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Qualitätssprung trotz Sparzwang
Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) macht's möglich – Gespräch mit
Prof. Dr. Reinhard Hilke, Leiter des Psychologischen Dienstes der BA
Report Psychlogie: Die Bundesanstalt beschäftigt mehr als 450 Diplom-Psychologen und ist
damit größter Arbeitgeber für diese Berufsgruppe in Deutschland. Welche Anforderungen
stellen Sie an Bewerber und umgekehrt – was macht die Arbeit bei der BA für Dipl.Psychologen so interessant?
Prof. Dr. Reinhard Hilke: Wir brauchen Leute mit guten diagnostischen Fähigkeiten, möglichst umfangreichen Kenntnissen in der Klinischen und der ABO-Psychologie sowie der Pädagogischen Psychologie. Von daher bin ich sehr froh, dass die Diagnostik gegenwärtig eine
gewisse Renaissance erfährt. Länder wie die USA, Großbritannien und die Niederlande sind
uns um einiges voraus, was die Entwicklung mathematischer Modelle und der Methodik der
Testkonstruktion betrifft. Wer bei uns arbeitet, muss bei dem in der Regel einmaligen Kontakt mit einem Klienten dessen berufliche, familiäre und soziale Situation erfassen, die Probleme strukturieren und nach kurzer Zeit Vorschläge zu ihrer Lösung machen können. Wir
mussten uns in einigen Fällen von Psychologen trennen, die genau an dieser Stelle versagt
haben. Die Anforderungen sind also hoch. Auf der anderen Seite gibt es kein Tätigkeitsfeld
von vergleichbarer Vielfalt, was die Menschen angeht, mit denen ein Psychologe bei uns beruflich zu tun hat. Das gilt für die Altersstufen, den Bildungsgrad und die Verschiedenartigkeit von Behinderungen. Unsere Klienten sind zwischen 14 und 50 Jahre alt, reichen von der
Hilfskraft bis zum Manager im mittleren Management, von Hauptschul- bis zu Hochschulabsolventen; sämtliche Behinderungsarten kommen vor. Das ist eine Herausforderung...
...und aus meiner Sicht zugleich eine Beschränkung, lässt diese Aufgabenstellung Spezialisierung doch kaum zu.
Spezialisierung ist fast nicht möglich. Allerdings haben wir jetzt bei Blinden und stark Sehbehinderten sowie bei Tauben und stark Hörbehinderten ein Stützpunktsystem eingerichtet.
Diese Menschen werden nur noch in bestimmten Arbeitsämtern untersucht und beraten. Wir
haben das gemacht, damit die Kompetenz der Psychologen zur Lösung der speziellen Probleme dieser Gruppen durch die Zahl der Fälle wächst. So bekommen sie einen ganz anderen
Erfahrungshintergrund. Das Stützpunktsystem hat auch Vorteile hinsichtlich der Fortbildung.
40 Kollegen fortzubilden ist leichter als 400. Es entstehen zwar zusätzliche Fahrkosten, aber
die Qualität der Beratung nimmt zu.
Sie haben in dem Ausschuss mitgearbeitet, der die DIN 33430 – die Norm für berufsbezogene Eignungsdiagnostik – auf den Weg gebracht hat. Hat die Norm Ihre Arbeit verändert?
Wir müssen zwischen zwei Arten von Berufseignungsdiagnostik unterscheiden – zum einen
der auswahlbezogenen und zum anderen der berufswahl- und berufslaufbahnunterstützenden. Letztere ist Gegenstand unserer Arbeit und stellt noch um einiges höhere Anforderungen als sie in der Norm festgelegt sind. Wir haben den Menschen im Fokus und nicht die
Stelle. Wir suchen zum Beispiel den geeigneten Ausbildungsberuf unter rund 400, der zu
einem Jugendlichen passt. Die DIN 33430 ist, so gesehen, für uns Mindeststandard.
Auch die BA bleibt von Sparzwängen nicht verschont. Wie sichern Sie dennoch eine angemessene psychologische Beratung und Begutachtung in all den Fällen, in denen das sinnvoll
ist?
Wir sind gehalten, im Rahmen des Reformvorhabens - Umwandlung der BA in eine Agentur zu prüfen, ob wir durch bessere Kooperation und Prozessbeschleunigung noch weitere Ein-
sparungen vornehmen können bei vergleichbarer Qualität. In der Tat musste auch der Psychologische Dienst sparen. Wir haben da Personal abgebaut, wo es möglich war – nicht bei
den Psychologen, wo wir bereits am Ende der Fahnenstange angekommen sind, sondern bei
Bürokräften. Das ist uns durch das Computersystem DELTA gelungen, durch das wir Vereinfachungen im Handling vieler Vorgänge erreicht haben.
Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, die Wirtschaft tut sich schwer mit der Einstellung von Behinderten – wie schaffen Sie es unter diesen Bedingungen ohne zusätzliche Psychologenstellen die anfallende Arbeit zu bewältigen?
In kleinen Arbeitsämtern arbeiten wir mit der kleinstmöglichen Arbeitseinheit – einem
Psychologen, einer Assistenzkraft und mit einer bzw. einer halben Stelle für eine Bürokraft.
Kleiner kann das Team nicht werden, sonst ist die Dienstleistung nicht mehr zu erbringen.
Bedenken Sie, dass ein Arbeitsamt in der Regel Geschäftsstellen hat, in denen der Psychologe ebenfalls tätig werden muss. In größeren Städten mit höherer Einwohnerzahl sind selbstverständlich mehr Psychologen tätig. Der Stellenschlüssel ist aber so festgelegt, dass der
»Unterbau« mit der Größe der Arbeitsämter weniger stark zunimmt. Natürlich würde ich mir
wünschen, die Relation zwischen Einwohnerzahl und Psychologen in den Arbeitsämtern zu
verbessern und der wachsenden Zahl von Problemfällen anzupassen. Das ist zur Zeit nicht
möglich und deshalb setzen wir alles daran, andere Wege der Verbesserung der Qualität zu
erschließen.
Wie gelingt das?
Mit DELTA haben wir ein sehr fortschrittliches Computersystem – sowohl für die Beratung als
auch für die Sachbearbeitung, das die Arbeit erleichtert und die Qualität erhöht. Auf dem
Gebiet der Sachbearbeitung hat es uns eine nahezu papierlose Fallverwaltung beschert, von
der Terminierung bis zur Testauswertung. Im Bereich Untersuchungen erlaubt es uns heute
Einzeluntersuchungen von Personen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit am Computer.
Wir müssen keine Gruppen mehr zusammenstellen, um ein Testverfahren fragestellungsbezogen auswählen und Untersuchungen durchführen zu können. Das macht uns viel flexibler
und steigert die Qualität der Arbeit. Wir müssen nicht mehr warten, bis eine Gruppe mit vergleichbarer Fragestellung beisammen ist, sondern können ohne lange Wartezeiten mit jedem
die Untersuchung durchführen, die für ihn am geeignetsten ist. Beim Test kann theoretisch
ein erwachsener Habilitand neben einem Abiturienten sitzen, ein Gehbehinderter neben einem Menschen mit einer Lernstörung. Der Psychologe hat die Möglichkeit, von seinem Zimmer aus Einblick in die Testbearbeitung zu nehmen, zu schauen und zu prüfen, wie weit jeder Einzelne ist. Er kann flexibel reagieren, ggf. den Einsatz eines weiteren Verfahrens beschließen. Das bedeutet einen Qualitätssprung in der fachlichen Arbeit.
Sind alle Arbeitsämter so modern ausgestattet?
Ja, aber nicht alle Geschäftsstellen, in denen künftig auch computerunterstützt untersucht
werden soll. Das ist eine Kostenfrage. Dort, wo DELTA verfügbar ist, kann ich so viel unterschiedliche Fallkonstellationen haben wie Testplätze vorhanden sind. Das bedeutet lauter
Einzeluntersuchungen. Zudem: Jedes BA-eigene Testverfahren verfügt über eine verzweigte
Testinstruktion. Sie besteht aus einem kleinen Lernprogramm, mit dem überprüft wird, ob
eine Person versteht, wie sie die Testaufgaben zu bearbeiten hat. Kann sie die vorgegebenen
Übungsaufgaben nicht lösen, erhält sie Erläuterungen. Das konnten wir in der Gruppe so
nicht machen
Mit Hilfe von DELTA kann es kaum noch passieren, dass jemand mit einem Testverfahren
beginnt, dessen Aufgaben er nicht verstanden hat. Das ist wichtig, weil unsere Gutachten ja
oft Verwaltungsakte (z.B. die Gewährung von Leistungen) zu begründen haben.
Bei jedem Test gibt es sowohl mündliche als auch schriftliche Instruktionen. DELTA erlaubt
uns außerdem komplexere Auswertungen, was sonst viel zu aufwendig wäre.
Wem steht der Psychologische Dienst der BA zur Verfügung?
Wir sind für den Bürger nicht direkt zugänglich, er kann mit einem Problem nicht zum Psychologischen Dienst kommen. Das würde eine ganz andere Zahl von Psychologen verlangen.
Unser Auftrag ist in § 32 Sozialgesetzbuch III festgelegt. Danach sollen wir – soweit erforderlich – bei Eignungsfragen im Rahmen der Vermittlung und Beratung psychologische Begutachtungen durchführen. Wir sind interne Serviceleister für Vermittler und Berater.
Wer entscheidet, was erforderlich ist?
Das tut der Vermittler oder der Berater, der als Partner des Bürgers tätig ist. Wenn der Vermittler oder Berater im Interesse des Prozesses eine psychologische Begutachtung oder Beratung für erforderlich hält, dann schaltet er uns ein. Gar nicht so selten wählt er zunächst
die »Fallbesprechung «, holt sich Rat beim Psychologischen Dienst für das weitere Vorgehen.
In anderen Fällen entscheidet er sich für die »Teamberatung« des Betroffenen gemeinsam
mit dem Psychologen. An dieser nehmen oft auch seine Angehörigen, der Arzt oder der technische Berater des Hauses teil. Das kann bei der Ersteingliederung oder Wiedereingliederung
von Behinderten nötig und nützlich sein.
Wo sind die Grenzen Ihrer Tätigkeit?
Stellen Sie sich vor, jemand ist schon längere Zeit nicht vermittelbar. Der Berater befürchtet,
dies liege nicht an mangelnder Qualifikation, sondern an einem anderen Problem. Wir gehen
dem auf den Grund und finden eine Tablettenabhängigkeit. Mit dem Ratsuchenden erarbeiten wir einen Weg, aber wir arbeiten nicht therapeutisch, haben keinen kurativen Auftrag.
Akzeptieren Leute, dass sie ggf. eine Therapie brauchen?
Das ist nicht immer einfach, gehört aber zur Qualifikation der Psychologen. Außerdem geht
es ja nicht immer um Suchtprobleme oder Erkrankungen und deren Folgen. Es gibt Menschen, die müssen lernen, ihre Angst vor einem Bewerbungsgespräch zu überwinden, ihr
Selbstwertgefühl wiederzugewinnen, mit diversen Kränkungen fertig zu werden. Sie nehmen
Rat dankbar an.
Sie sind nach einer Zeit wissenschaftlicher Arbeit an der Universität Erlangen-Nürnberg zunächst stellvertretender Leiter des Informations- und Beratungszentrums der Universität geworden und haben dann, 1982, zur BA gewechselt. Leiter des Psychologischen Dienstes wurden Sie 1989. Was bedeutete die wenig später folgende Vereinigung Deutschlands für Ihre
Arbeit?
Es galt, einen Psychologischen Dienst in den Arbeitsämtern der neuen Bundesländer aufzubauen. So etwas gab es dort nicht. Psychologische Diagnostik war in der DDR offiziell verpönt, berufliche Eignungsdiagnostik wurde nur in bestimmten Bereichen, wie z.B. in der Nationalen Volksarmee betrieben. In der DDR gab es aber eine gute Ausbildung in der ABOPsychologie. Wir haben Kollegen mit dieser Fachrichtung für unsere Arbeit gewinnen können.
Mehr Schwierigkeiten bereiteten die Problemkonstellationen, die sich von unseren Erfahrungen zum Teil dramatisch unterschieden. Ganze Familien wurden arbeitslos. Das kommt im
Westen nicht so häufig vor.
Wir haben die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern von Anfang an in unsere Ausbildung einbezogen. Vor Ort wurden sie in der Fallarbeit von erfahrenen Kollegen
aus dem Westen unterstützt. Dank dieser Konsulenten und der Einsatzbereitschaft der Kollegen waren wir zwei Jahre nach der Vereinigung in allen Arbeitsämtern voll arbeitsfähig.
Wie haben sich abgesehen von den Problemen der neuen Bundesländer die Arbeitsbedingungen für Psychologen verändert, seit Sie vor gut 20 Jahren bei der BA begonnen haben?
Es hat sich in den vergangenen 20 Jahren einiges verändert. Wir werden ja hauptsächlich bei
Problemfällen hinzugezogen; die Zahl dieser Fälle hat stark zugenommen.
Der politische Auftrag an die BA ist die Reduzierung der Arbeitslosenzahlen durch effektivsten Einsatz der Mittel. Gibt es einen Konflikt zwischen diesem politischen Auftrag und der
beruflichen Ethik, die Sie zur Wahrnehmung der Interessen Ihrer Klienten verpflichtet?
Psychologen können keine Stellen auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Wir schauen auf die Ressourcen einer Person, schätzen ein, wo sie Erfolg haben kann. Das deckt sich nicht immer
mit den Wünschen der Person bzw. ihrer Angehörigen. Eltern behinderter Kinder beispielsweise möchten möglichst viel für ihre Kinder tun, sie trotz der Behinderung möglichst weit
qualifizieren. Wir müssen immer auch die Folgen einer kognitiven und psychischen Überforderung im Blick haben. Niemand kann ständig an der Obergrenze seiner Leistungsfähigkeit
arbeiten. Und wir müssen vermeiden, dass jemand wiederholt Schiffbruch erleidet. Da kann
es zum Konflikt kommen, wenn wir aus fachlicher Sicht zu beruflichen Empfehlungen kommen, die nicht in Übereinstimmung mit den beruflichen Wünschen dieser Person sind.
Dann haben wir noch die Fälle, in denen berufliche Überlegungen erst nach einer Therapie
denkbar sind – zum Beispiel bei Abhängigkeitserkrankungen. Das muss offen ausgesprochen
werden.
Seit seiner Gründung hat der Psychologische Dienst eine Menge Daten erhoben. Durch die
Einführung von DELTA stehen diese Daten nun für Analysen zur Verfügung. Das ist ein
Schatz an empirischen Grundlagen, der auch für die Forschung interessant sein dürfte.
So ist es. Über DELTA können wir – selbstverständlich anonymisiert – die Daten per Fernübertragung in die Forschungsdatenbank in Nürnberg einspeisen und mit statistischen Auswertungsmethoden z.B. empirische Untersuchungen zur Güte einzelner Testverfahren machen. Derartige Analysen sind für die Qualität unserer Arbeit von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. Um Missverständnisse zu vermeiden: Personenbezogene Daten werden von uns
nach fünf Jahren gelöscht. Für interne Analysezwecke werden sie nur mit dem Einverständnis der Betroffenen verwendet.
Das Gespräch führte Christa Schaffmann
Diesen Text finden Sie auch im Internet: BDP-Verband.org/bdp/idp/2003-2/17.shtml
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