines Rechtsgeschäfts (§ 123 BGB) oder begründet einen Anspruch auf
Schadensersatz, wenn dem Betreffenden in einer „gegen die guten Sitten
verstoßende Weise“ – dazu gehört auch die arglistige Täuschung – vorsätzlich
Schaden zugefügt worden ist (§§ 823, 826 BGB).
b) Die Unwahrheit für eigene Zwecke und zum Nachteil Dritter zu instrumentalisieren,
ist also dem Grundsatz nach rechtlich nicht erlaubt und wird sanktioniert, mit einer
großen Ausnahme: in einem Strafverfahren ist der Beschuldigte oder Angeklagte
nicht zur Wahrheit verpflichtet. Er kann schweigen bzw. hat das Recht, jede Angabe
zu verweigern und darf sogar lügen, ohne dass ihm das zu seinem Nachteil
angelastet werden kann, wenn er sich damit gegen den Anklagevorwurf verteidigt hat
oder das wollte. Er hat allerdings keinen Anspruch darauf, dass ihm das Gericht auch
Glauben schenkt!
Auch sonst hält unsere Rechtsordnung für Notlagen oder Konfliktsituationen
Sonderregelungen bereit, so etwa für den Zeugen oder Sachverständigen, der falsch
ausgesagt hat, um von sich oder einem nahen Angehörigen die Gefahr der
Bestrafung abzuwenden (§157 StGB), weil er bei wahrheitsgemäßer Aussage eine
Straftat offenbaren müsste. Will er das ohne Falschaussage vermeiden, kann er die
Aussage sogar verweigern (§ 55 StPO). Ebenso kann er mit Milde rechnen, wenn er
eine bereits getätigte Falschaussage aus sonstigen Gründen rechtzeitig berichtigt (§
158 StGB). Derartige Beispiele könnten auch noch für andere Rechtsgebiete
aufgeführt werden, das ginge hier allerdings zu weit.
Immerhin zeigen aber die genannten Beispiele, dass unser Recht die Pflicht zur
Wahrheit als Grundregel eines geordneten Gemeinschaftslebens nicht nur
anerkennt, sondern auch schützt. Werden Wahrheitspflichten schuldhaft verletzt oder
wird Unwahrheit bewusst zum Schaden anderer instrumentalisiert, zieht dies in der
Regel Strafe, Schadensersatzverpflichtungen oder andere negativ rechtliche Folgen
nach sich. Dennoch ist die Wahrheit offensichtlich kein absoluter Wert. der in
Konfliktlagen eine Relativierung nicht zulassen würde.
3
3. Und in der Medizin?
a) Wahrheitspflicht als Grundregel.
Der Arzt ist zur Wahrheit sowohl ethisch als auch rechtlich verpflichtet. Er muss
seinen Patienten über den medizinischen Befund, die Art der geplanten Behandlung
und deren typische Risiken aufklären, damit dessen Einwilligung wirksam ist. Dies
besagt inzidenter, dass der Arzt wahrheitsgemäße Informationen erteilen muss.
Bewusst unwahre Angaben sind damit nicht vereinbar, auch das Verschweigen von
Fakten verträgt sich mit diesem Grundsatz nur schlecht.
Im Zusammenhang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder dem nahe
bevorstehenden Tod eines Menschen ist die Pflicht zur Wahrheit, die jedenfalls in
Europa in der christlich/jüdischer Tradition tief verwurzelt ist - die aber auch dem
Selbstverständnis des modernen Individuums in der gegenwärtigen Gesellschaft
entgegenkommt, das für sich das Selbstbestimmungsrecht in allen denkbaren
Lebenslagen in Anspruch nimmt - auch für den Überbringer der Wahrheit
problematisch. Er weiß nicht, wie der Empfänger der Nachricht reagiert – in der
Antike wurde der Überbringer schlechter Nachrichten gelegentlich sogar getötet dazu kommt es heute in der Regel zum Glück nicht mehr, aber die Wahrheit ist oft
nur schwer zu ertragen und verführt zu unüberlegten Reaktionen.
Medizinische Behandlung und ärztlicher Heileingriff sind nur aufgrund einer von
Willensmängeln nicht beeinflussten Einwilligung des Patienten gemäß § 228 StGB
gerechtfertigt.5 Eine frühe, aus dem Jahr 1958 stammende Entscheidung des VI.
Zivilsenats des BGH hat außerdem einen, m.E. nicht unwichtigen und in den
heutigen Diskussionen meines Wissens nicht oder nur am Rander als Argument
verwendeten Aspekt angesprochen. Danach erfüllt die Einwilligung nur dann ihren
Sinn und Zweck, nämlich dem Eingriff in den Körper des Patienten den Charakter
5
BGH, Urteil v.20.1.2004 – 1 StR 319/03 = NStZ 2004, 442.
4
des Rechtswidrigen zu nehmen und einen Teil der Verantwortung des Arztes auf den
Patienten zu übertragen, wenn der Patient Klarheit über seine Lage hat.6
Es spielen also nicht nur Gesichtspunkte des Unzulässigen, Rechtswidrigen, oder
Strafbaren eine Rolle, sondern auch der Verantwortungsteilung. Das korrespondiert
nach meiner Auffassung mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch
besser, weil ein Recht auch immer Verpflichtung und Verantwortung für etwas
bedeutet, in diesem Falle für sich selbst.
b) Eine wirksame Einwilligung setzt als Eigenschaft der Person die
Einwilligungsfähigkeit des Patienten voraus, der über die notwendige Verstandesreife
und Urteilsfähigkeit verfügen muss, ein Problem, das vor allem bei Jugendlichen und
u.U. älteren Menschen eine Rolle spielen kann. Erforderlich ist also die Fähigkeit,
Bedeutung, Tragweite und die Auswirkungen eines geplanten Eingriffs voll zu
erfassen.
Erforderlich ist deshalb die Kenntnis von Diagnose und Schwere der Erkrankung,
sowie Art, Umfang sowie der Chancen und Risiken der geplanten Behandlung oder
des geplanten Eingriffs voraus, denn nur so hat er die erforderliche
Entscheidungskompetenz, ob er sich der beabsichtigten Behandlung unterziehen will
oder nicht. Diese Kompetenz wird im Allgemeinen erst durch die ärztliche Aufklärung
hergestellt („informed consent“).
c) Ist die Aufklärung mangelhaft oder unzureichend, etwa weil der Arzt wesentliche
Risiken nicht hinreichend verständlich angesprochen oder gar verschwiegen hat,
führt das zivilrechtlich zu Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüchen,
strafrechtlich steht die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung auf dem Spiel. Denn
eine mit wesentlichen Mängeln behaftete Aufklärung macht die Einwilligung
unwirksam und das darauf aufbauende ärztliche Handeln rechtlich zumindest
obsolet, gegebenenfalls rechtswidrig und sogar strafbar.
Ich kann jetzt nicht auf Einzelheiten der zivilrechtlichen Anforderungen7 an den
Umfang und die Intensität der jeweils durch den Charakter des Einzelfalls und dem
6
BGHZ 59, 56 Rdn. 21, 25 = Urteil v. 9.12.1958 VI ZR 203/57.
7
Siehe dazu insbesondere die grundlegende Entscheidung des VI. Zivilsenats in BGHZ 59, 56, Fn.
5
System der Anspruchsvoraussetzungen geprägten notwendige Aufklärungen in ihren
verschieden Spielarten8 eingehen, die im Strafrecht – trotz aller grundsätzlicher
Gemeinsamkeiten – doch allgemeiner gefasst und weicher formuliert und im
Ergebnis mit Blick auf den Grundsatz in dubio pro reo weniger rigoros umgesetzt
werden, etwa weil der ärztliche Heileingriff generell Zwecke der Heilung und nicht der
Schädigung des Patienten verfolgt, so dass Zweifel an einem möglichen
Schädigungsvorsatz häufig nicht nur theoretischer Natur sind.
Jüngste Beispiele hierfür sind ein vom 5. Strafsenat des BGH (5 StR 561/10)9
entschiedener Fall eines ambulant tätigen Chirurgen, der der Patientin verschwieg,
dass bei der Operation kein Anästhesist anwesend sein würde und der sog.
Zitronensaft – Fall des 3. Strafsenats10, bei dem nicht über eine bei der notwendig
werdenden Nachoperation angewandte Außenseitermethode (nicht steril
gewonnener Zitronensaft als Entzündungshemmer) aufgeklärt wurde, die aber
letztlich auch nicht ursächlich für den Tod der Patientin geworden war, so dass über
sie, strafrechtlich ex post betrachtet, auch nicht aufgeklärt werden musste.
Es bleibt aber in Fällen der nachlässigen oder bewusst wahrheitsverschleiernden
Aufklärung in der Regel der Fahrlässigkeitsvorwurf im Raum, der nicht ohne weiteres
ausgeräumt werden kann, wenn man die Anforderungen an die ärztliche
Aufklärungspflicht ernst nimmt.
d) Nach strafrechtlichen Maßstäben ist die wahrheitsgemäße Aufklärung über Art der
Erkrankung, Umfang, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs/der Behandlung
zumindest in Grundzügen erforderlich, wobei sich nicht allgemein festlegen lässt, wie
detailliert die Aufklärung sein muss. Sie richtet sich nach den Umständen des
8
Diagnoseaufklärung (Information über den ärztlichen Befund, Grund und Anlass einer Maßnahme), Eingriffsund Verlaufsaufklärung (Entwicklung des Gesundheitszustandes ohne Behandlung,Art, Umfang und Schwere
des Eingriffs, mögliche Alternativen der Behandlung [Methodenaufklärung]), Risikoaufklärung (Gefahren der
Behandlung,, möglich Folgen und Nebenwirkungen), Therapie- oder Sicherungsaufklärung
(schadensvermeidendes Patientenverhalten, weitere Kontrollen und Untersuchungen sowie erforderliche
Nachbehandlungen)
9
Urteil vom 7.7.2011 = NJW 2011 (Neue Juristische Wochenschrift), 2895.
10
BGH Urteil v. 22.12.2010 – 3 StR 239/10 = NJW 2011, 1088
6
Einzelfalls, bei denen auch die Dringlichkeit des Eingriffs und dessen Risikohöhe
sowie ein erkennbares Patienteninteresse wichtig sein können.
Die Aufklärung bezieht sich im Normalfall auf eine den Regeln der Wissenschaft und
der ärztlichen Heilkunst, also den medizinischen Standards entsprechende
Behandlung. Hierauf bezieht sich auch die Einwilligung des ausreichend
aufzuklärenden Patienten. Wird die Behandlung jedoch nicht lege artis
vorgenommen, ist die Einwilligung trotz Aufklärung unwirksam und der Arzt macht
sich bei schuldhaftem Verhalten strafbar, so ausdrücklich der 3. Strafsenat des BGH
in einem Fall, in dem bei der Tumorbehandlung mit Gammastrahlen die
therapeutische Dosis fehlerhaft berechnet worden war,11 ebenso der 1. Strafsenat
für den Verstoß gegen die anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst durch die
Wiederverwendung einer angefangenen Flasche des Narkosemittels Propofol.12
Eine Aufklärung muss zudem hinsichtlich möglicher negativer Folgen umso
ausführlicher sein, je weniger sie medizinisch indiziert ist, ein Grundsatz, der vor
allem bei kosmetischen Operationen eine Rolle spielt. Auch auf Abweichungen von
den üblichen Standards bei der geplanten Behandlung und alternative
Behandlungsmethoden ist der Patient hinzuweisen, damit er das mögliche Risiko für
sich beurteilen kann.13
Maßstab für das Erforderliche an Aufklkärungist im Übrigen der verständige
Durchschnittspatient, dem die Aufklärung eine ausreichende Grundlage für die
sinnvolle Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bieten muss.
4. Aufklärungspflicht und Wahrhaftigkeitsgebot versus Patientenwohl?
Dass Wahrheit weh tun kann und nur schwer zu ertragen oder zu akzeptieren ist, ist
eine allgemeine menschliche Erfahrung. Nicht jeder hat die Größe, die Wahrheit zu
akzeptieren und sein Leben darauf einzustellen.
11
BGHSt. 43, 306, 309, Urt. v. 19.11.1997 – 3 StR 271/97.
12
BGH NStZ 2008, 278 f.=Beschl. v. 20.12.2007 1- StR 576/07.
13
Gössel/Dölling Strafrecht BT/1 § 12 Rdn. 62 mit weiteren Nachw.
7
a)Die dem Patienten vom Arzt eröffnete Diagnose einer schweren, vielleicht sogar in
absehbarer Zeit tödlichen Erkrankung, stürzt den Patienten nicht selten in tiefe
Verzweiflung, die Kurzschlussreaktionen verursachen kann. Auch derjenige, der die
Nachricht überbringen muss, wird von der Last der Verantwortung unter Umständen
erdrückt und er greift entweder bewusst zur Lüge oder er verschweigt einfach oder
verschleiert das Ausmaß der Erkrankung und versucht, die notwendigen
Behandlungsmaßnahmen mit harmlosen Begründungen zu erklären. Wenn der
Patient dann mit der vorgeschlagenen Behandlung einverstanden ist, steht die
anschließende Behandlung oder der erforderliche Eingriff rechtlich auf tönernen
Füßen, da der Patient nicht in dem erforderlichen Maß aufgeklärt wurde.
Allerdings wird unter dem Stichwort des „therapeutischen Privilegs“ (Privileg für die
Unwahrheit aus therapeutischen Gründen) aufgrund eines aus der Fürsorgepflicht
abgeleiteten Schonungsgrundsatz in der rechtswissenschaftlichen Literatur die –
nachvollziehbare - Auffassung vertreten, dass die Aufklärungspflicht des Arztes dort
ihre Grenzen findet, wo sie für den Patienten riskanter sein könnte als der Eingriff
selbst, bzw. die Aufklärung gefährlicher ist als die Krankheit14 oder wo zumindest
eine nicht nur vorübergehende seelische Beeinträchtigung oder eine nicht nur
unerhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des Patienten als Folge der
uneingeschränkten Offenbarung der Diagnose zu befürchten ist.15
b) Die Rechtsprechung ist erheblich zurückhaltender, wenn es darum geht,
Ausnahmen oder Einschränkungen der ärztlichen Aufklärungspflicht zuzulassen.
So hatte bereits das RG16 die Auffassung vertreten, dass auch der schwer Kranke es handelte sich um eine schon vorher psychisch labile Frau, bei der der geäußerte
Verdacht auf eine Krebserkrankung einen Zustand tiefer Depression mit
anschließender Aufnahme in einer Heilanstalt hervorrief – einen Anspruch auf
Aufklärung habe. Allerdings könne die Persönlichkeit, die körperliche und seelische
Befindlichkeit des Kranken von der Verpflichtung zur völligen Aufklärung befreien.
14
Vgl. Gössel/Dölling a.a.O. Rdn. 61; Schönke/Schröder/Eser StGB 27. Aufl. § 223 Rdn. 40 c und 42 jeweils mit
weiteren Nachweisen.
15
Vgl u.a. Hirsch in LK 11. Aufl. § 228 Rdn. 24 mit weiteren Nachw.
16
RGSt. 66, 181, Urt. v. 29.7.1932 – II 57/32.
8
Daran schloss der damalige 2. Strafsenat des RG angesichts des recht unsensiblen
Umgangs mit der Patientin die Bemerkung an, die Art und Weise wie der Arzt den
Kranken wahrheitsgemäß aufkläre, sein eine Frage des ärztlichen Takts. Nicht jede
Verletzung des Takts enthalte aber schon einen ärztlichen Kunstfehler.
In dem, einem Urteil des 4. Strafsenats v. 18.11.195717 zugrunde liegenden Fall
hatte der behandelnde Arzt vor der anstehenden Operation seiner Patientin nicht
deutlich gesagt, dass er möglicherweise über die Entfernung einer großen
Gebärmuttergeschwulst hinaus, den Uterus ausräumen müsse, weil er sie nicht
unnötig beunruhigen wollte. Er ging davon aus, dass die Patientin damit schon
einverstanden sein werde, wenn allein dadurch auch die Geschwulst beseitigt
werden könne Bei der Operation erwies sich die Entfernung des ganzen
Gebärmutterkörpers als medizinisch dringend geboten. Die Patientin war mit einem
so weitgehenden Eingriff jedoch nicht einverstanden und zeigte den Arzt an, der
wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt wurde. Den Freispruch des
Landgerichts hob der BGH auf, weil das LG nicht geprüft hatte, ob der Arzt fahrlässig
gehandelt hatte, als er es unterließ, sich vor der Operation die Zustimmung der
Patientin zu einem weitergehenden Eingriff einzuholen, der sich möglicherweise bei
der Operation als notwendig herausstellen könnte. Den Hinweis des Arztes, er habe
die Patientin nicht mehr als notwendig beunruhigen wollen, wies der BGH als falsch
verstandene Rücksichtnahme zurück. Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die
Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – sei es auch aus
medizinisch berechtigten Gründen - eigenmächtig und selbstherrlich eine
folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt
werden kann, ohne dessen Billigung vornähme.18 Im Übrigen verweist der 4.
Strafsenats auf die Rechtsprechung des. VI. Zivilsenats und dessen Grundsätze zur
Aufklärungspflicht des Arztes und darauf, dass es durchaus Fälle geben könne, in
denen der Arzt seiner Pflicht zur Heilung des Kranken gegenüber denjenigen zu
seiner Aufklärung den Vorrang einräumen darf.19
17
BGHSt. 11. 111.
18
BGH aaO S. 114.
19
BGH a.a.O. S. 116
9
Danach kann zwar aus besonderen Gründen im Einzelfall dann auf eine Aufklärung
insbesondere über den Krankheitsbefund verzichtet werden, wenn zu befürchten,
dass die vollständige Aufklärung zu einer ernsten, nicht behebbaren
Gesundheitsschädigung des Patienten führen würde.20 Das gilt aber nur unter engen
Voraussetzungen. Eine lediglich „herabgedrückte Stimmung und ein herabgesetztes
Allgemeinbefinden“ müssen als Folge der Aufklärung in Kauf genommen werden.21
Stets sind aber konkrete, auf den Patienten, seine Persönlichkeit und psychische
Befindlichkeit bezogene Anhaltspunkte erforderlich, die dessen erhebliche
Gefährdung bei einer wahrheitsgemäßen und umfassenden Aufklärung nahelegen.
Bloß vage Befürchtungen oder generelle Vermutungen genügend für eine
Einschränkung der Aufklärungspflicht nicht.22 Denn Sinn und Zweck der Aufklärung
dürfen nicht unterlaufen bzw. ausgehebelt werden.23
5. Ein anderes Problem machen neuere medizinwissenschaftliche Erkenntnisse über
den schädigenden Einfluss der menschlichen Psyche auf den Erfolg einer
Heilbehandlung deutlich, die als Nocebo-Effekt bekannt geworden sind und als
Bruder des Placebo-Effekts, jedenfalls aus medizinischer Laiensicht, angesehen
werden können.
Placebo kann ohne Wirkstoff heilen, Nocebo hat den gegenteiligen Effekt, der
Hinweis auf möglich schädigende Folgen eines Medikaments kann dazu führen, dass
Menschen tatsächlich solche Folgen bei sich feststellen. Die Erwartungshaltung
bestimmt also die Wirksamkeit einer Behandlung mit. Das ändert aber rechtlich
nichts an der Voraussetzung einer wahrheitsgemäßen Information des Patienten für
eine rechtsmäßige medizinische Behandlung. Auch hier ist der Arzt nicht nur wegen
seines Fachwissens, sondern auch als Psychologe gefragt, wen ihm als probates
Mittel gegen unerwünschte gesundheitliche Reaktionen bei seinen Patienten
20
RGSt. 66, 181, 183; BGH NJW 1959, 815; BGH Z 59, 56.
21
RGZ 163, 129; BGHSt. 11, 111, 116
22
BGHSt. 11, 111, 115.
23
Schön ke/Schröder/ Eser § 23 Rdn. 42.
10
angeraten wird, zwar auch über mögliche ungünstige Folgen einer Behandlung
aufzuklären, diese aber in einen positiven Rahmen zu verpacken.24
Erinnert sei an das RG, das schon früher in solchen Zusammenhängen auf den
notwendigen ärztlichen Takt hingewiesen hat.
Denn das war schon in vergangenen Zeiten bekannt: der Glaube kann Berge
versetzen.
24
Ärzte Zeitung vom 24.1.2012
11
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