URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 5. September 2012(*) „Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus – Art. 2 Buchst. c – Flüchtlingseigenschaft – Art. 9 Abs. 1 – Begriff ‚Verfolgungshandlungen‘ – Art. 10 Abs. 1 Buchst. b – Religion als Verfolgungsgrund – Verknüpfung zwischen diesem Verfolgungsgrund und den Verfolgungshandlungen – Pakistanische Staatsangehörige, die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sind – Handlungen der pakistanischen Behörden, mit denen das Recht, seine Religion öffentlich zu bekennen, ausgeschlossen wird – Handlungen, die so gravierend sind, dass der Betroffene die begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion haben kann – Individuelle Prüfung der Ereignisse und Umstände – Art. 4“ In den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 9. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar bzw. am 2. März 2011, in den Verfahren Bundesrepublik Deutschland gegen Y (C-71/11), Z (C-99/11), Beteiligte: Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, Bundesbeauftragter für Asylangelegenheiten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, des Richters A. Rosas, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2012, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Y und Z, vertreten durch die Rechtsanwälte C. Borschberg und R. Marx, – der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, N. Graf Vitzthum und K. Petersen als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. April 2012 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, berichtigt in ABl. 2005, L 204, S. 24, im Folgenden: Richtlinie). 2 Diese Ersuchen ergehen in Verwaltungsstreitsachen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium des Innern, dieses vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), einerseits und den pakistanischen Staatsangehörigen Y und Z andererseits über die Ablehnung der von ihnen gestellten Anträge auf Gewährung von Asyl und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat (im Folgenden: Genfer Konvention). 4 Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 der Genfer Konvention findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“. Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 5 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in ihrem Art. 9 („Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) vor: „(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ 6 Art. 15 („Abweichen im Notstandsfall“) der EMRK bestimmt: „(1) Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. (2) Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 [‚Recht auf Leben‘] nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3 [‚Verbot der Folter‘], Artikel 4 Absatz 1 [‚Verbot der Sklaverei‘] und Artikel 7 [‚Keine Strafe ohne Gesetz‘] in keinem Fall abgewichen werden. …“ Unionsrecht Charta der Grundrechte der Europäischen Union 7 Art. 10 („Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) enthält einen Abs. 1, der wörtlich mit Art. 9 Abs. 1 EMRK übereinstimmt. 8 Die Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, sind in den Art. 2, 4, 5 Abs. 1 und 49 der Charta verankert. Richtlinie 9 Nach dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie stellt die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. 10 Wie sich aus ihrem zehnten Erwägungsgrund in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV ergibt, achtet die Richtlinie die Rechte, Freiheiten und Grundsätze, die in der Charta niedergelegt sind. Sie zielt insbesondere darauf ab, auf der Grundlage der Art. 1 und 18 der Charta, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende sicherzustellen. 11 Die Erwägungsgründe 16 und 17 der Richtlinie lauten: „(16) Es sollten Mindestnormen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention zu leiten. (17) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.“ 12 Ziel der Richtlinie ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz sowie des Inhalts des zu gewährenden Schutzes. 13 Nach ihrem Art. 2 bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck „a) ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben d) und f); … c) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will … d) ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat; …“ 14 Nach Art. 3 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling gilt, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. 15 Art. 4 in Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) der Richtlinie, der die Einzelheiten der Prüfung der Ereignisse und Umstände festlegt, bestimmt in Abs. 3: „Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist: a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden; b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte … c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung … gleichzusetzen sind; …“ 16 Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, „ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist“, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. 17 Art. 6 („Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“) in dem genannten Kapitel II lautet: „Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von a) dem Staat; b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen; c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“ 18 Art. 9 Abs. 1 und 2 in Kapitel III („Anerkennung als Flüchtling“) der Richtlinie definiert die Verfolgungshandlungen wie folgt: „(1) Als Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten Handlungen, die a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der [EMRK] keine Abweichung zulässig ist, oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist. (2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten: a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt …, b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, …“ 19 Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 der Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und diesen Verfolgungshandlungen bestehen. 20 Der ebenfalls in Kapitel III enthaltene Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: … b) Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. …“ 21 Gemäß Art. 13 der Richtlinie erkennt der Mitgliedstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zu, wenn dieser insbesondere die in den Art. 9 und 10 der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt. Deutsches Recht 22 Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ 23 Nach § 1 des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798, im Folgenden: AsylVfG) gilt dieses Gesetz für Ausländer, die Schutz als politisch Verfolgte nach Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes oder Schutz vor Verfolgung nach der Genfer Konvention beantragen. 24 Nach § 2 AsylVfG genießen Asylberechtigte im Bundesgebiet die Rechtsstellung nach der Genfer Konvention. 25 Die Rechtsstellung von Flüchtlingen war ursprünglich in § 51 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet geregelt. 26 Mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), das am 28. August 2007 in Kraft getreten ist, hat die Bundesrepublik Deutschland u. a. die Richtlinie umgesetzt. 27 Gegenwärtig sind die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling in § 3 AsylVfG geregelt. In § 3 Abs. 1 AsylVfG heißt es: „Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne [der Genfer Konvention], wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt …, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 des [Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162, im Folgenden: AufenthG)] ausgesetzt ist.“ 28 § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 5 AufenthG bestimmt: „In Anwendung [der Genfer Konvention] darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. … Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie … ergänzend anzuwenden.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 29 Im Januar 2004 bzw. im August 2003 reisten Y und Z nach Deutschland ein, wo sie Asyl und Schutz als Flüchtlinge beantragten. 30 Zur Stützung ihres jeweiligen Antrags machten sie geltend, dass sie ihr Herkunftsland wegen ihrer Zugehörigkeit zur muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft, einer islamischen Erneuerungsbewegung, verlassen hätten. Im Einzelnen trug Y vor, er sei in seinem Heimatdorf von einer Gruppe von Leuten mehrmals auf dem Gebetsplatz geschlagen und mit Steinen beworfen worden. Sie hätten ihn mit dem Tode bedroht und bei der Polizei wegen Beleidigung des Propheten Mohammed angezeigt. Z führte aus, er sei wegen seiner religiösen Überzeugung misshandelt und inhaftiert worden. 31 Den Vorlageentscheidungen ist zu entnehmen, dass nach Sec. 298 C des pakistanischen Strafgesetzbuchs Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden, wenn sie den Anspruch erheben, Muslime zu sein, ihren Glauben als Islam bezeichnen, ihn predigen oder propagieren oder andere auffordern, ihren Glauben anzunehmen. Nach Sec. 295 C des Strafgesetzbuchs wird zudem mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft, wer den Namen des Propheten Mohammed verunglimpft. 32 Mit Bescheiden vom 4. Mai und 8. Juli 2004 lehnte das Bundesamt die Asylanträge von Y und Z als unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht vorlägen. 33 In diesen Bescheiden stellte das Bundesamt außerdem fest, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht keine Hindernisse für die Abschiebung von Y und Z nach Pakistan vorlägen, und drohte ihnen die Abschiebung dorthin an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Antragsteller ihr Herkunftsland aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten. 34 Y erhob Klage beim Verwaltungsgericht Leipzig, das mit Urteil vom 18. Mai 2007 den gegen ihn erlassenen Bescheid des Bundesamts aufhob und dieses zu der Feststellung verpflichtete, dass in seiner Person die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots als Flüchtling in Bezug auf Pakistan vorlägen. 35 Z focht den Bescheid des Bundesamts beim Verwaltungsgericht Dresden an. Mit Urteil vom 13. Juli 2007 wies dieses seine Klage ab, da er sein Herkunftsland nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe. 36 Mit Urteilen vom 13. November 2008 wies das Sächsische Oberverwaltungsgericht – die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesbeauftragter) gegen das erstinstanzliche Urteil im Fall Y zurück und – änderte das Z betreffende erstinstanzliche Urteil auf dessen Berufung und verpflichtete das Bundesamt zu der Feststellung, dass in der Person von Z die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorlägen, weshalb er als Flüchtling nicht nach Pakistan abgeschoben werden dürfe. 37 Das Oberverwaltungsgericht führte insbesondere aus, dass es nicht darauf ankomme, ob Y und Z bereits vor ihrer Ausreise aus Pakistan von individueller Verfolgung bedroht gewesen seien. Als aktive Ahmadis seien sie in Pakistan jedenfalls einer sie kollektiv treffenden Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt. 38 Ihnen sei nämlich eine Fortführung ihrer öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung bei einer Rückkehr nach Pakistan nicht ohne konkrete Verfolgungsgefahr möglich, was im Rahmen eines Asylverfahrens, mit dem festgestellt werden solle, ob ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei, zu berücksichtigen sei. 39 In den Urteilen vom 13. November 2008 stellte das Sächsische Oberverwaltungsgericht fest, dass die Situation in Pakistan für einen dem Glauben eng verbundenen Ahmadi, zu dessen Überzeugung es auch gehöre, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben, eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstelle. Angesichts der angedrohten erheblichen Strafen sowie der zahlreichen ungehinderten Übergriffe extremistischer Gruppen lege es für einen Ahmadi der gesunde Menschenverstand nahe, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen. 40 Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind Y und Z mit ihrem Glauben eng verbunden und haben ihn in Pakistan aktiv gelebt. Auch in Deutschland übten sie ihren Glauben weiterhin aus, und sie empfänden die Betätigung ihres Glaubens in der Öffentlichkeit für sich selbst als unverzichtbar, um ihre religiöse Identität wahren zu können. 41 Das Bundesamt und der Bundesbeauftragte legten gegen diese Urteile Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein und machten geltend, das Berufungsgericht habe den Anwendungsbereich der Art. 9 und 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie zu weit gezogen. 42 Sie verwiesen auf die in Deutschland vor Umsetzung der Richtlinie im Jahr 2007 herrschende Rechtsprechung, wonach eine asylerhebliche Verfolgung nur bei Eingriffen in den „Kernbereich“ der Religionsfreiheit angenommen worden sei, nicht aber bei Beschränkungen der öffentlichen Betätigung des Glaubens, und vertraten die Auffassung, dass die Beschränkungen für Ahmadis in Pakistan, die die Betätigung ihres Glaubens in der Öffentlichkeit beträfen, keinen Eingriff in diesen Kernbereich darstellten. 43 Im Übrigen ergebe sich aus den Feststellungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zu der Frage, wie Y und Z ihren Glauben in Deutschland praktizierten, nicht, dass für sie Handlungsweisen, die über den Kernbereich der religiösen Betätigung hinausgingen, unverzichtbar wären. 44 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geht es in den bei ihm anhängigen Fällen um die Frage, welche konkreten Eingriffe in die Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 EMRK zur Anerkennung als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie führen können. Das Gericht ist zwar der Auffassung, dass Eingriffe in die Religionsfreiheit eine „schwerwiegende Verletzung“ der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, bezweifelt aber, dass andere Eingriffe in die Religionsfreiheit als diejenigen, die die wesentlichen Bestandteile der religiösen Identität des Betroffenen berühren, die Annahme einer für die Anerkennung als Flüchtling erheblichen Verfolgung rechtfertigen. 45 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 nahezu identisch formulierte Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie dahin auszulegen, dass nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit, der gegen Art. 9 EMRK verstößt, eine Verfolgungshandlung im Sinne der erstgenannten Vorschrift darstellt, sondern liegt eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht nur dann vor, wenn ihr Kernbereich betroffen ist? 2 Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist: a) Ist der Kernbereich der Religionsfreiheit auf das Glaubensbekenntnis und auf Glaubensbetätigungen im häuslichen und nachbarschaftlichen Bereich beschränkt, oder kann eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie auch darin liegen, dass im Herkunftsland die Glaubensausübung in der Öffentlichkeit zu einer Gefahr für Leib, Leben oder physische Freiheit führt und der Antragsteller deshalb auf sie verzichtet? b) Falls der Kernbereich der Religionsfreiheit auch bestimmte Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit umfassen kann: – Genügt es in diesem Fall für eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit, dass der Antragsteller diese Betätigung seines Glaubens für sich selbst als unverzichtbar empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, – oder ist außerdem erforderlich, dass die Religionsgemeinschaft, der der Antragsteller angehört, diese religiöse Betätigung als zentralen Bestandteil ihrer Glaubenslehre ansieht, – oder können sich aus sonstigen Umständen, etwa den allgemeinen Verhältnissen im Herkunftsland, weitere Einschränkungen ergeben? 3. Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist: Liegt eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie dann vor, wenn feststeht, dass der Antragsteller bestimmte – außerhalb des Kernbereichs liegende – religiöse Betätigungen nach Rückkehr in das Herkunftsland vornehmen wird, obwohl sie zu einer Gefahr für Leib, Leben oder physische Freiheit führen werden, oder ist es dem Antragsteller zuzumuten, auf solche künftigen Betätigungen zu verzichten? 46 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 24. März 2011 sind die Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Vorbemerkungen 47 Aus den Erwägungsgründen 3, 16 und 17 der Richtlinie geht hervor, dass die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen der Richtlinie über die Voraussetzungen der Anerkennung als Flüchtling und über den Inhalt des Flüchtlingen zu gewährenden Schutzes erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten (Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Slg. 2010, I-1493, Randnr. 52, sowie vom 17. Juni 2010, Bolbol, C-31/09, Slg. 2010, I-5539, Randnr. 37). 48 Die Bestimmungen der Richtlinie sind daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen. Diese Auslegung muss zudem, wie dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile Salahadin Abdulla u. a., Randnrn. 53 und 54, Bolbol, Randnr. 38, sowie vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C-411/10 und C-493/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 75). Zur ersten und zur zweiten Frage 49 Mit seinen ersten beiden Fragen in beiden Rechtssachen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta verstößt, eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie sein kann und ob insoweit zwischen einem „Kernbereich“ der Religionsfreiheit und ihrer Ausübung in der Öffentlichkeit zu unterscheiden ist. 50 Insoweit ist zu berücksichtigen, dass nach dem Wortlaut des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie mit „Flüchtling“ insbesondere ein Drittstaatsangehöriger bezeichnet wird, der sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und der den „Schutz“ dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder „wegen dieser Furcht“ nicht in Anspruch nehmen will. 51 Der betreffende Staatsangehörige muss somit aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände und des Verhaltens der Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann, eine begründete Furcht vor einer Verfolgung haben, die sich aus zumindest einem der fünf in der Richtlinie und der Genfer Konvention genannten Gründe gegen seine Person richtet, wobei einer dieser Gründe seine „Religion“ ist. 52 Gemäß Art. 13 der Richtlinie erkennt der betroffene Mitgliedstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zu, wenn dieser die insbesondere in den Art. 9 und 10 der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt. 53 Art. 9 der Richtlinie definiert die Merkmale, die es erlauben, Handlungen als Verfolgung zu betrachten. So müssen die fraglichen Handlungen gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, auf den sich das vorlegende Gericht in seinen ersten beiden Fragen bezieht, aufgrund ihrer Art oder Wiederholung „so gravierend“ sein, dass sie „eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen“, insbesondere der absoluten Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. 54 Außerdem stellt Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie klar, dass eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die „so gravierend“ ist, dass eine Person davon in „ähnlicher“ wie der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist, ebenfalls als Verfolgung gilt. 55 Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen, darunter dem in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definierten Verfolgungsgrund der „Religion“, und den Verfolgungshandlungen bestehen. 56 Das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Religionsfreiheit entspricht dem in Art. 9 EMRK garantierten Recht. 57 Die Religionsfreiheit ist eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und stellt ein grundlegendes Menschenrecht dar. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten. 58 Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung darstellt, die die zuständigen Behörden verpflichten würde, denjenigen, der diesem Eingriff ausgesetzt wird, als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie anzuerkennen. 59 Aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie ergibt sich vielmehr, dass eine „schwerwiegende Verletzung“ dieser Freiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung gelten können. 60 Somit sind Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Ausübung des Grundrechts auf Religionsfreiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 der Charta darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzen, von vornherein ausgeschlossen, da sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. 61 Handlungen, die zwar gegen das in Art. 10 Abs. 1 der Charta anerkannte Recht verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, können ebenfalls nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und Art. 1 A der Genfer Konvention gelten. 62 Um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten können, ist es nicht angebracht, zwischen Handlungen, die in einen „Kernbereich“ („forum internum“) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollen, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfassen soll, und solchen, die diesen „Kernbereich“ nicht berühren sollen, zu unterscheiden. 63 Diese Unterscheidung ist nicht vereinbar mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht. Zu den Handlungen, die eine „schwerwiegende Verletzung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. 64 Diese Auslegung ist geeignet, Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie einen Anwendungsbereich zu sichern, in dem die zuständigen Behörden alle Arten von Eingriffen in das Grundrecht auf Religionsfreiheit prüfen können, um festzustellen, ob sie aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie als Verfolgung gelten können. 65 Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. 66 Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Rechts eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich deshalb danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. 67 Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. 68 Insoweit ist anzumerken, dass eine zuständige Stelle, wenn sie nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie einen Antrag auf internationalen Schutz individuell prüft, alle Akte berücksichtigen muss, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können. 69 Da der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definierte Religionsbegriff auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, umfasst, kann das Verbot einer solchen Teilnahme eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen, wenn sie in dem betreffenden Herkunftsland für den Antragsteller u. a. die tatsächliche Gefahr heraufbeschwört, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. 70 Bei der Prüfung einer solchen Gefahr wird die zuständige Behörde eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkungen ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre, selbst wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt. 71 Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geht nämlich hervor, dass der Schutzbereich des mit der Religion verknüpften Verfolgungsgrundes sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die die Person für sich selbst als unverzichtbar empfindet, d. h. diejenigen Verhaltensweisen, „die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen“, umfasst, als auch solche Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet werden, d. h. diejenigen, die „nach dieser [Überzeugung] vorgeschrieben sind“. 72 In Anbetracht all dessen ist auf die erste und die zweite Frage in beiden Rechtssachen zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass – nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta verstößt, bereits eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie darstellt; – eine Verfolgungshandlung sich aus einem Eingriff in die öffentliche Ausübung dieser Freiheit ergeben kann und – bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der Art. 10 Abs. 1 der Charta verletzt, eine „Verfolgungshandlung“ darstellen kann, die zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen prüfen müssen, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Zur dritten Frage 73 Mit der dritten Frage in beiden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung dann vorliegt, wenn er eine Verfolgung in seinem Herkunftsland dadurch vermeiden kann, dass er auf die Vornahme bestimmter religiöser Betätigungen verzichtet. 74 Im Hinblick auf die Beantwortung dieser Frage ist zu bemerken, dass sie den – in den Ausgangsverfahren vorliegenden – Fall betrifft, dass der Antragsteller nicht bereits wegen seiner Religion verfolgt oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist. 75 Da es an einem solchen „ernsthaften Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers begründet ist“, im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie fehlt, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, inwieweit von dem Antragsteller, wenn er seine Furcht nicht mit einer wegen seiner Religion bereits erlittenen Verfolgung begründen kann, verlangt werden könnte, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland die tatsächliche Gefahr einer Verfolgung weiterhin vermeidet. 76 Hierzu ist festzustellen, dass nach der Systematik der Richtlinie die zuständigen Behörden, wenn sie nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie prüfen, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat, herauszufinden versuchen, ob die festgestellten Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden. 77 Diese Beurteilung der Größe der Gefahr, die in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist (Urteil Salahadin Abdulla u. a., Randnr. 90), beruht ausschließlich auf einer konkreten Prüfung der Ereignisse und Umstände anhand der Regeln, die insbesondere in Art. 4 der Richtlinie enthalten sind. 78 Keine dieser Regeln deutet darauf hin, dass bei der Beurteilung der Frage, wie groß die Gefahr ist, dass der Betreffende tatsächlich Verfolgungshandlungen in einem bestimmten Kontext erleiden wird, berücksichtigt werden müsste, ob der Antragsteller die Gefahr einer Verfolgung möglicherweise dadurch vermeiden kann, dass er auf die betreffende religiöse Betätigung und folglich auf den Schutz, den ihm die Richtlinie mit der Anerkennung als Flüchtling garantieren soll, verzichtet. 79 Sobald feststeht, dass sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird, müsste ihm daher nach Art. 13 der Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Dass er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant. 80 Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage in beiden Rechtssachen zu antworten, dass Art. 2 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten. Kosten 81 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass – nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt, bereits eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne dieser Bestimmung der Richtlinie darstellt; – eine Verfolgungshandlung sich aus einem Eingriff in die öffentliche Ausübung dieser Freiheit ergeben kann und – bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt, eine „Verfolgungshandlung“ darstellen kann, die zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen prüfen müssen, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie 2004/83 genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. 2. Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten. Unterschriften Anmerkungen von Reinhard Marx (erscheint im Asylmagazin 2012) Verfolgung aus Gründen der Religion aus menschenrechtlicher Sicht Anmerkungen zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 5. September 2012 in den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 – Y und Z 1. Einleitung Der EuGH hat am 5. September 2012 auf Vorlage des BVerwG1 eine grundlegende Entscheidung zur Verfolgung aus Gründen der Religion am Beispiel der Ahmadis in Pakistan getroffen, die für die deutsche Asylpraxis weitreichende Folgen haben wird. Bekanntlich wird in Deutschland seit 1987 aufgrund einer – ebenfalls am Beispiel der 1 BVerwGE 138, 270 (282 f.) = NVwZ 2011, 755 (758). Ahmadis entwickelten - Leitentscheidung des BVerfG die traditionelle Asylrechtsdogmatik gepflegt, welche die Religionsfreiheit in einen Kernbereich, der „auf das Glaubensbekenntnis und auf Glaubensbetätigungen im häuslichen und nachbarschaftlichen Bereich“ beschränkt ist, von einem weiteren Schutzbereich, der die „Glaubensausübung in der Öffentlichkeit“ erfasst, aufspaltet. In Abweichung von international anerkannten Normen und ohne Bezeichnung eines nachvollziehbaren Grundes wird in Deutschland bislang im Asylverfahren lediglich das »religiöse Existenzminimum« (Kernbereich) geschützt. Dieses schließt zwar ein kommunikatives Element ein, nämlich die religiöse Kommunikation (gemeinsames Gebet, Gottesdienst). Diese muss indes abseits der Öffentlichkeit stattfinden.2 Politische Verfolgung liegt daher nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht vor, wenn die die Religionsfreiheit unterdrückenden Maßnahmen der Durchsetzung des öffentlichen Friedens unter verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressivintoleranten Glaubensrichtungen dienen und zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit untersagt wird, gewisse Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obwohl sie für die Minderheit identitätsbestimmend sind. 3 Diese Rechtsprechung hat das BVerwG in der Folgezeit in Stein gemeißelt. Es kann daher nicht verwundern, dass mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) am 6. Oktober 2006 diese Rechtsprechung in Begründungsnot geriet, weil nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie auch die öffentliche Ausübungsfreiheit geschützt wird. Ausgehend von der spezifisch deutschen, weder in anderen Mitgliedstaaten noch international anerkannten Dogmatik hatte das BVerwG dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Klärung vorgelegt, die sich auf drei herunter brechen lassen: 1. Wann liegt eine Verfolgungshandlung vor? 2. Ist die Freiheit der öffentlichen Glaubensbetätigung geschützt? 3. Ist ein Verzicht auf die öffentliche Ausübungsfreiheit zwecks Vermeidung von Verfolgung zumutbar? Insbesondere die letzte Frage, die ja insbesondere bei Konvertiten Bedeutung erlangt und seit jeher in der deutschen Verwaltungspraxis die Gemüter erhitzt hat, dürfte wohl der Grund für die seit einem Vierteljahrhundert mit dogmatischer Starre durchgesetzte deutsche Verengung des Begriffs der Religionsfreiheit sein. 2. Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG In der Vorlagefrage 1 hatte das BVerwG ausgehend von seiner ständigen Rechtsprechung die Frage aufgeworfen, ob eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit nur dann vorliegt, wenn ihr Kernbereich betroffen ist. Als Kernbereich identifizierte es dabei die Ausübungsfreiheit im privaten Bereich. Für das BVerwG liegt die von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG vorausgesetzte schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechtes nur dann vor, wenn die Verfolgung der Religionsbetätigung im privaten Bereich gilt. Bereits gegen die Formulierung dieser Frage sprechen methodische Bedenken, weil das BVerwG nicht zwischen den tatbestandlichen Merkmalen der Verfolgung und den BVerfGE 76, 143 (159) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87 – Ahmadiyya II; zuletzt noch BVerwG, InfAuslR 2004, 319 (320) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125. 3 BVerfGE 76, 143 (160) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; zur Unbeachtlichkeit von Sektion 298-B, 298-C PPC s. BVerwGE 92, 278 (280) = NVwZ 1993, 788 = EZAR 201 Nr. 24; BVerwG, NVwZ 1993, 788 (789); BVerwG, NVwZ 1994, 500; s. aber BVerfG (Kammer), InfAuslR 1992, 145 (148), zur Ermittlungstiefe. 2 für diese maßgeblichen Gründen differenziert, sondern sich bei der Frage, ob Maßnahmen die erforderliche Schwere aufweisen, auf den verengten, lediglich privaten Schutzbereich der Religionsfreiheit bezieht und damit die Verfolgung selbst nach Maßgabe der Kriterien der Verfolgungsgründe definiert.4 Auf diesen methodischen Fehler weist der EuGH das BVerwG mit der Feststellung hin, dass nach Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG zwischen der Verfolgung und den Verfolgungsgründen eine Verknüpfung bestehen (Rdn. 55), also zunächst zwischen beiden getrennt werden muss. Was aber getrennt werden muss, muss auch jeweils eigenständig bestimmt werden. Es kann daher im Rahmen von Art. 9 RL 2004/83/EG nicht auf eine „schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit“ ankommen. Maßgebend ist vielmehr die schwerwiegende Verletzung eines „grundlegenden Menschenrechts“ (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG) unabhängig davon, ob damit auf das Recht des Betroffenen auf politische Betätigung, auf Meinungsfreiheit oder Religionsfreiheit gezielt wird. Bei der Verfolgung wird vielmehr danach gefragt, ob in der Art und Weise der Repression eine schwerwiegender Verletzung eines grundlegenden Menschenrechtes erkannt werden kann. Wird diese Frage bejaht, ist nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie im Rahmen der Anknüpfung danach zu fragen, ob damit ein geschützter Status des Betroffenen, etwa die politische Meinungsfreiheit (politische Überzeugung) oder die Religionsfreiheit getroffen werden soll. Grundlage für den verfehlten methodischen Ansatz des BVerwG ist, dass es den in der deutschen Rechtsprechung 1987 entwickelten Ansatz, wonach nur die schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit einen Asylanspruch begründet, zur Grundlage des Unionsrechts macht und darauf die Vorlagefragen beruhen.5 Diese deutsche Dogmatik weist der Gerichtshof mit der Feststellung zurück, dass bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit den Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abgestellt werden darf, „in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist“ (Rdn. 65). Es ist damit für die Bestimmung der Verfolgung unerheblich, ob die Maßnahmen in die private oder öffentliche Glaubenspraxis eingreifen. Vielmehr kommt es auf die schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte an. Der Zweck des Flüchtlingsschutzes erfordert eine methodisch sachgerechte Erfassung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs und damit eine Trennung zwischen seinen einzelnen Elementen. Der Verfolgungsbegriff kann nicht präzise definiert werden. Während die Schwere einer Menschenrechtsverletzung nicht abschließend geregelt ist und wegen des jederzeit wandelbaren Charakters der Art, Schwere und Erscheinungsform politischer Repressionen auch nicht enumerativ geregelt werden kann, Maßnahmen der Verfolger sich nämlich wandeln und in unterschiedlichen Formen auftreten können, sind die den Maßnahmen zugrunde liegenden Gründe in der Konvention wie in der Richtlinie abschließend geregelt. Dies hat seinen Grund darin, dass die Schutzbedürftigkeit der in ihren Menschenrechten verletzten Personen einen von den Vertragsstaaten akzeptierten Konsens über die Anwendung des maßgeblichen Diskriminierungsverbots voraussetzt, wie er seinen Ausdruck in den Konventionsgründen findet, der Grund für die Menschenrechtsverletzung also anders als deren Form (Schwere) nicht offen bleiben kann. Unmissverständlich stellt der Gerichtshof klar, um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung gelten können, sei es nicht angebracht, zwischen Handlungen, die in einen „Kernbereich“ („forum internum“) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollten, 4 5 Marx, ZAR 2010, 1; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 21 Rdn. 25 ff. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 21 Rdn. 29. der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfassen solle, und solchen, die diesen „Kernbereich“ nicht berührten, zu unterscheiden (Rdn. 62). Im Verfahren vor dem EuGH hatte keiner der Beteiligten, weder die Kommission noch die französische noch die niederländische Regierung, diesen Ansatz vertreten. Auch die Bundesregierung wies in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass eine derartige Unterscheidung nicht in das Unionsrecht übertragen werden könne.6 Der Gerichtshof hebt deshalb auch hervor, diese sei nicht vereinbar mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in der Richtlinie, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbeziehe. Zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung im Sinne der Richtlinie darstellen könnten, gehörten nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (Rdn. 63). Damit schafft der EuGH eindeutige Klarheit. Ein Vierteljahrhundert gehegte deutsche Gewissheiten sind unwiderruflich erschüttert und dürfen in Zukunft die Anerkennungspraxis nicht mehr bestimmen. Soweit ist die Entscheidung für die deutsche Rechtsentwicklung vorwärtsweisend. Andererseits prägt die Entscheidung ein unklarer Verfolgungsbegriff. Das verwundert allerdings bei religiösen Verfolgungen nicht, weil sich diese häufig in Formen von Diskriminierungen äußern, diese jedoch schwerwiegend sein müssen. Wie aber kann der Begriff der schwerwiegenden Rechtsverletzung bestimmt werden? 3. Begriff der „schwerwiegenden“ Menschenrechtsverletzung Der Gerichtshof führt aus, dass die Religionsfreiheit eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft sei und ein grundlegendes Menschenrecht darstelle. Ein Eingriff in dieses Recht könne „so gravierend sein, dass es einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden“ könne (Rdn. 47). Damit verweist der EuGH auf den notstandsfesten Kern der Menschenrechte, zu denen insbesondere das Folterverbot nach Art. 3 EMRK sowie das Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK gerechnet werden. Die anderen in Art. 15 Abs. 2 EMRK bezeichneten Rechte sind für das Asylverfahren praktisch nicht relevant, wie z.B. das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK). Das in Art. 7 EMRK enthaltene strafrechtliche Rückwirkungsverbot gibt für die Begriffsbestimmung der Verfolgung wenig her. Damit muss die Verfolgung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG die begrifflichen Kriterien einer Foltermaßnahme oder einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung erfüllen. Weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen sind danach nicht erfasst. Lässt der Gerichtshof in Rdn. 57 noch offen, ob auch die Verletzung anderer als der notstandsfesten Rechte der EMRK „so gravierend“ sein kann, dass sie den Verfolgungsbegriff erfüllen, stellt er in Rdn. 61 fest, dass nur solche gravierenden Verletzungen erfasst werden: Handlungen, die zwar das in Art. 10 Abs. 1 GRCh anerkannte Recht auf Religionsfreiheit verletzten, aber nicht so gravierend seien, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkämen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden dürfe, könnten nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und Art. 1 A Nr. 2 GFK gelten. An anderer Stelle verweist der EuGH zwar auf den Kumulationsansatz von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG (Rdn. 54). Die an sich nicht schwerwiegenden Maßnahmen müssen jedoch insgesamt „so gravierend“ sein, dass der Antragsteller davon in „ähnlicher“ wie in der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG beschriebenen Weise betroffen sei. Man kann die Ausführungen des Gerichtshofs dahin 6 Stellungnahme der Bundesregierung in den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 vom 17. Juni 2011, Rdn. 34. verstehen, dass die Repressionen, die als solche jeweils nicht die Schwelle von Art. 3 EMRK erreichen, diese jedoch in ihrer Gesamtwirkung erreichen müssen. Andererseits fällt auf, dass sich der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nicht auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot bezieht. Im Blick auf die erforderliche Art der Repressionen weist dieser darauf hin, dass die Verfolgung eine „äußerst gravierende Handlung“ darstelle, weil mit ihr „in flagranter Weise hartnäckig die grundlegendsten Menschenrechte“ vorenthalten würden. Geht es hier um die Vorenthaltung von Menschenrechten, also um klassische Formen der Diskriminierung aus religiösen Gründen, bezieht sich der Generalanwalt für den Eingriff in derartige Rechte auf die Rechtsprechung des EGMR zum Refoulementschutz nach Art. 9 EMRK. So habe der EGMR nur „unter außergewöhnlichen Umständen, wenn für den Betroffenen die „tatsächliche Gefahr einer flagranten Verletzung“ der Religionsfreiheit bestehe, eine Verpflichtung der Vertragsstaaten zum Refoulementschutz anerkannt. Zur Verdeutlichung fasst der Generalanwalt in seinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage zusammen, dass eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG anzunehmen sei, wenn der Antragsteller aufgrund der Ausübung der Religionsfreiheit oder aufgrund von Verstößen gegen Beschränkungen dieser Freiheit der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt sei, „exekutiert, gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, versklavt oder in Leibeigenschaft gehalten oder willkürlich verfolgt oder inhaftiert zu werden.7 Diese Ausführungen übernimmt der Gerichtshof nicht. Dies dürfte in dem fragwürdigen methodischen Ansatz des Generalanwalts begründet sein. So kann der Refoulementschutz nach Art. 33 GFK, um den es beim Flüchtlingsschutz geht, nicht nach Maßgabe des vom EGMR für Art. 9 anerkannten Refoulementschutzes bestimmt werden. Ferner hat der EGMR in aller Deutlichkeit Refoulementschutz bislang nur für Art. 3 EMRK anerkannt und Refoulementschutz aus anderen Konventionsnormen nur dann bejaht, wenn deren Verletzung im Ergebnis eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung zur Folge hat.8 Darüber hinaus berücksichtigt der Generalanwalt anders als der Gerichtshof nicht den Kumulationsansatz nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Folglich macht sich der Gerichtshof auch nicht die extremen Zuspitzungen des Generalanwalts zu eigen, sondern formuliert eher abstrakt, dass die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen „so gravierend“ sein muss, dass der Antragsteller in „ähnlicher“ Weise wie bei Zuwiderhandlungen gegen Art. 3 EMRK davon betroffen sein muss. Es muss sich also weder um „äußerst“ gravierende noch um „hartnäckige, flagrante“ Rechtsverletzungen handeln. Bei der Frage, ob weniger gravierende Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung „so gravierend“ sind wie Verletzungen absolut geschützter Rechte (Art. 15 Abs. 2 EMRK), bleibt den Mitgliedstaaten damit ein erheblicher Beurteilungsspielraum, den der Gerichtshof offensichtlich nicht einschränken wollte. Zu bedenken ist auch, dass mit der Formulierung „in ähnlicher Weise“ zureichender Spielraum für einen offenen und pragmatischen Umgang mit dem Begriff der „schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung“ geschaffen wird, was ja insbesondere auch durch die Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie bestätigt wird. Der Gerichtshof hatte keinen Anlass, den Kumulationsansatz näher zu vertiefen, weil die Vorlagefragen ausschließlich auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie gemünzt waren. Damit kann festgehalten werden, dass sich der Gerichtshof lediglich zu Buchstabe a) von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG geäußert, den in Buchst. b) enthaltenen Kumulationsansatz jedoch 7 Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 vom 19. April 2012, Rdn. 56, 76, 107 8 S. zur neueren Rechtsprechung des EGMR Lehnert, Asylmagazin 2012, 226 (Refoulementschutz nach Art. 5 und 6 EMRK). nicht abschließend geklärt und der Generalanwalt diesen überhaupt nicht behandelt hat. Religiöse Verfolgung kann verschiedene Formen annehmen. Je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls einschließlich der Auswirkungen auf den Betroffenen, zählt dazu das Verbot, Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu sein, das Verbot der Unterweisung in dieser Religion, das Verbot, die Riten dieser Religion in Gemeinschaft mit anderen privat oder öffentlich auszuüben, oder schwere Diskriminierung von Personen wegen ihrer Religionsausübung, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder ihres Wechsels der Glaubensrichtung.9 Am Beispiel religiöser Verfolgung wird im Handbuch des UNHCR also der generelle Ansatz des Verfolgungsbegriffs aufgegriffen, wonach die Bedrohung des Lebens oder der Freiheit aus den Gründen der Konvention stets eine Verfolgung darstellt, hingegen andere Verstöße gegen die Menschenrechte schwerwiegend sein müssen.10 Nicht jede religiöse Diskriminierung stellt daher notwendigerweise religiöse Verfolgung dar. Der Ansatz des Gerichtshofs, dass nicht jede Handlung, die gegen das in Art. 10 Abs. 1 GRCh verankerte Recht auf Religionsfreiheit verstößt, eine Verfolgung darstellt (Rdn. 61), bringt ein im Flüchtlingsrecht anerkanntes Prinzip zum Ausdruck.11 Der Verfolgungsbegriff schließt zwar konzeptionell alle Menschenrechte ein. Den Flüchtlingsschutz unterscheidet jedoch vom Menschenrechtsschutz, dass mit diesem nicht die ungehinderte größtmögliche Ausübungsfreiheit der Menschenrechte gewährt, sondern die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt werden soll, wenn deren Verletzung ernsthaft genug ist. Allgemein anerkannt ist, dass Bedrohungen von Leben und Freiheit stets als Verfolgung angesehen werden. 12 Einigkeit besteht auch, dass schwerwiegende Diskriminierungen Verfolgungen darstellen. Wann Diskriminierungen schwerwiegend sind, wird jedoch sehr unterschiedlich bewertet. Dem Begriff der Verfolgung ist damit ein unvermeidbares Element der Relativität immanent,13 das ja auch die Abgrenzung zwischen unmenschlichen und allgemein hinzunehmenden Maßnahmen in der Rechtsprechung des EGMR kennzeichnet.14 In der Staatenpraxis geht es hierbei in der Regel um Fälle der Vorenthaltung an sich allgemein zugänglicher Bildungs- und beruflicher Maßnahmen, die Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften mit Blick auf ihre Zugehörigkeit zu diesen vorenthalten werden. Hier ist die Praxis generell restriktiv.15 Verfolgung liegt aber vor, wenn Maßnahmen darauf gerichtet sind, die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft physisch zu vernichten oder mit vergleichbar schweren Sanktionen, z.B. Austreibung oder Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen, zu bedrohen.16 Elementare Lebensgrundlagen können auch berührt werden, wenn der Zugang zu den normalerweise verfügbaren Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen versperrt wird.17 Ob solche Akte der Diskriminierung eine schwerwiegende Diskriminierung darstellen, muss unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Allein die Herausbildung eines feindlichen Umfeldes für eine religiöse Minderheit verbunden mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen reicht 9 UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rdn. 72. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rdn. 51. 11 Musalo, Claims for Protection Based on Religion, IJRL 2004, 165 (177), mit Hinweisen. 12 So auch BVerfGE 54, 341 (357) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641 = JZ 1980, 804 – Ahmadiyya I. 13 Goodwin-Gill/McAdams, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 132. 10 EGMR, RJD 1999-V = HRLJ 1999, 238 - Selmouni v. France; EGMR, HRLJ 1999, 459 (468) – V v UK; EGMR, HRLJ 2002, 378 (384) – Kalashnikov; s. auch EGMR, HRLJ 1990, 335 (362) = EZAR 933 Nr. 1 = NJW 1990, 2183 – Soering; EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1332) Rdn. 135 – Saadi; s. auch Harris/O'Boyle/ Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 1995, S. 62. 14 15 S. Hinweise bei Musalo, Claims for Protection Based on Religion, IJRL 2004, 165 (1178 ff.). BVerfGE 76, 143 (158) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87 – Ahmadiyya II. 17 UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, Mai 2002, S. 7. 16 nicht aus. Der Antragsteller muss mehr vorbringen, nämlich die Erwartung ernsthafter und nicht zu rechtfertigender Schädigungen.18 Dabei wird die Furcht vor Verfolgung umso eher begründet sein, wenn der Antragsteller bereits eine Reihe diskriminierender Akte dieser Art zu erdulden hatte und daher ein kumulatives Moment vorliegt.19 Die Verfasser der Konvention wollten den Begriff der Verfolgung nicht definieren, weil sie die Unmöglichkeit erkannten, alle denkbaren Formen ernsthafter Einschränkungen von Rechten aus Gründen der Konvention zu definieren. Es bestand von vornherein kein starres und absolutes Verständnis von Verfolgung, wie es die Bezugnahme auf die Rechte, die unter dem absoluten Schutz von Art. 15 Abs. 2 EMRK stehen, nahe legt. Andererseits entwickelt auch der EGMR im Rahmen von Art. 3 EMRK kein starres Anwendungskonzept: Zur gebotenen Abgrenzung von insoweit unbedenklichen Maßnahmen kommt es nach seiner Rechtsprechung darauf an, ob die Maßnahmen darauf abzielen, den Betroffenen zu erniedrigen oder zu entwürdigen, und ob in Ansehung der Auswirkungen dieser Maßnahme die Persönlichkeit des Betroffenen in einer Weise beeinträchtigt wird, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar ist. Maßnahmen »unmenschlichen« Charakters im Sinne von Art. 3 EMRK treten in unterschiedlichen Formen auf. Körperliche Angriffe, die Verwendung psychologischer Vernehmungsmethoden oder die Inhaftierung einer Person unter unmenschlichen Bedingungen verletzen Art. 3 EMRK.20 Auch wenn eine Maßnahme nicht den erforderlichen Grad an »unmenschlicher Behandlung« erreicht hat, kann sie gleichwohl »erniedrigenden« Charakter haben. Der EGMR verweist auf den absoluten Charakter von Art. 3 EMRK. Zwar wäre es absurd, wegen ihres gewöhnlicherweise für den Betroffenen erniedrigenden Charakters eine Bestrafung generell als »erniedrigend« im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen. Vielmehr müssten zusätzliche Elemente festgestellt werden können, um eine derartige Feststellung treffen zu können. Nach Ansicht des Gerichtshofes muss die Erniedrigung oder Entwürdigung mithin eine bestimmte Schwere erreicht haben und in jedem Fall über das übliche Maß an Erniedrigung hinausgehen, das gewöhnlicherweise mit Bestrafungsmaßnahmen verbunden ist. Daraus, dass Art. 3 EMRK ausdrücklich »unmenschliche« und »erniedrigende« Bestrafung verbiete, könne geschlossen werden, dass zwischen derartiger und allgemeiner Bestrafung grundsätzlich ein Unterschied bestehe. Die Demütigung oder Herabsetzung müsse einen bestimmten Grad erreichen, um als »erniedrigende« Bestrafung eingestuft zu werden, die gegen Art. 3 EMRK verstoße und jedenfalls anders als das gewöhnliche Element der Demütigung wirken. Die Einordnung sei naturgemäß relativ. Alles hänge von den Umständen des Einzelfalles ab und insbesondere von der Art und dem Zusammenhang der Strafe wie auch der Art und Weise ihrer Durchführung.21 Die Flüchtlingseigenschaft beruht auf der Gefahr ernsthafter Schädigungen, setzt jedoch nicht tödliche Gefahren voraus. Ernsthafte Schädigungen einzuschließen, ist Zweck des Kumulationsansatzes. Zusätzlich zum Entzug grundlegender bürgerlicher und politischer Rechte wollten die Verfasser der Konvention auch ernsthafte soziale und wirtschaftliche Auswirkungen von gezielten Maßnahmen mit dem Konzept der Verfolgung auffangen. 22 Dabei ist ein komplexes Bündel von Faktoren zu berücksichtigen, wie z.B. die Intensität und Dauer der Maßnahmen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit, das Familienleben oder 18 19 20 21 22 Helton/Münker, Religion and Persecution, IJRL 1999, 310 (319). UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Rdn. 55. Harris/O'Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 1995, S. 62. EGMR, Series A 26 = EuGRZ 1979, 162 (164) (§ 30) – Tyrer. Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 102 f. die Möglichkeit, am politischen Leben einer Gesellschaft teilzunehmen.23 Für die Praxis bedeutsam ist der Hinweis des Gerichtshofs, dass die Feststellungsbehörden alle Akte berücksichtigen müssen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung gelten können (Rdn. 68). Diese auf Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG zurückgehende Praxisanleitung empfiehlt bereits das Handbuch von UNHCR. 3. Subjektiv geprägtes Verständnis der Religionsfreiheit Bei der Prüfung, ob der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt zu werden, hat die Behörde eine Reihe objektiver wie subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen (Rdn. 70). Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ein relevanter Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der Verfolgungsgefahr, selbst wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt (Rdn. 70). Der Gerichtshof stützt sich hierbei auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Hieraus gehe hervor, dass der Schutzbereich des mit der Religion verbundenen Verfolgungsgrundes sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die die Person für sich selbst als unverzichtbar empfinde, d.h. diejenigen Verhaltensweisen, „die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen“, umfasse, als auch solche Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet würden, d.h. diejenigen, die „nach dieser (Überzeugung) vorgeschrieben sind“ (Rdn. 71). Es ist danach der asylrechtlichen Sachentscheidung ein subjektiver Religionsbegriff zugrundezulegen. Anders könnte die Konversion gar nicht erfasst werden Das BVerwG hatte bereits im Vorlagebeschluss angedeutet, dass es nunmehr auch seiner Ansicht nach auf die subjektive religiöse Überzeugung des Antragstellers ankommt.24 Damit hatte es seine frühere, starre Rechtsprechung, wonach weder das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft noch das des einzelnen Gläubigen von der Bedeutung des Glaubenselements, das von dem staatlichen Eingriff betroffen ist, maßgebend ist,25 bereits von sich aufgegeben. Jedoch konnte sich das BVerwG für seine frühere Rechtsprechung nicht auf das BVerfG stützen, weil auch dieses von einer Verfolgung ausgeht, wenn die Maßnahme darauf gerichtet ist, eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte der Glaubensüberzeugungen durchzusetzen.26 Überzeugungen sind stets subjektiv und damit einer objektiven Bewertung nicht zugänglich. Für die Feststellungspraxis hat die subjektive Glaubensprägung zur Folge, dass es zuallererst auf die subjektive Glaubensüberzeugung des Asylsuchenden ankommt. Nicht was der amtliche Ermittler als objektiven Inhalt des vom Asylsuchenden ausgeübten Glaubens versteht, leitet die Ermittlungen. Erforderlich ist vielmehr eine sorgfältige Prüfung des individuellen Profils und der persönlichen Erfahrungen des Antragstellers, seiner religiösen Glaubensrichtung, Identität oder Lebensform, deren Bedeutung für diesen, der Auswirkungen der Einschränkungen auf diesen, des Wesens seiner Rolle und Aktivitäten innerhalb der Religionsgemeinschaft, der Frage, ob der Verfolger hiervon Kenntnis erlangt hatte oder erlangen wird und ob dies zu einer Behandlung führen könnte, die die Grenze zur Verfolgung 23 Zimmermann/Mahler, in: Zimmermann,The 1951 Convention relating tot he Statis of Refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 1 A para. 2, Rdn. 227. 24 BVerwGE 138, 270 (286) Rdn. 43 = NVwZ 2011, 755 (758). 25 BVerwGE 80, 321 (325) = EZAR 201 Nr. 16 = NVwZ 1989, 477 = InfAuslR 1989, 167; BVerwGE 85, 139 (147) EZAR 202 Nr. 18 = NVwZ 1990, 1175 = InfAuslR 1990, 312 ; BVerwGE 87, 52 (58) = EZAR 201 Nr. 21 = NVwZ 1991, 337. 26 BVerfGE 76, 143 (158) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87 – Ahmadiyya II. überschreitet.27 Die Behörde muss die entsprechenden Ermittlungen umsichtig führen und sich bewusst machen, dass Handlungen, die einem Außenstehenden trivial erscheinen mögen, innerhalb des Glaubens des Antragstellers eine zentrale Bedeutung haben können. Die Überprüfung der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Tatsachen ist bei Anträgen aufgrund religiöser Verfolgung von zentraler Bedeutung. Allerdings ist eine umfassende Feststellung oder Überprüfung der Grundlagen oder Kenntnisse der Religion des Antragstellers nicht stets erforderlich oder angemessen.28 Demgegenüber hat nach dem BVerwG der Asylsuchende zur vollen Überzeugung des Gerichts die für ihn verpflichtende religiöse Grundentscheidung nachzuweisen. Maßgebend ist, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und welche Glaubensbetätigungen für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar seien. In jedem Fall sind bei Überprüfungen des Kenntnisstandes einer Religion die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere weil die entsprechenden Kenntnisse je nach sozialem und wirtschaftlichem Hintergrund, Bildungsstand, Alter und Geschlecht der betroffenen Person sehr unterschiedlich gestaltet sein können. Geringe Kenntnisse können durch Nachforschungen hinsichtlich der besonderen Praktiken der jeweiligen Religion in der betroffenen Region oder durch Untersuchung der subjektiven und persönlichen Umstände des Antragstellers aufgeklärt werden.29 Auf diese Grundsätze weist ja auch der EuGH in Rdn. 68 hin. 4. Unzumutbarkeit des Verzichts auf die öffentliche Glaubensbetätigung Die von jeher am heftigsten umstrittene und von den Kontrahenten mit viel Herzblut ausgefochtene Streit im Bereich religiöser Verfolgungen zielt auf die Frage, ob dem Asylsuchenden zwecks Vermeidung der Verfolgung der Verzicht auf bestimmte Äußerungsformen der Religionsfreiheit zugemutet werden darf. Hierauf gerichtete Fragen beherrschten insbesondere bei Konvertiten die bisherige Verwaltungspraxis. Das BVerwG hatte deshalb um Klärung gebeten, ob ein Verzicht auf die Glaubensbetätigung zwecks Vermeidung der Verfolgung vom Antragsteller verlangt werden kann. Es wies zur Begründung auf seine bisherige Rechtsprechung hin, dass die öffentliche Glaubensbetätigung nur dann geschützt sei, wenn der Asylsuchende im Herkunftsland bereits öffentlich seinen Glauben praktiziert habe und deshalb verfolgt worden sei. Berufe er sich hingegen allein darauf, dass zu erwartende zukünftige Betätigungen nach der Rückkehr in das Herkunftsland zu einer Verfolgung führten, fehle es an der erforderlichen Unmittelbarkeit der Gefährdung. Denn die Realisierung der Gefahr hänge „noch von einer willensgesteuerten Handlung“ des Antragstellers ab, die sich nicht sicher prognostizieren lasse. Ihm werde daher zugemutet, die Gefahr zu vermeiden, soweit dadurch nicht der (private) Kernbereich seiner Religionsfreiheit verletzt werde30 Diese Rechtsprechung will sich nicht von willensgesteuerten Handlungen des Einzelnen abhängig machen. Dies hat das BVerwG in einem anderen Fall bereits 1988 anschaulich dadurch demonstriert, dass es für die Rückkehrprognose eine „unentrinnbare schicksalhafte Festlegung auf homosexuelles Verhalten verlangte.31 Willensgesteuertes zukünftiges homosexuelles Verhalten, das für die Identität des Betroffenen prägend ist (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG) und sich auf die allgemein anerkannte Freiheit der sexuellen 27 UNHCR, Fn 17, S. 5. 28 UNHCR, FN 17, S. 5 f., 11 f. UNHCR, FN 17, S. 11 f. 29 30 31 BVerwGE 138, 270 (288) Rdn. 50= NVwZ 2011, 755 (758). BVerwGE 79, 143 (147) = EZAR 201 Nr. 13 = NVwZ 1988, 838 = InfAuslR 1988, 230. Selbstbestimmung (Art. 8 Abs. 1 EMRK) berufen kann,32 wurde daher nicht anerkannt, wird aber in Zukunft als Konsequenz der Rechtsprechung des EuGH anerkannt werden müssen, wie das BVerwG in seinem Vorlagebeschluss bereits selbst angedeutet hat.33 Zunächst stellt der Gerichtshof mit Hinweis auf Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG klar, dass sich diese Frage nur für die Asylsuchenden stellt, die nicht bereits im Herkunftsland wegen ihrer Religion verfolgt oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht wurden (Rdn. 74). Dabei macht es keinen Unterschied, ob sie wegen privater oder öffentlicher Glaubensbetätigung verfolgt oder bedroht wurden. In einem wie im anderen Fall beantwortet bereits Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie die Frage nach der Verfolgungsgefahr. Daher stellt sich für den Gerichtshof die Verzichtsfrage nur für die Antragsteller, die ihre Furcht vor Verfolgung nicht mit einer wegen ihrer Religion bereits erlittenen Verfolgung begründen können (Rdn. 75). Es geht also einerseits um diejenigen Asylsuchenden, die sich vor ihrer Ausreise religiös indifferent verhalten haben und nach ihrer Ausreise Glaubensaktivitäten – zumeist in Form einer Konversion – entfalten. Andererseits geht es um Asylsuchende, die vor ihrer Ausreise zwar privat ihren Glauben konkret gelebt haben, aber deshalb nicht verfolgt wurden und die nunmehr mit Blick auf ihre im Bundesgebiet entfaltete öffentliche Glaubensbetätigung ihre Rückkehr verweigern. Für die Ahmadis in Pakistan, die um des Überlebens willen auf die öffentliche Glaubensbetätigung verzichtet, aber ihren Glauben privat gelebt haben und deshalb ernsthaften Diskriminierungen ausgesetzt waren, löst sich die Frage der Verfolgungsgefahr nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004(83/EG). Haben sie hingegen ihren Glauben zwar privat ausgeübt, können sie aber keine ernsthaften Diskriminierungen glaubhaft machen, kommt es auf die Art der religiösen Lebensführung im Bundesgebiet an. Kann ihnen nunmehr mit Hinweis auf ihre frühere Beschränkung auf die private Glaubensbetätigung für die Rückkehr zwecks Vermeidung der Verfolgung ein Verzicht auf die öffentliche Glaubensbetätigung auch für die Zukunft abverlangt werden? Der Gerichtshof beantwortet diese Frage klar und eindeutig und hält der deutschen Rechtsprechung entgegen, die Beurteilung der Größe der Gefahr - nach deutscher Terminologie die Verfolgungsprognose - beruhe allein auf einer konkreten Prüfung der Ereignisse und Umstände anhand der in Art. 4 der Richtlinie aufgestellten Regeln. Keine dieser Regeln deute darauf hin, dass bei dieser Beurteilung berücksichtigt werden müsste, ob der Antragsteller die Verfolgungsgefahr „möglicherweise dadurch vermeiden kann, das er auf die betreffende religiöse Betätigung und folglich auf den Schutz, den ihm die Richtlinie mit der Anerkennung als Flüchtling garantieren soll, verzichtet“ (Rdn. 78). Sobald feststehe, „dass sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird, müsste ihm nach Art. 13 der Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Dass er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant“ (Rdn. 79). Die Vorstellung, es sei dem Antragsteller zuzumuten, sich nach Rückkehr einer öffentlichen Glaubenspraxis zu enthalten, ist unvereinbar mit Art. 1 A Nr. 2 GFK.34 Maßgebend ist danach nicht in erster Linie das zukünftige Verhalten des Asylsuchenden, sondern das zukünftige Verhalten der Verfolgungsakteure (Art. 6 RL 2004/83/EG). Ausgangspunkt der Beurteilung sind „alle Akte“, denen „der Antragsteller ausgesetzt war EGMR, HRLJ 1992, 358 ((361) (§ 44)) – B. v. France; . s. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 24 Rdn. 6 ff. . 33 BVerwGE 138, 270 (289) Rdn. 53 = NVwZ 2011, 755. 32 34 Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 147. oder ausgesetzt zu werden droht“ (Rdn. 68). Dass er früher seinen Glauben nicht öffentlich praktiziert hat, ist unerheblich, wenn er für die Zukunft aufgrund öffentlicher Glaubensbetätigung Verfolgung „ausgesetzt zu werden droht“ (Rdn. 68). Ist aufgrund seiner konkreten Lebensführung davon auszugehen, dass für das subjektive Verständnis des Betroffenen die öffentliche Glaubensbetätigung wesentlich ist und droht ihm deshalb Verfolgung, kann er zu deren Abwendung nicht zum Verzicht gezwungen werden (Rdn. 79). Eine menschenrechtliche Sicht der Religionsfreiheit beruht auf „willensgesteuerten Handlungen“, mag sich auch ordnungspolisches Denken gegen diese Einsicht sperren. Beruft sich der Asylsuchende auf seine ihm nach dem Völkerrecht und der Richtlinie umfassend gewährleistete Religionsausübungsfreiheit und haben die zuständigen Instanzen des Mitgliedstaates festgestellt, dass die Verfolgungsakteure im Herkunftsland die Ausübung bestimmter Gewährleistungsfreiheiten der Religionsfreiheit mit Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG unterdrücken, droht ihm Verfolgung aus Gründen der Religion unabhängig davon, ob er vor seiner Ausreise sämtliche Gewährleistungsfreiheiten der Religionsfreiheit in Anspruch genommen hat oder nicht.35 Die Grundrechte stehen nicht unter dem Vorbehalt, dass bei drohender Verfolgung auf ihre Ausübung zu verzichten ist. Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. 5. Fazit Der Gerichtshof stellt das Flüchtlingsrecht mit seinem Hinweis auf die Grundrechtscharta zu Recht offensiv in den Kontext der Menschenrechte und weist in eindeutigen und klaren Worten bisherige unerschütterliche deutsche Gewissheiten zurück. Gerade religiöse Verfolgungen mit ihrer spezifischen Ausprägung vielfältiger Diskriminierungen haben in Deutschland von jeher die Gemüter erhitzt. Bereits die erste grundlegende Entscheidung des BVerfG zum materiellen Asylrecht betraf religiöse Verfolgungen.36 Bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenrechte, der für den Anknüpfungsvorgang nach Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG maßgebend ist, sind Einschränkungen der Menschenrechte unzulässig. Dass der allgemein anerkannte Umfang der geschützten Menschenrechte für die Bestimmung des Verfolgungsbegriffs nicht vollständig herangezogen werden kann, ist in der Besonderheit des Flüchtlingsschutzes, nicht den größtmöglichen Ausübungsgebrauch der Menschenrechte, sondern Schutz vor ernsthaften Rechtsverletzungen zu gewährleisten, begründet. Diesen differenzierenden menschenrechtlichen Ansatz hat die deutsche Rechtsprechung bislang verkannt: Nicht alle Erschwernisse und Belastungen, sondern nur ernsthafte werden als Verfolgung anerkannt. Bei der individuellen Inanspruchnahme menschenrechtlicher Verbürgungen, sei es die aktive politische oder religiöse Betätigung oder die sexuelle Selbstbestimmung, gibt es hingegen keine Abstriche. 35 Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 21 Rdn. 90 ff. BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641 = JZ 1980, 804 – Ahmadiyya I. 36 62nd International Study Congress AWR on the subject The State of the European Union Asylum Directives September 23-26, 2012, D-85354 Freising/Germany Intervention by Reinhard Marx The Refugee Definition of the European Union with Specific Regard to Persecution on Religious Grounds I. The Qualification Directive and the Refugee Definition The Qualification Directive of the European Union can be seen as an ambitious attempt to harmonize Member States’ Practice on refugee recognition. A huge group of 27 Contracting States of the 1951 Refugee Convention are now developing a common approach to its definition of refugees and, this will certainly have a tremendous impact on customary law which is relevant for the development of the Convention in State practice. This process offers opportunities and risks for the universal approach of this definition. After World War II it was Europe which established basics of refugee law. The European Union, therefore, has a specific responsibility to improve state practice so far. With the Qualification Directive the Union undertakes to create a common European asylum system based on a full and inclusive application of the Refugee Convention, and particularly, its definition of refugees. Therefore, Article 2 lit. c) of the Directive assures that the determination of refugee claims in the Union is based on the international refugee defintion as enshrined in Article 1 para. 2 of the Convention. Conceptually, the Directive distinguishes between three interrelated key elements of the refugee definition, that is, the concept of persecution (Article 9), the failure of state protection (Articles 6 to 8), and the concept of reasons for persecution (Article 10). However, a key element of the international refugee defintion is missing, i.e. the concept of a well-founded fear of persecution. The definition of refugees of the Directive seem to be based on a purely objective perception, leaving no room for consideration of the subjective fears of claimants. Indeed, in refugee law the definition also comprises objective reasons for persecution. However, the starting point is wether objective reasons cause a well-founded fear from the standpoint of the claimant. For three decades Europe has developed an exclusively objective approach to the definition of refugee, thereby losing sight of the key conceptual element of the definition, i.e. the idea of wellfounded fear. However, Article 4 para. 3 lit. c) of the Directive conatins a procedural requirement to take account of the individual situation and the personal circumstances of the claimant. Whereas determination officers have, thus, to consider individual aspects this does not lead necessarily to the consequence that persecution is seen through the eyes of the claimant which is the function of the well-founded fear-concept. II. Importance of Religion-Based Asylum Claims The travaux preparatoires of the Convention show that religion-based persecution formed an integral and accepted part of the definition throughout the drafting process. The Convention thus puts special importance on this reason for persecution. In history, religion or belief have long been the basis upon which governments and non-state actors have singled individuals out for persecution. The Jewish victims of the Holocaust were clearly contemplated by the drafters of the Convention when they included religion as one of the five grounds for protection in the Convention. The persistence of religious persecution into the twenty-first century assures that it will continue to be a Convention ground upon which claims for protection are based. Some scholars have observed that religion will not only continue to be a significant ground, but that it is likely to gain increasing prominence as a ground of protection because of the resurgence of fundamentalism and nationalism, the relationship between religion and the rights of women, and the sustained concern for religious freedom at the international as well as State level.37 Religion-based claims are among the most complex in may respects. They often overlap with other grounds of protection, paticularly, with the notion of membership of a particular social group, they raise unique credibility problems, and they often involve sur-place claims due to a possibility of post-departure conversion.38 Religion is not limited to traditional religions or to religions and beliefs with institutional characteristics or practices analogoues to those of traditional religions, as the Human Rights Committee notes in its General Comment No. 22 (1993). It is the individual and his or her consciously held religious beliefs which are the starting point of the determination procedure. Consequently, Article 10 para. lit. b) of the 37 Karen Musalo, Claims for Protection Based on Religion or Belief, 16 IJRL 167 (2004); James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, pp 165, 167. 38 Andreas Zimmermann/Claudia Mahler, The 1951, Article 1 A, para. 2 § 353. Directive does not limit the notion of religion to traditional practices but has so far left the defintion open. Let us now focus on the key elements of persecution for religious reasons. III. The Reach of the Right to Freedom of Religion in Refugee Law The most important aspect of the Convention ground of persecution on religion is its wellaccepted human rights foundation. Various important provisions contained in major international law instruments guarantee the fundamental right to freedom of religion. Accordingly, it is also enshrined in Article 10 para. 1 of the Charter of Fundamental Rights of the European Union. Recently, the Grand Chamber of the European Court of Justice ruled that freedom of religion is one of the foundations of a democratic society and is a basic human right. The Court ruled that the individual is the starting point of religion-based claims. In assessing a real risk of persecution on account of religion the determining officer has to consider the claimant’s specific conviction and beliefs, even if the observance of religious practice does not constitute a core element of faith for the religious community he or she belongs to.39 The objective perception of the freedom of religion denoted in German jurisprudence40 was, thus, not adopted by the Court. Furthermore, the Court clarified a further question of utmost controversy, presumably, only in Germany but not in other Member States. German jurisprudence for 25 years only accepted religion-based claims if the claimant established persecution on account of his or her practice in private but not in public.41 No other Member State or Contracting Party to the Convention applied such an odd concept of the right to freedom of religion. The Court, thus ruled, that it is considered to be incompatible with the broad definition of religion given by Article 10 para. 1 lit. b) of the Directive, which encompasses all its constituent components, be they public or private, collective or individual.42 International law does not know a legal doctrine of „core areas“ („forum internum“) of the basic right to freedom of religion, which do not include religious activities in public. And it has to be said that German jurisprudence has at no time European Court of Justice, Y. and Z. v. Germany, Decion of 5 September 2012 – C-71/1, C-99/11, para.70. Federal Administrative Court, 138 Collection of Decisions 270, 286, para. 43 (2010). 41 Federal Constutional Court, 76 Collection of Decisions 143 (1987). 42 European Court of Justice, Y. and Z. v. Germany, Decion of 5 September 2012 – C-71/1, C-99/11, para.63. 39 40 undertaken to give a plausible and convincing account of its wilful restriction of the fundamental right of freedom of religion. The Court goes a step further and clearly states that when assessing the extent of the risk of actual acts of persecution in a particular situation, it is inadmissible to take account of the possibility open to the claimant of avoiding the risk of persecution by abstaining from religious practice in question and, consequently, renouncing the protection. It follows that, where it is established that, upon return claimants will follow a religious practice in public which will expose them to a real risk of persecution, they should be granted refugee status. The fact that they could avoid that risk by abstaining from certain religious practice is, in principle, irrelevant.43 Therefore, German jurisprudence which denied protection if the claimant upon return was able to enjoy „core areas“ of the right to freedom of religion but not religious activities in public44 is incompatible with Community law. Of course, such human rights-based refugee protection is open to misuse. However, in my experience as a practitioner most claimants from Islamic countries, particularly, from Iran, are seriously in need of search for meaning. Furthermore, the possibility of misuse is no reason to create restricted legal concepts incompatible with human rights standards. Determination officers, adjudicators and judges are used to examining the credibility of claimants. IV. The Notion of Severe Discrimination on account of Religion The Court of Justice is very clear with regard to the reach of the right to freedom of religion, it is, however, less clear in giving guidance to Member States on how to apply the concept of persecution in religion-based claims. The Union’s juridicial definition of persecution is laid down in Article 9 of the Directive. The Convention does not define it. The authors of the Convention intended that an open and flexible notion should lead the determination of refugee status to cover as many conceivable situations of persecution as possible. In contrast, the Directive elaborates a judicial definition. The focus is on „severe human rights violations“ meeting the test of Article 15 para. 2 of the European Convention on Human Rights, which means in practice ill-treatment in the sense of its Article 3. According to Article 9 para. 1 lit. a) there must be a „serious violation“ of religious freedom having a siginificant effect on the person concerned in order for it to be possible for the acts in question to be regarded as acts of persecution. The Court, thus ruled that a violation of the right to freedom of religion may 43 44 European Court of Justice, Y. and Z. v. Germany, Decion of 5 September 2012 – C-71/1, C-99/11, paras. 78. Federal Administrative Court, 138 Collection of Decisions 270, 288 (2010). constitute persecution within the meaning of Article 9 para. 1 lit. a) where an applicant, as a result of excercising that freedom, runs a risk of, inter alia, being prosecuted or subject to inhuman or degrading treatment or punishment.45 Moreover, Article 9 para. 1 lit. b) states that an accumulation of various measures, including violations of human rights, which is sufficiently severe as to affect an individual in a manner similar to that referred to in Article 9 para. 1 lit. a), is also to be regarded as amounting to persecution. However, the Court did not say when various acts of repression are „sufficiently severe“ to be regarded as acts of persecution. The reason for this retention is that the Court was only asked to give guidance on how to interprete Article 9 para. 1 lit. b) of the Directive. The concept of severe discrimination amounting to persecution carries with it a significant element of relativity and is, thus, hardly to define in clear-cut juridical terms. Therefore, it comes as no surprise that the Court does not support Advocate-General Bot’s view of persecution. The Advocate-General in his opinion held that persecution is an „act of utmost gravity, because it sets out flagrantly and persistently to deny the most esssential rights of the human person.“ Therefore, persecution in the meaning of Article 9 para. 1 lit a) of the Directive means that a claimant must run „a real risk of being executed or subjected to torture, or inhuman or degrading treatment, of being reduced to slavery or servitude, or of being prosecuted or imprisoned arbitrarliy.“46 Obviously, the Advocate-General dennotes the nonderoagable rights as enshrined in Article 15 para. 2 of the European Human Rights Convention to which Article 9 para. 1 lit b) of the Directive refers to, but does not take into account the concept of cummulation of various acts of repression as outlined in Article 9 para. 1 lit a) of the Directive. I seems that this is the reason why the Court did not refer to the opinion of the AdvocateGeneral in this respect. Furthermore, it did not adopt the extreme terms of exaggerations, like utmust gravity and flagrantly and persistently, of the Advocate-General’s description of persecution. Rather, it repeated only the wording of Article 9 para. 1 lit. b) of the Directive without giving any guidance on how to apply the notion of cummulation of various acts of repressions. One can assume that the Court had no intention of reducing persecution to „acts of utmust gravity“. Therefore, Member States have a wide margin of appreciation to assess when various acts of repression amount to persecution. The phrase „in a manner similar to“ European Court of Justice, Y. and Z. v. Germany, Decion of 5 September 2012 – C-71/1, C-99/11, para. 67. Opinion of the Advocate-General Bot in the joined cases C-71/11and C-99/11 of 19 April 2012, paras. 56, 107. 45 46 leaves them sufficient scope to determine religion-based claim in a fair and reasaonable manner. Persecution for religious reasons may take various forms. In its respective guidelines UNHCR outlined the following examples so far: prohibition of membership of a religious community, of worship in community with others in public or in private, of religious instruction, or serious measures of discrimination imposed on individuals because they practise their religion, belong to or are identified with a particular religious community, or have changed their faith.47 Mere membership of a particular religious community will normally not be enough to substantiate a claim. However, there may be special circumstances where mere membership suffices, particularly when taking account of the overall political and religious situation in the country of origin, which may indicate a climate of genuine insecurity for the members of the religious community concerned. Member States are very reluctant to consider such a a climate of genuine insecurity. Their fear that such a necessary generous approach may provoke abusive claims ignores the fact that members of religious communities within a hostile environment suffer from a long history of severe discrimination. Their decision to bear such discrimination over a long time may not be turned against them as proof that their fear is not well-founded. Even though discrimination for reasons of religion is prohibited, not all discrimination constitutes the basis for a claim to refugee protection. It is only when the discrimination is of a „grave enough nature“ to raise the level of persecution.48 The notion of persecution, indeed, includes human rights. Unlike human rights law refugee law does not assure the widest possible exercise of human rights but only protection against severe violations of human rights. The UNHCR Handbook gives guidance on this issue by stating that it is only in certain circumstances that discrimination will amount to persecution. This would be so if measures of discrimination lead to consequences of a substantially prejudicial nature for the person concerned, for example, serious restrictions on his or her right to earn his or her livelihood, his or her right to practice his or her religion, or his or her access to normally available educational facilities. Where measures of discrimination are, in themselves, not of a serious character, they may nevertheless give rise to a reasonable fear of persecution if they produce, in the mind of the person concerned, a feeling of apprehension and insecurity as regards his or 47 UNHCR, Guidelines on International Protection: Religion-based Refugee Claims under Article 1 A (2) of the 1951 Convention and/or the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, 28 April 2004, p. 4. 48 Karen Musalo, Claims for Protection Based on Religion or Belief, 16 IJRL 167, 177 (2004). her future existence. Whether or not such measures of discrimination in themselves amount to persecution must be determined in the light of all circumstances. A claim of fear of persecution will of course be stronger when a person has already been the victim of a number of discriminatory measures of this type and where there is thus a cumulative element involved.49 The Court, principally, endorsed this approach. It stated that an assessment of an asylum claim should be carried out on an individual basis. Determination officers are required to take account of all acts to which the claimant has been, or risks being, exposed, in order to determine whether, in the light of the claimant’s personal circumstances those acts may be regarded as constituting persecution.50 UNHCR’s outline of severe discrimination illustrates that an element of relativity is perhaps inherent and inescapable in determining asylum claims,51 which also characterizes the jurisprudence of the European Human Rights Court when it determines whether certain measures run counter to Article 3 of the European Human Rights Convention.52 From the beginning, there was no monolithic or absolute conceptual standard of wrongfulness, the implication being that a variety of measures in disregard of human dignity might constitute persecution. Refugee status was premised on the risk of serious harm, but not on the possibility of consequences of life or death proportions. In addition to the Convention’s acceptance of deprivation of basic civil and political freedoms as sufficient cause for international concern, serious social and economic consequences were also acknowlegded to be within the purview of persecution.53 V. Conclusion State practice often does not meet the requirements of religion-based claims. Critics stress that discriminatory measures of a substantially prejudicial nature, limitations on religion, and forced compliance which religious norms are often not recognized as persecution, even though they merit such recognition when analyzed within the framework of international 49 UNHCR, Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status under the 1951 Convention and the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, 1977, paras. 54. 50 European Court of Justice, Y. and Z. v. Germany, Decion of 5 September 2012 – C-71/1, C-99/11, paras. 78. 51 Guy S. Goodwin-Gill/Jane McAdams, The Refugee in International Law, 3d edn., 2007, p. 132. 52 EGMR, RJD 1999-V = HRLJ 1999, 238 - Selmouni v. France; EGMR, HRLJ 1999, 459 (468) – V v UK; EGMR, HRLJ 2002, 378 (384) – Kalashnikov; s. auch EGMR, HRLJ 1990, 335 (362) = EZAR 933 Nr. 1 = NJW 1990, 2183 – Soering; EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1332) Rdn. 135 – Saadi; s. auch Harris/O'Boyle/ Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 1995, S. 62. 53 James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, p. 103. human rights norms. It is said that this can be remedied by greater incorporation of international guidance into the evaluation of whether a case of harm constitutes persecution. 54 In the light of these observations the Court’s ruling of 5 September 2012 is a very important step of the European Union to progressively develop refugee law. There is recognition of the analytical complexity posed by religion-based claims.55 The clear-cut and open-minded perception of the Court’s decision on such claims for protection places them into the context of human rights law and, thus, the decision is an encouraging signal to the European region to take responsibility for victims of severe human rights violation. Marx, 14 September 2012 54 55 Karen Musalo, Claims for Protection Based on Religion or Belief, 16 IJRL 266 (2004). Karen Musalo, Claims for Protection Based on Religion or Belief, 16 IJRL 168 (2004).