Simon Teune BBE Europa-Nachrichten 11/2011 „Sie haben die Lust auf politische Einmischung für sich entdeckt.“ Interview mit Simon Teune BBE: Europaweit sind Protestbewegungen für die Regulierung des internationalen Finanzsektors zu beobachten, die unter dem Schlagwort „Occupy-Bewegung“ die Schlagzeilen beherrschen. Kann man den Charakter der Bewegung im Hinblick auf Akteure, Strukturen, Mobilisationsgrad und Mobilisierungspotential einheitlich beschreiben, oder bestehen im europäischen Vergleich zu große Unterschiede? Teune: Man kann das nur mit sehr großem Vorbehalt tun, denn die Aussagen beruhen nicht auf einer fundierten Forschung, sondern auf Beobachtungen und Informationen aus den Medien. Eine Gemeinsamkeit scheint zu sein, dass diese Bewegung - genauso wie viele vorher auch – hauptsächlich vom gebildeten Mittelstand getragen werden. Ansonsten gibt es im europäischen Vergleich sehr große Unterschiede. Zum einen liegt dies am unterschiedlichen Konfliktpotential oder der realen sozialen Situation der Menschen vor Ort. Zum anderen liegt es an der organisatorischen Zusammensetzung. Diese ist sehr stark davon beeinflusst, zu welchem Zeitpunkt die Proteste aufgenommen wurden bzw. wie sie sich in den verschiedenen nationalen Kontexten entwickelt haben. Man hat in Spanien, der ersten europäischen Protestbewegung und stark inspiriert aus dem „arabischen Frühling“, eine offensive Zurückweisung von bereits bestehenden politischen Organisationen erkennen können – dies ging bis hin zu einem Bilderverbot, politische Symbole und Fahnen durften nicht in die Proteste reingetragen werden. Anders als die meisten vorangegangenen Protestbewegungen waren die „Empörten“ also anders organisiert: Menschen haben sich direkt zusammen gefunden, ohne dass sie über Organisationen mobilisiert wurden. In Israel und Großbritannien verlief das ähnlich wie in Spanien. In Griechenland ist die Situation anders, wo es bedingt durch den Reform- und Sparzwang schon große Proteste und eine von den Gewerkschaften sehr stark beeinflusste Streikbewegung gegeben hat, als die Occupy-Bewegung Zulauf erhielt. Hier ist eine starke Parallelität des Camps- und Versammlungsprozesses, in dem direkte Demokratie geübt wird, und eben klassischer Mobilisierung durch politische Akteure, wie Gewerkschaften und politische Parteien zu beobachten. In Deutschland 1 finden wir ebenfalls eine Mischform vor: Auch hier gab es relativ früh schon Leute, die das Camp-Modell übertragen wollten - in Berlin etwa, in Köln oder im September vor der Frankfurter Börse. Die Camp-Bewegung ist hier aber nicht auf große Resonanz gestoßen. Erst mit der großen Medienaufmerksamkeit für die OccupyWallstreet-Bewegung hat sich die Situation verändert und die Proteste haben Aufwind erhalten: Organisierte Akteure wie Attac, Campact oder auch Gewerkschaften haben sich in diese Mobilisierung eingebracht. BBE: In welchem Bezug steht die Occupy-Bewegung personell, organisatorisch und inhaltlich zu bereits bestehenden globalisierungskritischen Akteuren? Teune: Die Occupy-Bewegung ist noch sehr stark im Fluß. Im Moment gibt es gegenüber globalisierungskritischen Gruppen unterschiedliche politische Erfahrungen und Organisationsinteressen. Zum einen gibt es die campierenden Leute, die nach Vorbild der Proteste rund um den Tahrir-Platz einen öffentlichen Raum schaffen wollen, der in erster Linie ein Ort des Austauschs zu zentralen Fragen ist: Wie sind wir betroffen von der Krise? Was für Lösungen sind vorstellbar und welche Alternativen können wir entwickeln in diesen Treffen und durch die neue Bewegung? Auf der anderen Seite stehen die mehr oder weniger etablierten Akteure wie Attac, die Gewerkschaften oder die Linkspartei, die selbstverständlich auch an Veränderungen interessiert sind aber dafür bereits ihre eigene Agenda entwickelt haben und für ihre Durchsetzung den derzeitigen Rückenwind der Proteste und medialen Aufmerksamkeit nutzen wollen. Attac beispielsweise verfolgt seit der Gründung die Durchsetzung der Tobintax und die Schließung von Steueroasen. Sicherlich hat es dieses Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Interessen auch bei früheren Protestmobilisierungen schon gegeben. Zu Beginn der globalisierungskritischen Bewegung vor zehn Jahren haben sich etwa trotzkistische Gruppen diese Proteste zu Eigen gemacht. Wie es sich jetzt bei den OccupyProtesten entwickelt, ist relativ schwer absehbar. BBE: Mit Blick auf die positive Aufnahme der Proteste und Beteiligung von den meisten politischen Parteien sowie der beinahe proaktiven Begleitung der Medien: Würden Sie die These vertreten, dass mit der Occupy-Bewegung die globalisierungskritische Bewegung insgesamt in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Oder ist der augenscheinliche Konsens darauf zurückzuführen, dass der Bewegung noch gemeinsame, klare politische Ziele fehlen? Teune: Man kann das Ankommen der Globalisierungskritik in der Mitte der Gesellschaft schon viel früher nachzeichnen. Wenn man sich beispielsweise die Mobilisierung von Heiligendamm ansieht, ist dort nicht nur die gesamte politische Linke bis zu den linken Liberalen beteiligt. Im rhetorischen Umgang mit dem Protest ist hier bereits eine starke Vereinnahmung aller politischer Lager und zum Teil eine Übernahme von Forderungen zu beobachten. Dass etwa die Finanztransaktionssteuer inzwischen einen solch guten Leumund hat, liegt mit 2 Sicherheit auch daran, dass in der globalisierungskritischen Bewegung so ein großer Druck auf die Regierung aufgebaut worden ist, und dass auch schon Vorarbeiten und erste Erfolge zu verzeichnen gewesen sind. Dieser Meinungsumschwung, dass ökonomische Prozesse politisch eingehegt werden müssen und auch die sozialen Auswirkungen zu berücksichtigen seien, ist also schon seit Mitte der 2000er-Jahre zu verzeichnen. Allerdings ist politisch seither relativ wenig passiert. Gleichwohl gibt es natürlich von den verschiedenen Parteien das Interesse zu signalisieren, dass sie sich der Probleme annehmen. Viel mehr als schon die Proteste gegen Stuttgart 21 oder die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke, haben die gegenwärtigen Proteste eine parlaments- und parteienkritische Stoßrichtung. In Spanien ist das mit Parolen wie „Sie repräsentieren uns nicht“ offensichtlich. Hier sind die Besetzer ja eher als eine bankenkritische Bewegung wahrgenommen worden, was ich für eine starke Verkürzung halte: Den Protestierenden ist es genauso ein Anliegen, dass Parteien und parlamentarische Demokratie nicht mehr funktionieren, wie das konkrete Problem, dass die politischen Akteure die Finanzkrise nicht in den Griff bekommen. Es besteht ja auch unter den Parlamentariern ein Bewusstsein dafür, dass ihre Handlungsmöglichkeiten noch sehr viel weiter eingeschränkt worden sind – langfristig, weil durch die Finanzkrise weniger Haushaltsmittel zur Verteilung zur Verfügung stehen werden, wie auch kurz- und mittelfristig, da Entscheidungen nicht mehr in den nationalen Parlamenten getroffen werden, sondern auf europäischen Gipfeltreffen oder noch schlimmer von Ratingagenturen, die praktisch das Reformprogramm für Griechenland diktieren oder indem der Rücktritt eines Politikers davon abhängt, wie die Börsen auf eine entsprechende Ankündigung reagieren. Dies sind Entwicklungen, die im Grunde genommen die Kritik der Occupy-Bewegung sehr plastisch machen, aber wo von Seiten der politisch Verantwortlichen wenig Mut zum Handeln zu erkennen ist. BBE: Mit dem Blick auf die Occupy-Bewegung und trotz all der Differenzen im europäischen Vergleich: Kann man davon ausgehen, dass Beteiligung und Mitgestaltung in dieser Bewegung als wesentliches Merkmal angelegt ist, oder ist es bisher "nur" als Protest beobachtbar? Teune: Das ist ja kein Widerspruch. Das Interessante an den Protesten ist ja gerade, dass Formen der Selbstorganisation und der Entscheidungsfindung, die früher in sozialen Bewegungen - also den Neuen Sozialen Bewegungen in den 1980er Jahren oder der globalisierungskritischen Bewegung in den 2000er Jahren - schon länger eingeübt worden sind, heute ostentativ auf die Straße getragen werden. Das Demokratieproblem wird als ein wesentliches Argument zum Protest vorgetragen: Das Legitimitätsproblem von parlamentarischer Demokratie in unserer Zeit wird von der Bewegung so angegangen, dass eine neue Form von Demokratie erfunden und sich angeeignet wird, in der die klassischen Vermittlungsinstanzen und 3 Repräsentanten fehlen. Nur das ist wichtig, was in die Versammlungen hineingetragen wird und dann über die Medien und über das Internet verbreitet wird. Dieser Aspekt, dass man Plätze besetzt und sagt, Politik findet immer weniger in den Parlamenten statt und es muss eine Wiederaneignung von Politik von den BürgerInnen stattfinden, das ist ein Ausdruck davon, dass es sehr wohl um die Entwicklung von Alternativen geht, auch wenn diese nicht immer in realpolitische Forderungen gegossenen werden. Es geht vor allen Dingen darum, sich als Bürger und Bürgerinnen selbst zu ermächtigen und zu sagen, dass Demokratie nur funktioniert, wenn sich die Menschen daran beteiligen und wenn sie in ihren Bedürfnissen und mit ihren Problemen auch ernst genommen werden. Auf den ersten Blick sind diese Versammlungsformen der Bewegung vielleicht schwer ernst zu nehmen, weil sehr ausschweifend über persönliche Befindlichkeiten und grundlegend über die Form der Kommunikation untereinander und mit Außenstehenden gesprochen wird. Aber im Grunde genommen ist dies ein wichtiger Impuls, eine Form zu entwickeln, wie gesellschaftlicher Austausch stattfinden soll. Und das ist eben nicht so stark abgegrenzt und auf eine eindeutige politische Gruppierung oder Organisation bezogen, wie es z. B. in der globalisierungskritischen Bewegung noch der Fall gewesen ist, wo Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Milieus hauptsächlich auf Vernetzungs- oder auf Gruppentreffen stattgefunden hat. Die Idee von Occupy ist hingegen, Öffentlichkeit herzustellen und allen die Möglichkeit zu geben, sich zu artikulieren. In wie weit das dann mittelfristig produktiv ist im Hinblick auf die Entwicklung gemeinsamer Zielsetzung und konkreter politischer Forderungen, ist noch einmal eine andere Frage. Die Gefahr des effektlosen Abflauens der Protestbewegung ist natürlich dann gegeben, wenn die Erfahrung der Massenmobilisierung wie in Spanien, wo man wochenlang mit vielen Leuten auf der Straße übernachtet und mit Zehntausenden diskutiert, ausbleibt. BBE: Welche qualitativen Unterschiede bestehen im Vergleich zu „älteren“ Bewegungen der 80er Jahre und zur globalisierungskritischen Bewegung der vergangenen zehn Jahre? Teune: Ein großer Unterschied zu den neuen sozialen Bewegungen und auch zu der globalisierungskritischen Bewegung ist, dass die Einheit und das Bezugssystem einer politischen Gruppe oder Organisation eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Und dass diese Bewegung nicht als ein Netzwerk von Netzwerken funktioniert, wie das bei anderen Bewegungen der Fall gewesen ist, sondern dass es eine sehr viel unmittelbarere Vernetzung von einzelnen Menschen gibt, die vielleicht über Freundeskreise oder über lose Initiativen miteinander zu tun haben. Das scheint vor allem für Israel, Spanien und Großbritannien zu gelten: Dass sehr viel über das Internet läuft und die Leute direkt über das Internet kommunizieren und nicht so zu sagen den Filter oder die Stütze einer längerfristig arbeitenden Gruppe haben. Diese 4 Entwicklung entspricht ja eigentlich dem veränderten Engagementprofil, das es heute gibt. Dass sich Menschen nicht langfristig an Organisationen binden, sondern sich eher kurzfristig, projektförmig, situativ engagieren. Und die Frage ist, in wie weit das zu verstetigen ist. In Spanien, wo es diese starke Dynamik gegeben hat, scheint es der Fall zu sein, dass sich die Platzbesetzungen auch mittelfristig in Strukturen übersetzen, also in neue Formen der Koordination. Und in anderen Ländern, wie Frankreich, Deutschland oder Schweden, muss man schauen, was mittelfristig entsteht. In Spanien hat es bereits nach dem 11. März 2004 nach den Attentaten schon eine Facebookmobilisierung gegeben, wo die Menschen vor den Wahlen zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen sind. Aber diese Erfahrungen gibt es in Deutschland einfach nicht, dass so große Mobilisierungen ohne Organisationen funktionieren. Da sich in Deutschland aber Organisationen wie Campact und Attac einmischen, die viel Erfahrung in der Mobilisierung von Menschen haben, bleibt die Entwicklung spannend. Auch hier sind viele Menschen neu politisiert und mobilisiert worden durch diesen Konflikt. Sie haben die Politik und die Lust auf politische Einmischung für sich entdeckt. Und da ist es längerfristig spannend zu schauen, welche biografischen Brüche sich hierdurch ergeben, und welche Projekte sich entwickeln, die vielleicht gar nicht unbedingt die ursprüngliche inhaltliche Ausrichtung haben müssen, sondern einfach den Schwung mitnehmen und die Lust an der Kritik in ein anderes Feld tragen. BBE: Was uns als letzte Frage noch interessieren würde: Gehört es als Wissenschaftler dazu, am Samstag gemeinsam mit anderen Demonstranten auf die Straße zu gehen, um das Regierungsviertel zu umzingeln? Teune: Also ich bin bisher erst zweimal da gewesen. Bei mir ist es die klassische Hürde, die sozialem Engagement im Wege steht, dass ich einfach keine Zeit habe, mich regelmäßig zu beteiligen und mich bei den Protesten einzubringen. Aber am Samstag werde ich wieder dabei sein. Diesmal weniger aus einem wissenschaftlichen Interesse, sondern als politisch denkender Mensch. Das Interview führten Alexandra Moll und Mirko Schwärzel. Simon Teune ist seit Januar 2009 Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2005 arbeitet Teune am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und beschäftigt sich mit den Forschungsthemen Soziale Bewegungen, Protest & Kultur, Massenmediale Diskurse, Demokratie und Zivilgesellschaft. Kontakt: [email protected] 5