Änderungsantrag zur Beschlussvorlage für die LDK in Stade am 13./14.10.2012 AntragstellerInnen: Christopher Steiner (KV Hannover), KV Göttingen, GJN, Carolin Jaekel (KV Hannover), Lino Klevesath (KV Göttingen), Katja Keul (KV Nienburg), Detlev Schulz-Hendel (KV Lüneburg), Julia Hamburg (KV Göttingen), Belit Onay (KV Hannover), Sybille Mattfeld-Kloth (KV Helmstedt), Jan Frederik Wienken (KV Vechta), Viola von Cramon (KV Göttingen), Marcel Duda (KV Hildesheim), Martina Lammers (KV Lüchow-Dannenberg), Gunther Toffel (KV Northeim/Einbeck), Katrin Langensiepen (KV Hannover), Nicolai Zipfel (KV Göttingen), Tobias Leverenz (KV Hannover), Marie Kollenrott (KV Göttingen), Timon Dzienus (KV Wesermarsch), Dorota Szymanska (KV Hannover), Thomas Harms (KV Göttingen), Lara Jil Dreyer (KV Hannover), Jörg Rutzen (KV Hannover), Doris Schwarze-Franke (KV Hildesheim), Dominik Stanke (KV Hannover), Selin Arikoglu (KV Hannover), Ulf Dunkel (KV Cloppenburg), Christiane Hussels (KV Hannover), Thomas Lux (KV Hannover), Ingo Redeker (KV Northeim/Einbeck), Kathrin Kuhfß (KV Hannover), Martin Kubsda (KV Braunschweig), Eleni Mourmouri (KV Hannover), Kurt Weidt (KV Hannover), Rana Younes (KV Hannover), Nima Soltani (KV Hannover), Mustafa Akbulut (KV Hannover) V.8 Zeile 3459-3481 streichen und wie folgt ersetzen: Demokratie schützen – Landesverfassungsschutz auflösen! Wir GRÜNE halten den niedersächsischen Landesverfassungsschutz in Anbetracht seiner dramatischen Verselbstständigung und personellen Kontinuität für nicht reformierbar und fordern deshalb die vollständige Auflösung dieser Behörde. Es bedarf einer kritischen Bestandsaufnahme, ob und inwieweit die Fortführung von Aufgaben des Verfassungsschutzes künftig tatsächlich erforderlich ist. Mit freiwerdenden finanziellen Mitteln soll eine unabhängige, wissenschaftliche Dokumentationsstelle geschaffen werden, die Informationen über demokratiefeindliche und gewaltfördernde Bestrebungen sammelt, bündelt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Dokumentationsstelle soll einen jährlichen Bericht anfertigen, der wissenschaftlichen Standards genügt und den gegenwärtigen Verfassungsschutzbericht ersetzt. Zudem soll die politische Bildungsarbeit künftig einer staatlichen Stelle übertragen werden, die diese Aufgabe ohne Interessenkollision wahrnehmen kann. Die Bildungs- und Präventionsarbeit gilt es insgesamt zu stärken und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen jegliche Form von Demokratiefeindlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung engagieren, finanziell besser zu unterstützen. Begründung: Der Verfassungsschutz in Niedersachsen gibt ein erschreckendes Bild ab: Sei es in der Überwachung der Linkspartei mit geheimdienstlichen Mitteln, der Vernachlässigung der Beobachtung der Gefahr von Rechts oder der Kriminalisierung von AtomkraftgegnerInnen – der Verfassungsschutz macht, was er will. Und dabei scheint er seine eigentliche Aufgabe zu vergessen: Das Sammeln von Informationen über reale verfassungsfeindliche Bestrebungen. Ein Geheimdienst kann in einer Demokratie niemals selbstverständlich sein! 1 Dass sicherheitspolitische Hardliner wie Uwe Schünemann oder Wolfgang Bosbach eine kontinuierliche Kompetenzerweiterung staatlicher Sicherheitsbehörden befürworten und die Existenzberechtigung eines Geheimdienstes selbstredend annehmen, kann nicht sonderlich verwundern. Aber spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York hat die angeblich omnipräsente terroristische Bedrohung dafür gesorgt, dass diese sehr bedenkliche Haltung auch in Teilen der Bevölkerung Zuspruch findet. Eine selbstbewusste Demokratie muss die Unwägbarkeiten, die die Freiheit auszeichnen, aushalten können. Die Selbstverständlichkeit eines Geheimdienstes, unabhängig von seiner Erforderlichkeit, Arbeitsweise und Effektivität, lehnen wir GRÜNE daher ab! In einer Demokratie muss ein Geheimdienst seine Existenz auch in Abwesenheit akuter Missstände stetig rechtfertigen, darauf weisen auch die BefürworterInnen und diejenigen, die für eine Reform des niedersächsischen Verfassungsschutzes eintreten, zu Recht hin. Denn das Vorhandensein einer geheimdienstlich organisierten und arbeitenden Verfassungsschutzbehörde konterkariert, dass in der Bundesrepublik Deutschland freie und selbstbestimmte BürgerInnen in einem freien Staat leben. Das System des Parlamentarismus in einem demokratischen Staat garantiert die Öffentlichkeit aller legislativen Entscheidungsprozesse. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht für Angelegenheiten des Verfassungsschutzes, weil diese unter dem Vorbehalt der Geheimhaltung stehen und Öffentlichkeit die Arbeit des Amtes erschweren oder zunichte machen könnte. Folglich verlangt ein Geheimdienst, dass öffentliche wie parlamentarische Kontrolle aufgegeben bzw. eingeschränkt wird, um die BürgerInnen mit undemokratischen Mitteln vor den Feinden der Demokratie zu schützen. Daher müssen besonders hohe Anforderungen für eine solche Behörde und ihre Bediensteten gelten. Dass ein Staat seine BürgerInnen bespitzelt, ist ein eklatanter Vertrauensbruch im Verhältnis zwischen den BürgerInnen und dem Staat. Legitimität kann ein Geheimdienst in einem demokratischen Rechtsstaat daher überhaupt nur erlangen, wenn er in einem engen, parlamentarisch beschlossenen Rahmen handelt. Er darf nicht zum Ohr der Regierung gegenüber politischen KontrahentInnen werden, sondern muss entsprechend seiner eindeutigen legislativen Aufgabenzuweisung ausschließlich die Verfassung schützen. Keine Beweislastumkehr zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger! Obwohl die ReformerInnen bzw. BefürworterInnen des Landesverfassungsschutzes ebenfalls betonen, dass sich ein Geheimdienst in einer Demokratie beweisen muss, weisen sie meistens auf die unabsehbaren Folgen hin, die eine Auflösung mit sich bringen würde. Mit dieser problematischen Argumentationslinie werden die BürgerInnen jedoch in eine Position gedrängt, die mangelnde Existenzberechtigung des Landesverfassungsschutzes nachweisen zu müssen. Diese Perspektive ist in einer Demokratie grundfalsch, denn die BürgerInnen waren es, die den Verfassungsschutz unter den besonderen Erfordernissen einer geheimdienstlichen Behörde erst legitimiert und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet haben. Infolgedessen besteht eine klare Informationsasymmetrie zwischen den BürgerInnen und dem Landesverfassungsschutz. Letzterer ist konspirativ organisiert und arbeitet folglich intransparent. Daher kann es unter demokratischen Gesichtspunkten nur einen logischen Schluss geben: Nicht die Bürgerinnen und Bürger müssen beweisen, dass der Verfassungsschutz überflüssig ist, sondern der Verfassungsschutz muss fortwährend beweisen, dass er sinnvoll ist! Sollte es tatsächlich eine „Erfolgsbilanz“ des niedersächsischen Landesverfassungsschutzes geben, muss diese nun unverzüglich vorgelegt werden. Die Berechtigung und Notwendigkeit dieser Behörde gilt es mit nachprüfbaren Fällen zu belegen. Einen entsprechenden Nachweis ist der niedersächsische Landesverfassungsschutz in den 2 vergangenen Jahren nicht nur erkennbar schuldig geblieben, sondern er hat zudem mit zahlreichen Skandalen immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Keine Überwachung und Kriminalisierung von demokratischen Kräften durch den Verfassungsschutz! AtomkraftgegnerInnen, GlobalisierungskritikerInnen, TierschützerInnen und viele andere, für die schwarz-gelbe Landesregierung unbequeme zivilgesellschaftliche Bewegungen, tauchen im Verfassungsschutzbericht 2010 und 2011 auf, weil sie vermeintlich verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen. Doch der Ausstieg aus der Atomkraft, die Einführung einer Transaktionssteuer oder der Protest gegen Massentierhaltung sind keine politischen Ziele, die gegen unser Grundgesetz gerichtet sind und die der Verfassungsschutz bekämpfen muss! Ähnlich verhält sich das mit der Überwachung der Linkspartei, die nach Aussage des Präsidenten des niedersächsischen Verfassungsschutzes mit geheimdienstlichen Mitteln überwacht wird. Grund für diese Überwachung ist die Kapitalismuskritik und die Feststellung, dass die Linkspartei das kapitalistische System überwinden möchte, obwohl sie sich ausdrücklich in ihrem Bundesparteiprogramm zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt. Der Verfassungsschutz verkennt hierbei, dass die Marktwirtschaft und der Kapitalismus keine durch das Grundgesetz geschützten Systeme sind. Vielmehr schrieben die Verfassungsmütter und -väter uns im Art. 20 Abs. 1 ins Grundgesetz „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Des Weiteren sind durch Art. 21 des Grundgesetzes alle Parteien geschützt und berechtigt, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und nur das Bundesverfassungsgericht ist berechtigt, die Verfassungswidrigkeit einer Partei festzustellen. Offensichtlich ist der Verfassungsschutz nicht in der Lage zu beurteilen, wann Bewegungen, Organisationen oder Parteien gegen die Verfassung gerichtet sind. Erschreckend ist dabei auch, dass die Wahl der vom Verfassungsschutz eingesetzten Mittel jegliche Verhältnismäßigkeit verloren hat. Auf Grund bloßer Vermutungen dürfen in einer Demokratie demokratisch gewählte Parteien, die sich zum Grundgesetz bekennen, nicht dauerhaft überwacht werden. Wir GRÜNE fordern deshalb, die Überwachung der Linkspartei sofort einzustellen. Wir fordern ebenfalls, dass ParlamentarierInnen außerhalb der öffentlichen Plenardebatten nicht in ihrem parlamentarischen Kernbereich überwacht werden dürfen. Mit der Überwachung und Kriminalisierung demokratischer Kräfte unterminiert der Verfassungsschutz fatalerweise seine eigene Zielsetzung, nämlich die Verfassung bzw. die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen. Politisch aktive Menschen müssen aufgrund von unverdächtigen Anlässen – wie der Teilnahme an einer Demonstration – fürchten, ins Fadenkreuz des Verfassungsschutzes zu geraten. Dies schreckt BürgerInnen beim Engagement gegen demokratiefeindliche Bestrebungen mitunter sogar ab und schwächt damit letztlich unsere Demokratie. Der Verfassungsschutz hat neben einer falschen Prioritätensetzung scheinbar auch zu viel Personal, wenn er zusätzlich zu seinen eigentlichen Aufgaben noch die Kapazitäten besitzt, willkürlich Informationen über aufrechte DemokratInnen zu sammeln. Der jährliche Verfassungsschutzbericht genügt weder wissenschaftlichen Ansprüchen, noch wird darin der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die wiedergegebenen Daten und Informationen gewährleistet, da reine Verdachtsfälle nicht von Fällen erwiesener Verfassungsfeindlichkeit getrennt und entsprechend dem Grad der Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung wiedergegeben werden. Dies ist besonders bedenklich vor dem Hintergrund, dass in der Öffentlichkeit vielfach aus den Berichten zitiert wird und sie oftmals die Grundlage für politische Entscheidungen bilden. 3 Keine Finanzprüfung durch den Verfassungsschutz! Die Pläne der Bundesregierung, die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen mit einer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zu verknüpfen, lehnen wir ab. Dies würde einer Vorverurteilung gleich kommen, ohne dass ein rechtswidriges Verhalten juristisch nachgewiesen wird. Die Folge wäre für viele Vereine eine faktische finanzielle Auflösung nur durch die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht. Die Hürden zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit müssen weiterhin hoch sein. Eine Klage dagegen muss auch weiterhin vor dem Finanzgericht möglich sein. Keine politische Bildungsarbeit durch den Verfassungsschutz! Seit der Auflösung des Landesamtes für politische Bildung durch die schwarz-gelbe Landesregierung ist der niedersächsische Verfassungsschutz auch mit der Aufgabe der politischen Bildungsarbeit für die Bevölkerung betraut. Unabhängig von der Frage, wie eine Behörde neutral über politische Positionen berichten kann, wenn sie gleichzeitig einzelne dieser Positionen überwacht, ist diese Konstellation eine kuriose Vermengung vollkommen divergierender Aufgaben. Politische Bildungsarbeit des Staates dient primär der Unterrichtung und Information über Funktionen und Aufgaben des Staates und seiner Organe, während es für die Aufgabenwahrnehmung eines Verfassungsschutzes eher schädlich ist, wenn über seine Tätigkeiten oder Strukturen zu viel bekannt wird. Dem Verfassungsschutz bleibt folglich nur die Möglichkeit, seine Bildungsarbeit über politisch oder geheimdienstlich unverfängliche Themen zu definieren. Der politischen Bildung ist hierdurch jedoch nicht gedient. Vor allem an unseren Schulen hat der Verfassungsschutz nichts zu suchen. Seine politische Bildungsarbeit ist sofort einzustellen. Der Verfassungsschutz ist nicht reformierbar! Die Beachtung und der Schutz der Grundrechte der BürgerInnen ist durch Art. 1 Abs. 3 unseres Grundgesetzes allen Trägern staatlicher Gewalt als verpflichtende Aufgabe auferlegt; der Eingriff in Grundrechte durch die Exekutive erfordert zudem nach Art. 20 Abs. 3 GG immer einer parlamentarischen Legitimation. Faktisch hat der niedersächsische Landesverfassungsschutz sein Betätigungsfeld über die Jahre seines Bestehens sukzessive ausgeweitet und gewissermaßen neue Aufgaben für sich „erfunden“ - ohne entsprechende parlamentarische Rückkopplung und ohne einer effektiven parlamentarischen Kontrolle zu unterliegen. Gegenwärtig entscheidet der Verfassungsschutz weitgehend eigenmächtig, ob, wie und in welchem Umfang Organisationen, Parteien und Personen(-gruppen) überwacht werden und wer oder was als „extremistisch“ gilt. Insbesondere im Hinblick auf die Schwere der Grundrechtseingriffe ist dieser Zustand auf gar keinen Fall weiter hinnehmbar. Die Grundlage für die Arbeit des Verfassungsschutzes, dessen Gründung primär der Abwehr des Kommunismus diente, bildet die wissenschaftlich umstrittene „Extremismusdoktrin“. Reaktionär-gesellschaftliche Kräfte verschiedener Ideologien werden dabei zusammengefasst und an den Rändern dieser Gesellschaft verortet, während demokratieund menschenfeindliche Potentiale in der sog. Mitte verharmlost werden. Mit der Praxis des sog. „Racial Profiling“ legt der Verfassungsschutz bei der Suche nach möglichen Verfassungsfeinden völlig willkürliche und rassistische Kriterien zugrunde. So reichen Aussehen oder Namen einzelner Personen mitunter bereits aus, um einem als homogen konstruierten „arabischen bzw. islamischen Kulturkreis“ zugeordnet zu werden, wobei hier implizit von einer höheren Affinität zum Terrorismus ausgegangen wird. Eine solche Praxis kann unmöglich legitimer Bestandteil rechtsstaatlichen Handelns sein. Wir GRÜNE fordern daher, dass das „Racial Profiling“ komplett eingestellt wird. 4 Ebenso skandalös ist die völlig intransparente Finanzierung von Verfassungsfeinden durch den Verfassungsschutz. Die sog. Verbindungsleute (V-Leute) sind und bleiben das was sie sind – Feinde der Demokratie. Sie liefern weder gesicherte Informationen, noch kann deren Effektivität in irgendeiner Weise nachvollzogen werden. Besonders absurd stellt sich die Situation unter Berücksichtigung der Tatsache dar, dass zivilgesellschaftliches Engagement gegen demokratiefeindliche Bestrebungen häufig an unsicherer Finanzierung scheitert. Viele PolitikerInnen erklären, es sei den SteuerzahlerInnen nicht zu vermitteln, dass eine Partei wie die NPD über das Parteiengesetz öffentliche Gelder bezieht. Kurioserweise haben dieselben Personen aber vielfach kein Problem damit, dass bekennende Verfassungsfeinde als V-Leute vom Staat finanziert werden. Wir GRÜNE fordern, die Finanzierung von Verfassungsfeinden durch deren Anwerbung als V-Leute komplett einzustellen. Im Zusammenhang mit der „NSU“-Mordserie kann nur von einem vollständigen Versagen deutscher Sicherheitsbehörden gesprochen werden. Wenn es einem Netzwerk von Nazis über 10 Jahre möglich war unbehelligt zu morden, hatten die zuständigen Verfassungsschutzbehörden entweder keine relevanten Erkenntnisse über diese Vorgänge oder aber die betreffenden Informationen wurden nicht (rechtzeitig) an die übrigen Verfassungsschutz- und/oder Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet. Man weiß kaum, was erschreckender ist! Bei dem mangelnden Austausch von Informationen handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein strukturelles Problem der Verfassungsschutzämter und ihrer Arbeitsweise. Da die Verbindungen des „NSU“ auch nach Niedersachsen reichen, ist das Versagen des Landesverfassungsschutzes im Kampf gegen rechte Verfassungsfeinde mittlerweile eine offenkundige Tatsache. Die zahlreichen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Landesebene zur „NSU“Mordserie sollen der „lückenlosen Aufklärung“ dienen, um künftig solche Ereignisse zu verhindern. Geheimdienste arbeiten jedoch konspirativ. Von den betreffenden Personen umfassende Aufklärung zu erwarten, ist grotesk, zumal sie ein massives Eigeninteresse am Fortbestand ihrer jeweiligen Behörde haben. Die nachträglichen Aktenvernichtungen in mindestens zwei Fällen lassen das Schlimmste vermuten und unterstreichen die erschreckenden Missstände in unseren Verfassungsschutzbehörden. Eines der größten Probleme im Zusammenhang mit dem niedersächsischen Verfassungsschutz ist dessen personelle Kontinuität. Das Auswechseln einiger Führungsfiguren ist kein geeignetes Mittel, um die dramatische Verselbstständigung dieser Behörde dauerhaft zu beseitigen. Demgegenüber ist es völlig unrealistisch, dass man einen Großteil oder gar sämtliche Bedienstete des Verfassungsschutzes einfach auswechseln kann. Derzeit gibt es nicht mal eine entsprechende Ausbildung für alle VerfassungsschützerInnen, um den hohen Anforderungen dieser Tätigkeit Rechnung zu tragen. Die Angeworbenen werden vielmehr in mehrwöchigen „Crashkursen“ auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe „vorbereitet“ – ein absurder Zustand, wenn man die massiven Grundrechtseingriffe bedenkt, zu denen der Verfassungsschutz befugt ist. Lediglich ein Konzept für eine demokratische Organisationskultur des Verfassungsschutzes vom niedersächsischen Innenministerium zu fordern, ist keineswegs ausreichend, insbesondere deshalb, weil das Innenministerium maßgeblich mitverantwortlich für zahlreiche Verfehlungen des Verfassungsschutzes ist. Ähnlich verhält es sich mit dem gegenwärtigen Personal des Verfassungsschutzes, das über Jahre all die Missstände produziert hat. Ein wirklicher Neuanfang kann unter diesen Voraussetzungen kaum gelingen, zumal der Verfassungsschutz (organisationssoziologisch begründet) mittlerweile nach seiner eigenen Logik „funktioniert“. Der niedersächsische Verfassungsschutz ist daher im Ergebnis nicht reformierbar. 5 Kein Landesverfassungsschutz – was nun? Ca. 80% der gesammelten Daten von Verfassungsschutzämtern stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen wie Internetseiten, Printmaterialien oder Reden. Zur Sammlung dieser Daten bedarf es keiner geheimdienstlichen Behörde, zumal die Tätigkeit des Verfassungsschutzes auf ein Minimum begrenzt sein sollte. Äußerst bedenklich ist weiterhin, dass der Verfassungsschutz mitunter sogar investigativen Journalismus über demokratiefeindliche Bestrebungen be- bzw. verhindert, indem er brisante Sachverhalte und Enthüllungen nachträglich für geheim erklärt und somit weitere Nachforschungen verunmöglicht, da die Weitergabe der betreffenden Informationen fortan strafbar ist. Selbst vor einer jahrelangen Überwachung von JournalistInnen aus dem linken Spektrum schreckt der niedersächsische Verfassungsschutz nicht zurück. Solch skandalöse Vorgänge würden ohne diese Behörde der Vergangenheit angehören. Wäre die Bevölkerung demokratiefeindlichen Bestrebungen hilflos ausgeliefert, wenn man den niedersächsischen Landesverfassungsschutz auflösen würde? Derzeit gibt es in Deutschland allein 16 Landesämter bzw. -behörden für Verfassungsschutz, ein Bundesamt für Verfassungsschutz, einen Bundesnachrichtendienst, das Amt für den Militärischen Abschirmdienst, den polizeilichen Staatsschutz, das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter sowie die Bundespolizei. Der polizeiliche Staatsschutz verfügt zudem bereits heute über Möglichkeiten zur verdeckten Informationsbeschaffung (z.B. Abhörmaßnahmen), wenn auch unter anderen Voraussetzungen als die Verfassungsschutzbehörden. Obgleich umfassender Optimierungsbedarf besteht, besitzt die Bundesrepublik Deutschland demnach eine ausgeprägte Sicherheitsarchitektur. Vor diesem Hintergrund ist es kaum nachvollziehbar, wenn manche KritikerInnen einer Auflösung des Landesverfassungsschutzes suggerieren, der Staat stünde dann Demokratiefeinden und dem von ihnen ausgehenden Gewaltpotential machtlos gegenüber. Die Forderung zur Auflösung des Landesverfassungsschutzes kann keineswegs als Plädoyer oder gar Automatismus für eine (weitreichende) Kompetenzübertragung auf die Polizei gewertet werden. Für uns GRÜNE hat das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten einen hohen Stellenwert. Es darf nicht fortwährend aufgeweicht werden. Die deutsche Erfahrung mit Polizeibehörden, die geheimdienstliche Mittel in eigener Regie einsetzen dürfen, hat gezeigt, dass eine solche Aufgabenzuweisung eine große Gefahr für die Demokratie sein kann. Eine Geheimpolizei ist daher keine Alternative zum Landesverfassungsschutz. Durch die Auflösung des Landesverfassungsschutzes würden finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Mit diesen Geldern sollte eine unabhängige, wissenschaftliche Dokumentationsstelle geschaffen werden, die Informationen über demokratiefeindliche und gewaltfördernde Bestrebungen sammelt, bündelt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Dies würde Transparenz schaffen und die Bevölkerung zudem besser für diese Gefahren sensibilisieren. Die Dokumentationsstelle sollte einen jährlichen Bericht über demokratiefeindliche Bestrebungen in Niedersachsen anfertigen, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und den derzeitigen Verfassungsschutzbericht ersetzt. Die politische Bildungsarbeit, welche beim Verfassungsschutz falsch verortet ist, gilt es künftig einer staatlichen Stelle zu übertragen, die diese Aufgabe ohne Interessenkollision wahrnehmen kann. Des Weiteren sollten zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen jegliche Form von Demokratiefeindlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung engagieren, finanziell stärker unterstützt werden. Insgesamt dürften diese Maßnahmen immer noch günstiger sein als die kostenintensiven Überwachungsmaßnahmen einer Verfassungsschutzbehörde. 6 Zusammenfassung Bündnis 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen halten den niedersächsischen Landesverfassungsschutz in Anbetracht der Gesamtlage für nicht reformierbar und fordern deshalb: 1. die vollständige Auflösung des niedersächsischen Landesverfassungsschutzes. 2. eine kritische Bestandsaufnahme, ob und inwieweit die Fortführung von Aufgaben des Verfassungsschutzes künftig tatsächlich erforderlich ist. 3. die Einrichtung einer unabhängigen, wissenschaftlichen Dokumentationsstelle, die Informationen über demokratiefeindliche und gewaltfördernde Bestrebungen sammelt, bündelt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. 4. einen jährlichen Bericht, der wissenschaftlichen Standards genügt und den gegenwärtigen Verfassungsschutzbericht ersetzt. 5. die politische Bildungsarbeit künftig einer staatlichen Stelle zu übertragen, die diese Aufgabe ohne Interessenkollision wahrnehmen kann. 6. die Bildungs- und Präventionsarbeit insgesamt zu stärken und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen jegliche Form von Demokratiefeindlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung engagieren, finanziell besser zu unterstützen. 7. die Finanzierung von erklärten Verfassungsfeinden durch deren Anwerbung als V-Leute komplett einzustellen. 8. die Praxis des „Racial Profiling“ komplett einzustellen. 7