Die türkische Frau – himmelwärts strebend, erdgebunden Von Oya Erdoğan Ich sitze am Flughafen fest. Mein Flug wird sich um Stunden verzögern. Ich warte. Erst jetzt nehme ich die überdimensionalen Werbeplakate in der Halle wahr. Sie sagen: „Das Warten lohnt sich!“ Ich fühle mich auf den Arm genommen. Das Warten, so finde ich dann heraus, bezieht sich auf den Ausbau des Flughafens. Er soll größer und moderner werden. Der Flughafen Sabiha Gökçen, auf der asiatischen Seite Istanbuls, wurde 2001 eröffnet und scheint freudig zu expandieren. Neben mir sitzt eine Frau, deren Leibesfülle auch eine Neigung zur Expansion erweist. Sie bietet mir selbstgebackene Plätzchen an, ich soll zugreifen, ich bräuchte es. Sie ist redselig. Woher ich komme, wohin ich gehe, verheiratet, Kinder? Ich weise auf den Werbeslogan hin und sie lacht herzhaft. Ich frage sie nach Sabiha Gökçen – ein Eigenname, wer war das? Meine Kenntnisse besagen, sie sei eine Ziehtochter Atatürks gewesen und die erste Pilotin des Landes. Deshalb wurde der Flughafen nach ihr benannt. Viel mehr weiß ich nicht von ihr. Woher sie kam, wohin sie ging, verheiratet, Kinder ... Sabiha Gökçen? Die Frau zuckt mit den Schultern. Ich habe den Namen nie gehört, ich kenne sie nicht. Die türkische Frau sollte nach Mustafa Kemal Atatürk, der 1923 die türkische Nation begründete, eine westlich aufgeschlossene, gebildete Persönlichkeit sein. Mit seinen radikalen Reformen setzte Atatürk auf einen raschen Wandel, der Gesellschaft allgemein, und vor allem der Frauen. Er verordnete ihnen einen Höhenflug, geistig und gesellschaftlich. Sie sollten ein Symbol des Fortschritts und der Öffnung sein hin zu einer „zivilisierten Gesellschaft“, in der Männern und Frauen die gleichen Rechte zustehen. Denn wie könne ein Volk sich erheben, wenn eine Hälfte die Flügel ausbreite, die andere jedoch an den Boden gekettet bliebe. Dieses neue Frauenbild versuchte Atatürk mit dem alten türkisch-islamischen Ideal der Frau als Mutter zu verbinden: „Die größte Pflicht einer Frau ist die Mutterschaft. Wenn man bedenkt, dass die erste Erziehung auf dem Schoß der Mutter erfolgt, verstehen wir, wie wichtig diese Verpflichtung ist. Unser Volk hat sich entschlossen, ein starkes Volk zu werden. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Aufklärung unserer Frauen. Aus diesem Grund werden sich auch Frauen wissenschaftliche und technische Kenntnisse aneignen und alle Ausbildungsgrade erreichen, die auch Männer innehaben. Später werden die Frauen in ihrem sozialen Leben an der Seite der Männer gehen, sie werden sich gegenseitig helfen und schützen.“ Die Umsetzung seiner Bildungs-Vision, wie er sie 1923 bekundete, war nicht einfach, konnten doch gerade 3-4% der Türken lesen und schreiben. 80 % der Bevölkerung lebte auf dem Land, wo es keine Schulen und Lehrer gab, und wo der Gedanke, Frauen Schulbildung zu ermöglichen, erst auf fruchtbaren Boden fallen musste. In den Städten hatten Frauen aus der reichen Oberschicht Privatlehrer und konnten eine höhere Ausbildung anstreben. Im September 1922 war Atatürk einer Frau begegnet, die das ihm vorschwebende Ideal perfekt zu verkörpern schien und seine Politik entschieden mitprägte. Latife Hanım, Tochter eines wohlhabenden Geschäftmannes, wurde von Gouvernanten in verschiedenen Fremdsprachen erzogen. Später erteilten ihr berühmte Schriftsteller Arabisch-, Türkisch- und Persischstunden. In England besuchte sie die Mädchenschule, studierte in Paris und war eine temperamentvolle, lebhaft interessierte Zeitgenossin. Atatürk verliebte sich in sie. Nach ihrer Heirat wurde sie an seiner Seite zum Inbegriff der neuen türkischen Frau. Sie kleidete sich modern, verzichtete auf den Schleier, begleitete Atatürk auf seinen Reisen, nahm an politischen Diskussionen und Entscheidungen teil, setzte sich aktiv für die Emanzipation und die Frauenrechte ein. Leider hielt die Vorbild-Ehe nur zwei Jahre. Latife Hanım verschwand danach aus dem Blick der Öffentlichkeit und fand nur noch in späteren Schulbüchern Erwähnung. Atatürk hat nicht wieder geheiratet, aber viele Kinder adoptiert, für deren Ausbildung er sorgte und die er, wie seine Ziehtochter Sabiha Gökçen, zu Musterbildern einer moderneren Türkei machte. Für die Neugestaltung der Gesellschaft, die zu 99% aus Muslimen bestand, setzte Atatürk Zug um Zug Reformen durch, die tiefe Wunden schlugen, unter denen die Türkei heute noch leidet. Die Erneuerungen trafen insbesondere Traditionalisten, Institutionen wie die Derwischorden und den männlichen Anteil der Gesellschaft, während sie den Frauen viele Freiheiten brachten. So zwang die Kleiderreform die Männer dazu, Hüte zu tragen, erlaubte aber Frauen, den çarşaf, das schwarze Ganzkörpertuch, abzulegen. 1925 wurde die Koedukation eingeführt, 1926 mit der Übernahme des Schweizer Zivilrechts die Einehe, 1928 wurde die Polygamie verboten, im selben Jahr, in dem die arabische Schrift abgeschafft und durch die lateinische ersetzt wurde. Atatürk reiste mit Tafel und Kreide durch das Land und erteilte persönlich Unterricht, weshalb sich das Bild eines Lehrers der Nation eingeprägt hat. Zweifellos ist es Atatürk gelungen, dass heute nahezu jeder Türke Bildung als wertvolles Gut erachtet und alles daran setzt, seinen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Mädchen werden in ihrer Schullaufbahn aber immer noch benachteiligt. Die weiblichen Leitbilder, die in diesen ersten Jahren der Republik aufkamen, haben sie – trotz der tiefgreifenden Reformen der letzten 87 Jahre – je alle Frauen, vor allem die Mütter des Landes erreicht? Wie kommt es, dass gerade Frauen, Meisterinnen im Kolportieren von Gerüchten, so wenig von ihren Rechten wissen? An welchen Vorbildern orientieren sich die türkischen Frauen? Haben sie ihre weiblichen Idole und Ideale bewusst gewählt? Als Türkin, in der Türkei geboren und im deutschsprachigen Kulturraum aufgewachsen, erinnere ich mich daran, keinerlei feminine Leitbilder gehabt zu haben. Stattdessen schwebte die schwere Glocke der Tradition und des gebotenen Anstands, wie ein Damoklesschwert, über mir. Als Frau gehörte es sich, gefügig und muslimisch zu sein, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Dieses Ideal ist in der Türkei nach wie vor populär. Vor allem die Mütter träufeln oder bläuen dieses traditionelle Frauenbild ihren Töchtern ein. Insofern gab und gibt es für alle türkischen Frauen, gleich welcher sozialen oder kulturellen Schicht, ein leitendes Motiv für den eigenen Lebensweg: Das Leitbild der eigenen Mutter. Sei es, dass ihre Handlungsanweisungen für die Zukunft unbesehen übernommen werden oder eine unbewusste Rebellion dagegen stattfindet. Die antizipierte oder antipathische Mutterschaft sind in jeder türkischen Frau elementar verinnerlicht. Anatolien, anadolu, bedeutet auf Türkisch „das Land voller Mütter“. Mütter an sich genießen hohes Ansehen. Ein berühmtes türkisches Sprichwort – aus den Hadithen entnommen – besagt, dass das Paradies den Müttern zu Füßen liegt. Schon im Osmanischen Reich bildete „Mutterschaft“ einen großen Mythos. Mütter waren zugleich Heldinnen, wenn sie Söhne für das Land, für das heroische Militär gebaren. Auch heute sind viele erleichtert, wenn sie wenigstens einen Sohn zur Welt gebracht haben. Mit dem Bewusstseinswandel in der Gesellschaft erfahren Töchter zunehmend die gleiche Wertschätzung. Atatürk hat es nie verabsäumt, die Mütter seiner Militärnation zu ehren und hochzuhalten: „Diejenigen, die die Felder pflügten, säten, aus dem Wald Brenn- und Schnittholz holten, Ernteerträge zum Markt brachten und in Geld umwandelten, die den Familienherd am Brennen hielten, bei alldem noch zusätzlich mit einem auf den Rücken gebundenen Säugling, trotz Regens notwendigen Kriegsbedarf zur Front trugen, das sind immer sie, immer die göttlichen anatolischen Frauen gewesen.“ Die anatolischen Frauen aus den ländlichen Regionen sind fleißig, mehr als ihre Männer, die häufig in Teehäusern herumsitzen. Mancher Mann wäre ohne seine betriebsame Frau verloren. Frauen, die innerhalb der Familie gelernt haben, ihre Macht zu behaupten, und aufgrund ihrer Stärke als Mutter und weibliches Familienoberhaupt ein Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Organisation erlernt haben, tragen diese Erfahrung ins öffentliche Leben. Dennoch werden in der patriarchalen Gesellschaftsstruktur der Türkei Frauen ausgebeutet und ins Unrecht gesetzt. In Städten bildeten sich Keimzellen des weiblichen Aufbegehrens, die der türkischen Frauenbewegung Aufwind verliehen. Obgleich die Frauenbewegung in der Türkei moderne und freiere Frauen hervorgebracht hat, die kulturell wie politisch aktiv sind, verspüre ich bei meinen Reisen durch das große Land, dass die aufgeklärten Frauen – ob im westlichen oder islamischen Sinne – eine Minderheit bleiben. Die meisten Frauen, nicht nur in bäuerlichen Regionen, wissen zum Teil nichts von diesen Bewegungen, wissen nicht, welche Rechte ihnen in ihrem Vater-Land zustehen, nicht, welche Rechte ihre Religion gewährleistet, nicht, dass sie eine neue Generation von Töchtern heranziehen, die kaum weiter gehen werden als ihre Mütter. Da sind die Wenigen, die viel zu sagen haben und tatkräftig in der Öffentlichkeit auftreten. Und da sind die Vielen, die sich im öffentlichen Bereich nur optisch präsentieren. Die Gruppe der Wenigen engagiert sich für ihre Rechte, für mehr Gleichstellung und eröffnet als Vorreiter jene verstellten Räume und Möglichkeiten, die von den Vielen erst erkannt und genutzt werden müssen. Seit der Gründung der Republik haben drei bis vier Generationen von Frauen für ihre Besserstellung gearbeitet. Die Türkei befindet sich in diesem Umwälzungsprozess und wird noch Generationen benötigen, bis alle Frauen ihre Möglichkeiten praktisch ergreifen können, ohne dafür Sanktionen erleiden zu müssen. An Beispielen zeigt sich, wie unterschiedlich Frauen diesen Kampf mit und gegen die Gesellschaft aufgenommen haben, welche Lebensformen sie in Zentrum und Peripherie der türkischen Gesellschaft entwickeln. Diese Frauenportraits wollen nicht die Breite türkischer Frauenschicksale skizzieren, sondern Einblicke in ihre Innenwelten, in die Bedingungen von Gebundenheit und Ablösung in der Durchmischung von Tradition und Moderne ermöglichen. **** Das erste Portrait ist einer Frau gewidmet, die zur großen Masse gehört und trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten versucht hat, neue Wege zu gehen. Es handelt sich um meine Tante Hanım, die vor 18 Jahren ihr Dorf verließ, um in Istanbul zu leben. Sie kam mit sechs Kindern; fünf von ihnen Töchter. Ihr Mann kehrte nach kurzer Zeit dem Stadtleben den Rücken und ging ins Dorf zurück, das zwei Autostunden entfernt in der Provinz Sakarya liegt. Hanım konnte in Istanbul bleiben, weil sie im Wohnhaus ihres Bruders ein Appartement umsonst bewohnen durfte. Ihr Mann ließ sie widerwillig gewähren. Die Verwandtschaft äußerte Unbehagen. Eine Frau müsse dem Mann folgen, gehöre immer an seine Seite. Und fünf Mädchen ohne männliches Oberhaupt – so wurde prophezeit – würden mit Sicherheit auf Abwege geraten. Ich erinnere mich an meine Dorfbesuche in ihrem schönen, alten, zweistöckigen Holzhaus. Wie ein leicht verzogener Kubus stand es inmitten des Gartens mit dem anschließenden Maisfeld. Die Hühner liefen frei herum, wir spielten Ball mit ihren vielen Töchtern, die – blond und blauäugig – sich alle zum Verwechseln ähnlich sahen. Ich fühlte mich wohl im Dorf, mochte die reiche Natur und warmherzige Atmosphäre der Menschen untereinander. Hanım wollte weg von dort, weg vom Acker, vom Stall, weg von der dörflichen Enge hinaus in die weite Welt. Das war Istanbul. Ein Moloch voller Gefahren und großer Schönheit. Eine Millionenstadt mit etlichen Schlupfwinkeln, um für kurze Zeit aus dem eigenen, sozial gebundenen Dasein auszusteigen und mit anderen Lebensweisen in Berührung zu kommen. Jenen, die in den Fernsehsendern zelebriert werden. Meine Tante verwies mich einst auf ihren Namen, mit dem sie sich gerne identifiziert: „Hanım“ bedeutet „Fräulein“, auch „Dame“, und passte besser in die Stadt, verlangte den sozialen Aufstieg, den Einstieg in ein städtisch-mondänes Leben. Dies war ihr stiller Beweggrund. Nach außen musste sie andere Motive nennen. Man hätte ihren Auszug nach Istanbul sonst nicht geduldet. Ihrem Mann wie der argwöhnischen Verwandtschaft erklärte sie diesen Schritt mit ihrer Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder. In der Stadt würden sie die Chance erhalten zu studieren. Mit der besseren Ausbildung würden sie angemessene Arbeit finden, ein zeitgemäßes Leben führen; und natürlich mit „Dame“ angesprochen werden. Hanım ist mit dem Kopftuch aufgewachsen und hat es – um nicht über die Stränge zu schlagen – niemals abgelegt. Ihre Töchter sind im Erscheinungsbild junge Istanbulerinnen, gekleidet in Jeans und mit offenen Haaren. Wie gestalten sich Träume? Sie erfüllen sich nicht dort, wo man sie herbeisehnt. Sie tauchen auf, wenn man sie kaum erwarten würde. In den ersten Jahren ihrer Stadterfahrung hatte meine Tante eine Anstellung in einer Kunsthochschule gefunden. Sie sprach in höchsten Tönen davon. Ich begleitete sie zur Arbeit, um ihr eine Freude zu bereiten. Quer durch jene städtische, baumlose Ödnis von Istanbul. Die Hochschule machte keinen einladenden Eindruck auf mich. Hanım war dort Teil einer Putzkolonne. Und während Sie mir eine Führung durch „ihre“ Räume gab, spürte ich, wie sie sich als Teil eines Höheren empfand. Ehrfurchterfüllt stand sie vor Kunst-Exponaten, die mich nicht sonderlich ansprachen. Für sie jedoch waren sie Ausdruck einer fremden Sprache, die sie nicht dechiffrieren konnte. Das Merkmal einer höheren Zivilisation. Natürlich verabsäumte sie es nicht, mich darauf hinzuweisen, wie sorgfältig sie die Böden reinigte und besonders achtsam war, nichts zu beschädigen. Mir fiel auf – und das imponierte mir am meisten –, dass sie mit dem restlichen Reinigungspersonal in einer nahezu höfischen Manier und Vornehmheit sprach. Ihren Vorgesetzen, den Vorarbeiter der Putztruppe, sprach sie mit bey-efendi an, ihre Kolleginnen waren hanım-efendis, ihr Umgang untereinander von Respekt geprägt. Sie fühlte sich dort sehr wohl, sie war angenommen und angekommen. Genau dieses Gefühl hatte ihr die Familie stets versagt. In den Städten erachten sich viele türkische Frauen als privilegiert, eine Hausfrau zu sein, insbesondere wenn ihr Mann ein gutes Einkommen hat. Frauen, deren Männer kein Geld nach Hause bringen, fällt es oft schwer, ihre Situation zu verändern. Instinktiv halten sie sich von der anonymen Öffentlichkeit fern und geben vor, nur im häuslichen Umfeld ein unfehlbares Leben führen zu können. Sie suchen keine Arbeit. Sie verlassen sich auf die Unterstützung seitens der Großfamilie. Der Islam gewährt Frauen das Recht zu arbeiten, wenn sie es möchten. Im Gegensatz zum Mann sind sie nicht dazu verpflichtet. Eine Frau kann auswärts tätig sein oder selbständig Geschäfte machen, wie Hatidscha, die erste Frau des Propheten, eine erfolgreiche Kauffrau war. Frauen mangelt es meist an nötigem Selbstvertrauen, im chaotischen türkischen Geschäftsleben ihre Frau zu stehen. Sie ziehen es vor, von zuhause aus tätig zu sein und mit Näh-, Textil- und Handarbeiten etwas dazu zu verdienen. Nicht selten werden jene Frauen, die ein kleines Maß an ökonomischer Freiheit erlangen, von anderen beneidet. Argwohn und Missgunst gesellen sich hinzu, wenn eine türkische Frau obendrein aus den gewohnten, vorgesehenen Pfaden ausschert. Hanım blieben Intrigen und Lästerungen nicht erspart. Wie könne sie alleine, noch dazu abends quer durch Istanbul fahren? Wie könne sie ohne ihren Mann – und das bedeutet auch ohne den legitimierten Geschlechtsverkehr – bleiben? Unmöglich sei es, ihre Töchter im Auge zu behalten, deren Ehre und Anstand zu bewahren. Ihrem Sohn wurde unausgesprochen die Rolle des männlichen Hüters zugewiesen. Unter dem enormen Druck der Verwandtschaft glaubte er schließlich an das ständige Gerede. Er suchte keine Wahrheit. Er beschimpfte seine Schwestern und seine Mutter, die sich für ihre Mädchen einsetzte. Sechs Frauen gegen einen Mann – das bedeutet auch Überlegenheit. Die Frauenfront verweigerte die Unterwerfung unter seinen Willen. Die Auflehnung blieb jedoch ein trauriger Triumph. Auseinandersetzungen dieser Art sind in türkischen Familien sehr verbreitet. Sie absorbieren und binden einen Großteil der Energien, drücken auf den Boden vermeintlicher Tatsachen. Zumeist bleiben sie ungelöst, da Recht gegen Recht steht. Welches Vergehen ist schlimmer zu bewerten? Die Mutter, die ins Gerede kommt, oder der Sohn, der die eigene Mutter schlecht behandelt? Aussagen über eine Person haben in der türkischen Gesellschaft, zumal aufgrund der alten oralen Tradition des Landes, eine enorme Macht. Niemand ist gefeit vor der vernichtenden Kraft des Geredes, selbst Personen höherer Schichten nicht. Die Konsequenzen solcher Gerüchte treffen die Frauen indessen härter, da Männer im patriarchalen System besser abgefedert sind. Eigenständigkeit und wachsende Selbstsicherheit – dafür steht türkischen Frauen in erster Linie ihre Familie im Weg. Die Sippe. Der Familienverband. Die Nachbarschaft. Der Bekanntenkreis. Mit Argusaugen beobachten sie jeden Schritt, den die Frau tätigt, heften sich als drückende Schatten an ihre Fersen. Das Festhalten an der dienenden, sich einordnenden Position der Frau schlägt sich im freien Arbeitsmarkt nieder. Mit seiner theoretischen Chancengleichheit stellt er jedoch wesentlich weniger Hindernisse in den Weg als verurteilende Denk- und Glaubensmuster. Den Töchtern von Hanım ist der gesellschaftliche Aufstieg im Vergleich zur bäuerlichen Existenz gelungen. Sie würden aber nicht behaupten, dass sich ihre Lebensqualität tatsächlich verbessert hätte. Die Schulzeit ist absolviert. Keiner gelang der Schritt zur höheren Ausbildung, dem ursprünglichen Traum ihrer Mutter. Zwei der Mädchen arbeiten, zwei sind Hausfrauen und haben Kinder. Nur die Jüngste, Melek, versucht, den Weg Hanıms weiterzugehen. Ihr Name scheint Programm zu sein. „Melek“ bedeutet auf türkisch „Engel“. Für ihre Mutter und für sich selbst hat sie ihre Schwingen ausgebreitet. Hinaus in die weite Welt. Gegen den Willen der Sippschaft, gegen alle Widerstände seitens ihrer Schwestern ging sie fort, überzeugte allein ihre Mutter mit dem Argument, sich weiterbilden zu wollen. Zum ersten Mal in ihrem Leben setzte sie sich in ein Flugzeug, flog nach England, um als Au-Pair-Mädchen eine fremde Sprache zu lernen. Hanım, die mutig versucht hat, ein eigenes, unabhängiges Leben als Frau und Mutter aufzubauen, ist indes unter dem jahrelangen moralischen Druck der Sippschaft krank geworden. Sie kann, schwer übergewichtig, heute nicht mehr arbeiten. ***** Meine Freundin Ebru entstammt der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht. Sie wuchs in Ankara auf, in einem homogenen Milieu gebildeter Leute. Ihre Eltern sind ChemieIngenieure, zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Ärzte, Architekten, Professoren, mit deren Kindern Ebru ihre Jugend verbrachte. Es war selbstverständlich, dass sie und ihre jüngere Schwester studieren und einen Beruf ergreifen. Ebru besuchte das amerikanische College in Ankara und entschied sich für das Studium von Grafik-Design. Der nächste Schritt war Istanbul, Zentrum der Medienlandschaft. Das Ziel, eine Anstellung in einer renommierten Werbeagentur. Ebrus Wunsch, alleine nach Istanbul zu gehen, führte ihre Eltern in einen schweren Konflikt. Sie hatte zwar ihre Wertvorstellungen verinnerlicht. Selbstständig sein, auf eigenen Füßen stehen, das Leben in die Hand nehmen. Zugleich war sie als Mädchen behütet aufgewachsen. In einem geschützten Umfeld, fern von unnötigen Gefahren, schlechter Gesellschaft. Ebrus Eltern mussten vor allem mit sich selber kämpfen und respektierten letztlich die Entscheidung ihrer Tochter. Ebru hat ein spitzbübisches Lächeln. Sie ist eine Frau, die sich ihre Herausforderungen selber wählt. Nach fünf Jahren Medienerfahrung entschloss sie, in das Familienunternehmen ihres Großvaters einzusteigen. In kürzester Zeit baute sie in Istanbul eine Filiale für die Vermarktung von medizinischen Laborinstrumenten auf. Mit inzwischen acht Angestellten wächst ihr Unternehmen stetig weiter. Eine neue Zweigstelle soll in Izmir eröffnet werden. Ihre Karriere als Geschäftsfrau bedeutet für Ebru Selbstverwirklichung. Eine Frau müsse zuallererst selbständig und unabhängig sein. Erst danach kommt der Mann fürs Leben. Ebru wohnte ein Jahr mit ihrem Freund zusammen, bevor sie heirateten. Noch haben sie kein Kind in die Welt gesetzt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie auch die Herausforderungen der Mutterschaft annehmen wird. Ebru schätzt und achtet den Wert der Familie. Im ersten Portrait zerbrach eine Frau an der Übermacht der Großfamilie. Ebru ist ein Beispiel für den produktiven Familienzusammenhalt. Der Rückhalt ermöglicht es Frauen, ihre Potentiale zu entfalten, ihre Laufbahn einzuschlagen. Die türkische Verfassung unterstützt diese Bestrebungen durch die grundsätzliche Chancengleichheit. Im Arbeitsleben muss die Frau ihre Rolle jedoch stets aufs Neue erringen und befestigen, wie es auch in westlichen Gesellschaften der Fall ist. 1926 übernahm die Türkei mit dem Schweizer Zivilgesetz einen Paragraphen, der es Frauen nur mit Zustimmung ihres Mannes gestattete, eine Arbeitsstelle anzunehmen. 2002 hat die regierende AKP diesen Passus aufgehoben. So kontrovers die Türkei in Bezug auf Gesellschaft, Verfassung und politische Ideologien diskutiert wird, unbestreitbar steht türkischen Frauen der Weg offen bis hin zu Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik, im Bildungssektor oder Dienstleistungsbereich. Dem äußeren Anschein nach haben sich Türkinnen bereits mit der finanziellen Unabhängigkeit wesentlich größere Freiräume eröffnet als im traditionellen Kontext. Mit Ebru gehen wir gerne allein oder in einer Gruppe von sexy gestylten Freundinnen aus. Ohne männliche Begleitung. Bis in die frühen Morgenstunden tanzen wir, unbelästigt im luxuriösen Nachtleben Istanbuls. Wenn wir keine Lust auf ein Restaurant haben, ist es oft Muzo, ihr Mann, der uns mit sichtlichem Vergnügen ein Essen zubereitet. Solches entspricht nicht der Regel. In dieser wie in höheren Gesellschaftsschichten der Türkei lassen sich unzählige Relikte und Spuren finden, die zeigen, mit welcher Macht die überkommene Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau sich unter der Oberfläche behauptet. Hülya Avşar, die jeder Türke kennt, ist ein gutes Beispiel. Sie ist Schönheitskönigin, FilmIkone und Sängerin, gibt ein Frauenmagazin heraus, hat eine eigene Fernseh-Show und lebt den Frauen ein Leben vor, wie jede es gerne hätte. Mit ihrer Heirat vermittelte sie das Bild eines perfekten modernen Lebens als Frau, später auch als Mutter. Ihr Mann betrog sie jedoch und wiederholt kamen sie in die Schlagzeilen. Sie verzieh ihm, öffentlich und mehrmals. Damit blieb sie lange dem traditionellen Rollenbild treu. Diese Geste ist Frauen aus niederen Schichten eigen, die keine Möglichkeit haben, sich von ihrem Mann zu trennen. Der Volksmund rät, für die Familie alles zu tun. Die Frau soll die stets Vergebende, Verzeihende sein, sich für ihre Familie aufopfern, ihr Heim unter allen Umständen zusammenhalten. Hülya Avşar hat sich spät aber doch von ihrem Mann scheiden lassen. Die Macht der Medien auf das Frauenbild in der heutigen Türkei lässt sich kaum überschätzen. Mädchen und Frauen stehen unter dem Einfluss türkischer Fernseh-Serien, die ihnen als Trost, Traum oder Tranquilizer dienen. Musikshows sind sehr beliebt. Sängerinnen volkstümlicher oder klassischer Musik erfahren hohe Wertschätzung. Weibliche Popstars und Rapperinnen, die mit aufreizenden Videos männerkritische Botschaften transportieren, werden dagegen selten in ihrer Kunst verstanden und häufig in die Nähe von Prostituierten gerückt. Die Medialisierung der türkischen Gesellschaft hat mehr Transparenz ermöglicht. Die Aufweichung starrer Muster. Gleichwohl stellt sie völlig unterschiedliche Lebens- und Denkformen in geradezu chaotischer Manier nebeneinander. Die meisten Zuschauer sind im Grunde verwirrt durch die vielen Programmangebote. Sie entwickeln keine innere Haltung zur Überfülle, sie begrenzen sich auf bestimmte Sender. So wird jeweils nur ein beschränkter Ausschnitt der Gesellschaft wahrgenommen und viel Unverstandenes bleibt zurück. Bevor Ebru nach Istanbul zog, wusste sie kaum etwas von der Lebenswirklichkeit anderer Bevölkerungsschichten. Heute wohnt sie im europäisch angehauchten Stadtteil Cihangir, in einer freizügigen Atmosphäre mit Cafés und Bars. Innerhalb Istanbuls bewegt sie sich ausschließlich in Bezirken, die westlich, modern und chic sind. Zuweilen scherzt sie, sie lebe in einem offenen Getto. Selbstbestimmtheit, Erfolg, Unabhängigkeit. Solcher Wandel im Leben der türkischen Frau betrifft nur eine Minderheit. Die versteht sich allerdings als Elite des Landes. Frauen, die ihr neues Selbstbewusstsein ins politische Leben übersetzen, gleichsam an der Front die Feinarbeit machen, kommen eher aus der bürgerlichen Mittelschicht. Die reiche Oberschicht genießt meist auf sich bezogen ihren hohen Lebensstandard und führt auf diese Weise das idealisierte Frauenbild vor. ***** Bejan ist eine Dichterin. Ihre mythisch durchtränkte Sprache zeichnet Bilder von archaischen Landschaften und anatolischen Frauen. In ihren fünf Gedichtbänden verbindet sie heidnische und islamische Elemente mit der Suche nach Identität. Bejan wurde in der alten Hethiter-Stadt Maraş im Südosten der Türkei in eine kurdisch-alevitische Familie hineingeboren. Von ihrer Mutter, die eine Schamanin ist, lernte sie den reichen Märchenschatz ihrer Kultur und den Bezug zur Natur kennen. Von ihrem Vater, der Kemalist war, übernahm sie die Liebe zur türkischen Nation. In der Grundschule, erinnert sich Bejan, war der Kult um Atatürk dermaßen groß, dass sie ihn für ein göttliches Wesen hielt. Sie stellte sich vor, wie er auf einem geflügelten Pferd in die Lüfte stieg, ähnlich wie der Prophet, der auf dem mythischen Reittier Burak seine Himmelsreise antrat. Was Bejan zur Schriftstellerin werden ließ, war allerdings eine traumatische Erfahrung. Ich erspürte es an einem Nachmittag, da ich Bejan überreden konnte, gemeinsam in die Sauna zu gehen. Für gewöhnlich besucht sie nicht einmal den türkischen Hamam. Sie kannte die Rituale der Sauna nicht. Nach dem ersten Gang nahm ich den Schlauch mit eiskaltem Wasser in die Hand und spritzte mich damit ab. Sie sah mir zu. Sie lehnte es ab. Keine Berührung mit dem Wasser. Es wird deinem Körper gut tun, sagte ich. Sie flüsterte mit zittriger Stimme, sie könne es nicht ertragen. Ich ahnte nur, worum es ging. Später fand sie Worte und öffnete sich mir. Es würde sie an ihre Festnahme erinnern, an die Untersuchungshaft, die Zeit der Ungewissheit, die sie fast ein Jahr unschuldig im Gefängnis verbringen musste. Bejan studierte in Ankara Rechtswissenschaften. Sie war mit Studenten kurdischer Herkunft befreundet, die sie regelmäßig traf. 1988, acht Jahre nach dem Militärputsch, herrschte in der Öffentlichkeit nach wie vor eine verhalten-gedämpfte Stimmung. In einer Blitz-Razzia wurden über zweihundert kurdische Studenten festgenommen und verhört. Man beschuldigte Bejan, Kontakte zur verbotenen PKK zu haben. Man konnte ihr nichts nachweisen. Sie wurde ins Frauengefängnis gebracht. Unter miserablen Bedingungen vergingen viele Monate des Wartens – Stunden, Tage und Nächte, in denen sie sich dem Tode nahe wähnte, einen Freispruch schon nicht mehr erwartete. Auf Drängen ihres Vaters schloss Bejan nach ihrer Freilassung das Studium in Ankara ab. Ihre Anwaltslizenz hat sie nie ausgeübt. Sie ging nach Istanbul. Ein neues Leben sollte beginnen. Die Schatten ihrer Inhaftierung nisteten sich darin ein. Sie schrieb sie von der Seele, schrieb tage- und nächtelang, unermüdlich jene Gedichte, für die sie gleich mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Ich habe Bejan über ihre Gedichte kennen gelernt, die ich zur Übersetzung ins Deutsche und Französische vorgeschlagen hatte. Als ich sie traf, umhüllte uns sofort eine warme, vertraute Atmosphäre. Wir sprachen oft ohne Worte, wie Frauen, die ein verwandtes Schicksal teilen. Beide waren wir geübt darin, Dinge nicht direkt beim Namen nennen zu dürfen, sie in eine poetische Sprache zu kleiden, um die nackte Wahrheit erzählen, ertragen – oder auch schützen zu können. Trotz ihrer märchenhaftmythischen Aura sind die Gedichte Bejans, wie wir rückblickend erkannt haben, auch politische Aussagen. In der traditionellen türkischen Kultur hat das Wort der Frau kein Gewicht, zumal nach außen hin. Die Scharia, das Rechtssystem im Osmanischen Reich, sah vor, dass die Zeugenaussage einer Frau nur halb so viel Wert hatte wie die eines Mannes. Es bedurfte daher stets zweier Frauen, um zu einer gültigen Aussage zu kommen. Mit der neuen türkischen Verfassung unter Atatürk wurde die Frau dem Mann in Rechtsfragen gleichgestellt. Sie erhielt ein Stimmrecht und bereits 1934 war die türkische Frau im Besitz des passiven und aktiven Wahlrechts. Der Prozentsatz der Beteiligung von Frauen in der Politik lag in den Anfangsjahren der Republik bei 5 %. Heute liegt er ein wenig darüber. Mehr und mehr Frauen in der Türkei erheben ihre Stimme. Sie beziehen Stellung, sind kritisch in der politischen Arena, der Literaturlandschaft, den Medien, im häuslich-familiären Bereich. Diese erfreuliche Entwicklung ist selten der gewöhnlichen Erziehung geschuldet. Wie die meisten ihrer Generation durfte meine Mutter in der Gegenwart ihres Vaters zwar sprechen, aber nichts sagen, das ihm missfallen hätte. Es war verboten zu widersprechen. Auch der Mutter. Bis heute gilt dies als respektlos gegenüber der Autorität von Eltern und Älteren. In muslimisch geprägten Familien soll zudem die weibliche Stimme für fremde Männer nicht hörbar sein. Frauen haben dieses Gebot dermaßen internalisiert, dass ich häufig erlebe wie fröhlich ausgelassene Frauenrunden sofort verstummen, sobald ein Mann, sei es auch ein Verwandter, herannaht. Wie im Reflex werden die Kopftücher neu gebunden. Schnell die Sitzhaltung zurechtgerückt. Die Unterhaltung geht mit dem neu Eingetroffenen weiter, aber nur im Rahmen dessen, was sich gehört. Seit etwa vier Jahren schreibt Bejan regelmäßig für türkische Tageszeitungen wie Zaman und Radikal. Ihr Augenmerk liegt auf politischen und kulturellen Fragen des Landes. Für ihre Positionierungen wird sie gelobt wie auch scharf verurteilt. Sie versteht sich als Anwältin, die zwischen den sprachlosen Gefühlswelten kurdischer, alevitischer und türkischer Herkunft zu vermitteln sucht. Vor einem Jahr hat sie in Diyarbakır, dem Zentrum der Kurdenregion, eine Kulturstiftung mit initiiert. Neben internationalen kulturellen Veranstaltungen plant sie dort Symposien für und über die anatolischen Frauen. Die Zusammenkunft von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, insbesondere aus dem Osten, soll an den hohen Stellenwert der Frau für die Kultur erinnern, ihre Ahninnen, die Muttergottheiten Mesopotamiens ins Gedächtnis rufen. Ich fragte Bejan, ob sie in ihrer Jugend türkische weibliche Leitbilder hatte. Sie verneinte. Latife Hanım oder Sabiha Gökçen kannte sie aus ihren Schulbüchern. Jene Kürzestversion, wie sie auch mir vertraut war. Zu wenig, um ein lebendiges Idol aus ihnen zu machen. Wie viele andere Frauen lehnte Bejan es später ab, Sabiha Gökçen als eine moderne Vorzeigetürkin anzuführen. Zwar hatte sie mit ihrer Balkanreise 1938 – sie flog mehrere Hauptstädte alleine an – Weltgewandtheit demonstriert und damit Atatürks Wunsch erfüllt, als türkische Frau starke Signale nach Europa zu setzen. Aber das zähle nicht angesichts der Tatsache, dass sie als erste weibliche Kampfpilotin der Welt Bomben auf das Kurdengebiet abgeworfen hatte. Eine wahrhaft moderne Frau, meint Bejan, müsse in erster Linie humanistisch aufgeklärt sein. Sie würde nicht einen Teil ihres eigenen Volkes auslöschen. Um die richtigen weiblichen Leitfiguren zu finden, müsse noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Seit seinem Bestehen hat der politisch aktive Feminismus über eine halbe Million Frauen mobilisiert. Verfassungsänderungen sind diesen Bewegungen zu verdanken. Der Bewusstseinsstand in Bezug auf Frauenfragen ist türkeiweit gestiegen. Dennoch wissen Frauen kaum Bescheid um ihre Rechte, etwa im Familien- und Ehegesetz. Auch die traditionelle religiöse Erziehung lässt Frauen in diesen Belangen meist in Unwissenheit. Türkische Frauen neigen dazu, sich mit Eheproblemen abzufinden. Im Glauben es sei normal, erdulden sie sogar Gewalt. In schlimmen Fällen kehren sie in das Haus ihrer Eltern zurück. Der wirtschaftliche Faktor lässt Frauen in Ausweglosigkeit verharren oder erneut heiraten. Die Fügung ins Schicksal stellte früher die einzig bekannte Verhaltensweise dar. Sie bietet den Vorteil, gesellschaftlich anerkannt zu sein. Heute haben Frauen auch in entlegenen Gebieten zumindest die Ahnung, dass sie das vorgeschriebene Lebensmodell mitmodellieren, gar verändern könnten. Unterstützung dürfen sie für gewöhnlich nur außerhalb der Familie erwarten. Frauenorganisationen wie MOR ÇATI, KADER und KAMER bieten Frauen Schutz und Zuflucht, wenn sie es wagen, ihr häuslich-familiäres Umfeld zu verlassen. Im Islam hat die Frau an sich einen hohen Stellenwert. Sie ist ein kostbares Gut, denn sie gebärt die Nachkommenschaft. Als körperlich schwächeres Geschlecht soll sie unbekannten Männern verborgen bleiben. Schwangere verdienen Schutz und Entlastung, Mütter Sicherheit und Geborgenheit, in der sie ihre Kinder erziehen können. Dem Mann ist aufgetragen, seine Familie zu beschützen und zu versorgen. Verkündete und gelebte Religion fallen bekanntermaßen auseinander. Viele Frauen sind mit der Rollenaufteilung in muslimischen Familien glücklich. Bei den Problemen, die das moderne Leben aufwirft, stellen die vorgegebenen Normen oft eine psychische Entlastung dar. Der Schutzraum der Frau wird im patriarchalen System jedoch missbraucht, von Vätern und Müttern gleichermaßen. Türkische Mädchen wachsen mit einem Verhaltenskodex auf, der sie mit unsichtbaren Mauern umstellt. Die Hysterie, mit der ihre Jungfernschaft geschützt wird, erinnert an ein Pulverfass, das in Verwahrung genommen und schnell unter Dach und Fach gebracht werden muss. Junge Bräute, die noch traditionsgemäß im Haus der Schwiegermutter wohnen, ziehen häufig in ein gesellschaftlich geschmücktes Gefangenenhaus. Heiraten ist ein Glücksgeschäft. Wenn die Frau Pech hat, wird sie in eine repressiv dienende Rolle gezwängt. Im Haushalt arbeiten, dem Mann zur Verfügung stehen, Kinder gebären. Vier von zehn Frauen, heißt es in einer Studie, erfahren von ihren Männern körperliche Gewalt. Die Besitznahme des weiblichen Körpers ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es entmündigt die Frauen. Stellt sie suggestiv still, indem ihnen diverse Schutzmäntel – ein schönes Heim etwa – umgelegt werden. Für die meisten türkischen Frauen hat dieser Schutzraum eine tragische Dimension. Sie werden darin aus ihrem Körper hinausgeworfen. Das Recht, über ihren Körper zu bestimmen, wird ihnen ebenso entzogen wie das Recht, ihren Mund zu öffnen. Es erinnert mich an das türkische Wort „koğuş“. Seine Bedeutungen kreisen um den „Gemeinschaftsraum“, zum Beispiel in Heimen und Internaten, Krankenstationen und Kasernen, Unterrichtszimmern und Gefängniszellen. In solchen Räumen ist man geschützt und zugleich abgesondert, isoliert. So bedeutet „koğuş/kovuş“ auch schlicht „Rausschmiss“. Die Suspendierung von der Gesellschaft, dem aktiven öffentlichen Leben. In der Zeit ihres Gefängnisaufenthalts hat Bejan Frauen kennen gelernt, die aufgrund politischer Äußerungen inhaftiert waren. Sie sah auch Frauen, die wegen Ehebruch einsitzen mussten. Frauen, die sich gegen Übergriffe ihrer Männer gewehrt und sie getötet hatten. Frauen, die aus Verzweiflung Diebstahl begangen, weil ihre Männer sie nicht versorgten. Frauen, die verwaist oder verarmt in die Prostitution getrieben worden waren. Es erscheint als bittere Ironie, wenn Frauen sich dem männlichen System mit seinen Versprechungen beugen und zu Opfern dieses Systems werden. Während einer Recherche über Straßenkinder in Istanbul wurden mir verschiedene Heimstätten gezeigt, die erwartungsgemäß trist waren. Die der Mädchen erschreckte mich über alle Maßen. Ein Haus mit massiv vergitterten Fenstern. Man konnte weder hinein noch hinaus. Mein erster Gedanke: Die Mädchen sind von einem Gefängnis geflohen und in ein neues eingesperrt worden. Die Polizei sammelte in der Nacht Kinder und Minderjährige ein, beförderte sie in Waisenhäuser. Für Volljährige übernimmt der Staat keine Verantwortung mehr. Viele landen zwangsläufig dort, wo man sie aufgegriffen hat. Die jungen Männer schlafen auf der Straße, laufen herum und sehen ein gewisses Maß an Freiheit darin. Straßenmädchen ist das versagt. Ich erfuhr nur, dass sie sich äußerst vorsichtig an vereinbarten Plätzen treffen. In den Straßen machen sie sich unsichtbar. Das ist ihr selbst geschaffener Schutzraum. ***** Fatma habe ich in den Sommerferien kennen gelernt, die wir jedes Jahr bei meinen Großeltern im Dorf verbrachten. Ich muss dreizehn Jahre alt gewesen sein. Sie kam mit ihrer Mutter, um meiner Mutter einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Wir mochten uns auf Anhieb. Fatma war quirlig, quicklebendig, quasselte ununterbrochen, forderte mich mit Wortspielen heraus. Als ihre Mutter aufbrach, war ich zutiefst betrübt. Wir wollten uns nicht trennen. Da sagte ihre Mutter, komm doch ins Sommer-Internat, wo Fatma eingeschrieben ist. Ihr könnt zusammen sein und du lernst nebenbei etwas. Ich war begeistert. Meine Mutter ebenfalls. Und so war es entschieden. Fatma strahlte und küsste mich zum Abschied, umhüllte ihren kleinen Körper mit dem çarşaf, dem schwarzen Ganzkörpertuch, und ging, auf mich zu warten. Koranschulen für Mädchen sind beliebte Reservate. Für die Mädchen ist es ein Gefühl von Urlaub, weg von den Eltern. Für die Eltern ist es eine Beruhigung, ausreichend für die Bildung ihrer Töchter gesorgt zu haben. Sicherlich gibt es Qualitätsunterschiede in der Vermittlung des Wissens. Im Allgemeinen wird an diesen Schulen jedoch nur eines gelehrt: Den Koran lesen. Und das im buchstäblichen Sinne. Der Koran wird auf arabisch rezitiert, die Mädchen erhalten aber keinen Arabisch-Unterricht. Ihnen wird kein authentisches Wissen vermittelt, das auf dem Heiligen Text selbst basiert. Was sie lernen sollen wird im Internat vorgelebt. Anstand, Scham, Unterwürfigkeit. So haben sich Frauen zu verhalten. Ein Mädchen, das den ganzen Koran auswendig gelernt hat, wird hafız hanım genannt. Diese Auszeichnung wiegt für ihre Familien oft mehr als ein Universitätsabschluss. Das Mädchen musste an keinem Punkt der Erziehung ihr Kopftuch ablegen und gilt daher als besonders rein. Mir machte das Internat ungemein viel Spaß, obwohl die Lehrerin mir gegenüber herablassend war. Für sie gehörte ich zu den verwestlicht-verlorenen Mädchen. Ihr war klar, ich würde das Kopftuch nach zwei Wochen bei ihr wieder ablegen. Dabei fand ich Gefallen am çarşaf, den wir immer anlegen mussten, wenn wir auf die Straße gingen. In der sengenden Hitze kühlte er den Körper auf angenehme Weise. Während den Koran-Rezitationen waren Fatma und ich ernst bei der Sache. Die Lehrerin war streng, erlaubte keine Verspieltheiten. Beim gemeinsamen Kochen ging es umso lustiger zu. Am Abend erzählten sich die Mädchen von den Stockbetten herab ihre Träume. Fatma wusste damals schon, dass sie Lehrerin werden wollte. Keine Koranlehrerin. Eine Gymnasiallehrerin. Fatma hat in Trabzon am Schwarzen Meer studiert und unterrichtet heute in einer Privatschule Türkisch und Mathematik. Nach dem Unterricht setzt sie ihr Kopftuch wieder auf und fährt mit ihrem Landrover nach Hause zu ihrer einjährigen Tochter. Seit ihrer Geburt kümmert sich Fatmas Mutter um die Kleine. Fatma hatte nach vierzig Tagen, die traditionell als kritische Zeit für Mutter und Kind gelten, ihre Arbeit wieder aufgenommen. Im neoliberalen System der Türkei ist das ein relevanter Grund, warum Frauen auf dem freien Markt wettbewerbsfähig und erfolgreich sind. Fatmas Mann ist im Bildungssektor tätig. In Anlehnung an das Gedankengut von Fetullah Gülen baut er weltweit Privatschulen auf, die mit islamischem Ethos eine liberale, muslimische Intelligenz fördern sollen. Das muslimische Mosaik der türkischen Gesellschaft setzt sich aus zahlreichen Strömungen zusammen. Die Aufteilung in Sunniten und Aleviten verdeckt wie viel mehr Unterschiede vorhanden sind. Meine Eltern zum Beispiel orientieren sich am staatlich gelenkten Islam. Sie halten sich von überstrengen Muslimen fern. Meine Mutter lehnt in Kleidungsfragen den çarşaf ab. Er sei konservativ und entspreche den Fundamentalisten. Auch die gängige Mantelvariante gefällt ihr nicht. Sie zieht bunt bedruckte Kleider und Kopftücher vor. Den aufgedonnerten Muslimas mit ihren turbanförmigen Verschleierungen traut sie nicht. Aleviten kennt sie keine. Die mystischen Strömungen des Islam, die Derwischorden ebenso wenig. Bewegungen wie Süleymancı, Nurcu, Milli Görüş sind ihr nicht geheuer. Zu den muslimischen Intellektuellen findet sie keinen Zugang. Im allgemeinen Aufschwung des Islam fühlt sie sich aber gut aufgehoben. Man spricht von einer Re-Islamisierung des Landes. Nicht seit islamisch ausgerichtete Parteien an der Regierung sind, sondern vielmehr seit muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, in die Öffentlichkeit treten. Sie gab es schon vorher, doch jetzt sind sie sichtbar geworden. Ihr Bildungsstand erlaubt diesen Frauen höhere Positionen in der Gesellschaft einzunehmen. Selbstbewusst treten sie auf, erheben ihre Stimme in politischen Belangen, setzen sich für ihre Rechte ein und wollen ihr Land mitgestalten. Zugleich hat sich das Erscheinungsbild im öffentlichen Raum verändert. Junge Muslimas werden von ihren Verlobten in Cafés ausgeführt. Familien spazieren oder picknicken in Parks. Wohlhabende Frauen kaufen in edlen Boutiquen teure Seidenkopftücher. An den Stränden tauchen Frauen mit Ganzkörper-Badeanzügen ins Wasser. Frauengruppen sitzen in Teehäusern und rauchen Wasserpfeife. Tatsächlich hat eine gesellschaftliche Öffnung stattgefunden. Jeder möchte neugierig an diesem Trend teilhaben. Die älteren Frauen rühren mich besonders. Wenn sie scheu und mit großen Augen in einem Familienrestaurant sitzen, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen und einfach bemüht sind, alles richtig zu machen. Die Wertschätzung der eigenen Tradition und Kultur erlaubt es, moderne Gedanken und Lebensformen zu integrieren. Sie können angeeignet, verwandelt, weiter entwickelt werden. Impulse von vertrauten Menschen werden leichter umgesetzt. Mit Fatma ist es eine Freude, über islamische Fragen zu diskutieren, da sie sehr kundig und offen für neue Ideen ist. Sie fand Gefallen am Vorschlag, den Koran neu ins Türkische übertragen zu lassen, und zwar von Frauen, mit ihrer Interpretation und Sprache. Fatma gehört zu den wichtigen muslimischen Türkinnen, die nicht über Medien wirken, sondern direkt in ihrem Familien- und Bekanntenkreis. Wenn Fatma meine Mutter im Hinterland des Schwarzen Meeres besucht, verhält sie sich wie eine Tochter oder Schwiegertochter. Sie nimmt ihr jede Arbeit aus der Hand. Fatma bereitet den Tee zu, deckt den Tisch, spült nachher das Geschirr. Meiner Mutter gefällt das. Es gehört für sie zur alten Schule. Sie hat Fatma ins Herz geschlossen, da sie trotz ihrer Bildung nicht eingebildet ist. Sie darf meiner Mutter alles sagen. Meine Mutter hat die Angewohnheit, mit ihrer großperligen Gebetskette jeden Tag tausend Mantren, wie Allah oder La-ilahe-illallah zu rezitieren. Es ist keine muslimische Pflicht, nur eine Fleißaufgabe fürs Jenseits. Fatma nimmt sie gerne auf den Arm: Tante, du stehst mit einem Fuß bereits im Paradies! Noch tausend Mantren mehr und du hebst womöglich ab. Literaturhinweise: Hülya Adak u.a.: So ist das, meine Schöne, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2009 Ipek Çalışlar: Mrs. Atatürk Latife Hanım, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2008 Bejan Matur: Winddurchwehte Herrenhäuser. Gedichte, Édition Phi, Luxemburg 2006 Nermin Abadan-Unat (Hrsg.): Die Frau in der türkischen Gesellschaft, Dagyeli Verlag, Frankfurt 1985