Der Sturm

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Der Sturm
Bedeutsame Veränderungen im Leben beginnen oft unerwartet, und häufig genug erkennen wir erst im
Rückblick, wann und wie bestimmte Ereignisse oder Begegnungen unser Leben in eine unvorhergesehene
Richtung lenkten. Ähnlich verliefen die Dinge für mich, seit jenem Frühlingstag im März des Jahres 1817.
Miss Benson spielte mit mir zu vier Händen eines unserer Lieblingsstücke, die 'Ankunft der Königin von
Saba' von George Frideric Handel, dem in England ebenso beliebten wie berühmten Komponisten.
Während der letzte Ton verklang, ergriff mich ein wehmütiges Gefühl. Zukünftig würde ich alleine am
Piano sitzen, denn übermorgen sollte Miss Benson ihre neue Stellung als Gouvernante beim verwitweten
Baronet Campell of Mandleford antreten. Nachdem sie Sir Williams Kinder Henry und Cynthia, aber auch
mich selbst, so viele Jahre begleitet und unterrichtet hatte, konnte und mochte ich sie mir aus meinem
Leben nicht weg denken. Mit ihrer Begeisterung für Musik und das Klavierspiel entfachte sie schon früh
ein Feuer in mir und war mir eine ausgezeichnete Lehrerin gewesen, nicht nur, was die Musik betraf.
Aber die Familie benötigte die Dienste einer Gouvernante und Lehrerin nicht länger. Cynthia war gerade
18 geworden, und ich selbst zählte beinahe 21 Jahre. Während der vergangenen Jahre hatte Miss
Bensons Tätigkeit sich zunehmend von der einer Lehrerin zu der einer Gesellschafterin für uns zwei junge
Damen gewandelt. Mit ihren 34 Jahren empfanden wir sie häufig mehr als eine große Schwester, weniger
als Lehrerin.
"Schau nicht so traurig, Elaine", sagte sie zu mir, "Du machst uns beiden den Abschied noch schwerer."
"Ich werde Sie sehr vermissen, liebe Miss Benson, das wissen Sie. Unsere Gespräche, unser
gemeinsames Musizieren, und natürlich Sie selbst werden mir fehlen."
"Nach all den Jahren werde ich Dich ebenfalls vermissen, Elaine. Allerdings bin ich nicht vollkommen aus
der Welt. Lord Campells Anwesen liegt schließlich kaum 10 Meilen entfernt. Ich muß dem guten Sir
William dankbar sein, mir die Anstellung bei Lord Campell vermittelt zu haben, der für seine beiden
Kinder dringend eine Gouvernante benötigt. Wir werden uns regelmäßig schreiben, wie wir es
verabredeten, und gelegentlich mag sich die Möglichkeit zu einem Besuch ergeben."
"Das hoffe ich sehr!"
"Das Leben stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Niemand weiß, wohin der Weg führen
mag. Meiner führt mich zu einem neuen Dienstherrn und neuen Aufgaben."
Ein heftiger Schmerz schoss jäh durch meinen verkrüppelten linken Fuß. Unwillkürlich verzog ich mein
Gesicht.
"Wieder Dein Fuß?"
"Ja. Seit heute Morgen schmerzt er, und es wird immer schlimmer. Wir werden ein heftiges Unwetter
bekommen."
"Ein heftiges Unwetter? Übertreibst Du nicht ein wenig?"
"Wohl kaum. Je schlimmer der Schmerz, desto ärger fällt das Wetter aus. Sie wissen doch, Miss Benson,
mein Fuß ist in der Vorhersage von Stürmen zuverlässiger als das Sturmglas in Sir Williams
Arbeitszimmer."
Es war ein gängiger Scherz im Hause Sir Williams, des vierten Baronet Boyle of Braxton Park, niemand in
der ganzen Grafschaft Devonshire könne so zuverlässig Stürme, Gewitter oder einfach nur überraschende
Wetterwechsel vorhersagen wie ich, oder vielmehr wie mein seit Kindertagen verkrüppelter Fuß mit
seinen unansehnlichen Narben, die jeglichen markanten Wetterumschwung durch unangenehmes Ziepen
ankündigten. Heraufziehende Gewitter und Stürme verursachten mir meist heftige Schmerzen, die bis in
meine Wade hoch zogen.
"Ich weiß", nickte Miss Benson, "Das war schon so, als ich vor fünfzehn Jahren hierher kam. Damals
warst Du ein kleines Mädchen, ein wenig schüchtern, aber wissbegierig. Inzwischen bist Du eine junge
Dame. Du siehst, die Dinge ändern sich, wir alle ändern uns, das Leben schreitet fort."
"Im Augenblick wäre mir lieber, alles bliebe, wie es jetzt ist."
"Veränderungen können durchaus ihr Gutes haben, Elaine. Wir Menschen neigen dazu, am Bestehenden
allzu sehr festzuhalten."
"Wahrscheinlich haben Sie Recht. Trotzdem wäre mir lieber, Sie blieben bei uns."
Die Tür öffnete sich, und Cynthia eilte herein. Ihre Reitjacke hatte sie aufgeknöpft, die Gerte hielt sie
noch in der Hand.
"Puh! Was für ein Wind! Herrlich!", sagte sie mit glänzenden Augen, und das vom Wind und dem
stürmischen Ritt rosafarbene Gesicht sprach ebenso deutlich wie ihre reichlich zerzauste Frisur davon, wie
sehr sie einen ihrer Querfeldeinritte genossen hatte. Dergleichen liebte Cynthia, sehr zum Verdruss von
Mrs Glover, Sir Williams Schwägerin, die seit langem seinen Haushalt führte und sich durch ständiges
Kritisieren und Maßregeln insbesondere Cynthia und mir gegenüber hervortat.
"Wie es aussieht, wird der Wind weiter zunehmen", fügte Cynthia hinzu.
"Das wird er", bestätigte ich nickend, "mein verflixter Fuß spricht für einen heftigen Sturm."
"Oh je, Du Ärmste! Ist es arg schlimm?"
"Heute schon."
"Habt Ihr den letzten gemeinsamen Nachmittag genossen", wollte Cynthia von uns wissen.
"So weit es möglich war", antwortete ich betrübt.
"Wir werden Sie vermissen, Miss Benson", sagte Cynthia und meinte das durchaus ernst, "Vor allem
Elaine, die nun niemanden mehr hat, der mit ihr vierhändig spielt."
Cynthia mochte Miss Benson und bedauerte deren Abschied, empfand jedoch im Vergleich zu mir eine
weniger intensive Verbundenheit ihr gegenüber. Sie richtete ihren Blick nach vorn, wie es wohl die
meisten jungen Damen taten, sobald sie achtzehn wurden und damit ins heiratsfähige Alter kamen.
Cynthia dachte seit geraumer Zeit daran, einen jungen Gentleman für sich zu gewinnen. Ihr von Locken
umrahmtes, zierliches Gesicht war hübsch, sie besaß ein zumeist heiteres Wesen und würde eine
ansehnliche Mitgift erhalten. Nur eines könnte einer Verbindung mit einem Gentleman der feinen
Gesellschaft entgegenstehen, und das war ihr Hang zu dem, was Mrs Glover ständig als "gesellschaftlich
vollkommen inakzeptables Verhalten" rügte. Cynthia verspürte nämlich wenig Neigung zu den gezierten
und manchmal übertrieben vornehmen Umgangsformen des 'bon-ton'. Stattdessen war sie seit ihrer
Kindheit bodenständig, liebte die Natur und pflegte einen freundlichen und vertrauten Umgang mit
Menschen, die gesellschaftlich unter ihr standen.
"Wie soll aus Dir bloß jemals eine feine Lady werden?!", schimpfte Mrs Glover häufig. Cynthia rümpfte die
Nase über die feinen Ladies und deren gespreizte Art. Bei der Suche nach einem passenden Mann mochte
dies durchaus zum Hindernis werden.
Genau in diesem Augenblick betrat die hagere, hoch gewachsene Mrs Glover den Raum. Ihr Blick fiel auf
Cynthia und deren zerzauste Frisur.
"Cynthia! Wie Du wieder aussiehst! Schämst Du dich nicht? Eine solche Erscheinung ist unschicklich für
eine junge Dame."
"Ich komme soeben von einem Ausritt, Tante Isadora", verteidigte sie sich.
"Deine Ausritte. Natürlich. Wild und ebenso unangemessen wie Dein Äußeres. Mit Deinem Benehmen
wirst Du jeden jungen Mann in die Flucht schlagen, sollte sich ernsthaft einer für Dich interessieren. Es
wird höchste Zeit für Dich, Beherrschung und Manieren zu lernen. Wenn ich nicht wüßte, wie viel Mühe
Miss Benson sich mit Dir gab, würde ich meinen, Du hättest keine ordentliche Erziehung erhalten."
Mit einem tadelnden Blick auf uns alle verließ Miss Glover das Zimmer. Cynthia drehte sich zu mir um und
verdrehte die Augen.
"Wie Du wieder aussiehst!", sagte sie und imitierte Mrs Glovers Tonfall täuschend echt.
Ich musste lachen, wie ich es meist tat, wenn Cynthia ihre gestrenge Tante hinter deren Rücken
nachahmte.
"Dann gehe ich mal und richte mein grauenvolles Erscheinungsbild ein wenig her", sagte sie schmunzelnd
und ging hinaus. Beim Öffnen der Tür stieß sie beinahe mit ihrem Vater zusammen.
"Papa! Entschuldige, ich hörte Dich nicht kommen."
"Macht nichts, meine Kleine", sagte Sir William und ließ Cynthia zuerst hinaus.
Er reichte Miss Benson einen Brief.
"Ich schrieb Ihnen ein Zeugnis, liebe Miss Benson. Für Lord Campell werden Sie es nicht benötigen, aber
es schadet nie, eine ausgezeichnete Referenz in der Hand zu haben."
"Das ist sehr freundlich von Ihnen, Lord Boyle."
"Nicht doch. Eine Selbstverständlichkeit. Wir alle bedauern, Sie nach den vielen Jahren zu verlieren."
Er schaute zu mir herüber.
"Elaine ganz besonders, nicht wahr?"
"Das stimmt", sagte ich leise.
"Kopf hoch, Elaine! Du wirst Dich bestimmt daran gewöhnen. Seien wir alle froh darüber, in Miss Benson
eine solch großartige Lehrerin für Euch Kinder gehabt zu haben. Nun ja, Kinder seid Ihr längst nicht mehr.
Wirst Du Miss Benson übermorgen zu Lord Campell begleiten, wie Du es vor hattest?"
"Das werde ich, wenn Du nichts dagegen hast."
"Keineswegs. Ihr werdet ihn möglicherweise etwas unwirsch finden, verschlossen, recht einsilbig. Den Tod
seiner Frau vor zwei Jahren überwand er bis heute nicht, was ich persönlich gut nachempfinden kann, wie
Ihr alle wisst. Stören Sie sich nicht daran, Miss Benson. Sir Geoffrey ist dennoch ein Gentleman, gebildet,
gerecht, mit einem guten Charakter. Mit der Zeit werden Sie miteinander auskommen. Seinen Kindern
werden Sie ganz sicher gut tun."
"Ich werde mein Bestes geben, Lord Boyle."
"Elaine", wandte Sir William sich jetzt an mich, "mir scheint, ein Unwetter zieht auf. Es macht Dir
vermutlich nichts aus, zu Mister Farrell hinüber zu gehen und ihn zu fragen, ob alles sturmsicher ist?"
"Nein, im Gegenteil, ich wollte ohnehin einen kurzen Besuch bei Queenie und Owen machen."
"Dann sehen wir uns alle später zum Dinner", nickte er und fügte an Miss Benson gewandt hinzu:
"Ein kleines Abschiedsdinner zu Ihren Ehren, liebe Miss Benson. Ich bat die Köchin, eine besonders
leckere Pastete zu backen, wie Sie es besonders mögen."
"Das ist überaus freundlich von Ihnen, Mylord. Ich freue mich darauf", antwortete sie lächelnd.
Ich machte mich auf den Weg zum Haus des Verwalters. Owen Farrell und seine Frau Queenie waren für
mich so etwas wie Eltern. Ich befand mich nämlich in der außerordentlich seltsamen Lage,
gewissermaßen über drei Väter und zweieinhalb Mütter zu verfügen.
Meinen leiblichen Vater kannte ich nicht. Er war bei jenem Schiffbruch ums Leben gekommen, den ich als
etwa zweijähriges Kind als einziger Mensch überlebt, und der mich in die Obhut Sir Williams geführt
hatte, den ich als meinen zweiten Vater bezeichnete. Der Entscheidung des gutmütigen Sir William
verdankte ich eine Erziehung in seinem Haus, gemeinsam mit seinem Sohn, dem ehrenwerten Henry, und
seiner nach meiner Ankunft in Darlington Manor geborenen Tochter Cynthia. Vater meines Herzen aber
war Owen Farrell, der Sir William seit vielen Jahren als Verwalter treulich diente und in einem Gebäude
wohnte, welches einer der Vorfahren Sir Williams dereinst kaum 70 Yards entfernt vom Haupthaus hatte
errichten lassen. Dadurch war es mir ein Leichtes, zwischen beiden Häusern hin und her zu laufen und
meine Zeit mal hier, mal dort zu verbringen. Darüber hinaus genoß ich das Vergnügen, abwechselnd in
zwei Betten schlafen zu können, denn in jedem der beiden Häuser stand mir eines zur Verfügung.
Meine leibliche Mutter kannte ich ebenso wenig wie meinen Vater, denn sie musste wohl zusammen mit
ihm bei dem Schiffsunglück ertrunken sein. Mutter meines Herzen war Queenie, Mister Farrells Frau. Sie
war eine ausgesprochen liebevolle Person, und wohl nicht zuletzt, weil sie keine eigenen Kinder
bekommen konnte, nahm sie sich meiner umso herzlicher an. Ich liebte sie, wie ich wohl meine Mutter
geliebt haben würde, hätte das Schicksal sie mir damals nicht entrissen. Stets hatte sie ein offenes Ohr
für mich, und durch sie lernte ich die Klugheit einer bodenständigen Frau schätzen. Bei der halben Mutter
handelte es sich um Isadora Glover, Sir Williams Schwägerin. Sie lebte bei ihrem Schwager und
kümmerte sich um ihn, den Haushalt und uns Kinder, seit Sir Williams Frau kurz vor der Niederkunft ihres
dritten Kindes überraschend gestorben war, was den armen Sir William überaus bekümmert und über
Monate hinweg tiefster Trübsal hatte anheim fallen lassen. Isadoras Liebling war Henry, den sie vom
ersten Tag an liebte und bevorzugte. Cynthia begegnete sie freundlich, aber ihr Verhältnis war und blieb
stets das einer Pflegemutter zu ihrem Pflegekind. Mich wiederum mochte sie eigentlich nicht besonders.
Meine Anwesenheit und gemeinsame Erziehung und Ausbildung mit Sir Williams Kindern, lediglich auf
Grund meiner vermuteten guten Herkunft und Sir Williams Großherzigkeit, fand sie übertrieben und
unnötig. Sie mochte sich aber wohl nicht gegen Sir Williams ausdrücklichen Wunsch und seine
Freundlichkeit mir gegenüber stellen, um den heimlich geliebten Schwager nicht gegen sich aufzubringen.
Unser Verhältnis war daher von deutlicher Nüchternheit geprägt. Sie kümmerte sich um mein
Wohlergehen nicht mehr, als unvermeidlich. Ihre persönliche Meinung zu meiner Anwesenheit im Hause
des Baronet Boyle of Braxton Park äußerte sie nur gelegentlich, und ausschließlich, wenn wir alleine
waren. Ich wiederum war klug genug, weder gegenüber Sir William, und erst Recht nicht gegenüber
Henry, ihre Äußerungen zu wiederholen. Instinktiv spürte ich, wie unklug das gewesen wäre, und wie
sehr ich sie damit offen gegen mich aufgebracht haben würde. Jahre später beschlich mich die
Vermutung, genau das könne sie ursprünglich beabsichtigt haben: ein Kind, das sich in der Regel offen,
ehrlich und unbekümmert zu äußern pflegte, zu verleiten, ihre Aussagen auszuplaudern, um diesen
empört zu widersprechen und mich dadurch möglicherweise so weit zu diskreditieren, daß man mich des
Hauses verwies.
Die ungewöhnliche Situation besaß eindeutig ihre Vorteile für mich. Im Haupthaus wurde ich zu einer
jungen Dame erzogen und lernte viel im Unterricht mit Henry und Cynthia. Bei den Farrells lernte ich
etwas über das Leben der gewöhnlichen Menschen und begegnete Aufrichtigkeit und Bodenständigkeit.
Im Haupthaus lernte ich das Klavierspielen und Sticken, Queenie brachte mir bei, wie man kochte und
nähte. Gelegentlich durfte ich Owen begleiten, wenn er auf dem Landgut unterwegs war, mit den
Pächtern sprach, und ich bekam eine Vorstellung davon was es bedeutete, ein solches Gut zu
bewirtschaften. Nebenbei zeigte Owen mir die Natur, lehrte mich die Pflanzen und Tiere Devonshires
kennen. Allerdings brachte mich dieses Leben in zwei unterschiedlichen Welten in manchen Konflikt, denn
ich gehörte einerseits zur einer Familie aus der Adelsgesellschaft, andererseits war ich den gewöhnlichen
Menschen wie Owen und Queenie verbunden. Weil ich nicht mit der Familie Boyle blutsverwandt war,
mangelte es an Akzeptanz durch die Mitglieder der Gentry, und weil ich nicht ausschließlich bei den
Farrells lebte, sondern überwiegend im Hause Lord Boyles, begegneten mir die Familien der Pächter und
die Bewohner des nahen Dorfs mit einer gewissen Distanz, und weniger wie ihresgleichen. Oft wusste ich
selbst nicht genau, wohin ich am ehesten gehörte.
"Elaine, mein Liebes, wie schön, Dich zu sehen. Setz' Dich. Möchtest Du einen Tee?"
"Ein Tee wäre nicht schlecht, Queenie, wenn Du mir dabei Gesellschaft leistest."
Ich rieb meinen schmerzenden Knöchel, nachdem ich mich gesetzt hatte.
"Dein Fuß?"
Ich nickte.
"Du Ärmste! Er könnte ruhig aufhören, Dich zu plagen. Das aufziehende Unwetter ist wirklich nicht zu
übersehen."
"Mir scheint, das wird ein heftiger Sturm werden", sagte ich, "Deshalb läßt Sir William fragen, ob Owen
alles sturmsicher gemacht hat."
"Er ist mit Peter draußen. Sie holen gerade die Pferde von der Koppel und werden den Stall sorgfältig
verschließen. Die Läden am Haus können wir später verriegeln, wenn es schlimmer wird."
Queenie brachte unseren Tee und setzte sich. Ein Blick in mein Gesicht genügte ihr, um meine Stimmung
zu erkennen. Dafür kannte sie mich einfach schon zu lange.
"Du bist traurig, weil Miss Benson geht, nicht wahr?"
"Ja, Queenie, das stimmt. Sie wird mir sehr fehlen."
"Ich würde gerne sagen 'sei nicht traurig', aber das wäre wohl unsinnig, denn Du bist es trotzdem. Aber
halte Deinen Kummer nicht fest."
"Das will ich ja gar nicht. Nur jetzt, wo sie wirklich geht, bin ich halt erst einmal traurig. Mir kommt es so
vor, als ob... als würde alles anders, als würde..."
"Ein neuer Lebensabschnitt beginnen?", fragte Queenie nach einem Moment des Schweigens.
"Ja, vielleicht. Andererseits wüßte ich nicht, was sich groß ändern sollte."
"Ihr seid inzwischen alle erwachsen. Früher oder später werdet Ihr heiraten und ein anderes Leben
führen. Der ehrenwerte Henry mit seinen 24 Jahren mag sich vielleicht noch ein wenig Zeit damit lassen,
obwohl er jetzt dafür im besten Alter ist, und für Cynthia ist es naheliegend, demnächst einen Ehemann
zu finden. Das gilt gleichermaßen für Dich."
"Wer sollte mich denn heiraten, Queenie? Ich kann es mir nicht vorstellen."
Bevor Queenie darauf antworten konnte, kehrten Owen und Peter zurück, ordentlich durchgepustet vom
zunehmenden Wind.
"Elaine, Schwesterherz, wie geht es Dir?", wollte Peter wissen.
Peter war natürlich nicht wirklich mein Bruder, aber ebenso wenig war Peter der Sohn Owens, sondern
vielmehr sein Neffe. Owens Bruder, Robert Farrell, diente seit langem in der Marine. Eine jener im ganzen
Land gefürchteten Rekrutierungsmannschaften hatte ihn während der napoleonischen Kriege vor Jahren
zum Militärdienst gezwungen. Die sogenannten 'Pressgangs' waren berüchtigt! Wer einmal in ihre Hände
fiel, entkam ihnen nicht und musste 10 Jahre in der Marine dienen. Zuvor war es Mister Farrell zweimal
gelungen, einem dieser Trupps rechtzeitig zu entwischen, denn sie suchten gerne Wirtshäuser auf, wo sie
gleich eine ganze Anzahl kräftiger, junger Männer antrafen. Wer durch den Hintereingang zu entkommen
suchte, lief den dort wartenden Soldaten in die Arme, die häufig das ganze Wirtshaus umstellten.
Peters Mutter war kränklich und fand Aufnahme im Hause ihrer Schwester, wo sie einige Jahre später
starb. Peter gab sie schweren Herzens in die Obhut seines Onkels Owen. Zu Anfang war Peter zornig und
aufsässig. Er vermisste seinen Vater, den er sehr mochte, und der ihm ein vortrefflicher Vater gewesen
war. Vor allem widerstrebte es Peters Gerechtigkeitssinn und Freiheitsdrang, wozu man seinen Vater
gegen dessen Willen zwang. Diese Erfahrung legte den Grundstein für seine überaus kritische Einstellung
zur Obrigkeit und insbesondere gegenüber der englischen Gesellschaft mit ihren gewaltigen sozialen
Unterschieden. Selbst der Kontakt zum guten Sir William vermochte Peters Skepsis nicht zu besänftigen.
Ein Jahr oder mehr verging, bevor Peter sich mit seinen veränderten Lebensumständen abfand. Von da
an waren wir wie Bruder und Schwester, und ich hätte mir keinen aufrichtigeren und herzlicheren großen
Bruder wünschen können, als Peter Farrell.
"Sie ist ein wenig traurig, weil Miss Benson fortgeht", antwortete Queenie an meiner Stelle.
"Ihr habt Euch ausgezeichnet verstanden", nickte Peter verständnisvoll, "Laß den Kopf nicht hängen,
Elaine, Du wirst Dich bald daran gewöhnen."
Ich nickte stumm. Peter meinte es gut, sie alle meinten es gut, aber für die nächste Zeit erwartete ich
selbst viel eher, Miss Bensons freundliche Art und unser gemeinsames Musizieren schrecklich zu
vermissen.
"Sir William bat mich zu fragen, ob Du alles sturmsicher gemacht hast", wandte ich mich an Owen,
"Queenie bestätigte mir das bereits."
"Sag ihm, alles sei in Ordnung, er möge unbesorgt sein. Ist schließlich nicht der erste heftige Sturm, den
wir hier erleben. Uns passiert schon nichts. Wir sind an Land und haben ein Dach über dem Kopf. Für die
Schiffe auf See ist der Sturm weitaus gefährlicher."
"Bei einem Sturm denken wir immer ganz besonders an Peters Vater", fügte Queenie hinzu.
"Gibt es Neuigkeiten von ihm?"
"Nicht seit seinem letzten Brief. Vermutlich ist sein Schiff noch immer irgendwo in Westindien unterwegs",
sagte Peter, "Ich hoffe sehr, er wird wohlbehalten zurück kehren."
"Das hoffe ich ebenfalls", sagte ich und dachte daran, um wie viel schlimmer es für Peter sein würde,
seinen Vater durch einen Schiffbruch zu verlieren, als es für mich war, künftig auf Miss Bensons
Gesellschaft verzichten zu müssen.
Schwere graue Wolken zogen mit beträchtlicher Geschwindigkeit über den Himmel und verdunkelten
alles, während die Sturmböen immer kräftiger bliesen. Auf dem Rückweg ins Haupthaus begann es
plötzlich heftig zu regnen, sodaß ich eine Minute später bereits durchnässt im Haupthaus eintraf.
Der Wind pfiff laut um die Ecken des Hauses und durch sämtliche Ritzen in Türen und Fenstern. Immer
wieder rüttelten heftige Windstöße am Gebäude, brachten die Fensterscheiben zum Vibrieren oder
drückten den Rauch durch den Kamin zurück bis ins Zimmer.
Beinahe hätte ein solcher Windstoß während unseres Abschiedsdinners für Miss Benson einen Brand
ausgelöst, indem er kleine Stücke der Glut aus dem Kamin in den Raum blies. Glücklicherweise
bemerkten wir die Gefahr sogleich. Henry und Sir William sprangen auf und traten die rotglühenden
Stücke aus, bevor sie Schaden anrichten konnten.
Während des Dinners unterbrachen wir mehrfach unser Gespräch und lauschten nach draußen, wenn
wieder einmal besonders lautes Poltern oder Klappern zu hören war. Eine gewisse Anspannung lastete auf
uns allen, und besonders Sir William fürchtete wohl mögliche Sturmschäden am Haus, gar ein vom Sturm
abgedecktes Dach. Später, während wir im Salon beieinander saßen, änderte sich daran wenig. Die
Kombination von Abschiedsstimmung und einem heftigen Sturm war wirklich nicht dazu angetan, einen
heiteren, entspannten Abend zu genießen.
Trotzdem zeigte die große Standuhr in der Halle schon beinahe Mitternacht, als ich die Treppe zu meinem
gemütlichen, kleinen Zimmer im oberen Stockwerk hinauf stieg. Der Orkan setzte durch die Spalten der
geschlossenen Fenster hindurch die Vorhänge immer wieder in leichte Bewegung und ließ meine Kerze
flackern. Einen solch gewaltigen Sturm hatten wir seit Jahren nicht erlebt. Ich öffnete den Vorhang ein
kleines Stück, um hinaus zu sehen, konnte in der Dunkelheit jedoch draußen nichts erkennen. Zahllose
Regentropfen prasselten gegen die Scheiben. Augenblicke später warf sich der Sturm erneut gegen das
Haus, drückte erneut einen Luftzug durch das Fenster und blies meine Kerze aus. Schlagartig stand ich in
nahezu völliger Finsternis. Der schwache, rötliche Schein der im Kamin verbliebenen Glut gab kaum Licht.
Ich schloss den Vorhang und tastete mich zurück in das vertraute Zimmer.
Mir blieb nur übrig, mich im Dunkeln zu entkleiden. Ich kroch unter die Bettdecke und lauschte in die
Nacht. Der Regen rauschte, und dieses Rauschen wurde im Wechsel der Sturmböen mal lauter, mal leiser,
ebenso wie das Pfeifen des Windes selbst, der mit Hilfe der Ecken, Vorsprünge und Giebel des Hauses ein
wildes Konzert veranstaltete, begleitet vom Klappern, Poltern und dem Geräusch knackender Äste.
Irgendwo hatte ich gelesen, bei Nacht seien die Geräusche lauter als am Tage, weil die nächtliche Luft sie
weiter zu tragen vermochte. Ob das wohl stimmte? Mir erschien das eine höchst fragwürdige Erklärung
für dieses Phänomen zu sein.
Obwohl ich müde war, ließen das Unwetter und meine Gedanken mich nicht einschlafen. Einerseits fühlte
es sich heimelig an, hier in der Dunkelheit zu liegen, in einem warmen Bett, sicher vor dem Toben der
Elemente, und still ihrem wilden Treiben zu lauschen. Unwillkürlich dachte ich zurück an andere Stürme,
die ich hier erlebt hatte, auch wenn ich sie weniger heftig in Erinnerung hatte. Einmal war ich über Nacht
bei den Farrells geblieben, während draußen ein Unwetter tobte. Das kleine Verwalterhaus schien
gelegentlich zu beben, und die Windgeräusche waren womöglich noch lauter als heute. Wie es Queenie
und Owen in dieser Nacht wohl gehen mochte? Sie waren gewiß nicht ängstlich, aber ein mulmiges
Gefühl mochte sie angesichts dieser Naturgewalten dennoch beschleichen.
Peter dachte sicher besonders intensiv an seinen Vater, der irgendwo auf See war. Nicht in dieser Gegend
der Welt, so viel schien sicher. Robert Farrell würde also von diesem Sturm nicht betroffen sein.
Andererseits hieß das, während wir in Devonshire vielleicht einen schönen Tag genossen, mochte
irgendwo auf dem weiten Meer ein Sturm sein Schiff bedrohen. Auch in dieser Nacht bestand Gefahr,
denn ein steter Strom von Schiffen segelte entlang der Küsten Englands, auf dem Weg in die Ferne oder
zurück in ihren Heimathafen. Neben den Reisenden auf See waren viele Menschen auf den Straßen
unterwegs, verbrachten diese stürmische Nacht in schaukelnden Kutschen, oder warteten irgendwo
darauf, bis die Lage sich besserte. Glücklicherweise hatten Owen und Peter die Pferde rechtzeitig von der
Koppel in den Stall gebracht. Trotzdem mochten die Tiere in diesem Moment möglicherweise unruhig
wiehernd im Stall stehen.
Allmählich verloren sich meine Gedanken im Nirgendwo. Wenigstens mein Fuß schmerzte seit dem frühen
Abend nicht länger. Woher seine deformierten Knochen und hässlichen Narben stammten, wusste
niemand. Irgend ein Unglück musste mir widerfahren sein, als ich noch sehr klein gewesen war, denn als
man mich im Alter von vielleicht zwei Jahren nach jenem Schiffsuntergang gefunden und in Sir Williams
Haus gebracht hatte, befand sich mein dummer linker Fuß bereits in diesem beklagenswerten Zustand.
Donnergrollen ließ mich erwachen. Ich war sicher, einige Stunden geschlafen zu haben. Wie spät mochte
es sein? Vielleicht vier Uhr? Das kurze Aufleuchten eines Blitzes schimmerte durch die Vorhänge. Für den
Bruchteil einer Sekunde sah ich den vertrauten Raum in diesem Licht. Einige Zeit später rollte erneut ein
lang gezogenes, dumpfes Grollen durch den Himmel.
Ich stand auf und trat ans Fenster. Noch immer herrschte draußen die nächtliche Finsternis. Weit entfernt
zuckte ein weiterer Blitz wild gezackt durch die Wolken und tauchte die Landschaft für einen kurzen
Augenblick in fahles Licht. Für gewöhnlich gab es keine Gewitter um diese Jahreszeit. Diese Erscheinung
musste im Zusammenhang mit dem heftigen Sturm stehen.
Gerade wollte ich mich wieder hinlegen, da hörte ich draußen auf dem Gang und unten in der Halle laute,
aufgeregte Stimmen. Kaum öffnete ich meine Zimmertür, hastete Henry mit einer Kerze in der Hand an
mir vorbei.
"Henry, was ist los?"
Er blieb kurz stehen und drehte sich zu mir herum.
"Mister Farrell weckte uns. Er war draußen, um nach dem Rechten zu sehen, und dabei hörte er
Kanonenschüsse."
"Kanonenschüsse? Das war doch nur das Donnern des Gewitters."
"Nein! Mister Farrell kennt ganz sicher den Unterschied zwischen Gewitter und Kanonendonner!", sagte
Henry ungeduldig, "Draußen auf See muß ein Schiff in Seenot sein. Sie feuern, um auf sich aufmerksam
zu machen. Außerdem sagt man, der heftige Luftdruck der Kanonenschüsse sei geeignet, die Wogen zu
glätten."
"Eine alt hergebrachte Behauptung, die vermutlich nicht zutrifft", entgegnete ich ihm.
"Stimmt, aber wer sich in Seenot befindet, fragt nicht danach sondern tut alles, was ihm möglich ist. Geh'
wieder in Dein Zimmer, Elaine, Du kannst uns nicht helfen."
"Wieso nicht? Was habt Ihr denn vor?"
"Henry! Wo bleibst Du?", tönte Sir Williams laute Stimme von unten.
"Ich komm' ja schon!", rief er zurück.
"Ich werde mitkommen!", rief ich, "Wartet einen Moment, ich ziehe mir rasch etwas an."
Blitzschnell schlüpfte ich in ein Kleid und griff trotz der Dunkelheit im Zimmer zielsicher meinen Mantel,
den ich mir auf der Treppe nach unten im Laufen anzog.
"Elaine, Du solltest Dich nicht in Gefahr begeben", sagte Sir William stirnrunzelnd zu mir, "Bleib' lieber im
Haus."
"Ich will aber mitkommen. Jeder von uns kann nützlich sein."
"Na schön, wenn Du unbedingt willst."
"Wie sollen wir uns aufteilen, Mylord?", fragte Owen, als wir gemeinsam in der Halle standen.
"Ich reite mit Henry nach Osten. Der Seegang könnte Überlebende an den dortigen Strand werfen.
Diesen Abschnitt erreichen wir mit den Pferden am besten. Mister Farrell, Sie überprüfen die beiden
Strandabschnitte westlich. Nehmen Sie Peter mit, und Elaine, wenn sie unbedingt will."
"Gut, Mylord, dann nehmen wir den kleinen Wagen, falls wir einen Verletzten zurück transportieren
müssen."
Eilig verließen wir das Haus. Unser bewährter Stallbursche Thomas hatte Sir Williams und Henrys Pferd
bereits gesattelt. Unverzüglich stiegen sie auf und ritten los. Owen half mir auf den kleinen Wagen, den
er zuvor selbst angespannt hatte. Ich nahm zwischen ihm und Peter Platz, sodaß ich zwar auf dem
holprigen Weg ordentlich durchgeschüttelt wurde, aber keinesfalls hinunterfallen konnte. Obwohl der
Sturm mittlerweile etwas abflaute, machte der starke Wind vom Meer das Atmen schwer.
"Die Dämmerung setzt langsam ein", stellte Peter erleichtert fest, als wir uns etwa zwanzig Minuten
später den Klippen oberhalb der Strände näherten.
"Welch ein Segen", bestätigte Owen, "vielleicht erkennt man bald etwas da draußen."
Kurz darauf hielt er den Wagen an und spähte hinaus aufs Meer. Es war jedoch zu dunkel, das Meer sah
von hier oben aus wie eine ausgedehnte, tintenschwarze Fläche. Umso deutlicher hörte man die
Brandung, die zornig rauschend gegen die großen, vor dem Strand liegenden Felsen schlug. Welle um
Welle brach, und dem Geräusch nach zu urteilen waren die Wogen außergewöhnlich hoch. Nicht
überraschend bei einem Sturm wie heute Nacht.
"Was denkst Du, Owen? Sollen wir hinunter klettern und die Strände absuchen?", fragte Peter.
"Unbedingt! Hört zu, wir werden uns aufteilen. Elaine, Du steigst hier zum Strand hinunter. Sei aber
vorsichtig! Du bist erst einmal auf Dich allein gestellt. Hier musst Du mit Deinem Fuß nicht so weit laufen.
Peter, wir fahren ein Stück weiter, dort nimmst Du den anderen Abstieg und suchst den Strand aus der
Gegenrichtung ab. Ich bin mit dem Wagen schneller am westlichen Klippenstrand und werde dort
nachsehen. Falls ich nichts finde, komme ich bald zu Euch zurück."
Es war klug, die verschiedenen Strandabschnitte abzusuchen. Niemand wusste, wo genau sich das in
Seenot geratene Schiff befand, oder wohin es zwischenzeitlich abgetrieben sein mochte. Das galt nicht
minder für mögliche Überlebende, die vielleicht irgendwo an diesem Küstenabschnitt über Bord gegangen
waren oder den Untergang des Schiffes irgendwie überlebt hatten. Deswegen suchten Sir William und
Henry östlich, deswegen schien es ratsam, die beiden westlichen Strände ebenfalls abzusuchen. Diese
zwei Abschnitte waren voneinander durch große Felsenvorsprünge getrennt, die fast senkrecht ins Meer
abfielen. Direkt von einem Strand zum nächsten zu gelangen war unmöglich. Nur der Weg oben an der
Klippe stellte eine Verbindung zwischen ihnen her.
Langsam tastete ich mich den Pfad zum Strand hinab. Den Weg kannte ich seit Jahren und konnte nicht
zählen, wie oft ich ihn gegangen war. Im schwachen Schein der einsetzenden Dämmerung erwies er sich
dennoch als schwierig, und ich achtete sorgfältig darauf, keinen Fehltritt zu machen. Weder einen
Absturz, noch einen verstauchten Fuß wollte ich riskieren.
Unverändert toste die Brandung, als ich am Strand eintraf. Ich erkannte die Umrisse der Wellen, sah ihre
schäumenden Gischtkronen, während der Wind weiterhin heftig vom Meer in Richtung der Küste blies.
Eine Weile spähte ich vergeblich hinaus aufs Meer bei dem Versuch, irgendwo die Umrisse des Schiffes
auszumachen. Vom schwachen Licht im Halbdunkel der Dämmerung getäuscht glaubte ich mehrfach,
etwas zwischen den heranrollenden Wellen erkennen zu können. Aber da war nichts.
Langsam stapfte ich den Strand entlang. Als ich erneut meinen Blick vom Meer ab wandte, erschrak ich
heftig. Urplötzlich kamen mir Gestalten entgegen! Im ersten Augenblick dachte ich, es handele sich um
Schiffbrüchige, die sich an Land gerettet hatten. Es waren jedoch alles Männer aus dem Dorf. Der alte
Mister Smith und seine beiden Söhne trugen Gegenstände, die wohl von dem Schiffbruch stammen
mussten. Seit Generationen kamen die Dörfler an den Strand, um Strandgut einzusammeln, und man
erzählte sich, in früheren Zeiten sei es durchaus üblich gewesen, falsche Leuchtfeuer zu entzünden, um
Schiffe in die Irre zu leiten, sodaß sie an den unter Wasser verborgenen Klippen aufliefen. Seit jener Zeit,
und obwohl es längst streng verboten war, ließen die Bewohner des Dorfes sich nicht nehmen, weiterhin
zumindest jegliches Strandgut einzusammeln. Ein Sturm wie dieser spülte immer wieder Holz,
Schiffsteile, Fässer mit allem nur denkbaren Inhalt, Stücke von Segeln oder Gepäckstücke an den Strand.
Während des Krieges gegen Napoleon blühte zudem der Schmuggel, an dem sich manche der Ansässigen
eifrig beteiligten. Einige der kleinen Schmuggelschiffe, die häufig knapp unter Land segelten, liefen auf
den ihnen unbekannten Klippen auf und sanken. Wurden geschmuggelte Waren an den Strand gespült,
waren sie heiß begehrt. Glücklicherweise waren die Kriegszeiten vergangen, aber die Gier nach Strandgut
war keineswegs erloschen.
Die Smiths gingen schwer beladen an mir vorbei und taten so, als sei ich überhaupt nicht da. Kaum 30
Yards hinter ihnen kamen die Gebrüder Booth auf mich zu, gleichfalls beladen mit Strandgut. Sie
schleppten sich mit zwei schweren Fässern ab, die sie mit grimmigen Mienen in Richtung des Weges
trugen, über den ich zum Strand herunter gekommen war.
"Schau an! Miss Elaine!", sagte Thomas Booth, der für seine Grobheiten bekannte älteste der Booths,
"Was wollen Sie denn hier? Oder schickt Lord Boyle jetzt seine Familie aus, um Strandgut zu sammeln?
Hat der alte Knabe nicht mehr genug Geld, wie?"
Seine Bruder lachten rau und amüsierten sich. Mit ihren Blicken musterten sie mich abschätzig, und für
einen Moment lief es mir eiskalt den Rücken hinab.
"Was für ein Unsinn!", entfuhr es mir, "Mister Booth, wie können Sie so etwas annehmen? Wir wollten
nachsehen, ob möglicherweise Schiffbrüchige unsere Hilfe brauchen."
Thomas Booth lachte gehässig.
"Da kommen Sie zu spät."
Er wies mit dem Daumen seiner rechten Hand hinter sich.
"Weiter da hinten finden Sie Schiffbrüchige. Aber die brauchen keine Hilfe mehr."
"Die sind nämlich tot. Ertrunken", ergänzte sein Bruder.
"Sind Sie ganz sicher? Kann man wirklich nichts mehr für die armen Menschen tun?"
Ein Schauer überlief mich und brachte mich innerlich zum Zittern. Im Verlauf der Nacht waren tatsächlich
wieder einmal Menschen an diesem Abschnitt der Küste ertrunken. Während ich in meinem Bett gelegen
und geschlafen hatte, kämpften andere um ihr Leben und verloren diesen Kampf.
Gedanken an Schiffbrüchige waren in ganz besonderer Weise geeignet, mich tief zu berühren, eingedenk
jenes schicksalhaften Schiffbruchs, der mich vor 19 Jahren als kleines Mädchen an diese Küste geworfen
hatte. Wie ich ihn überlebt hatte, war immer rätselhaft geblieben. Die junge Frau, die man halbtot mit
mir im Arm am Strand gefunden hatte, musste mich gerettet haben. Leider erlangte sie das Bewußtsein
nicht mehr zurück und starb am Folgetag, ohne Auskunft über sich selbst oder mich gegeben zu haben.
Aus unserer Kleidung schloss man, sie könne nicht meine Mutter gewesen sein, denn sie trug die
schlichte Kleidung eines Dienstmädchen, während meine Kinderkleidung auf eine gute und durchaus
wohlhabende Herkunft schließen ließ. Dieser vermuteten Herkunft verdankte ich meine Aufnahme im
Haus des guten Sir William, einschließlich der gemeinsamen Erziehung mit Henry und Cynthia. Woher ich
wirklich stammte, wer meine richtigen Eltern waren, fand man nie heraus. Sir Williams Bemühungen,
meine Verwandten ausfindig zu machen, blieben erfolglos, und weil außer mir niemand sonst überlebt
hatte, man zudem nicht einmal den Namen des gesunkenen Schiffes herausfand, blieb meine familiäre
Herkunft ebenso unbekannt wie der Ausgangsort oder das Ziel jenes Schiffes.
Die Gebrüder Booth packten ihr Strandgut.
"Zwei von den Burschen dort hinten sind garantiert tot", sagte Thomas Booth mit rauer Stimme, "Die
liegen wohl schon ein paar Stunden am Strand. Und der andere da drüben, der schafft es sowieso nicht,
falls er überhaupt noch lebt. Liegt halb im Wasser. Dem kann keiner mehr helfen. Los, Jungs, packt an,
wir gehen weiter."
"Mister Booth! Wie können Sie einem Mitmenschen in einer solchen Lage Ihre Hilfe verweigern? Vielleicht
lebt der Mann noch."
"Selbst wenn, dann ist er trotzdem so gut wie tot. Das kennt man doch. Wozu die Mühe?"
Sie drehten sich einfach um und gingen in Richtung des Weges, der die Klippe hinauf führte. Einer von
ihnen raunte seinen Brüdern leise etwas zu, und diese lachten erneut derb und verächtlich.
Ich wollte etwas sagen, aber mir fehlten die Worte. Es wäre wohl ohnehin sinnlos gewesen. Ausgerechnet
die Gebrüder Booth, die für Grobheiten, Trinkfreudigkeit und einen gewissen Hang zu Prügeleien bekannt
waren, würden mir gewiß nicht helfen, nach diesem Mann zu sehen.
Wo mochte er sein? Thomas Booth sprach davon, er liege halb im Wasser. Eilig lief ich an der Wasserlinie
entlang und suchte aufgeregt nach dem Mann. Wenn es doch nur schon etwas heller wäre!
Da! Tatsächlich! Gleich an der Wasserlinie sah ich einen menschlichen Körper!
Seine Beine lagen im Wasser, Kopf und Oberkörper hielt er halb zur Seite nach oben gedreht. Immer
wieder schlugen die Wellen über ihm zusammen.
Ich packte ihn an der Schulter und sprach ihn an.
"Sir! Können Sie mich hören?"
Er reagierte nicht, seine Augen blieben geschlossen. War ich wirklich zu spät gekommen?
Ich musste ihn unbedingt weiter zum Strand hoch ziehen. Zur Zeit lief die Flut auf, die Wellen würden
immer höher schlagen, denn der Höhepunkt der Tide war noch nicht erreicht. Sobald das Wasser weiter
stieg, würde er unvermeidlich ertrinken, sofern er überhaupt noch lebte.
"Sir! Wachen Sie auf! Bitte! Die Flut! Sie sind in Gefahr!"
Seine Bewußtlosigkeit war zu tief. Er hörte mich nicht, er erwachte nicht. Wie sollte ich den kräftigen
Mann alleine aus dem Wasser ziehen? Längst war ich selbst durchnässt, aber das spielte jetzt keine Rolle
mehr. Mehrfach packte ich ihn, zog ihn mit all meiner Kraft jedesmal ein bißchen weiter aus dem Wasser.
Mit meinem vermaledeiten linken Fuß, dem es an Kraft und Belastbarkeit mangelte, fiel es mir sehr
schwer, und immer wieder entglitt er mir.
"Diese verdammten Brüder Booth!", dachte ich zornig, "Sie hätten ihn mühelos herausziehen können.
Wie kann man nur so herzlos sein?"
Ächzend und keuchend gelang mir, den kräftigen jungen Mann Stückchen für Stückchen an den Strand zu
ziehen. Er sah totenblass aus, seine Hände und Wangen fühlten sich bedenklich kühl an, aber er atmete,
wenngleich sehr flach. Zweifellos lebte der junge Mann!
Jetzt brauchte ich Hilfe, und zwar rasch. Owen hatte den Wagen. Auf ihm könnten wir den Mann nach
Hause bringen. Wo blieb er nur? Allein würde ich den bedauernswerten Burschen niemals den Weg die
Klippe hinauf schaffen. Owen und Peter würden sogar gemeinsam ihre Mühe damit haben.
Peter! Wo blieb er nur? Er wollte doch den Strand vom anderen Ende her absuchen.
Ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Falls die beiden nicht bald kämen, würde der Mann am Ende
womöglich doch noch sterben.
Ich warf einen Blick auf den Schiffbrüchigen. Er mochte Mitte zwanzig sein, und selbst in seinem
beklagenswerten Zustand wirkte sein bleiches Gesicht angenehm, und seine sanften Züge charaktervoll.
Seiner Kleidung nach zu urteilen mochte er ein junger Gentleman aus gutem Hause sein. Trotz seiner
tiefen Bewußtlosigkeit ging etwas von ihm aus, das mich berührte. War es wieder meine eigene
Vergangenheit als Schiffbrüchige? Oder war er es, dieser junge Gentleman, den ich festhielt, dessen
Oberkörper ich stützte, dem ich immer wieder gut zuredete.
"Bitte, Sir! Wachen Sie auf! Sie sind an Land, und wir werden Sie nach Hause bringen. Sie schaffen es.
Ich will nicht, daß Sie sterben! Bitte, Sie müssen leben, Sir."
Mir war kalt, meine Kleidung durchnässt, und ich befürchtete, eine heftige Erkältung zu bekommen, wenn
Peter und Owen nicht bald eintrafen. Vielleicht wäre es besser, ich ließ den Mann erst einmal hier liegen
und holte Peter, der hier irgendwo am Strand sein musste.
Ich drehte mich um und schaute suchend den Strand entlang. Tatsächlich! Dort drüben war Peter. Ich rief
ihn, aber gegen das Brausen des Windes und der Brandung konnte er mich unmöglich hören. Mein
Winken sah er jedoch sofort, und weil ich so heftig mit den Armen wedelte und unübersehbar aufgeregt
war, begann Peter zu rennen und kam zu mir.
"Elaine! Du bist ja vollkommen nass! Wie ist das passiert?"
"Als ich den Mann aus dem Wasser zog. Andernfalls hätte ihn die auflaufende Flut ertränkt."
"Du lieber Himmel!"
Peter beugte sich zu dem jungen Gentleman hinab, nahm seine Hände, und tätschelte seine Wangen in
dem Versuch, ihn aufzuwecken.
"Wenigstens lebt er", stellte er fest.
"Ja, aber nicht mehr lange, wenn wir ihn nicht bald von hier fort bringen."
Peter nickte ernst.
"Ich werde Owen mit dem Wagen holen. Bleibe bei ihm, Elaine. Ich werde mich beeilen!"
Peter rannte los, zu dem Pfad, der die Klippe hinauf führte. Ganz entfernt sah ich ihn, wie er eilig hoch
lief und dann aus meinem Blickfeld entschwand.
"Durchhalten!", sagte ich zu dem jungen Mann und mir selbst, "Wir müssen jetzt durchhalten. Hören Sie,
Sir! Durchhalten! Peter holt Hilfe. Wir werden Sie retten."
Hatte er mich gehört? Erwachte er aus seiner Ohnmacht?
Mit einem Mal flatterten seine Lider. Er öffnete die Augen und sein Blick traf mich. Er traf mich wirklich,
denn es war, als blicke er mir direkt ins Herz, als schauten zwei Menschen einander an, die etwas
miteinander verband. Der Hauch eines Lächelns trat auf sein Gesicht. Er öffnete die Lippen und wollte
etwas sagen. Im nächsten Moment schloss er die Augen wieder und verlor erneut das Bewußtsein.
"Oh, nein!", rief ich, "Sir! Nein! Bitte, Sie müssen wach bleiben!"
Ich ergriff seine Hand, drückte sie, hielt sie ganz fest, während ich weiter mit ihm sprach.
Was ich dem jungen Gentleman alles erzählte, weiß ich selbst nicht mehr genau, denn ich war aufgewühlt
wie selten zuvor in meinem Leben. Daran trug nicht nur der heftige Sturm Schuld, diese aufregende
Sturmnacht oder die Rettung eines beinahe Ertrunkenen. Einen mindestens ebenso großen Anteil daran
hatten seine Augen, und wie er mich aus ihnen angeschaut hatte.
Mir schien, es seien mehrere Stunden vergangen, bis Owen und Peter endlich auftauchten, um den
jungen Mann mit vereinten Kräften zum Wagen oben auf dem Weg zu schaffen. Sie versicherten mir
später, es könne kaum eine halbe Stunde gedauert haben, seit Peter losgelaufen war, um Hilfe zu holen.
In der Aufregung und meiner Sorge um das Leben des Mannes verlor ich jedes Zeitgefühl. Auf jeden Fall
empfand ich große Erleichterung, als ich die beiden näher kommen sah.
Owens erste Sorge galt allerdings mir.
"Elaine, Du bist völlig durchnässt. Hier, nimm meinen Mantel, sonst Du wirst krank."
"Es geht schon, Owen. Ich bin froh, Euch zu sehen. Wir müssen ihn rasch nach Hause bringen."
"Das werden wir. Kommst Du ohne Hilfe den Weg hinauf? Du wirkst erschöpft."
"Das schaffe ich, Owen. Könnt Ihr beide ihn tragen? Packt Ihr das?"
"Das müssen wir ganz einfach", sagte Peter entschlossen.
Den Mann den schmalen, steilen Weg an der Klippe hinauf zu tragen bereitete ihnen viel Mühe, aber es
gelang. Peter und ich hielten den unverändert Bewusstlosen fest, während Owen das Pferd zur Eile
antrieb und uns nach Hause fuhr.
John Weaver, seit vielen Jahren der Butler des Hauses, öffnete die Tür, sobald wir mit dem Wagen am
Haupteingang vor fuhren.
"Mister Weaver, holen Sie Sir William. Rasch!", rief Owen ihm zu, während er vom Wagen sprang.
"Was ist geschehen?"
"Wir fanden einen Schiffbrüchigen. Los, gehen Sie schnell und holen Sir William!"
Der Butler nickte und verschwand mit eiligen Schritten im Haus.
Owen und Peter packten den bewusstlosen Mann und trugen ihn ins Haus. Wenige Augenblicke später
kam Sir William, der selbst erst vor wenigen Minuten von seiner Suche am östlichen Strandabschnitt
zurück gekehrt war. Mit einem Blick erfasste er die Lage.
"Bringen Sie den Mann in eins der Gästezimmer im Seitenflügel", sagte er bestimmt und wies mit dem
Arm die Richtung.
"Wo fanden Sie ihn?", fragte er Owen, während dieser mit Peter den Schiffbrüchigen durch den Gang zum
Gästetrakt schleppte.
"Elaine", keuchte Owen, "Sie fand ihn."
"Und rettete sein Leben", ergänzte Peter.
"Er lag am westlichen Strand", sagte ich, "Es gelang mir, ihn aus dem Wasser zu ziehen, sonst hätte die
auflaufende Flut ihn ertränkt."
"War er die ganze Zeit über bewußtlos?"
"Bedauerlicherweise. Nur einmal erwachte er ganz kurz, fiel aber sogleich erneut in Ohnmacht."
"Sagte er etwas zu Dir? Kennst Du seinen Namen?"
"Nein. Er bewegte zwar die Lippen, aber das war schon alles."
"Na schön, dann wird er uns verraten wer er ist und woher er kommt, sobald er sein Bewußtsein wieder
erlangt."
Butler John war voraus gegangen und öffnete die Tür zu einem der geräumigen Gästezimmer.
"Legen Sie ihn auf das Bett. Man muss ihm die nassen Sachen schleunigst ausziehen und ihn wärmen.
John, Sie gehen in die Küche und lassen Tee bringen. Sagen Sie der Köchin, sie soll eine kräftige Brühe
zubereiten und herbringen. Wir müssen den armen Burschen aufpäppeln, und in derartigen Fällen geht
nichts über eine kräftige, heiße Brühe. Wenn Sie in der Küche fertig sind, kommen Sie zurück und helfen
mir."
"Sehr wohl, Mylord", antwortete Mister Weaver und ging davon.
"Papa, was ist los?"
Cynthia musste uns gehört haben und betrat in Begleitung ihres Bruders Henry das Zimmer.
"Ein Schiffbrüchiger. Elaine fand ihn am Strand."
Sir William schaute mich von oben bis unten an und runzelte die Stirn.
"Elaine, Du bist ganz nass. Du wirst Dich erkälten. Cynthia, ruf Betty, sie soll Elaine helfen. Geh nach
oben, Elaine, zieh Dir trockene Kleider an."
"Ich werde Elaine helfen", sagte Cynthia, "Betty kann uns derweil etwas aus der Küche bringen."
"Gut. Anschließend soll sie den Kamin in Elaines Zimmer in Gang setzen. Sie muss sich unbedingt
aufwärmen. Henry, Du reitest sofort ins Dorf und holst Doktor Gatling."
"Wieso ich?", murrte Henry unwillig, "Das kann ebenso gut Timothy erledigen. Soll er doch mit der
Kutsche ins Dorf fahren. Ich bin schließlich kein Dienstbote und habe außerdem heute Morgen noch nichts
gefrühstückt."
"Henry! Du wirst los reiten, und zwar sofort. Zu Pferd geht es am schnellsten, und wir brauchen den
Doktor umgehend. Du wirst überleben, wenn Du erst anschließend frühstückst."
"Wenn es unbedingt sein muss...", murrte Henry.
"Das muss es. Mein Sohn, was ist denn das für ein Betragen? Denkst du eigentlich immer nur an Dich?
Dein Verhalten ist eines zukünftigen Baronet unwürdig."
"Ich geh ja schon. Du musst nicht gleich so übertreiben, Vater."
Wieder einmal gerieten Vater und Sohn aneinander. Sir William ärgerte sich häufig über Henry, der mehr
Interesse an seinem eigenen Vergnügen zeigte, als an den Belangen des Gutes, dessen Bewirtschaftung
oder den Pächtern. Während der letzten Jahren hatte Henry sich zunehmend zu einem jungen Lebemann
entwickelt. Sir William sah sich veranlasst, ihn immer wieder zu maßregeln, und weniger die große
Entfernung zu London, sondern vielmehr das von seinem Vater klugerweise knapp bemessene
Taschengeld Henrys hinderten diesen daran, in der Hauptstadt das Leben eines Dandys zu führen, wie er
es wohl gerne getan hätte.
Henry ging hinaus, und ich hoffte, er würde nicht aus Trotz gegen seinen Vater Zeit vergeuden. Doktor
Gatling mochte nicht der beste aller Ärzte sein, verfügte aber über viel Erfahrung und gab sich redlich
Mühe bei der Betreuung seiner Patienten. Inständig hoffte ich, er würde in der Lage sein, das Leben des
Schiffbrüchigen zu retten, dessen ungewisser Zustand und fortgesetzte Bewußtlosigkeit mich besorgte.
"Elaine, Cynthia, Ihr solltet jetzt wirklich nach oben gehen. Mister Farrell, Peter, ich denke, wir kommen
zurecht. Gehen Sie nach Hause und erholen Sie sich erst einmal. John wird mir helfen, sobald er kommt."
"Danke, Mylord. Ich würde mich später gerne nach dem Befinden des Mannes erkundigen."
"Selbstverständlich, Mister Farrell."
Wir verließen alle den Raum. Owen und Peter gingen aus dem Haus und winkten mir zum Abschied zu,
während ich die Treppe hinauf ging.
Oben angelangt, kam Cynthia in Bettys Begleitung ins Zimmer. Betty trug ein kleines Tablett mit heißem
Tee, auf dessen wohltuende Wirkung und Wärme ich mich bereits bei seinem Anblick freute. Ich zitterte,
vor Nässe wie vor Aufregung.
"Zieh Deine nassen Sachen aus", drängte Cynthia, "Betty, heize den Kamin ordentlich ein. Hoffentlich
wirst Du nicht krank, Elaine."
"Das hoffe ich auch."
Mit klammen Fingern zog ich mich um, assistiert von Cynthia, die mich anschließend nötigte, mich ins
Bett zu legen und warm zuzudecken. Sie reichte mir den Tee und schaute mich auffordernd an.
"Jetzt erzählst Du mir, was geschah. Ich platze vor Neugier! Wie hast Du den Mann gefunden? Wer ist er?
Woher kommt er?"
Weiterhin fröstelnd und innerlich aufgewühlt erzählte ich Cynthia von meinem Erlebnis am Strand, der
Begegnung mit den Leuten aus dem Dorf, dem kaltblütigen Verhalten der Gebrüder Booth, wie ich den
Mann gefunden und mühsam auf den Strand gezogen hatte. Ich berichtete Cynthia vom kurzen Erwachen
des Mannes, verschwieg ihr gegenüber jedoch, welche Wirkung der Blick aus seinen Augen auf mich
gehabt hatte.
Während ich Cynthia meine Erlebnisse am Strand schilderte, nippte ich zwischendurch am heißen Tee und
genoß die Wärme, die sich behutsam in mir ausbreitete. Ganz allmählich ließ mein Frösteln nach und ich
hoffte, einer Erkältung doch noch zu entgehen.
Ich warf einen Blick auf das Stück Pastete, das Betty auf dem Tablett mitgebracht hatte. Sie bemerkte
meinen Blick und sagte entschuldigend:
"Die Köchin sagte, ich soll Ihnen etwas zu essen mitnehmen, und weil es rasch gehen musste, habe ich
einfach den Teller mit der restlichen Pastete von gestern Abend genommen."
"Das war eine gute Idee, Betty. Ich wundere mich viel mehr, daß überhaupt etwas von der Pastete übrig
blieb. Sie schmeckt nämlich wirklich ausgezeichnet."
"Du hast Glück", warf Cynthia ein, "Wäre Henry nicht unterwegs gewesen, dann hätte er sich dieses
letzte Stück vom gestrigen Dinner geschnappt."
"Wenn das so ist, sollten wir ihm lieber nicht verraten, wer ihm zuvor gekommen ist. Immerhin
beschwerte er sich vorhin, weil er ohne Frühstück zu Doktor Gatling reiten soll."
"Das ist wieder typisch für ihn", antwortete Cynthia mit einem Kopfschütteln.
"Wann wird der Doktor wohl eintreffen?"
"Frühestens in einer Stunde, vielleicht später."
"Dann bleibe ich eine Weile liegen und wärme mich auf. Sagst Du mir Bescheid, sobald der Doktor
kommt? Ich wüßte gerne, was er von dem Zustand des Gentleman hält."
"Du bleibst erst einmal im Bett, Elaine", widersprach Cynthia, "Ich denke eher, der Doktor sollte
anschließend nach Dir sehen."
"Wozu? Ich bin nicht krank. Schlimmstenfalls bekomme ich eine Erkältung. Nichts von Bedeutung.
Versprich mir bitte, mich zu holen."
"Na schön, wenn Du unbedingt willst."
Cynthia ging wieder nach unten. Ich schloss die Augen, müde von der unruhigen Nacht, der Anstrengung
der letzten Stunden, der aufwühlenden Rettung des jungen Mannes, und genoss die Wärme, welche das
Feuer im Kamin, der Tee und die Pastete mir bereiteten. Kurz darauf schlief ich ein.
Flüsternde Stimmen neben meinem Bett weckten mich. Cynthia und Miss Benson standen beieinander.
"Hoffentlich wird sie nicht ernsthaft krank, nachdem sie dem jungen Gentleman das Leben rettete",
wisperte Miss Benson.
"Das hoffe ich auch", flüsterte Cynthia zurück, "Vorhin sah sie blass aus und wirkte recht erschöpft. Sie
wollte unbedingt von mir geweckt werden, sobald der Doktor eintrifft."
"Das ist verständlich. An ihrer Stelle wäre ich genauso interessiert zu erfahren, ob ein Mann den ich vor
dem Ertrinken rettete wirklich überlebt."
"Oder er gefällt ihr einfach", flüsterte Cynthia mit angedeutetem Kichern, "Ich finde, er sieht recht
attraktiv aus."
"Das hab' ich gehört, Cynthia", murmelte ich und öffnete die Augen.
Cynthia wurde in klein wenig rot.
"Mein Interesse gilt zunächst einmal einem Menschen in Not. Miss Benson hat durchaus Recht: nachdem
ich ihn aus der Brandung rettete, fühle ich mich irgendwie für sein Wohl zuständig."
"Wie geht es Dir, Elaine?", fragte Miss Benson, und lenkte damit von Cynthias Verlegenheit ab.
"Noch ein wenig fröstelig, aber ansonsten geht es mir gut. Ist Doktor Gatling schon im Haus?"
"Ja, vor ungefähr zehn Minuten traf er ein."
Sofort schob ich meine Decke zurück und stand auf.
"Elaine, geht es Dir wirklich gut genug, um aufzustehen?"
"Selbstverständlich!"
Rasch zog ich mich an. Zu Dritt gingen wir hinunter zum Gästezimmer, wo wir Sir William und Doktor
Gatling antrafen. Ein Blick auf das Gesicht des jungen Mannes zerschlug meine Hoffnung, er könne
zwischenzeitlich aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht sein.
Zweifellos sah dieser Gentleman gut aus, darin gab ich Cynthia Recht. Durch die Aufregung und die
Anspannung bei seiner Rettung am Strand hatte ich dies zwar sofort gesehen, aber wirklich ins
Bewußtsein war es mir heute früh nicht gedrungen. Jedenfalls weit weniger als sein tiefer Blick, der mich
bei seinem kurzen Erwachen getroffen hatte.
"Doktor Gatling, wie geht es ihm? Warum ist er unverändert bewußtlos?"
"Der junge Mann erlitt vermutlich während des Schiffbruchs einen heftigen Schlag gegen seinen Kopf.
Oder er wurde von den Wellen gegen einen Felsen geschleudert. An seinem Kopf hat er eine heftige
Schwellung, und gleich daneben eine offene Wunde, die aber nicht mehr blutet. Dergleichen kann
durchaus eine Phase der Bewußtlosigkeit hervorrufen. Abgesehen von einigen Abschürfungen an seinen
Händen und Armen vermute ich ein oder zwei gebrochene Rippen. Das ist in seiner Verfassung etwas
schwierig zu ertasten. Seine Temperatur ist leicht erhöht, was mir im Augenblick jedoch keine Sorge
bereitet."
"Gibt es weitere Verletzungen?"
"Ich denke nicht, kann es aber nicht gänzlich ausschließen, Miss Elaine. Genaueres läßt sich erst
feststellen, falls er wieder zu sich kommt und mir sagen kann, welche Beschwerden er möglicherweise
außerdem hat."
"Falls? Bedeutet das, sein Zustand ist kritisch?"
Mir fiel selbst auf, wie aufgeregt, beinahe panisch meine Stimme klang.
"Das weiß ich nicht, Miss Elaine", antwortete der Doktor mit kläglicher Miene, "Ich kann im Augenblick
auf Grund seiner Bewußtlosigkeit lediglich einige Mutmaßungen anstellen. Die Verletzung an seinem Kopf
könnte im schlimmsten Falle tatsächlich lebensbedrohliche Folgen für ihn haben. Ebenso gut kann er in
Kürze erwachen. Leider gibt es viele Situationen, in denen auch wir Ärzte im Dunkeln tappen. Die Medizin
kennt keine Möglichkeit, in den Körper eines Menschen hinein zu schauen. Im Augenblick müssen wir
abwarten und das Beste hoffen. Mehr kann ich nicht für ihn tun."
"Würden Sie auf Grund Ihrer Erfahrung eine Prognose wagen?", fragte Sir William.
"Ich weiß von Patienten, die zwei, drei oder mehr Tage bewußtlos lagen, bevor sie wieder zu sich kamen.
Eine völlige Gesundung ist daher keineswegs ausgeschlossen. Insofern bin ich heute durchaus
optimistisch. Für alle Fälle lasse ich ihnen etwas Laudanum hier, Mylord. Sollte er beim Erwachen starke
Schmerzen haben, geben sie ihm ruhig etwas davon."
"Ich werde einen Boten mit einer Nachricht schicken, sobald sein Zustand sich ändert oder wir Sie
brauchen."
"Selbstverständlich, Mylord. Auf jeden Fall komme ich morgen und sehe nach ihm."
Der Doktor verabschiedete sich von uns. Aus seiner Miene konnte ich ebenso wenig ablesen wie aus dem
Klang seiner Stimme oder seinen Worten, ob er besorgter um das Leben des jungen Mannes war, als er
gegenwärtig zu erkennen gab. Vielleicht konnte man derzeit tatsächlich außer abwarten und hoffen nichts
weiter tun.
"Gibt es einen Hinweis, wer er ist?", fragte Cynthia ihren Vater, "Hast du in seiner Kleidung irgend etwas
gefunden?"
"Seine Kleidung ist von guter Qualität und in einwandfreiem Zustand, wenn man von ein paar
Beschädigungen absieht, die dem Schiffbruch zu zu schreiben sein dürften. Außerdem sieht sie aus wie
die Kleidung eines Gentleman. Einen Hinweis auf seine Identität fand ich darin nicht. Allerdings fielen mir
kleine, zugenähte Taschen auf, in denen etwas zu stecken schien. Eine davon öffnete ich und fand eine
Gold-Guinee. Vermutlich enthalten die übrigen Taschen gleichfalls Guineen. Insgesamt dürften es 25 sein.
Der junge Mann sorgte vor. Vielleicht handelt es sich um einen Notgroschen für die Reise. Oder er
bereiste ein unsicheres Gebiet und wollte sein Geld auf diese Weise vor Räubern schützen. Das hilft uns
allerdings keinen einzigen Schritt weiter."
"Ein junger Gentleman auf einer Reise. Vielleicht eine Bildungsreise ans Mittelmeer?", mutmaßte Cynthia.
"Das wäre möglich. Schließlich unternehmen viele junge Männer aus der Gesellschaft solche Reisen."
"Was machen wir jetzt?"
"Gar nichts, Elaine. Wir warten ab, wie Doktor Gatling bereits sagte. Ich werde Anweisung geben, daß
ständig einer der Bediensteten an seiner Seite wacht. Sobald er zu sich kommt, erfahren wir gewiß
mehr."
Sir William verließ gemeinsam mit uns das Zimmer. Das Warten zermürbte. Während der folgenden
Stunden des Tages und des Abends suchte ich mehrmals das Gästezimmer auf, fand den jungen Mann
jedoch stets unverändert im Bett liegend vor. Dabei machte ich mir so viele Gedanken um ihn! Seine
Herkunft, dem Zweck seiner Reise, wer er sein mochte, seine Familie, die ihn sicherlich vermisste, und
was für ein Mensch er wohl war.
Etwas Außergewöhnliches lag in dieser Situation. Ausgerechnet in Sir Williams Haus befand sich wieder
ein Schiffbrüchiger. Obwohl meine eigene Rettung bereits 19 Jahre zurück lag, fand ich diesen Umstand
trotzdem seltsam. Ausgerechnet ich, die damals als Einzige den Schiffbruch überlebte, hatte heute Anteil
an der Rettung dieses Mannes. Er schien gleichfalls als Einziger überlebt zu haben. War es das, was mich
so sehr an seinem Schicksal berührte? Die Rettung eines Schiffbrüchigen durch eine ehemalige
Schiffbrüchige ereignete sich gewiss höchst selten. War das nichts weiter ein Zufall, so ungewöhnlich
dieser sein mochte, oder verbarg sich dahinter eine tiefere Bedeutung, gar eine Verknüpfung unserer
Schicksale?
"Leben Sie wohl, Miss Benson."
"Auf Wiedersehen, Miss Benson."
"Alles Gute, Miss Benson."
Mister Weaver, Owen, Queenie, Peter und Cynthia verabschiedeten sich von Miss Benson. Wir stiegen in
die Kutsche, die sich rumpelnd in Bewegung setzte. Bald darauf trieb Kutscher Timothy Banks die Pferde
zu einem flotten Tempo an und entsprach damit meiner Bitte von heute Morgen. Mein Wunsch, Miss
Benson nach Mandleford Hall zu begleiten, konkurrierte mit dem Wunsch, in der Nähe des Hauses zu
bleiben und anwesend zu sein beim erhofften Erwachen des jungen Gentlemans aus seiner langen
Bewußtlosigkeit, in der er sich entgegen meiner Hoffnung unverändert befand.
Nach Aussage Lindas, die seit einigen Stunden an seiner Seite wachte, atmete er stets ruhig, ohne
Anzeichen zu zeigen, er käme bald zu sich. Wenigstens sein Gesicht besaß heute eine normale Farbe,
nicht so erschreckend blass wie bei seinem Eintreffen im Haus, aber auch nicht mehr fiebrig wie noch
gestern Abend.
Sofern die Wege es zuließen, wollte Mister Banks etwas flotter fahren als gewöhnlich, damit ich am
Nachmittag wieder zurück sein würde. Kurz vor der Abzweigung auf die Landstraße kam Darlington Manor
ein letztes Mal in Sicht, bevor es hinter einem Hügel verschwand.
Miss Benson warf einen langen, nachdenklichen Blick auf das Anwesen, in dem sie fast 15 Jahre verbracht
hatte. Wie ihr wohl heute zumute war? Mir fiel leicht, mich in ihre Lage zu versetzen, ohne allerdings ihre
Gedanken oder Gefühle im Einzelnen erraten zu können. Wie mochte es sich anfühlen, die gewohnte
häusliche Umgebung und vertraute Menschen zurück lassen zu müssen? Ein solcher Abschied musste
schwer sein, besonders dann, wenn man ihn nicht aus freien Stücken auf sich nahm oder einem
ersehnten Ziel entgegen strebte.
Schließlich wandte sie den Blick ab und schaute mich an.
"Gibt es Neuigkeiten von dem unbekannten Gentleman?"
"Nein, Miss Benson, seine Bewußtlosigkeit dauert an. Ich hoffe, Doktor Gatling behält Recht, und er wacht
in Kürze wieder auf."
"Das hoffe ich für ihn. Du bist besorgt um ihn, nicht wahr?"
"Das bin ich, Miss Benson."
"Wärst Du lieber zu Hause geblieben, statt mich zu Lord Campell zu begleiten? Ich würde es Dir nicht
verübeln."
"Bei allem Interesse am Wohlergehen des jungen Mannes ist mir ein ebenso herzliches Anliegen, Sie
heute zu begleiten, liebe Miss Benson."
"Elaine, ich bin jetzt nicht mehr Deine Lehrerin, und keine Angestellte Sir Williams mehr. Bitte, sag' nicht
mehr 'Miss Benson' zu mir. Nenne mich künftig bei meinem Vornamen. Sage Emily zu mir. Ich hätte es
Dir längst vorgeschlagen, aber unter den gegebenen Umständen wäre es als unangemessen erachtet
worden."
"Besonders von Mrs Glover", entfuhr es mir, und wir grinsten beide.
"Es ist mir eine Ehre, Dich Emily nennen zu dürfen."
"Mir ist es eine Freude, denn ich betrachte Dich schon seit geraumer Zeit wie eine jüngere Freundin, und
weit weniger als meine Schülerin."
"Das empfinde ich genauso. Deswegen fällt mir der Abschied von Dir so schwer, Emily."
Ein seltsames und zugleich angenehmes Gefühl, Miss Benson bei ihrem Vornamen zu nennen. Tatsächlich
standen wir uns so nah, wie Freundinnen es für gewöhnlich taten, und deshalb fühlte es natürlich und
richtig an.
"Mir fällt es gleichfalls schwer, Elaine. Ich bin froh, künftig nicht allzu weit entfernt zu leben, freue mich
auf unseren Briefwechsel und hoffe auf die eine oder andere Gelegenheit, Dich zu sehen. Unser Abschied
ist nicht endgültig, ein gewaltiger Unterschied im Vergleich zu dem, was andere erleben. Der gestrige
Schiffbruch ist ein treffliches Beispiel dafür, denn seine Opfer sind auf immer von ihren Angehörigen und
Freunden getrennt, und der endgültige Verlust eines geliebten Menschen schmerzt gewiß weitaus mehr."
"Ein kluger Gedanke, liebe Emily. Sich dies vor Augen zu halten rückt den eigenen Kummer in ein
sanfteres Licht."
"Ich erinnere mich gut daran, wie entsetzlich der Verlust seiner Frau für Sir William damals war. Zeitweise
glaubte ich, er käme niemals darüber hinweg und machte mir ernste Sorgen um ihn. Seine Frau durch die
Totgeburt ihres dritten Kindes unerwartet zu verlieren, zerstörte sein Lebensglück. Drei Jahre vergingen,
bevor er sich wieder fing und seine tiefe Trauer allmählich überwand."
"Meine Erinnerungen an diese Zeit sind unvollständig, dafür war ich wohl zu jung. Aber die eine oder
andere Situation kann ich mir ins Gedächtnis rufen, besonders die bedrückte, angespannte Stimmung,
die zu jener Zeit im Hause herrschte. Meine Erinnerungen an Lady Boyle sind lückenhaft, aber sie war
sehr freundlich zu mir. Ich glaube, bei ihr fühlte ich mich genauso wohl wie bei Queenie. Beide liebten
mich wie eine Tochter, und nach Lady Boyles Tod gab Queenie mir Halt und wurde wie eine Mutter für
mich. In meinen Gedanken nenne ich sie die Mutter meines Herzens."
"Dieser Halt, den Queenie Dir gab, fehlte den anderen in der Familie. Sir William musste mit seiner Trauer
ganz alleine fertig werden. Er scheint seine Frau sehr geliebt haben, denn er heiratete nie wieder. Erst
Recht nicht seine Schwägerin Mrs Glover, die lange Zeit darauf gehofft zu haben scheint. Sie war Sir
William eine Hilfe bei der Aufsicht über das Haus und das Personal, und auf ihre Weise hielt sie
gewissermaßen alles beisammen. Henry war wohl schon immer etwas eigenwillig, aber der Verlust seiner
Mutter machte ihn wirklich schwierig. Lange Zeit blieb er verschlossen und trotzig. Obwohl Mrs Glover ihn
vom ersten Tag an mochte und eindeutig bevorzugte, änderte sich daran wenig."
"Glaubst Du, seine Aufsässigkeit, seine Streitereien mit Sir William und seine egoistischen
Verhaltensweisen gehen auf den Verlust seiner Mutter zurück?"
"Das kann niemand wissen. Ich halte das für möglich, aber mehr auf Grund meines Gefühls und meiner
Lebenserfahrung."
"Erwartest Du, in Mandleford Hall die gleiche Situation vorzufinden?"
"Mehr oder weniger", sagte Emily mit nachdenklicher, ernster Miene, "Vermutlich einer der Gründe,
warum Sir William sich sehr dafür einsetzte, Lord Campell möge mich einstellen. Auf jeden Fall haben die
beiden den Tod ihrer Ehefrau gemeinsam, sowie eine ausgeprägte Trauer um diesen Verlust. Deswegen
versteht Sir William, in welcher Lage Lord Campell sich derzeit befindet, und wie wichtig zugleich eine
Gouvernante für seine beiden Kinder ist. Allerdings weiß ich sonst nichts über Lord Campell, seine Familie
oder die Situation auf Mandleford Hall. Es könnte alles vollkommen anders sein als damals auf Darlington
Manor."
"Eines steht jedenfalls fest, Emily: Du wirst den Kindern eine gute und verständnisvolle Lehrerin sein. Auf
Grund Deiner Erfahrung ist niemand geeigneter als Du, diesen Kindern die nötige Unterstützung zu
geben."
"Ich werde mich bemühen, Elaine, aber ihre Mutter werde ich keinesfalls ersetzen können."
"Zweifellos wird Dir gelingen, aus Lord Campells Kindern gebildete und wohlerzogene Menschen zu
machen. Etwas von dem ich mir die Freiheit nehme zu behaupten, es sei Dir mit Cynthia und mir
gelungen, und zu erheblichen Teilen mit Henry, all seinen Schwächen zum Trotz. Lord Campell dürfte Dich
sehr bald zu schätzen wissen."
"Ich werde mein Bestes tun und hoffe, es wird glücken", sagte Emily lächelnd.
"Das wird es, Emily. Hoffentlich hat Lord Campell keine Schwägerin wie Mrs Glover, die über Mandleford
Hall das Kommando führt."
"Das käme mir sehr gelegen."
Mrs Glover war gewiss nicht so schlecht, wie wir jetzt über sie sprachen. Zweifelsohne war sie schwierig,
neigte dazu, herrisch zu sein, zeichnete sich nicht gerade durch besondere Herzlichkeit aus, am
wenigsten mir gegenüber, und wäre sicher gerne die zweite Lady Boyle geworden. Andererseits entlastete
sie Sir William und führte auf Grund ihrer Stellung in Darlington Manor ein angenehmes Leben. Man hätte
sie wesentlich lieber gemocht, wäre sie nicht grundsätzlich immer gegen alles gewesen. Ganz gleich, was
Cynthia oder ich gerne wollten, sie war dagegen. Nahmen wir uns irgendeine Freiheit heraus, tadelte sie
uns, egal wie harmlos das Vergehen gewesen sein mochte. Wahrscheinlich hätte sie Emily vergrault, aber
Sir William wusste nur zu gut, was er an ihr hatte und wie wohl sie uns Kindern tat, weshalb er sich
glücklicherweise im Zweifel hinter sie und uns Kinder stellte, selbst wenn seine Parteinahme Mrs Glover
verdross.
Geraume Zeit plauderten wir über die vergangenen Jahre, gemeinsame Erlebnisse, und stellten allerlei
Mutmaßungen an, angefangen vom Rätsel des schiffbrüchigen jungen Gentlemans, bis hin zur der
Situation, die Emily auf Mandleford Hall erwartete.
Das im Tudor-Stil errichtete Mandleford Hall wirkte nüchtern, mit seinen beiden Türmen erinnerte es mich
spontan an eher an eine Trutzburg als an ein Wohnhaus. Die gotischen Bögen der Fenster wiederum
ließen an Kirchenfenster denken. An der Fassade nagte der Zahn der Zeit. Was einstmals heller Stein
gewesen sein musste, wirkte heute nur noch grau in grau.
Ein junges Dienstmädchen öffnete die Eingangstür und schaute uns fragend an.
"Ich bin Miss Benson, die neue Gouvernante. Dies ist Miss Elaine. Sie begleitete mich freundlicherweise in
Lord Boyles Kutsche hierher."
Das Mädchen ließ uns eintreten und führte uns in einen kleinen Salon. Im Gegensatz zum trutzigen,
nüchternen Äußeren des Gebäudes, der kühlen Halle und dem düsteren Gang mit seinen wandhohen,
dunklen Holzvertäfelungen, erwartete uns hier eine elegante, freundliche Einrichtung. Die geschmackvolle
Gestaltung trug eindeutig eine weibliche Handschrift, vermutlich die der verstorbenen Lady Campell.
"Bitte warten Sie hier. Ich werde Mister Higgs über ihre Anwesenheit informieren. Seine Lordschaft
befindet sich in seinem Arbeitszimmer und darf dort von niemandem gestört werden. Der Kammerdiener
Lord Campells ist der Einzige im Haus, der sich herausnehmen darf, ihn dort aufzusuchen."
"Lord Campell erwartet mein Eintreffen am heutigen Tage. Daher nehme ich an, er wünscht durchaus,
mich zu sehen."
"Mag sein, Miss, aber wenn seine Lordschaft wieder in trübsinniger Stimmung ist..."
Sie biss sich angesichts ihrer kleinen Indiskretion auf die Lippen.
"Verzeihen sie, Miss. Ich gehe zu Mister Higgs."
Wir warteten in angespannter Stille. Bildete ich mir das ein, oder lag tatsächlich eine bedrückte
Stimmung über dem ganzen Haus? Nach einer Weile betrat ein kleiner, drahtiger Mann den Raum.
"Meine Damen, ich bitte um ein wenig Geduld. Lord Campell wird in Kürze zu Ihnen kommen."
Er verneigte sich und verließ den Salon wieder.
"Das muss wohl dieser Mister Higgs sein", sagte ich flüsternd.
Emily nickte stumm.
Die Minuten zogen sich dahin. Endlich betrat Lord Campell das Zimmer. Groß, von schlanker Gestalt, mit
blassem Gesicht, eingefallenen Wangen, müden Augen und ganz in schwarz gekleidet stand er uns
gegenüber. Seine Miene wirkte ebenso kummervoll wie abweisend.
"Ich erwartete nur eine einzige Gouvernante", sagte er bei unserem Anblick tadelnd.
"Verzeihen Sie, Lord Campell", sagte Emily, "Sir William ließ mich von seiner Kutsche hierher bringen, und
Miss Elaine machte mir die Freude, mich heute zu begleiten."
"Bitte vergeben Sie mir mein unangemeldetes Eindringen, Lord Campell", fügte ich hinzu, "Ich wollte
keinesfalls stören."
"Sie sind Miss Elaine? Ich erinnere mich, Sie als Mädchen in früheren Zeiten in Darlington Manor gesehen
zu haben. Demnach sind sie eine Art leibhaftiger Referenz für Miss Bensons Tätigkeit einer Gouvernante
und Lehrerin?", fragte er streng.
"Was meine Fähigkeiten, mein Wissen oder meine Manieren betrifft, trifft das zu, Mylord. Jedenfalls so
weit diese Ihnen positiv auffallen mögen. Die Mängel, die sie zweifelsohne an mir finden können, sollten
Sie hingegen keinesfalls Miss Benson zur Last legen, sondern ausschließlich mir selbst."
"Ein gutes Verhältnis zwischen einer Gouvernante und ihrer Schützlingen mag Beweis für deren
Qualitäten sein, und ein solch ausgeprägtes Maß an Anhänglichkeit und Loyalität wie in Ihrem Falle findet
man gewiß selten", stellte er fest, und fügte zu Miss Benson gewandt hinzu: "Ich lege Wert auf eine gute
Erziehung meiner Kinder, Miss Benson. Sir William lobte Sie in höchsten Tönen. Enttäuschen Sie mich
nicht."
"Ich werde mich bemühen, Ihren Erwartungen in jeder Weise zu entsprechen, Mylord."
Lord Campell nickte stumm und schaute Emily nachdenklich an. Seine Gesichtszüge waren unverändert
abweisend und wie erstarrt. Die ganze Zeit über fragte ich mich, ob er zu der Sorte harter, gefühlskalter
Männer gehörte, oder ob es seine Trauer war, welche ihn ähnlich wie damals Sir William niederdrückte
und wie in einem Sumpf gefangen hielt.
"Mrs Malley, die Haushälterin, wird Ihnen Ihr Zimmer und das Haus zeigen, und Sie mit den
Gepflogenheiten auf Mandleford Hall vertraut machen. Ich werde sie zu Ihnen schicken. Möchten Sie in
der Zwischenzeit die Kinder kennen lernen?"
"Sehr gern, Mylord", antwortete Emily lächelnd.
"Dann bringe ich sie hierher."
Mit einem knappen Nicken drehte er sich um und ging hinaus.
"Nicht gerade ein warmherziger Empfang", flüsterte ich Emily zu und wunderte mich gleichzeitig, warum
ich überhaupt flüsterte, statt normal zu sprechen. Das lag wohl an der Atmosphäre, die nicht nur die
Stimmung nieder drückte, sondern zugleich die Stimme.
"Sir William warnte mich vorab, Lord Campell sei vermutlich unwirsch und unzugänglich. Umso wichtiger
wird es sein, mich seiner Kinder anzunehmen, die unter einer solchen Situation sicherlich noch mehr
leiden als ein Erwachsener."
Wieder verging eine Weile, bevor sich die Tür zum Salon öffnete, und Lord Campell in Begleitung eines
kleinen Jungen von etwa sechs Jahren und eines wohl zwei Jahre älteren Mädchens herein kam.
"Melinda, George, das ist Miss Benson, Eure neue Gouvernante."
Die Kinder begrüßten Emily zaghaft und blickten ihren Vater anschließend unsicher und ein wenig
ängstlich an.
"Ich hole Euch in Kürze wieder ab. Sie entschuldigen mich, Miss Benson, Miss Elaine."
Sobald er den Salon verließ, glaubte ich ein erleichtertes Aufatmen beim kleinen George zu erkennen. Er
schaute Emily neugierig an, während Melinda äußerst skeptisch und besorgt drein schaute. Keiner von
beiden sagte etwas.
"Hattet Ihr früher bereits eine Gouvernante?", fragte Emily.
"Ja, Miss Benson. Wir hatten eine Gouvernante, bevor Mama... bevor unsere Mutter gestorben ist", sagte
Melinda.
"Miss Barnes ist fortgegangen", ergänzte George.
"Sie verließ uns vor einigen Monaten. Seither sind wir allein."
"Jetzt bin ich hier und werde mich um Euch kümmern. Wie alt war Miss Barnes?"
"Miss Barnes war viel älter als Sie", sagte George, und Melinda fügte hinzu:
"Sie war oft streng zu uns. Sind sie auch streng?"
"Nur, wenn es gar nicht anders geht", sagte Emily lächelnd, "Wenn ich Euch so anschaue denke ich aber,
das wird selten nötig sein."
"Papa ist oft traurig, weil Mama gestorben ist. Dann ist auch er streng zu uns", sagte George bekümmert.
Sofort stand mir ein Bild vor Augen, wie Lord Campell in seinem Kummer vermutlich des öfteren mit
seinen Kindern umging. Sie trauerten ganz gewiß nicht weniger um ihre Mutter, als er um seine Frau,
aber sie hätten seinen Trost gebraucht und seine Unterstützung. Sein Ingrimm über den erlittenen Verlust
schüchterte die Kinder ein. Wie gut, daß den beiden künftig die liebevolle Emily zur Seite stehen würde!
"Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen", sagte Emily.
"Ich mag Sie gerne", sagte der kleine George zu Emily, während ein schüchternes Lächeln sein Gesicht
zum ersten Mal strahlen ließ. Zum ersten Mal seit wie langer Zeit?, fragte ich mich insgeheim.
"Ich hoffe, Sie werden wirklich nett zu uns sein", sagte Melinda, wobei ihr Ausdruck zwischen Hoffen und
Bangen schwebte.
"Wie wäre es, wenn wir alle drei nett zueinander wären?", entgegnete Emily, "Was haltet Ihr davon?"
"Mmhmm!", machte der kleine George und nickte.
"Das ist ein sehr freundlicher Vorschlag von Ihnen, Miss Benson. Wir wünschen keine strenge
Gouvernante", sagte Melinda, die dabei überheblich klang. Unübersehbar versuchte sie, ihre kindliche
Unsicherheit und ein zu vermutendes Maß an Verstörtheit hinter der Fassade der stolzen Tochter eines
Baronet zu verstecken.
"Seid unbesorgt", sagte ich zu den beiden, "Emily, also Miss Benson, ist eine sehr freundliche Lehrerin,
und eine ausgezeichnete obendrein."
"Woher wissen Sie das?", fragte Melinda.
"Weil ich viele Jahre ihre Schülerin war, gemeinsam mit Henry und Cynthia, den Kindern Lord Boyles."
Melinda blickte immer noch skeptisch, während George neugierig Miss Bensons Gesicht beobachtete.
"In Kürze werdet Ihr Miss Benson nicht mehr missen wollen, da bin ich mir ganz sicher."
Die Tür öffnete sich, und Lord Campell betrat gemeinsam mit einer älteren Frau den Raum. Die Kinder
schauten ihn ein klein wenig verängstigt an.
"Geht wieder auf Eure Zimmer. Mrs Malley wird Miss Benson durch das Haus führen und mit unseren
Gepflogenheiten vertraut machen. Ihr habt sie jetzt kennen gelernt. Ab morgen wird Miss Benson sich um
Euch kümmern. Ich erwarte von Euch, ihre Anweisungen zu befolgen."
"Ja, Papa", antworteten beide etwas zaghaft.
Lord Campell nickte ihnen zu, und in seinen Augen erkannte ich für einen winzigen Augenblick, welch
tiefe Liebe er für seine Kinder empfand. Er war gar nicht so streng wie er tat, nicht so abweisend und kalt
wie er den Anschein erweckte. Sein Auftreten war die Folge seiner unbewältigten Trauer, der er mit
großer Selbstdisziplin entgegen trat. Wahrscheinlich versuchte er, auf diese Weise die Fassung zu wahren,
innerlich wie äußerlich. Ohne ihn zu kennen, ohne Näheres über seinen Charakter zu wissen, glaubte ich
zu spüren, wie viel Herzlichkeit hinter seiner eisigen Fassade verborgen lag.
"Mrs Malley, zeigen Sie Miss Benson das Haus. Ich bin in meinem Arbeitszimmer und möchte nicht gestört
werden. Miss Elaine, ich glaube, Miss Benson wird jetzt alleine zurecht kommen. Es war sehr freundlich
von Ihnen, sie hierher zu begleiten."
Seine kaum verhüllte Aufforderung, nunmehr zu gehen, hätten andere möglicherweise als Unhöflichkeit
aufgefasst. Ich nahm es ihm nicht übel.
"Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, mich empfangen zu haben, Lord Campell."
Ich knickste, warf Emily einen vielsagenden Blick zu, und ging hinaus. Ehrlich gesagt fühlte ich mich
erleichtert, der bedrückenden Atmosphäre von Mandleford Hall zu entkommen. Emily stand vermutlich
eine schwierige Zeit bevor, und ich hoffte inständig, sie würde sich wenigstens im Laufe der Zeit wohler
fühlen.
Als die Kutsche abfuhr, konnte ich kaum erwarten, nach Hause zurück zu kehren, um nach dem
unbekannten Gentleman zu sehen und mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Zwei Tage zuvor hätte
ich jeden einen Narren genannt der behauptet hätte, ich würde Miss Benson mit nur wenig Wehmut und
Abschiedskummer zurück lassen, und mich zugleich derart aufgeregt und leichten Herzens auf den
Rückweg nach Darlington Manor machen.
Beim Eintreffen erkannte ich Doktor Gatlings kleine, offene Kutsche vor dem Hauseingang.
"Was ist geschehen?", fragte ich Mister Weaver, der in der Eingangshalle stand, "Kam der junge Mann
wieder zu sich?"
"Bedauerlicherweise nicht, Miss Elaine. Doktor Gatling kam lediglich, um sich nach seinem Zustand zu
erkundigen."
Hut und Handschuhe legte ich kurzerhand auf einem der Stühle in der Eingangshalle ab und ging mit
raschen Schritten zum Gästezimmer. Sir William, Henry und Cynthia standen am Bett des Gentlemans
und sahen den Doktor an, der den Unterarm des Mannes hielt.
"Seine Temperatur ist normal, der Puls geht regelmäßig", sagte Doktor Gatling und schaute dem
unbekannten Gentleman prüfend ins Gesicht, "Das ist beruhigend, und ich denke...."
In diesem Moment zog der Mann seinen Arm zurück. Seine Hand entglitt dem Doktor, während er
zunächst mehrmals blinzelte und schließlich die Augen öffnete. Mit einer Mischung aus Verblüffung und
Besorgnis in seinem Gesicht schaute er sich um.
"Sir, wie ist Ihr Name?", wollte Henry sogleich wissen.
"Können Sie mich verstehen? Haben Sie irgendwo Schmerzen?", fragte der Doktor.
"Woher kommen Sie, Sir?", fragte Cynthia leise.
"Erinnern Sie sich an mich, Sir?", fragte ich ihn, und mein Herz hüpfte vor Freude über sein Erwachen aus
der Bewußtlosigkeit.
"Nun laßt den jungen Mann erst einmal zu sich kommen", mahnte Sir William.
Wir schauten ihn an und warteten auf eine Reaktion, ein Wort, eine Geste, während er stumm da lag, uns
ansah und die Stirn in Falten legte.
"Wo bin ich?", fragte er zögernd mit leiser Stimme.
"Ich bin Lord Boyle, Sie befinden sich in meinem Haus. Elaine...", er wies mit der linken Hand in meine
Richtung, "fand Sie am Strand und zog Sie aus der Brandung. Mein Verwalter und sein Neffe brachten Sie
hierher. Der Gentleman an ihrem Bett ist unser guter Doktor Gatling, der Sie bereits gestern untersuchte,
kurz nach Ihrer Ankunft."
"Sie scheinen einen schweren Schlag gegen Ihren Kopf bekommen zu haben, junger Mann", sagte der
Doktor zu ihm, "Ihre lange Bewußtlosigkeit besorgte uns alle. Ansonsten haben Sie lediglich ein paar
Abschürfungen, und ich vermute ein oder zwei gebrochene Rippen. Diese Verletzungen dürften im
Zusammenhang mit dem Untergang des Schiffes stehen."
"Des Schiffes?", fragte der Mann erstaunt, "Welches Schiffes?"
"Wir hofften, das würden Sie uns sagen."
"Eine kleine Erinnerungslücke, vermutlich eine Folge des Schlages auf seinen Kopf", warf Doktor Gatling
ein.
"Wo genau sind wir hier?"
"In Devonshire, unweit der Küste, wo bedauerlicherweise während des heftigen Sturmes vor zwei Tagen
das Schiff unterging, auf dem Sie unterwegs waren."
"Sir, Sie müssen doch wissen, auf welchem Schiff Sie fuhren", sagte Henry mit verständnislosem Blick,
"Was war das Ziel Ihrer Reise?"
"Ich bedaure, aber ich weiß es nicht. Ein Umstand, den ich mir selbst nicht erklären kann."
Der junge Mann schaute recht verzweifelt drein und schien sich bewußt zu sein, welch seltsamen
Eindruck seine mangelhafte Erinnerung auf uns machen musste.
"Wie ich bereits sagte", wiederholte der Doktor, "der Schlag auf den Kopf. So etwas kommt vor. Seien Sie
unbesorgt."
"Sie fanden mich also am Strand?", wandte der Gentleman sich nunmehr an mich und lächelte mich
zaghaft an.
Welch angenehme Stimme er hatte, und sein Blick...
"Ja, Sir, Sie lagen halb im Wasser. Zu dieser Zeit waren Sie bereits bewußtlos. Das heißt, einmal
erwachten Sie, sehr kurz nur. Erinnern Sie sich vielleicht daran?"
"Bedauerlicherweise nicht, Miss", sagte er kopfschüttelnd.
"Jetzt mal langsam und der Reihe nach", schaltete Sir William sich ein, "Während des Sturms vorgestern
hörten wir Kanonenschüsse, wie Schiffe in Seenot sie abzufeuern pflegen. Deshalb suchten wir die
hiesigen Strände ab, um möglichen Schiffbrüchigen zu helfen. Elaine fand Sie dort. Bisher ist uns
unbekannt, welches Schiff an den tückischen Klippen scheiterte, die Devonshires Küste an manchen
Stellen für die Seefahrt gefährlich machen. Der Name des Schiffes wird sich demnächst hoffentlich
herausstellen. Wenn ich Sie bitten dürfte, Sir, verraten sie uns Ihren Namen, und wen wir benachrichtigen
sollen, denn gewiß haben Sie eine Familie, die sich um Sie sorgt."
Wie es schien, dachte der Mann nach. Von Sekunde zu Sekunde veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Seine Ratlosigkeit schlug zunehmend in Verzweiflung um. Im Zimmer herrschte mit einem Mal eine
höchst angespannte Stille. Sein Blick ging abwechselnd von einem zum anderen, blieb mehrmals an mir
hängen, bis er schließlich Sir William anschaute und mit leiser, stockender Stimme sagte:
"Ich... kann Ihnen... meinen Namen... nicht nennen, Mylord... ich... ich weiß ihn nicht mehr."
"Sie müssen sich doch an irgend etwas erinnern!", insistierte Henry ungläubig.
Der Mann schüttelte den Kopf.
"Sir, es tut mir leid, aber... ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern."
"Ruhig Blut, junger Mann", sagte Doktor Gatling mit fester Stimme, "Dergleichen kommt gelegentlich vor.
Eine Amnesie mag selten sein, aber nach Unfällen und Verletzungen, insbesondere am Kopf, wurde
darüber berichtet. Manche der Betroffenen erinnern sich an das Geschehen bis kurz vor ihrem Unfall,
andere vergessen tatsächlich nahezu alles."
"Aber das ist ja entsetzlich!", sagte Cynthia aufgeregt, "Wenn man nicht einmal mehr weiß, wer man ist!"
"Im ersten Moment erschreckt einen das gewiß sehr", fuhr der Doktor fort, "Meistens stellt sich das
Gedächtnis wieder ein. Das kann ein paar Tage dauern."
"Meistens? Ist also denkbar, unser Gast könne sein Gedächtnis für immer verloren haben?"
"Völlig ausschließen kann man das nicht, Mylord. Heute ist es zu früh, um das zu beurteilen. Sie sollten
keinesfalls den Mut verlieren, junger Mann."
"Können Sie denn nicht irgend etwas für ihn tun, Doktor Gatling?", fragte ich besorgt.
"Leider nein, Miss Elaine. Wir müssen abwarten. Der Aufenthalt in einer vertrauten Umgebung oder bei
der Familie hilft manchen Patienten mit einer Amnesie, ihr Gedächtnis wieder zu erlangen. So lange wir
nicht wissen, wer der junge Mann ist und seine Familie nicht kennen, scheidet diese Hilfe aus."
"Das ist ja verrückt", murrte Henry, "Ohne Gedächtnis kennt er seinen Namen und seine Familie nicht,
ohne Familie oder sein Zuhause kehrt sein Gedächtnis nicht zurück. Ein Teufelskreis."
"Henry!", mahnte Sir William, "Der Doktor sprach davon, die vertraute Umgebung sei hilfreich. Er meinte
gewiß nicht, diese Amnesie könne ausschließlich auf diesem Wege geheilt werden."
"Das ist richtig, Mylord", sagte Doktor Gatling, "So weit ich den medizinischen Fallschilderungen
entnehme, kann die Erinnerung einfach so wiederkehren, ganz plötzlich, wenn man überhaupt nicht
damit rechnet."
"Demnach besteht Hoffnung für mich?", fragte der junge Mann zweifelnd, nachdem er dem Gespräch
stumm gelauscht hatte.
"Durchaus, Sir. Seien Sie guten Mutes. Sie sind jung, Sie scheinen ansonsten nicht ernsthaft verletzt.
Falls Sir William bereit ist, Sie für ein paar Tage als Gast in seinem Hause zu behalten..."
"Aber selbstverständlich! Seien Sie unser Gast, Sir. Wir bringen Sie schon wieder zu Kräften. Sie werden
sehen, in einigen Tagen fühlen Sie sich bereits wesentlich besser."
"Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mylord."
"Eine Selbstverständlichkeit."
"Trotzdem danke ich Ihnen sehr. Ich werde mich bemühen, Ihnen keine unnötigen Umstände zu
bereiten."
"Sie dürfen uns gerne ein paar Umstände machen. Wir freuen uns, Sie als Gast bei uns zu haben, so
außergewöhnlich der Anlass Ihres Besuches sein mag."
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