Protestkultur ab Klasse 9 Jugendproteste in Europa M1 Jugendarbeitslosigkeit in Europa Ein Blick auf die Lage der Jugendlichen am Arbeitsmarkt vieler europäischer Staaten lässt erschrecken. Arbeitslosenquoten von über 50 Prozent sind in Spanien und Griechenland Wirklichkeit (August 2014). In Italien liegt die Quote bei 44,2 Prozent, in Portugal bei 35,6 Prozent, Frankreich meldet 24 Prozent, Polen 22,8 Prozent. Selbst die in der PISA-Studie so erfolgreichen skandinavischen Staaten Schweden (22,1 Prozent) und Finnland (19,8 Prozent) weisen – für deutsche Verhältnisse – extrem hohe Zahlen auf. In Großbritannien liegt die Quote bei 16,1 Prozent, in den Niederlanden bei 10,1 Prozent. Österreich (8,2 Prozent) und Deutschland (7,6 Prozent) weisen die geringsten Quoten in der EU auf. Bei der Betrachtung dieser Zahlen ist aber zu beachten, dass die Prozentangaben nicht die Anteile an der jugendlichen Bevölkerung darstellen. 53,7 Prozent (Spanien) bedeuten nicht, dass 53,7 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit haben. Die Jugendarbeitslosenquote drückt aus, wie viele 15–24-Jährige im Vergleich zu den gleichaltrigen Erwerbspersonen arbeitslos sind. Von den arbeitenden Jugendlichen sind demnach 53,7 Prozent Arbeit suchende junge Leute. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Jugendliche in der angegebenen Altersklasse nicht arbeiten, sondern noch zur Schule gehen, studieren oder anderweitig beschäftigt sind. Sie suchen deshalb keine Arbeit, tau- M2 Protestieren – aber wie? Seit Jahren erschüttern Jugendproteste verschiedene Staaten in der Europäischen Union. Dabei geht es nicht nur um die Wut über die eigene Arbeitslosigkeit, sondern den Protestierenden geht es auch um die politischen Verhältnisse in ihren Ländern: Perspektivlosigkeit, Korruption und Bestechlichkeit staatlicher Amtsträger, die Folgen der Finanzkrise usw. Letztlich geht es darum, dass viele Jugendliche (und auch Erwachsene) unzufrieden sind mit der ungleichen Verteilung des Wohlstandes in ihren Ländern. Auf der einen Seite stehen die Reichen, denen die Finanzkrise und die anschließende Sparpolitik der Regierungen und der EU nichts anhaben kann, auf der anderen Seite stehen die vielen, vor allem jungen Menschen, die unter den Folgen dieser Verhältnisse leiden. Eine Arbeit zu finden, ein geregeltes und auskömmliches Einkommen zu haben, eine eigene Wohnung zu mieten, eine Familie zu gründen – alles chen also nicht in der Arbeits(losen)statistik auf. Diese Jugendlichen sind aber zu einem Teil deshalb noch an einer (Hoch)Schule, weil sie keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Die Zahlen der Arbeitsuchenden sind gewaltig und die Furcht der Arbeitsuchenden ebenfalls. Sie sehen ihre Zukunftsaussichten pessimistisch. Die Folge ist eine wachsende Wut auf Staat und Wirtschaft. Diese Ohnmachtsgefühle gingen in den vergangenen Jahren auch in gewaltsame Proteste über. Die EU und ihre Mitgliedstaaten versuchen, die Jugendarbeitslosigkeit in den am stärksten betroffenen Ländern zu mildern. Viel Geld wird zur Verfügung gestellt, um Jugendliche nach ihrer Schulzeit zu beschäftigen. Über die „Jugendgarantie“ soll jeder Jugendliche innerhalb von vier Monaten nach Beendigung der Schule ein Angebot für einen Arbeitsplatz, ein Praktikum, eine Ausbildungsstelle oder eine Weiterbildung bekommen. Was teuer aussieht, ist auf Dauer billiger als Dauerarbeitslosigkeit der betroffenen Jugendlichen. Daneben werden Unternehmen von Ausbildungskosten entlastet, um ihre Bereitschaft zu erhöhen, junge Leute auszubilden. Die Ausbildung der Jugendlichen soll in Zukunft stärker berufsbezogen werden mit Theorie- und Praxisanteilen. Gefördert werden ebenfalls Praktika in Unternehmen und Auslandsaufenthalte zum Zwecke des Studiums oder für Praktika. Autorentext unerreichbare Wunschträume für viele junge Leute in einer Reihe von EU-Ländern. Dabei nehmen die Proteste unterschiedliche Formen an. Organisiert werden sie zunehmend über soziale Medien wie Facebook und Twitter. So sind verschiedenste Aktionen – neben Demonstrationen herkömmlicher Art mit vielen durch Straßen ziehenden Teilnehmern – schnell und ohne großen Aufwand zu organisieren. In manchen Fällen verlaufen solche Proteste gewaltsam, z.B. 2011 in Großbritannien und Griechenland. In Spanien gab und gibt es Protestlager und sogenannte Spaziergänge*¹. Eine weitere Protestform sind die „Sitins“, also eine Form der Sitzblockade, die bereits eine lange Tradition haben. Andere Formen des Protests bilden sich im Internet. Eine bekannte ist Avaaz, ein Kampagnennetzwerk, das sich in mehreren Sprachen Europas und Asiens mit Online-Petitionen an die Politik wendet. In Deutschland können Online-Petitionen*² seit 2005 offiziell beim © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2014. Autor: Heinrich Lübbert, Steinhagen Von diesem Arbeitsblatt ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterricht gestattet. Für inhaltliche Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. Onlinemagazin Politik/Wirtschaft Protestkultur Bundestag eingereicht werden. Auf diese Weise lassen sich besonders viele Unterzeichner finden. Cyberaktivisten nutzen E-Mails, Foren, Twitter, Podcasts, eigene Internetseiten und Wikis, um auf ihren Protest aufmerksam zu machen. Über viele Kleinspenden veröffentlichen solche Netzwerke sogar große Anzeigen. Eine der massivsten Protestformen ist die Abwesenheit bei den demokratischen Wahlen. Die Wahlbeteiligung der jungen Bürger ist deutlich geringer als die der älteren – auch eine Form des Protests. Für radikale ab Klasse 9 Gruppierungen ist die Unzufriedenheit vieler Jugendlicher und junger Erwachsener ein gefundenes Fressen. Sie bieten den Enttäuschten ebenfalls Protestmöglichkeiten an, die dann aber die Wurzeln der Demokratie bedrohen. Hoffnungslosigkeit verführt zur Radikalisierung. Darin liegt die Gefahr einer langfristigen Krise mit vielen Betroffenen in jungem Alter. Diese Entwicklung gilt es zu vermeiden. Europas Staaten müssen handeln – das ist die Botschaft der Proteste. *¹ Protestlager, die polizeilich geräumt werden. *² Petition: Bittschrift, Eingabe, Beschwerde Autorentext M3 Sitzblockade von Jugendlichen in Valencia (Spanien) am 22.02.2012 Quelle: © iStockphoto LP. M4 Gegen Machtkartell und Marionetten Viele der lange schon schwelenden Konflikte konnten in einigen Ländern lange kaschiert werden. Durch die Krise aber wurden die Probleme nach außen gestülpt: In Italien, Spanien oder Portugal konnten die Eltern die erwachsenen Kinder bis vor kurzem durchfüttern. Jetzt, wo die Renten und Zuschüsse gekürzt werden und die Mieten explodieren, werden auch diese privaten sozialen Netze immer dünner – mit der Folge, dass in den Mittelmeerländern die am besten ausgebildete Generation ihrer Geschichte wortwörtlich auf der Straße steht. […] Das Gefühl, bluten zu müssen für die jahrzehntelange Überschuldung ihres jeweiligen Landes und selbst nie mehr in den Genuss des Sozialstaates zu kommen, der der Elterngeneration ein angenehmes Leben bescherte, gibt den Protesten einen großen Teil seiner Wucht. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2014. Autor: Heinrich Lübbert, Steinhagen Von diesem Arbeitsblatt ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterricht gestattet. Für inhaltliche Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. Onlinemagazin Politik/Wirtschaft Protestkultur Damit hängt auch die radikale Abwendung vom […] Politikbetrieb zusammen. Ob nun Spanien, Griechenland oder Portugal, die Repräsentanten der Volksparteien werden – so sie versuchen, sich einzumischen – ausgepfiffen und verunglimpft als Besitzstandswahrer […] Politiker in Deutschland haben […] auffällig schnell erklärt, warum es hierzulande nicht zu ähnlichen bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen könne wie beispielsweise in London. Deutschland unterscheidet sich in einigen Punkten […] grundlegend von Großbritannien. Es wird mehr Wert auf Präventionspolitik gelegt als in England oder auch Frankreich, wo der Staat mittlerweile völlig resigniert zu haben scheint und viel stärker auf Überwachung und Kontrolle setzt als auf soziale Integration. […] Vor allem aber verzeichnet Deutschland – abgesehen von den Niederlanden und Österreich – die niedrigste ab Klasse 9 Jugendarbeitslosigkeit Europas, was vielleicht erklärt, warum es auch noch keine Zeltlager in den Zentren der Städte gibt. Der stille politische Protest ist hierzulande freilich ähnlich groß wie in anderen Ländern. Laut der ShellJugendstudie lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 25Jährigen in den vergangenen zehn Jahren bei knapp über 50 Prozent, mit sinkender Tendenz. Man möchte deshalb lieber nicht wissen, was passiert, wenn die Weltwirtschaftskrise den deutschen Arbeitsmarkt erreicht – und damit auch zuallererst die Alterskohorte, die hierzulande in den vergangenen zehn Jahren „Generation Praktikum“ hieß. Quelle: Alex Rühle: Gegen Machtkartell und Marionetten. Unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/jugendproteste-in-europa-stehtauf-wenn-ihr-eine-zukunft-wollt-1.1130989-2 (eingesehen am 13.11.2014) © Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH/Süddeutsche Zeitung GmbH.. Arbeitsvorschläge: 1. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in der EU unterschiedlich hoch. Stellt aus M 1 die Fakten zusammen. 2. Erklärt, was die Arbeitslosenquote tatsächlich bedeutet (M 1). 3. Proteste nehmen unterschiedlichste Formen an. Stellt diese mithilfe von M 2 und M 3 zusammen und bewertet sie anschließend. 4. Aber auch in Deutschland ist nicht alles gut. Begründet diese Aussage anhand von M 4. 5. Hilfe für die Jugend? – Stellt die in M 1 geplanten Maßnahmen zusammen. Diskutiert anschließend in der Gruppe. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2014. Autor: Heinrich Lübbert, Steinhagen Von diesem Arbeitsblatt ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterricht gestattet. Für inhaltliche Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. Onlinemagazin Politik/Wirtschaft Protestkultur ab Klasse 9 Jugendproteste in Europa Lösungsvorschläge: AV1 Die Jugendarbeitslosigkeit ist vor allem in Südeuropa hoch (Griechenland, Spanien, Portugal und Italien). Hier liegt sie bei 35 bis über 50 Prozent. Ebenfalls hoch ist sie in Mitteleuropa (Frankreich, Großbritannien und Polen) mit über 20 Prozent. Erstaunlich sind auch die Raten in den skandinavischen Ländern (Beispiele: Schweden mit 22,1 Prozent und Finnland mit 19,8 Prozent). Nur Österreich und Deutschland liegen unter 10 Prozent. AV2 Die Prozentangaben stellen nicht die Anteile an der jugendlichen Bevölkerung dar. 53,7 Prozent (Spanien) bedeuten nicht, dass 53,7 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit haben. Die Jugendarbeitslosenquote drückt aus, wie viele 15–24-Jährige im Vergleich zu den gleichaltrigen Erwerbspersonen arbeitslos sind. Von den arbeitenden Jugendlichen sind demnach 53,7 Prozent Arbeit suchende junge Leute. Die Arbeitslosenquote beziffert also den Anteil an den Jugendlichen, die dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen (Suchende im Verhältnis zu den Arbeitenden). Da viele Jugendliche der betreffenden Gruppe noch die Schule besuchen oder in ein Studium eingebunden sind, ist die Arbeitslosenquote entsprechend zu deuten. AV3 Die Proteste drücken sich in unterschiedlichen Grundformen aus. Unterscheiden lassen sich anhand von M 2 und M 3: – aktiver Straßenprotest in Form von Massendemonstrationen, Sitzstreiks, Blockaden, Zeltlagern usw., die z. T. auf beiden Seiten gewalttätige Formen annehmen; – Sammlung von Protesten in den sozialen Medien, die sich an die Politik wenden (Petitionen usw.). Solche Proteste können bestimmte Internetseiten, Foren oder Kampagnennetzwerke sein, über die weitere Aktivitäten organisiert und abgesprochen werden, etwa Straßenproteste. – Stimmenthaltung bei Wahlen; der Anteil der Nichtwähler bei den Parlamentswahlen befindet sich seit Jahren im Rückgang. Dies ist sicherlich auch ein Ausdruck steigender Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in vielen europäischen Ländern. Proteste sind ein legales Mittel der politischen Teilhabe. Für die meisten Jugendlichen sind sie neben der Wahlbeteiligung die einzige Form des Mitbestimmens. Solange sie im Rahmen der geltenden Gesetze ablaufen und nicht zur Gewalt greifen, sind sie Ausdruck einer demokratischen Grundgesinnung. Das (junge) Volk nimmt Einfluss auf politische Entscheidungen – ganz im Sinne der Demokratie als Staatsform. (Das Fotos M 3 kann vor diesem Hintergrud nach dem Schema Beschreiben/Untersuchen/Deuten zusätzlich analysiert werden. Ein Grundgedanke dazu: Die Schilder sagen ausschließlich „No“. Was aber soll an die Stelle des jetzigen Zustandes treten und wie soll eine Veränderung erreicht werden?) AV4 Was in Deutschland auf den ersten Blick als fast „paradiesisch“ erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen durchaus als Situation mit verstecktem Protestpotenzial. Die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung Jugendlicher zeigt, dass das Interesse an bzw. die Zufriedenheit mit der Politik nicht groß ist. Kommen wirtschaftliche Schwierigkeiten (und damit eine höhere Arbeitslosigkeit) dazu, kann sich auch in Deutschland eine Protestdynamik entwickeln. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2014. Autor: Heinrich Lübbert, Steinhagen Von diesem Arbeitsblatt ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterricht gestattet. Für inhaltliche Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. Onlinemagazin Politik/Wirtschaft Protestkultur ab Klasse 9 AV5 Die Europäische Union (EU) hat eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die die Lage der arbeitslosen Jugendlichen verbessern soll. Kernstück ist die „Jugendgarantie“. Sie soll sicherstellen, dass jeder Jugendliche spätestens vier Monate nach Beendigung der Pflichtschulzeit entweder einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommt. Daneben ist die Vermittlung in ein Praktikum oder in Weiterbildung geplant. Um die Unternehmen zu ermutigen, junge Leute einzustellen, sollen sie durch Zuschüsse von Ausbildungs- bzw. Beschäftigungskosten entlastet werden. Die anschließende Diskussion kann idividuelle Verläufe nehmen. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2014. Autor: Heinrich Lübbert, Steinhagen Von diesem Arbeitsblatt ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterricht gestattet. Für inhaltliche Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. Onlinemagazin Politik/Wirtschaft