Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 KONFLIKTE und STRESS 1. Was ist „Stress“? Der Begriff „Stress“ (engl. = „Druck“) stammt ursprünglich aus der Werkstoffkunde und benennt den Zustand eines Materials, das unter Zug oder Druck steht. Dies entspricht unserem Alltagsverständnis von Stress als Situation unter Druck und als Zustand besonderer psychischer und körperlicher Anspannung. Stress, die „Epidemie“ der modernen Leistungsgesellschaft, begegnet uns im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie und sogar in der Freizeit. Die Erwartungen vieler Unternehmen im Hinblick auf Mobilität, Flexibilität und Identifikation mit der Unternehmenskultur geraten vielfach in Widerstreit mit den eigenen Werthaltungen, der eigenen Lebensplanung (intrapersoneller Konflikt) oder den Erwartungen und Einstellungen des Partners, der Familie und der Freunde (interpersonelle Konflikte). Interessenskollisionen und Konflikte zwischen Berufs- und Privatleben lassen das negative Belastungspotential weiter ansteigen, vor allem dann, wenn man nicht gelernt hat, mit Konflikten und psychischen Krisen umzugehen. Der Mensch befindet sich in einer Streßsituation tatsächlich in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft, was in unterschiedlichen körperlichen Reaktionen zum Ausdruck kommen kann: Das Herz schlägt schneller Der Blutdruck und die Atmungsfrequenz erhöht sich Die Durchblutung des Gehirns und der Skelettmuskulatur ist erhöht Der Blutzuckerspiegel ist erhöht Verdauungsprozesse, Sexualfunktionen u. Immunabwehr werden gehemmt Muskelverspannungen Schweißausbrüche Das Gehör und das Sehvermögen werden schärfer 2. Arten von Stress Es gibt 2 Arten von Stress: Eustress und Distress (Selye 1976). Als Eustress (griech.: eu = gut) bezeichnet man belastende Reize, die als angenehm empfunden werden (= positiver Stress), z. B. Herausforderung bei einem Spiel oder ein Fallschirmsprung. Unter Distress versteht man den Zustand der Überlastung, wie z.B. Überforderung am Arbeitsplatz (= negativer Stress). „Distress oder Eustress?“ Inwieweit Belastungssituationen zu einem negativen Stress werden, hängt zum einen von der Dauer der Belastung sowie den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen ab, zum anderen von den wahrgenommenen Bewältigungsmöglichkeiten, d. h. der persönlichen Selbsteinschätzung. Besitzt man die Fähigkeiten und Fertigkeiten, den Anforderungen gerecht zu werden sowie die Möglichkeit, die freiwerdenden körperlichen Energien auch auszuleben, hat man es mit positivem Stress zu tun. Dann kann Stress sogar das Selbstvertrauen und Wohlbefinden steigern, was in Fitness oder Vitalität resultiert. In Abweichung von Selye, der noch zwischen positivem Eustress und negativem Distress unterschied, betrachtet man heute Stress meist als negativen, unangenehm empfundenen Spannungszustand (Greif 1978), dessen Folgen allerdings positiver Art sein können (z.B. Erhöhung der Handlungskompetenz bei Bewältigung der Streßsituation oder Erweiterung der Frustrationstoleranz eines Individuums). 1 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 3. Stressoren Stressreaktionen werden ausgelöst durch Stressoren (= belastende Reize). Stressoren werden unterteilt in 4 verschiedene Arten von Reizen: Körperliche, seelische, chemische und soziale Reize. Körperliche Stressoren sind z. B. Hitze, Kälte, Lärm, Hunger, Infektionen und Verletzungen. Als seelische Stressoren bezeichnet man u. a. Versagensängste, Zeitdruck, Leistungsüberforderung- bzw. Unterforderung und Prüfungssituationen. Von sozialen Stressoren spricht man bei Konflikten, Meinungsverschiedenheiten, Verlust von Angehörigen und Ablehnung durch andere Menschen, Isolation, Gruppendruck, Rivalität und Intrigen. Drogenmissbrauch, Chemikalien im Beruf sind Beispiele für chemische Stressoren. Weitere Stressoren, die im Arbeitsbereich auftreten sind: - Organisationsbedingt: z.B. bürokratische Strukturen, steile Hierarchien, unklare Kompetenzen. Rollenbedingt: z.B. durch Rollenambiguität oder Rollenkonflikte Personenbedingt: z.B. durch Übermotivierung, Unsicherheit, Ängste, mangelnder Bezug zur Arbeit, Konflikte zwischen Familie und Karriere. Die Belastungsforschung hat sich insbesondere mit einseitigen physischen Belastungen beschäftigt. Sie entstehen überall dort, wo monotone und einseitige Beanspruchungen auftreten, also etwa bei Berufsgruppen, die ständig wiederkehrende Abläufe zu bewältigen haben (Fließbandtätigkeiten, Bedienung von Tastaturen) oder deren Sinne einseitig belastet werden (Beobachtung von Bildschirmen, Arbeit in Lärmsituationen) oder bei denen der Biorhythmus durcheinander gerät (z.B. bei Schichtarbeit). Generell kann ausgesagt werden, daß sich infolge des technischen Wandels die Belastungsschwerpunkte verlagert haben: Während körperliche Belastungen durch manuelle Maschinenbedienung tendenziell abnehmen, steigen psychisch-geistige Belastungen. Schwerwiegende negative Ereignisse, wie der Tod einer nahe stehenden Person, scheinen so viel seelischen Schmerz auszulösen, dass die Abwehrkräfte des Körpers geschwächt werden. Ärzte berichten, daß vielen Erkrankungen Todesfälle oder Trennungen vorausgegangen sind. Verluste dieser Art bewirken bei dafür besonders empfänglichen Menschen einen Zustand der Hoffnungslosigkeit und inneren Resignation. Dieser psychische Zustand bringt biologische Veränderungen mit sich, die wiederum für bestimmte Krankheiten empfänglich machen. Einschneidende traumatische Ereignisse wie Unfälle, Katastrophen und Kriegserfahrungen können zu einem Leiden führen, das heute als posttraumatische Belastungsreaktion (engl.: post-traumatic stress disorder, PTSD), bezeichnet wird. Im Krieg wurde diese Störung früher als Kriegs- oder Bombenneurose bezeichnet. Der Begriff PTSD wurde geprägt, als dieses Stresssyndrom bei vielen amerikanischen Vietnamveteranen deutlich wurde, deren Wiedereingliederung in das zivile Leben sich als problematisch erwies. Die Symptome können unter Umständen erst Monate nach dem erlittenen traumatischen Erlebnis auftreten. Sie äußern sich nach anfänglicher Abgestumpftheit u. a. in nervöser Reizbarkeit, Kontaktstörungen und Depression. Aber auch positive Veränderungen wie ein neuer Arbeitsplatz oder die Geburt eines neuen Familienmitgliedes können die normale Fähigkeit eines Menschen, Krankheiten abzuwehren, beeinträchtigen. Die amerikanischen Forscher, Thomas Holmes und Richard Rahe, stellten die These auf, einschneidende Veränderungen der Lebensbedingungen griffen unter Umständen nachhaltig die menschliche Gesundheit an. 2 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Sie entwickelten eine Liste von Ereignissen, die eine Veränderung des Lebensstils erforderlich machen, und ordneten jedem Ereignis eine bestimmte Punktezahl zu, so daß für jedes Individuum die Anzahl von einschneidenden Veränderungen über einen Zeitraum von beispielsweise einem Jahr berechnet werden konnte. Holmes und Rahe behaupteten, ein hohes Maß an Veränderungen erhöhe deutlich die Wahrscheinlichkeit einer späteren Erkrankung. Diese These überprüften sie auf zweierlei Weise: retrospektiv durch den Vergleich von Lebensläufen kranker und gesunder Menschen; und prospektiv, indem sie Menschen im Hinblick auf ihre Lebenserfahrungen kategorisierten und aufgrund der so ermittelten Werte Voraussagen über ihre zukünftige Entwicklung trafen. Retrospektiv benennen kranke Menschen für das Jahr vor der Erkrankung mehr Ereignisse, die mit Stress verbunden waren, als eine Vergleichsgruppe von gesunden Menschen. Prospektiv kam man zu dem Schluss, dass diese Korrelation vielleicht einfach die Tendenz kranker Menschen wiederspiegelt, in ihrer niedergedrückten Stimmung hauptsächlich unangenehme Erlebnisse anzusprechen. Und es ist auch möglich, dass die negativen Lebenserfahrungen der Krankheit in Wirklichkeit nicht vorausgingen, sondern dass die Erkrankung im Frühstadium schon vor diesen Erfahrungen bestand und daher mit zu ihrem Eintreten beigetragen hat. Es ist z. B. vorstellbar, dass eine Herzerkrankung im frühen Stadium dazu führt, dass die betreffende Person bei der Arbeit weniger leistungsfähig ist, oder sogar seine Stelle verliert. Dieser Verlust würde dann im nachhinein für einen nachfolgenden Herzinfarkt verantwortlich gemacht. 4. Psychologische Stressmodelle S-O-R-Modell Im Sinne des S-O-R-Modells ergibt sich die folgende elementare Beziehung: Stressoren Stress Stressreaktion Stressoren lösen Stress aus, welcher dann zu einer Stressreaktion führt. Kritik: Dieses Modell ist sehr allgemein und berücksichtigt nicht die verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale und Situationsdeutungen (siehe unter Punkt 7). Diese intervenierenden Variablen bestimmen im Zusammenklang mit auftretenden Stressoren Ausmaß und Qualität des wahrgenommenen/ erfahrenen/ erlebten/ kognizierten Streß. „Misfit-Modell“ von Harrison (1978) Nach Harrison tritt Stress immer dann auf, wenn (aus der Sicht des Individuums) zwischen Fähigkeiten des Individuums und den leistungsbezogenen Anforderungen Divergenzen bestehen und/oder wenn die Ressourcen/Möglichkeiten der Arbeitssituation nicht den Bedürfnissen/Motiven des Individuums entsprechen. Ein „Misfit“ zwischen „Environment“ (E) und „Person“(P) wirkt demnach als Stressor (P-E-fitModell). Kritik: Dieses Konzept ist sehr allgemein, zumal über die jeweils von Individuen gewählten Streßreaktionen bzw. Bewältigungsstrategien nichts Spezifisches ausgesagt wird. Transaktionales Erklärungsmodell von Lazarus (1984) Das transaktionale Erklärungsmodell von Lazarus betrachtet Stresssituationen als komplexe Wechselwirkungsprozesse zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person. 3 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Dieses Stressmodell differenziert nach der Frage, ob das Individuum glaubt, die Situation kontrollieren zu können und ob die Gefahr höher eingeschätzt wird als die eigenen Kräfte. Im Unterschied zum sehr einfachen S-O-R-Modell werden Persönlichkeitsfaktoren sowie Variablen der Situationsdeutung als wichtige vermittelnde Größen berücksichtigt. So wird z.B. ein Individuum mit positivem/stabilen Selbstbild sowie hoher Kontrollüberzeugung aktiv auf jene Umstände einwirken, die den Stress verursachen oder entsprechende Lösungsversuche einleiten. Menschen können gegenüber einem bestimmten Stressor also höchst unterschiedlich anfällig sein. Bedeutsam für den Stressgehalt einer Situation oder eines Ereignisses sind nicht die objektiven Merkmale dieser Situation, sondern die Gedanken, Empfindungen und Überlegungen der davon betroffenen Person. Ein Reiz ist nicht deshalb stressend, weil er, wie Selye annahm, eine bestimmte Intensität übersteigt. Zu einem Streßreiz wird er erst durch die subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen dessen, der ihn erlebt. Selbststress Persönlichkeitsfaktoren, z.B. Belastbarkeit Motivation motorische Ebene Stressoren (z.B. Lärm, Tadel, Aufgabenkomplexität) Stress Situationsdeutung, z.B. Attribution, Konstanz emotionale Ebene kognitive Ebene Stresskontrolle hoch niedrig z.B. z.B. Angriff Zittern z.B. Ärger z.B. Angst z.B. Strategiebildung z.B. Bagatellisierung Kritik: Dieses Modell zeigt sehr gut die Zusammenhänge zwischen Stressoren, Stress und den möglichen Stressreaktionen unter Berücksichtigung von intervenierenden Variablen. Weiters werden alle Handlungen, die darauf gerichtet sind, die Bedrohlichkeit einer Situation abzuwenden, dabei als „Coping-Prozesse“ bezeichnet, die eine Art Selbstregulierungs-Mechanismus darstellen (siehe Punkt 6). Neuere Entwicklungen der Stressforschung Neuere Entwicklungen der Stressforschung betreffen integrative Bemühungen, z.B. den Stellenwert des Stresskonzepts im Rahmen der Gesundheitspsychologie (Zimbardo 1992) die Rückbesinnung auf die emotionspsychologischen Grundlagen der Stressforschung und die Einstufung des Konzepts als Teil einer umfassenden Emotionspsychologie (Lazarus 1991). Bislang unverbundene psychologische Stresskonzepte werden als sich wechselseitig ergänzende Modellvorstellungen auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau und mit unterschiedlichen Geltungsbereichen aufgefasst (Edwards 1992). 4 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 5. Phasen einer Streßreaktion Grundsätzlich sind Streßreaktionen auf verschiedenen Ebenen zu unterscheiden: auf der physiologischen Ebene (z.B. Nervosität, Gesundheitsstörungen), auf der motorischen Ebene (z.B. Flucht, Rückzugsverhalten, Aggression), auf der emotionalen Ebene (z.B. Angst, Ärger, Frustration), auf der kognitiven Ebene (z.B. Wahrnehmungsverzerrung, Wandel von Kontrollüberzeugungen, Bagatellisierung). Der Arzt Hans Selye, eine Autorität auf dem Gebiet der Stressforschung (er experimentierte v.a. mit Ratten, die er intensiven „Stressreizen“ aussetzte), definierte Stress als die Summe aller auf einen Organismus einwirkenden Reize und entwickelte ein einfaches Reiz-Reaktionsmodell des Stresssyndroms. Hiernach folgen auf jeden intensiven Reiz 4 Phasen der körperlichen Stressreaktion: 1. 2. 3. 4. Schockphase Alarmreaktion Widerstandsphase Erholungs- bzw. Erschöpfungsphase In der 1. Phase, der Schockphase, erkennt der Körper die Stresssituation und bereitet sich darauf vor, zu handeln: Nahezu alle Kreislauf- und Stoffwechselfunktionen werden schlagartig reduziert, um die bevorstehende Mobilisierung aller Kräfte nicht durch störende Aktivitäten zu behindern. Das Gehirn schlägt Alarm. Impulse des Hypothalamus (Steuerzentrum im Zwischenhirn, Schaltstelle zwischen dem Nerven- und Hormonsystem) führen zunächst einmal zu einer Denkblockade („Ruhe vor dem Sturm“). Nachdenken könnte in einer bedrohlichen Situation zuviel Zeit in Anspruch nehmen oder sogar tödlich sein. In der 2. Phase, der Alarmreaktion, werden vom Organismus alle Reserven aktiviert. Es werden alle Kräfte bereitgestellt, um der Gefahr zu begegnen oder ihr mit größter Eile zu entfliehen. Über afferente und efferente Nervenbahnen wird nun die Nebenniere dazu veranlasst, in erhöhtem Maße Adrenalin und Noradrenalin an das Blut abzugeben. In Sekundenbruchteilen bringen die Nebennieren-Hormone Atmung, Kreislauf, Muskulatur und Stoffwechsel auf Hochtouren. So pumpt das Herz z. B. mehr Blut in die Muskeln und deckt deren erhöhten Zucker- und Sauerstoffbedarf. Die Hormone schalten gleichzeitig alle nicht lebensnotwendigen Funktionen (z. B. Verdauungsprozesse und Sexualfunktionen) vorübergehend ab. Zur Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit erweitern sich die Pupillen. Der Organismus ist nun optimal gerüstet. Alle für die Abwehr der Gefahr wichtigen Organe sind bestens versorgt, sogar das Blut gerinnt leichter, so dass bei einer ev. Verletzung die Wunden schneller schließen. Alle Energie ist auf die bevorstehende Handlung ausgerichtet und drängt darauf, eingesetzt und verbraucht zu werden. In der 3. Phase, der Widerstandsphase, setzt sich der Mensch aktiv mit der Streßsituation auseinander. In der Bewältigung der bedrohlichen Situation, sei es nun durch aktive Beseitigung der gefährdenden Störgrößen oder durch schnelle Flucht aus der Gefahrenzone, werden die bereitgestellten Energien verbraucht. In dieser Handlungs- und Abwehrphase baut der Körper die Stresshormone ab, die durch die Alarmreaktion ausgeschüttet wurden. Hält die Streßsituation jedoch an, bleibt der Körper im Alarmzustand und kann schädliche Folgen nicht verhindern. Wurden die Streßhormone abgebaut, folgt die Erholungsphase. Die Erregung klingt ab. Kreislaufund Stoffwechselfunktionen kehren in die Normallage zurück. Unter Umständen sinken sie vorübergehend unter das Ausgangsniveau ab, um sich dann wieder auf den individuellen Normalzustand zu stabilisieren. 5 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Wird der Widerstand aber länger aufrechterhalten, tritt als 4. Phase die Erschöpfung ein, aus der eine stressbedingte Gesundheitsstörung resultieren kann. Man nennt die Stressreaktion in diesem Zusammenhang auch Kampf-/Fluchtreaktion. Die Stressreaktion hat in seiner ursprünglichen Funktion einen positiven Sinn, denkt man an die starken körperlichen Anforderungen, denen der Mensch der Urzeit („Steinzeitstress“) ausgesetzt war. Der moderne Mensch hat in Stresssituationen jedoch nur in seltenen Fällen die Möglichkeit, die körperlichen Reaktionen auch tatsächlich in der Situation abreagieren zu können. Das kann in der Folge von Dauerbelastungen zu Distress und stressbedingten Krankheiten führen. Selye nahm an, daß dieser Reaktionsverlauf eine allen Lebewesen eigene, universell gültige biologisch funktionale Anpassungsreaktion an Gefahrensituationen sei, die fest im Erbgut verankert ist und bei uns Menschen in gleicher Weise funktioniert wie bei allen anderen Lebewesen. In der modernen medizinischen und psychologischen Streßforschung spielt seine Annahme aber nur noch eine untergeordnete Rolle, da empirische Untersuchungen ergaben, daß sich die Streßreaktionen einzelner Menschen stark unterscheiden und sogar je nach Situation auch bei derselben Person erheblich variieren können. 6. Coping Um aus einer stressrelevanten Überforderungssituation wieder herauszukommen oder den psychischen Druck zu verringern, werden die unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien angewendet. „Coping“ ist ein von Lazarus geprägter Sammelbegriff für all die Reaktionen, die Menschen bei der Konfrontation mit potentiell bedrohlichen oder belastenden Situationen zeigen. Nach Lazarus hat „Coping“ hauptsächlich folgende Aufgaben: 1. Den Einfluß schädigender Umweltbedingungen reduzieren und die Aussicht auf Erholung verbessern. 2. Negative Ereignisse oder Umstände ertragbar machen bzw. den Organismus an sie anpassen. 3. Ein positives Selbstbild aufrechterhalten. 4. Das emotionale Gleichgewicht sichern. 5. Befriedigende Beziehungen zu anderen Personen fortsetzen. Welche Coping-Reaktionen jemand in einer bestimmten Situation wählt, hängt von einer Reihe von Faktoren ab: - allgemeiner Gesundheitszustand Grad der psychischen und/oder physischen Belastung Bereich, von dem die Anforderungen ausgehen Zeitfaktor Frühere Erfolge bzw. Mißerfolge bei ähnlich strukturierten Anforderungssituationen Grad der subjektiven Bedeutsamkeit Coping ist ein prozeßhaftes Geschehen mit außerordentlich vielen Variationsmöglichkeiten. Praktisch gibt es kaum eine Verhaltensweise, die im Umfeld von Streß nicht als Coping-Reaktion interpretiert werden kann, so daß es nur schwer möglich ist, einen systematischen Überblick zu geben. Menschen reagieren auf Herausforderungen u. Belastungen entweder ereignisbezogen (z.B. „Dafür muß es doch eine Lösungsmöglichkeit geben“) oder selbstzentriert (z.B. „Wäre ich nur nicht ans Telefon gegangen...“). 6 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Um aus einer Streßsituation wieder heraus zu kommen, suchen die einen nach Möglichkeiten sozialer Unterstützung, holen sich Rat u. Hilfe bei Kollegen, Freunden oder in der Familie, während andere z.B. aus Angst vor Ansehens- u. Prestigeverlust versuchen, unter allen Umständen allein damit fertig zu werden. Emotion-focused coping: Anstrengungen werden primär darauf gerichtet, die eigene emotionale Befindlichkeit zu verbessern. Zum emotionalen Coping gehört sowohl die Strategie des positiven Denkens („Ich habe noch vier Tage Zeit, mich intensiv mit der Lösung dieses Problems zu beschäftigen. In der Zeit kann ich viel erreichen!“ anstatt „Ich habe es in den letzten drei Tagen nicht geschafft, dann werde ich es in den verbleibenden vier Tagen bestimmt auch nicht schaffen!“) wie auch der Versuch, Ängste, Anspannungen, negative emotionale Zustände durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum zu vermindern. Vs. Problem-focused coping: Versuch, die Problemlage positiv zu verändern, eine Lösung des Problems herbeizuführen, die Bedingungen von denen Herausforderung, Bedrohung oder Schädigung ausgeht, zu verändern. Problemorientiertes Coping würde sich in diesem Fall darauf richten, die Ursachen des Termindrucks zu beseitigen, indem man beispielsweise weniger wichtige Termine streicht oder einen Teil der Aufgaben delegiert. Coping-Reaktionen können sich zum einen rein innerpsychisch abspielen. Sie sind dann auf Gefühle und Gedanken begrenzt. Etwa wenn der Versuch gemacht wird, den zunächst als hoch eingeschätzten Bedeutungsgehalt einer Situation oder deren Folgen in einer Art Uminterpretation herunterzuspielen, sich von der Anforderung kognitiv zu distanzieren, sich selbst aus der Verantwortung zu entlassen. Oder aber sie manifestieren sich in direkten Aktivitäten. Hier reicht die Spanne möglicher Reaktionen von Flucht und Vermeidung bis zu einer selbstbewussten und selbstbestimmten aktiven Auseinandersetzung mit der Herausforderung: Man lotet zunächst einmal die Möglichkeit aus, das Problem mit den Mitteln, die einem selbst zur Verfügung stehen, in den Griff zu bekommen. Erweisen sich diese als nicht ausreichend, wird man versuchen, den eigenen Informationsstand zu erweitern oder aber nach Wegen suchen, die eigenen Kompetenzen zu erweitern. Bsp.: Stress durch Verkehrsstau auf der Autobahn während der Fahrt zu einem wichtigen Kundentermin Eine innerpsychische Reaktion wären beispielsweise die Gedanken: „Der Kunde wird für meine Verspätung Verständnis haben“ oder „Wenn der Termin platzt, sind die Folgen nicht mein Problem“. Coping durch direkte Aktivität wären in diesem Fall sowohl das Dauerhupen als auch das Abhören des Verkehrsfunks und die Suche nach einer alternativen Fahrroute bei der nächsten Abfahrt. Gefahr besteht nun darin, daß manche Coping-Reaktionen zwar in der Lage sind, momentane Erleichterungen zu bringen, die Ursachen der psychischen Belastung langfristig aber meistens nicht zu beseitigen sind, z. B. wenn einem nach einigen Gläsern Wein alle Probleme als lösbar erscheinen oder wenn gute Freunde uns in unserer ablehnenden Haltung einer beruflichen Umorientierung gegenüber bestärken. Wer sich bei seinem Umgehen mit den Stressquellen seines Lebens bevorzugt auf solche Formen des Coping verlässt, gleicht sehr bald einem Schiff, das in die falsche Richtung steuert und irgendwann manövrierunfähig hilflos im Sturm treibt. 7 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 7. Stressbedingende Einstellungen/ Persönlichkeit und Streß Inwieweit belastende Situationen zu Distress werden, kann wie schon früher erwähnt, auch davon abhängig sein, mit welchen Einstellungen und Bewertungen man diesen Stressoren begegnet. Dies ist offenbar eine Frage differentieller Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Belastbarkeit, Parallelität von extremer Leistungsmotivation und extremem Rivalitätsverhalten) sowie eine Frage unterschiedlicher Situationsdeutung (z.B. Kausalattribution, Einschätzung der Situation als vorübergehend, als beherrschbar, als herausfordernd etc.). Interessant ist, daß das Individuum sich im Sinne des „reziproken Determinismus“ (Bandura) seine eigenen Stressoren verschaffen bzw. setzen kann. Dies geschieht insb. im Falle intrinsischer Motivation, nämlich dann, wenn das Individuum sich seine eigenen Leistungsziele setzt und sein Anspruchsniveau ständig erhöht (Selbststreß). So wird ein bestimmter Verhaltenstyp untersucht, den Wissenschaftler „Typ A“ nennen. Mit diesem Begriff bezeichnete man ursprünglich Menschen, die zu Erkrankungen der Koronararterien neigen. Dieser „Typ A“ ist durch extremen Ehrgeiz, Konkurrenzdenken, starke Identifikation mit seiner Arbeit, ständige Zeitknappheit, Ungeduld und unterschwellige Feindseligkeit gekennzeichnet. Der ehrgeizige, auf Konkurrenz eingestellte Typ A ist beispielsweise in der US-amerikanischen Gesellschaft häufig anzutreffen, und es gibt zunehmend Hinweise, dass dieser Verhaltenstyp in Zusammenhang mit erhöhtem Auftreten verschiedener stressbedingter Gesundheitsstörungen steht (z.B. ist das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden für den Typ A doppelt so hoch wie bei anderen Menschen). Das Ausmaß der tatsächlichen Belastung und Stressempfindung hängt häufig mit einer Übersteigerung der eigenen Ansprüche an sich selbst zusammen. Viele Stressgeplagte erwarten von sich, immer 100% Leistung und mehr bringen zu müssen. Ein Muss-Denken begleitet sie in vielen Bereichen ihres Lebens. Aber sind solche übersteigerten Bewertungsmuster wirklich hilfreich und leistungsfördernd? Durch einen überhöhten Selbstanspruch kann ein innerlicher Druck entstehen, der letztendlich auch zu einer Abnahme der eigenen Leistungsfähigkeit führt. In gleicher Weise wird durch ein Übermaß an Streß die Leistungsbereitschaft und die Arbeitszufriedenheit beeinträchtigt. Aus der Theorie des Aktivationsniveaus sowie aus der Theorie der Leistungsmotivation folgt, daß Menschen Unter- und Überaktivierung im allgemeinen nicht schätzen. Individuen werden am ehesten stimuliert und herausgefordert durch Aufgaben mittlerer Schwierigkeit (Aufgaben, die fordern, nicht überfordern). Auch Atkinson (1964) vermutet, daß ein Zustand der Übermotivation (im Sinne von: “etwas unbedingt wollen“) als Streßfaktor wirkt. Das Yerkes-Dodson-Gesetz veranschaulicht dies: 8 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 8. Burn out Der Begriff Burn-out (dt.: Ausbrennen, Durchbrennen von Sicherungen) ist im deutschen Sprachraum Ende der 80er Jahre populär geworden. Als auf Menschen bezogenes Phänomen ist mit Burnout das Abnutzen, Verausgaben bzw. der Verlust vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint. Im American Heritage Dictionary (Morris, 1982) wird Burnout als „Erschöpfung auf Grund von lang andauerndem Stress, physischer oder emotionaler Erschöpfung“ von Mitarbeitern in helfenden Berufen und Dienstleistungsberufen gekennzeichnet. Als Symptome werden herabgesetzte Moral, hohe Jobwechselraten, zunehmender Alkohol- und Medikamentenkonsum, vermehrte Konflikte innerhalb der Familie sowie dehumanisierende Ansichten genannt (Corsini, 1987). Neuerdings wird das Burnout-Konzept (Maslach, 1982) generell auf den arbeits- und organisationspsychologischen Bereich, ebenso wie auf Erwerbslose oder (Ehe-)Partner als Burnoutgefährdete, übertragen (Nerdinger/Pfann, 1993). Maslach ermittelte drei relevante Dimensionen von Burnout: Emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung und Antriebsverlust. Nicht also die helfende Interaktion, sondern die Beanspruchung durch den arbeitsbedingten Kontakt zu anderen Menschen wird somit zum Kernstück des Burnout. Symptome des Burnout Schaufeli (1992) differenziert fünf Kategorien: Psychische Die psychischen Symptome beinhalten emotionale (z.B. Schuldgefühle), kognitive (z.B. Rigidität im Denken) und motorische (z.B. Verspannungen) Beeinträchtigungen. Physische Bei den physischen Symptomen zeigen sich erhöhte psychosomatische Beschwerden (z.B. Schlafstörungen), Erkrankungen (z.B. Kopfschmerzen) und physiologische Reaktionen (z.B. erhöhte Herzschlagrate). Verhaltensbezogene Verhaltensauffälligkeiten äußern sich individuell z.B. in erhöhter Aggressivität, exzessivem Alkoholkonsum oder im Beruf durch Fernbleiben von der Arbeit (Absentismus). Soziale Veränderungen im Umgang mit Klienten (z.B. Verlust von positiven Gefühlen den Klienten gegenüber), mit Kollegen (z.B. Isolierung) oder auch im Privatleben (z.B. Einsamkeit) kennzeichnen soziale Symptome. Einstellungsbezogene Bei ausgebrannten Personen ändert sich darüber hinaus die Einstellung zu ihrer Arbeit. Diese zeigen sich im Umgang mit ihren Klienten (z.B. Stereotypisierung von Klienten, Zynismus) oder in der Arbeit (z.B. negative Arbeitseinstellung). Bei von Burnout betroffenen Personen ist ein erhöhtes Konfliktpotential zu erkennen Unrealistische Zielsetzungen, zu hohe Erwartungen, mangelnde Bewältigungskompetenz etc. werden als Ursachen für Burnout benannt. Aus der arbeitspsychologischen Forschung ist bekannt, dass mangelhafte Arbeitsbedingungen wie z.B. Zeitdruck, mangelnder Handlungsspielraum, Rollenkonflikte und mangelnde Rückmeldung zu Befindensbeeinträchtigung führen können. 9 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 9. Stressbedingte Gesundheitsstörungen Die psychosomatische medizinische Forschung hat für eine Vielzahl physischer Symptome und Erkrankungen einen mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit psychischen Vorgängen nachweisen können. So wurde beispielsweise in ausgedehnten arbeitsmedizinischen Untersuchungen eine Beteiligung von beruflichem Streß an der Entstehung oder Weiterentwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum Infarkt, chronisch erhöhtem Blutdruck, Störungen des Immunsystems und bösartigen Tumoren festgestellt. Die Liste der mit Streß in Zusammenhang gebrachten Krankheiten und Beeinträchtigungen ist lang : Konzentrationsstörungen, Nervosität, Depressivität, Angst, Schlafstörungen, Migräne, Muskelverspannungen, Allergien, Gefäßerkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Asthma, Suchtkrankheiten wie Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. In letzter Zeit wird diese Liste immer häufiger ergänzt durch das sogenannte Chronische Erschöpfungssyndrom (Chronique Fatique Syndrom – CFS), bei dem vielfältige körperliche Beschwerden mit massiven Konzentrationsstörungen, allgemeiner Leistungs- und Antriebsschwäche und einer ständigen, starken Müdigkeit einhergehen. Es gilt heute als erwiesen, dass nichtbewältigter Stress vor allem auf längere Sicht die Gesundheit beeinträchtigt und das Auftreten von Krankheiten begünstigt. Die Frage, auf welchem Wege dies geschieht, ist allerdings noch weitgehend unbeantwortet. Die von Selye aus den Ergebnissen seiner Tierversuche abgeleitete These, dass zwischen Reizhäufigkeit, Reizintensität und gesundheitlicher Beeinträchtigung ein direkter kausaler Zusammenhang besteht, scheint zwar für physischen Stress (Lärm, extreme Temperaturschwankungen, Umweltgifte etc.) zuzutreffen, bei psychischem Stress sind die Ursache-WirkungsZusammenhänge aber wesentlich komplizierter. Vermutlich aber ist jeder Mensch nur begrenzt dazu in der Lage, langanhaltende, starke psychische Belastungen völlig ohne gesundheitliche Schädigung zu ertragen. Wichtig in diesem Zusammenhang scheint auch die Tatsache, daß Stressoren und Streßreaktionen auf längere Sicht bei vielen Menschen zu kritischen Veränderungen ihres Gesundheitsverhaltens führen und damit auch indirekt das psychosomatische Erkrankungsrisiko erhöhen: Schneller Griff zu „alltäglichen Beruhigungsmitteln“ wie Zigaretten, Alkohol, Schlafmittel; Nicht genügend Zeit für Erholungspausen, unregelmäßige Einnahme der Mahlzeiten und unausgewogene Zusammensetzung der Nahrung (fast food); Zu wenig Schlaf; Zu wenig Bewegung (Freizeitaktivitäten, Ausgleichssport). Durch eine solche gesundheitsabträgliche Lebensweise verursachte Erkrankungen vermindern nicht nur die eigenen Leistungsmöglichkeiten und setzen damit die persönliche Belastbarkeit und Streßtoleranz herab, sie wirken auch ihrerseits wieder als belastendes Lebensereignis und Streßsituation. Es entsteht ein Teufelskreis, bei dem Ursache und Wirkung bald nicht mehr voneinander zu trennen sind. Anzeichen negativer Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden bei psychischem Streß: Man fühlt sich unsicher, nervös, gereizt, emotional angespannt, innerlich unausgeglichen, häufigen und starken Stimmungsschwankungen zwischen Euphorie und Depression ausgesetzt, kann nicht mehr klar denken, fühlt sich getrieben und gehetzt. Man merkt, daß einem die Kontrolle über sich selbst zu entgleiten droht und fühlt sich gleichzeitig hilflos. Man weiß, daß man anderen gegenüber aggressiver und ungeduldiger reagiert als früher und damit zwischenmenschliche Beziehungen aufs Spiel setzt. Viele verlieren auch das Vertrauen in die 10 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 eigene Kraft und Leistungsfähigkeit, Welt- und Selbstsicht werden zunehmend pessimistischer. Die Lebensfreude geht verloren. Das Selbstwertgefühl wird instabil. Ängste nehmen mehr und mehr zu (vor beruflichem Mißerfolg, von anderen als Versager angesehen zu werden, vom Partner verlassen zu werden etc.). Das Endstadium sind dann Verzweiflung, Depression, Gefühle völliger Hilflosigkeit, manchmal sogar Selbstmordgedanken. Je länger solche Beeinträchtigungen des psychischen Wohlbefindens anhalten und je weniger Hoffnungen die betroffene Person hat, daß die auslösenden Umstände sich in absehbarer Zeit ins Positive verändern, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgendwann auch organisch erkranken wird. In manchen Fällen scheint es fast so, als habe sich der Organismus auf diese Weise eine Erholungspause erzwungen und gleichzeitig ein eindeutiges Warnsignal geben wollen. Werden die Warnsignale ignoriert und kommt es nicht zum Umdenken mit der krankmachenden Lebensweise Schluß zu machen, hat sich u. U. sogar schon eine Tendenz zur Selbstzerstörung manifestiert, dann besteht durchaus die Gefahr, daß sich die betreffende Person im wahrsten Sinn des Wortes „tot arbeitet“ und eines Tages durch Hirnschlag, Embolie oder Herzinfarkt vielleicht sogar am Arbeitsplatz während einer Mitarbeiterbesprechung plötzlich und unerwartet stirbt. In Japan hat dieser Tod durch Überarbeitung bereits einen Namen: „Karoshi“. 1990 gab es hier fast 600 Schadenersatzforderungen von Hinterbliebenen, 33 Fälle wurden vom japanischen Arbeitsministerium anerkannt. Heute bestehen in ganz Japan Zentren zur Prävention und Behandlung „Karoshi“-gefährdeter Arbeitnehmer. 10. Stressbewältigung und Stressbewältigungsstrategien Bei der Entwicklung wirksamer Stressbewältigungsstrategien stehen 3 Überlegungen im Vordergrund: Wie kann man die Anzahl der Stressoren verringern und den Alltag besser strukturieren (Zeitmanagement) Mit welchen Einstellungen und Lebensregeln kann es einem gelingen auf die vermeintlich unvermeidlichen Stressoren erst gar nicht bzw. mit geringerer Anspannung zu reagieren (Einstellungsänderung und mentales Training) Wie kann man die aufgebauten Energien angemessen und gesundheitsfördernd abbauen (Sport und Entspannung) Therapien zielen darauf ab, stressgeplagten Menschen zu helfen, die Stressursache zu beheben oder zumindest zu lernen, sie erfolgreicher zu bewältigen. Dabei ist zuerst eine Analyse stressauslösender Situationen, Einstellungen und Lebensregeln zu nennen. Danach kommt es zu einer Reflexion über die berufliche und private Lebenssituation und zur Entwicklung wirksamer Stressbewältigungsstrategien. Anschließend sollen kurz einige Möglichkeiten zur systematischen Streßbewältigung erläutert werden (Linneweh, 1996): (a) Verbesserung des persönlichen Arbeitsverhaltens Nicht selten geraten wir bei der Erledigung von Aufgaben und Pflichten in eine Zeitnot, die wir selbst verursacht haben. Die Verbesserung unseres persönlichen Arbeitsverhaltens ist eine der wesentlichen 11 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Maßnahmen zur Streßprophylaxe – nicht nur im Berufsleben. Richtiges Arbeitsverhalten kann das Ausmaß an Streß, mit dem wir konfrontiert werden, bereits im Entstehen erheblich reduzieren. Wenn heute über Termindruck, Überlastung und Überarbeitung geklagt wird, dann liegt das häufig in einer falschen Termin- und Arbeitsorganisation begründet. Stressfreies Arbeitsverhalten heißt: Prioritäten setzen; „Der Wert eines Mitarbeiters in einer Organisation richtet sich danach, wie gut er das Wichtige erledigt, nicht, wie gut er das weniger Wichtige erledigt“ (Mackenzie, 1974). Delegieren; Der Mangel an Bereitschaft zu delegieren ist meist kein organisatorisches, sondern ein persönliches Problem. Menschen, denen Delegieren schwerfällt, haben die Tendenz, zusätzliche Arbeiten an sich zu reißen, um ihre Bedeutung und ihre Unersetzbarkeit zu demonstrieren. Rationalisierung der Arbeit; Die Erfahrung zeigt, daß häufig trotz guter Planung und trotz Delegierens nur 80 % des geplanten Arbeitsumfanges erledigt werden können. Dies liegt häufig daran, daß zu eng geplant, zu wenige Zeitpuffer, zuwenig Zeit für Unvorhergesehenes reserviert wurde. Selbstmotivation Neben der richtigen Arbeitsmethodik spielt für die Streßprophylaxe die Freude an der Arbeit eine große Rolle. Viele Untersuchungen zeigen, daß Personen, die Freude an der Arbeit haben, kaum oder gar nicht unter Streßsymptomen zu leiden haben. Wirksame soziale Unterstützung und befriedigende Sozialkontakte sind ein wirksamer Puffer gegenüber den belastenden und schädigenden Einflüssen von Stress und Überforderung. So haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, daß wirkungsvolle soziale Unterstützungssysteme am Arbeitsplatz nicht nur die Arbeitszufriedenheit, die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit erhöhen, sondern auch zuverlässig vor Burn out schützen. (b) Maßnahmen zur körperlichen Streßbewältigung Eine gesundheitsbewusste Lebensführung ist eine wichtige Voraussetzung mit Streßsituationen besser fertig zu werden. Denn wer körperlich fit ist, bietet dem Alltagsstreß weniger Angriffsmöglichkeiten. Gesundheitsbewusste Lebensführung heißt: Affektstau durch körperliche Aktivitäten abzureagieren; Durch bewußte Lebensführung die Risikofaktoren wie Übergewicht, Alkohol, Nikotin, Drogen weitgehend zu minimieren; Durch bewußte Ernährung körperlichen Schäden soweit wie möglich vorzubeugen; Erholung durch bewußte Entspannung einzuplanen. (c) Suggestiv-meditative Methoden Die Psychologie hat eine Vielzahl von Methoden entwickelt, die geeignet sind, Folgen einer erhöhten Erregungsbereitschaft und Unfähigkeit zur Entspannung wie Ängste, Gereiztheit, Nervosität und verschiedene andere Streßsymptome zu beheben, überhöhte Spannungszustände abzubauen und einen neuen Gleichgewichtszustand zu erreichen und zu stabilisieren. 12 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Progressive Muskelentspannung – wirkt in erster Linie auf die motorische Ebene, wobei vor der Entspannung die einzelnen Muskeln bewußt kräftig angespannt werden. Die Methode der progressiven Muskelentspannung wurde von Edmund Jacobson in Amerika entwickelt. Er ging von der Beobachtung aus, dass Muskelverspannung und Angst wechselseitig zusammenhängen, dass mit allen Gefühlen von Unruhe, Angst und Erregung eine deutliche Erhöhung des Muskelapparates einhergeht. Aufgrund dieser Beobachtung entwickelte er seine progressive Muskelentspannungstechnik als Möglichkeit der Angstreduzierung. Sie basiert auf dem einfachen Grundgedanken, dass muskuläre Entspannung und stressbedingte Erregung oder Angst miteinander unvereinbar sind, dass Muskelentspannung eine Senkung des Erregungsniveaus des gesamten Organismus zur Folge hat. Jacobson fand nun eine sehr einfache und einleuchtende Methode, die Muskeln schnell und effektiv zu entspannen: das systematische, bewusste und intensive vorherige Anspannen der Muskeln. Er machte sich dabei die Tatsache zunutze, dass jeder Muskel die Tendenz hat, zu ermüden, wenn er vorher starker Belastung ausgesetzt wird. Gleichzeitig hat das Anspannen aber noch einen anderen Zweck: Es dient der Wahrnehmungsschulung für kleine Spannungsunterschiede im Bereich unserer Skelettmuskulatur. Wir werden damit allmählich sensibler bei unserer „inneren Wahrnehmung“, entwickeln nach und nach einen „Muskelsinn“. Dadurch wird es uns möglich, Anspannungen und beginnende Verspannungen rechtzeitig wahrzunehmen und dann entsprechend gezielt mit Entspannung darauf zu reagieren. Der Muskelapparat ist der am besten geeignete Ansatzpunkt für einen Einstieg in eine Entspannung des gesamten Organismus, da die motorische Ebene unserem willkürlichen Einfluss durch bewusstes An- und Entspannen bestimmter Muskelgruppen (z. B. Hand zur Faust ballen und wieder loslassen) direkt zugänglich ist. Die Aufmerksamkeit lässt sich beim Ballen der Faust auf spürbar vorhandene Empfindungen lenken, die uns mehr oder weniger vertraut sind, da wir im Umgang mit unserer Skelettmuskulatur bereits ein hohes Maß an Erfahrung haben. Außerdem birgt die Technik der progressiven Muskelentspannung keinerlei gesundheitliche Risiken. Sie kann daher auch ohne Bedenken auch im Selbstunterricht erlernt werden. Autogenes Training – beeinflußt vor allem das vegetative System und arbeitet mit einer Technik, die der Hypnose sehr verwandt ist. Die Methode des autogenen Trainings („Methode der konzentrativen Selbstentspannung“) wurde von dem Berliner Psychiater J. H. Schultz im Verlauf seiner Tätigkeit als Hypnosearzt entwickelt. Schultz ging von der Annahme aus, dass konzentrierte und beständige Arbeit an sich selbst den einzelnen zu einer Vertiefung seiner Erlebnisfähigkeit, einer Bereicherung der geistigen Kräfte und, über eine bewusstere Lebensführung, zu einer positiven Lebenseinstellung führt. Das autogene Training beruht auf der Technik der Hypnose und macht sich die menschliche Empfänglichkeit für Suggestionen zunutze. In der Hypnose ist das Erregungsniveau des gesamten Organismus weitgehend gesenkt, die Aufmerksamkeit auf und die Wahrnehmung für äußere Reize ist ausgeschaltet und allein auf das innere Erleben und die Anleitungen des Hypnotiseurs gerichtet. In diesem Zustand ist der Hypnotisierte in hohem Maße empfänglich für die Einwirkungen des Therapeuten (Suggestionen). Unter der Bereitschaft des einzelnen, sich beeinflussen zu lassen, kann mit der Hypnose der Zustand vollkommener Entspannung erreicht werden Ziel des autogenen Trainings ist nun, diesen Hypnosezustand selbst herbeizuführen – durch „Autosuggestion“ (Konditionierung von Reizen durch formelhaft gesprochenen Satz, z.B. „Ich bin ganz ruhig und entspannt“). Die vegetative Ebene ist als erster Ansatzpunkt für eine Entspannung des Gesamtorganismus weniger gut geeignet, da wir sie nur über „Vorstellungs- und Denkinhalte der Suggestion“ (Huber, 1977) beeinflussen können. Huber betont, dass Vorbedingungen zur Wirksamkeit suggestiver Verfahren eine gewisse Entspannungsfähigkeit und eine Fähigkeit des Wahrnehmens von Körperempfindungen sind, die 13 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 uns heute zum großen Teil fehlen. Er empfiehlt daher das Erlernen des autogenen Trainings im Selbstunterricht nur unter der Vorbedingung des Beherrschens der progressiven Muskelentspannung. Meditationstechniken – zielen besonders auf die Entspannung des kognitiv/affektiven Bereich ab, und bedienen sich in hohem Maße der geistigen Konzentration (z.B. Zen-Meditation, Yoga). Ziel der Meditation ist die Selbstfindung, das Finden der eigenen Mitte. „Meditieren“ leitet sich von dem lateinischen Begriff „meditari“ ab und meint sowohl nachdenken, überdenken, sinnen als auch sich vorbereiten, sich einüben. Unter den verschiedenen Meditationsrichtungen lassen sich Techniken der Betrachtung und Techniken der „Tiefenmeditation“ unterscheiden. Die Betrachtungen sind an „Meditationsobjekte“ gebunden, über die meditiert werden soll – Gegenstände unserer Umwelt wie z. B. eine Blume, eine brennende Kerze, Lautmalereien (Mantra-Technik), geometrische Figuren (Mandala) etc.. Die Tiefenmeditation verzichtet auf alle materiellen Vorlagen, ihr Inhalt sind Vorstellungen, Gedanken, Fragen des Seins, Sinnfragen. Sie ist die höchste Form der Meditation überhaupt. Mit Hilfe der Meditation kann allmählich die Fähigkeit erreicht werden, einer Vielzahl von Situationen gewachsen zu sein, und ein Gefühl erweiterten Könnens, eine Ausweitung der in uns liegenden Kräfte und eine Zunahme unserer Fähigkeit, auch im Alltag genauer zu sehen und wirkungsvoller zu handeln. Die kognitive Ebene erscheint als erster und direkter Zugang zur Entspannung des Gesamtorganismus am wenigsten geeignet, da eine Ruhigstellung des kognitiven Bereichs eine weitgehende Ruhigstellung der anderen beiden Bereiche voraussetzt, da anderenfalls ja von dorther ständig Reize in die kognitive Ebene gesendet werden. Aus diesem Grund schreiben auch nahezu alle Meditationstechniken des Ostens umfangreiche körperliche Entspannungsübungen als Vorbereitung auf die höheren Stufen der Meditation vor. Vorzüge der suggestiv-meditativen Methoden: - - - Wenn man sie einmal beherrscht, sind sie jederzeit einsetzbar, z. B. vor einer wichtigen Sitzung, während einer schwierigen Auseinandersetzung, im Flugzeug etc. Sie können den Griff zur Beruhigungstablette ersetzen. Da alle drei Methoden zu einer erhöhten Wahrnehmungssensibilisierung in bezug auf unsere Körpervorgänge führen, versetzen sie uns in die Lage, schon auf erste Anzeichen von Stressreaktionen zu reagieren. In allen drei Methoden wird dem Übenden nahegelegt, sich für die Zeit der Übung von äußeren Reizen zurückzuziehen mit dem Ziel, die Aktivitäten seines Alltagslebens soweit wie möglich abzuschalten, um sich ausschließlich mit sich und seinem Körper zu beschäftigen und statt vieler Dinge nur eine Sache auf einmal zu tun, sich dieser aber ganz hinzugeben. 14 Seminararbeit Wirtschaftspsychologie Bettina Sest SS 2000 Literaturverzeichnis BERRYMAN, Julia u. a., (1991), „Psychologie – Eine Einführung“, Bern: Hans Huber BRENGELMANN, Johannes C., (1993), „Erfolg und Streß“, Weinheim; Basel: Beltz, Psychologie-Verl.-Union COOPER, Cary/ STRAW, Alison, (1998), „Successful Stress Management in a week“, Institute of Management, London: Hodder & Stoughton GUSY, Burkhard, (1995), „Stressoren in der Arbeit, soziale Unterstützung und Burnout : eine Kausalanalyse“, München; Wien: Profil Verl. LINNEWEH, Klaus, (1996), „Streßmanagement“, Stuttgart: Dt. Sparkassenverlag PELZMANN, Linde, (1988), „Wirtschaftspsychologie: Arbeitslosenforschung, Schattenwirtschaft, Steuerpsychologie“, Wien; New York: Springer WISWEDE, Günter, (1995), „Einführung in die Wirtschaftspsychologie“, Basel: E.Reinhardt, UTB für Wissenschaft: Grosse Reihe 15