-1- 1. Einleitung Die Ereignisse am 9. „Blutsonntag“ bekannt Januar 1905, die in der Geschichtsschreibung als wurden, waren der Anfang eines langsamen Zusammenbruchs der zaristischen Selbstherrschaft. Infolge des „Blutsonntags“ war die Geduld der „Untertanen“ erschöpft und ihre dauerhafte Unzufriedenheit nahm die Gestalt einer sich verbreitenden Empörung im ganzen Russischen Reich an.1 Das Ergebnis dieser Empörung der Massen war eine Verringerung der Macht der Autokratie und eine offenere Gesellschaft, in der die Bürger zum ersten Mal im wesentlichen ihre Meinung sagen konnten. Dieser neuen politischen Öffentlichkeit entsprachen die Grundgesetze, die das Licht der Welt am 24. April 1906 erblickten. Obwohl z.B. Max Weber sie als „Scheinkonstitutionalismus“ abgetan hat, waren sie dennoch ein deutlicher Zeichen für den Anbruch einer neuen Ära, das laut Hildermeier „weder der Monarch noch die Regierung vollständig ignorieren konnten.“2 Allerdings war die neue Verfassung etwas empfindlich gegenüber der Manipulation der Machthaber, wie sich bei Stolypins Coup d’état am 3. Juni 1907 herausstellte. Mit einem neuen Wahlgesetz nahm er zugunsten der Oktobristen und Monarchisten, die dann die Mehrheit in der dritten Duma bildeten der linken Opposition den Wind aus dem Segel.3 Auf der politischen Ebene war Stolypins Machtergreifung der Anfang einer neuen Periode der Unterdrückung auf allem Ebenen der Gesellschaft, die bis Ende 1911 andauerte. In der Vorliegenden Arbeit wird deshalb versucht, die Lage der Fabrikarbeiterschaft während dieses entscheidenden vorrevolutionären Zeitraums in Sankt Petersburg zu beschreiben. Zuerst wird das Arbeitermilieu in der Hauptstadt untersucht, das einerseits als Wohnort und andererseits als Industrieort Einflüsse die Entwicklung der Arbeiterschaft hatte. Danach wird die allgemeine Situation der Arbeiter beschrieben, und hier insbesondere ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Zum Schluß werden die wichtigsten Aspekte der Arbeit zusammengefaßt. Es konnten nicht alle Gesichtspunkte der Lage der Arbeiter gezogen werden und deshalb werden nur die wichtigsten Faktoren behandelt. 1Vgl. Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905-1921. Frankfurt am Main 1989, S. 51. ebd., S. 108. 3Vgl ebd., S. 103. 2S -2- Der Grund für die Auswahl des Zeitraums zwischen 1907 und 1911 zum Gegenstand dieser Arbeit hängt vor allem damit zusammen, daß sich während dieser Zeit die Situation der Arbeiter insbesondere bezüglich ihrer Arbeitsbedingungen verschlechterte, so daß sich hier die Mechanismen der Existenzbedingungen der russischen Arbeiter besonders gut beobachten lassen. Es war allerdings manchmal notwendig zurückzugreifen und zwar besonders dort, wo es sich um frühere Ereignisse handelt, die für die Darstellung wichtig waren. Im übrigen ist anzumerken, daß obwohl die Darstellung unmittelbar die o.g. Periode umfasst, kann man sie im wesentlichen auch für die Zeit vor oder nach diesem Betrachtungszeitraum heranziehen. Man sollte deshalb den Betrachtungszeitraum dieser Darstellung nicht zu begrenzt ansehen - v.a. aufgrund der Tatsache, daß sich im allgemeinen die Lage der Arbeiterschaft nicht besonders auffälig veränderte, auf jeden Fall nicht bis nach der Oktoberrevolution von 1917. Der Begriff „Arbeiterschaft“ umfaßt eine größere Gruppe, als nur die Fabrikarbeiterschaft, worauf u.a. Victoria E. Bonnell schon hingewiesen hat.4 Die frühere Tendenz in der Historiographie ist jedoch so gewesen, daß nur die letztere Gruppe Beachtung fand - besonders in der sowjetische Geschichtsschreibung. Der Grund dafür ist v.a., daß die Quellen sich primär mit der auseinandersetzen Fabrikarbeiterschaft. Die Informationen, die uns über die anderen Mitglieder der Arbeiterschaft zur Verfügung stehen sind lückenhaft und ungenau. Die folgende Darstellung ist deswegen vorwiegend auf der Fabrikarbeiterschaft begrenzt worden, obwohl einige Teile der Arbeit und hier insbesondere die Inhalte des ersten Kapitels auch für die Beschreibung der Gruppen in der Peripherie der Fabrikarbeiterschaft herangezogen werden könnten. Was die Literatur betrifft, wurden nur einige Primärquellen benutzt: Die Autobiographie des Fabrikarbeiters I.S. Kanatchikov, die im Jahr 1924 erschien, sowie eine Darstellung des Fabrikarbeiters P. Timofeev (das ist ein Pseudonym, sein richtiger Name war P. Remezov), die in der Zeitung Russkoe bogatstvo im Jahr 1906 erschien. Außerdem wurde auch die Studie von Prokopowitsch von dem Jahr 1908 benutzt. Im Hinblick auf den Wert und die Qualität dieser Quellen läßt sich anmerken, daß sie wenig Möglichkeiten zur Generalisierung eröffneten und in 4Vgl. Victoria E. Bonnell, Roots of Rebellion. Worker’s Politics and Organizations in St. Petersburg and Moscow, 1900-1914. Berkeley 1983, S. 21-24. -3- diesem Sinne war ihre Verwendbarkeit oft begrenzt. Zum Beispiel umfaßte Prokopowitschs Studie nur einen kleinen Anteil der Arbeiterbevölkerung, und der Lebenstandard der hier Befragten lag deutlich über der durchschnittlichen Norm in der Stadt. Diese Quellen geben uns jedoch wenigstens, einen begrenzten Einblick in das Alltagsleben Gedankenexperiment, Verallgemeinbares der aber ableiten. Arbeiterschaft auf gar keinen Zusätzlich und eine Handhabe Fall können wurden auch wir für daraus verschiedene Sekundärquellen herangezogen, die aber hier keiner Behandlung bedürfen (Vgl. in diesem Zusammenhang mit dem Literaturverzeichnis). 2. Sankt Petersburg als Milieu der Arbeiterschaft 2.1. Der Wohnort Sankt Petersburg, das den Name ihres Gründers trägt, hatte sich seit seiner Gründung im Jahr 1703 enorm gewandelt. Mit der Industrialisierung, die in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und mit der Bauernbefreiung im Jahr 1861, veränderte die Stadt ihre Gesicht von einer Residenzstadt zur modernen Metropole. Die Bedürfnisse der Metropole waren andere als die der Residenzstadt z.B. was die Infrastruktur betraf, welche der zunehmenden Bevölkerungszahl bald nicht mehr gerecht werden konnte. Durch die Einwanderungswelle von Menschen, die auf der Suche nach Arbeit in der wachsenden Industrie waren, verdoppelte sich die Einwohnerzahl nur in 33 Jahren (1881-1914).5 Zwischen den Jahren 1870 und 1914 kamen rund 1.5 Millionen Einwanderer in die Stadt.6 Dieser große Anstieg der Bevölkerung, der durchschnittlich circa 34.000 Menschen pro Jahr entsprach, setzte die Stadt unter Druck, besonderes im Bezug auf die Bereitstellung von ausreichendem und billigem Wohnraum, mit Wasserleitungen und Kanalisation. Die Stadtverwaltung 5Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions. Workers and Revolutionaries, June 1907 February 1917. New Haven 1990, S. 3. 6Vgl. Karl Schlögel, Jenseits des großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin 1988, S. 35. -4- löste diese dringlichen Aufgaben jedoch nur wenig zufriedenstellend und je stärker die Stadtbevölkerung zunahm, desto schlimmer wurde die Lage.7 Ein Ausbau der Vorstädte, der den Druck der zunehmenden Bevölkerungszahl erleichtet hätte, hatte in Sankt Petersburg kaum stattgefunden. Ungefähr ein Anteil von 80% der Stadtbevölkerung wurde innerhalb der offizellen Stadtgrenzen angesiedelt. In einigen Bezirken war die Besiedlung sogar dichter als es die Norm in anderen industrialisierten Großstädten Europas oder Amerikas zur gleichen Zeit war.8 Angesichts dieser Besiedlungskonzentration innerhalb der Stadtgrenzen konnte die Bautätigkeit mit der zunehmenden Nachfrage nach Wohnraum kaum Schritt halten. Als deutliche Folge stiegen die Mieten höher als in den anderen Großstädten des Russischen Reiches. Aus diesem Grund mußten die Arbeiter oft eng zusammenwohnen und ihre Wohnplätze entsprachen selten einem hohen Gesundheitsniveau.9 So wohnten z.B. laut Steffens im Durchschnitt 8,6 Personen in einer Wohnung im Stadtteil Vyborg, aber auch die Zahlen Prokopowitschs lassen uns diese Tendenz erkennen.10 Der Hauptgrund für diese Besiedlungskonzentration im Stadtkern lag in der Tatsache, daß das Verkehrnetz unterentwickelt und mangelhaft war. Erst im Jahr 1907 wurde z.B. in Petersburg eine elektrische Straßenbahn in Betrieb genommen, vorher war sie von Pferden gezogen worden. Im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten kam diese neue Technologie ziemlich spät nach Sankt Petersburg. Die Tatsache, daß man in westlichen Großstädten zur gleichen Zeit schon Untergrundbahnen baute, illustriert die relative Rückständigkeit Petersburgs besonders deutlich. Das Straßenbahnnetz lag größtenteils innerhalb der Stadt, so daß eine wichtige Voraussetzung für die Dezentralisation der Stadtbevölkerung in der Gestalt von Vorstädte fehlte. Auch innerhalb der Stadt waren die Verkehrsverbindungen zu den Randgebieten, wo die Fabriken in der Regel lagen, schlecht und unregelmäßig.11 Die hohen Fahrpreise und ungenauen Fahrpläne bildeten entscheidende Hindernisse, insbesondere für die Arbeiterschaft. Die Fahrt mit der Straßenbahn war für sie ein Luxus, weil die Fahrpreisen ihrem Lohn nicht entsprachen und die Fahrzeiten nicht mit ihren 7Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917. Soziale Lage, Organisation und spontaner Protest zwischen zwei Revolutionen. Freiburg 1985, S. 163. 8Vgl. Karl Schlögel, Jenseits des großen Oktober, S. 30. 9Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 150-151. 10Vgl ebd., S. 151. -5- Bedürfnisse übereinstimmten.12 Deshalb versuchten die meisten Arbeiter in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu wohnen. Aber hier gab es einige Unterschiede und dies hing mit der Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsplatz und mit dem Berufsstand zusammen. Die Handwerkerarbeiter wohnten meistens wo sie arbeiteten, während die Fabrikarbeiter oft getrennt von ihrem Arbeitsplatz wohnten, wenngleich in der Nähe der Fabriken. 13 Diese Trennung zwischen Arbeits- und Wohnungsmilieu ergab für sie die Gelegenheit die Stadt besser kennenzulernen und vielleicht auch, sich etwas unabhängiger zu entwickeln, weil sie mehr Freiheit vom Arbeitgeber hatten als z.B. die Handwerkerarbeiter, die oft nicht einmal nach dem Arbeitstag Ausgang hatten.14 Auf diese Weise kamen die Fabrikarbeiter häufiger in Kontakt mit den anderen sozialen Schichten, mit Bürgern und sogar mit Adeligen. Das hing damit zusammen, daß die verschiedenen Stadtteile ein großes Ausmaß sozialer Durchmischung aufwiesen, so daß man sagen kann, daß es fast keine Stadtteile gab, die ausschließlich von einer sozialen Schicht bvölkert wurden. Zum Beispiel wohnten die Fabrikbesitzer und leitenden Angestellten in der Nähe der Fabriken und oft mitten unter der Arbeiterschaft. Laut Steffens war der Grund für diesen Umstand, daß das Verkehrnetz schlecht war.15 Der Vyborger Stadtteil illustriert diese Tendenz: im Jahr 1907 stammten rund 28% der Einwohner aus dem Bürgertum oder dem Adel, obwohl so viele Fabriken und Arbeitersiedlungen in diesem Stadtteil lagen. So war es auch in den „besseren“ Stadtteilen, weil manchmal die Arbeiter dort einen Keller oder eine Bodenkammer dort mieteten. 16 In jedem Fall deckte sich die Sozialstruktur der Stadtbevölkerung nicht mit den Stadtteilen und die Frage, in welcher Maße dieser Umstand Einfluß auf die Arbeiterbevölkerung hatte, ist schwer zu beantworten. McKean hat u.a. darauf hingewiesen, daß die Nähe der verschiedenen Schichten das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft schärfte, besonders bei den Facharbeitern.17 Man kann ihm 11Vgl. James H. Bater, Between Old and New. St. Petersburg in the Late Imperial Era. In: Michael F. Hamm (Hg.), The City in Late Imperial Russia. Bloomington 1986, S. 43-78, S. 58. 12Vgl. James H. Bater, The Development of Public Transportation in St. Petersburg 1860-1914. In: The Journal of Transport History (1973-74), S. 85-102, S. 98. 13Vgl. James H. Bater, The Journey to Work in St. Petersburg 1860-1914. In: The Journal of Transport History (1973-74), S. 214-233, S. 222-223. 14Vgl. Victoria E. Bonnell, Roots of Rebellion, S. 69. 15Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 154. 16Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 37. 17Vgl ebd., S. 38. -6- zustimmen, aber natürlich spielten anderen Faktoren für die Entwicklung des Klassenbewußtseins vielleicht eine wichtigere Rolle - die Propaganda der linken politischen Parteien, Verbindungen zum Dorf, Bildungsniveaus u.s.w.18 Außerdem kann man nicht alle Facharbeiter als klassenbewußt bezeichnen. Die Darstellung von den Facharbeitern, die Kanatchikov gibt, zeigt, daß es nicht immer eine Verbindung zwischen der Fachkenntnis und dem Klassenbewußtsein gab.19 Jedoch kann man mit Fug und Recht behaupten, daß die Nähe der verschiedenen sozialen Schichten innerhalb der Stadt die Unzufriedenheit der benachteiligten Arbeiterbevölkerung im allgemeinen vermehrte und das Klassenbewußtsein bei denjenigen, die sowieso eine solche Disposition entwickelten, schärfte. Außer der Wohnungsnot waren auch Probleme, welche die Wasserleitungen und die Kanalisation betrafen, nie vollkommen gelöst worden. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Leben der Stadtbevölkerung. Zum Beispiel war vor dem Krieg noch ein Viertel der Wohnungen in der Stadt ohne Leitungswasser. Die Lage war am schlimmsten in den Gegenden, wo vor allem Arbeiter lebten wie Peterhof oder im Vyborger Arbeiterviertel. Der größte Teil der Bewohner dieser Stadtteile mußte das Nutzwasser entweder bei Wasserverkäufern beziehen oder das Wasser aus den verschmutzen Flüssen und Bächen selbst abholen. Diejenigen, die über Leitungswasser verfügten (d.h. ¾ der Wohnungen) bekamen auf keinen Fall sauberes Wasser. Das Trinkwasser wurde aus dem Fluß Newa, der als Wasserreservoir der Stadt diente, entnommen, aber wegen der Abwässer der Fabriken war der Fluß sehr verschmutzt und stellte als solches kein gutes Wasserreservoir für die Stadt dar. Dennoch gab es bis nach 1914 keine Veränderungen. Danach ist eine Fernleitung zum Ladogasee (etwa 35 km von der Stadt entfernt) gebaut worden und endlich wurde die Situation etwas besser. 18Der 20 Begriff „Klassenbewußtsein“ setzt m.E. folgendes voraus: 1. daß eine soziale Gruppe ein Zueinandergehörigkeitsgefühl entwickelt und 2. daß die Mitglieder dieser Gruppe Erfahrung oder Interessen miteinander teilen. Kanatchikov sagt z.B. manchmal in seiner Autobiographie, daß die Studenten, die meistens aus dem Bürgertum stammten, aber mit den Arbeitern kämpften, nicht immer die Welt der Arbeiter verstanden (Vgl. Reginald E. Zelnik (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia. The Autobiograhy of Semen Ivanowich Kanatchikov. Stanford 1986, S. 104-105 ). Kanatchikov ist deshalb ein gutes Beispiel für einen selbstbewußten Arbeiter, weil er sich mit einer bestimmen Gruppe identifizierte und gleichzeitig sich von die anderen trennte, die seine Welt nicht verstehen konnten. Vgl. Erich Bayer (Hg.), Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke. Stuttgart 1965², S. 269. 19Vgl. Reginald E. Zelnik (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia. The Autobiography of Semen Ivanowich Kanatchikov. Stanford 1986, S. 95-96. 20Vgl. James H. Bater, Between Old and New. St. Petersburg in the Late Imperial Era. In: Michael F. Hamm (Hg.), The City in Late Imperial Russia. Bloomington 1986, S. 43-78, S. 59-60. Vgl auch dazu. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 167. -7- Die Newa floß auch durch die Stadt, so daß sie mehrmals während zyklischer Hochwasser Stadtteile, die ein bis zwei Meter über dem Normalspiegel der Newa lagen, überschwemmte. Dies schuf günstige Bedingungen für die Ausbreitung epidemischer Krankheiten.21 Aufgrund der großen Besiedlungsdichte, des unreinen Trinkwassers und der häufigen Überschwemmungen der Newa wurde St. Petersburg von Zeitgenossen als die ungesündeste Stadt Europas bezeichnet, vor allem wegen die hohen Epidemienrate im Vergleich zu anderen Städten. Im Jahr 1908 kamen 8.880 Menschen ums Leben, als eine Choleraepidemie zwischen Juli und Oktober herrschte - dadurch wurde oft die Sterblichkeitsrate unter der Arbeiterschaft aufgrund schlechterer Lebensbedingungen noch zusätzlich erhöht.22 Angesichts dieses oben beschriebenen Milieus, in dem die Arbeiterschaft leben und arbeiten mußte, kann man vermuten, daß dies entscheidenden Einfluß auf die geringe Zahl klassenbewußten Facharbeiter hatte, und ihre Bereitschaft erhöhte, gegen die Ungerechtigkeit der Gesellschaft zu kämpfen. Ihre Existenzbedingungen sahen jedoch etwas besser aus als die der anderen Mitglieder der Arbeiterbevölkerung, und das gab ihnen die Möglichkeit stärker aktiv zu werden.23 Zu der sich allgemein verstärkenden Unzufriedenheit trugen aber auch noch andere Faktoren bei, die jetzt behandelt werden sollen. 2.2. Der Industrieort. Im Vergleich zum Moskauer Industrieviertel war der Petersburger Fabrikdistrikt moderner und lag zu einem größeren Teil innerhalb der Stadtgrenzen. Rund 67,3 % der Fabrikarbeiter arbeiteten innerhalb der Stadt und im Gouvernement St. Petersburg lag dieser Anteil bei etwa 83,9%. In der Stadt St. Petersburg, die im Unterschied zu Moskau eine zentrale industrielle Position innerhalb des Hinterlands besaß, waren am Vorabend des Krieges fast 250.000 Fabrikarbeiter oder um 10% der gesamten Fabrikarbeiterschaft Rußlands beschäftigt. Sie arbeiteten vorwiegend in der Metall-, Chemie- und Elektronindustrie, die das Bild der Industriestadt St. Petersburg prägten, aber auch 21Vgl. Karl Schlögel, Jenseits des großen Oktober, S. 34. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 39. 23Vgl. Reginald E. Zelnik (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia, S. 92-93. 22Vgl. -8- in der Textilindustrie, die jedoch hier keine wichtige Rolle spielte wie in Moskau.24 Die Arbeitskräftekonzentration war auch höher als in Moskau; etwa 75% der Arbeiter waren in den oben genannten Industriesektoren beschäftigt.25 Große Fabriken wie die Putilovwerke, die 1913 circa 16.000 Arbeiter beschäftigte, und Pipewerke mit 18.942 Arbeiter im Jahr 1917 zeigen uns deutlich die Konzentration der Arbeiterschaft. Solche riesigen Fabriken waren in der Regel im Besitz des Staates oder sogenannten „joint-stock“ Firmen. Letztere waren abhängig von ausländischem Kapital oder der Eigentümer war selbst eine ausländische Firma, wie z.B. Siemens oder AEG.26 Infolgedessen war die Wirtschaft in St. Petersburg Konjukturanfälliger als anderswo laut Bonwetsch. Die Depression um die Jahrhundertwende zeigte diese Schwäche der Industrie, weil dann u.a. wegen des Burenkrieges wenig Kapital zur Verfügung stand.27 Die Stadt besaß eine „doppelte“ Wirtschaft („dual economy“), wie u.a. McKean gezeigt hat, und zwar in dem Sinn, daß es neben der Fabrikindustrie auch Kleingewerbe und Handwerkbetriebe gab, die oft nur etwa ein Dutzend Angestellten hatten.28 Diese kleinen Betriebe stellten meistens einfache Produkte her wie z.B. Kleidung oder Schuhe, und die Mechanisierung und die Arbeitsteilung waren wenig ausgeprägt.29 Insgesamt war etwa die Hälfte der Arbeiterschaft um die Jahrhundertwende in diesen zwei Formen der Industrie beschäftigt aber außerdem war auch ein großer Anteil (ungefähr die andere Hälfte) im dritten Sektor, dem Dienstleistungssektor beschäftigt.30 Aber welche Einflüsse hatte St. Petersburg als Industriestadt auf ihre Arbeiterschaft? Die Tatsache, daß ein großer Anteil der Industrie innerhalb der Stadtgrenzen lag, zwang die Arbeiterschaft dazu auch in der Stadt zu wohnen. Deswegen mußte sie sich an das städtische Milieu anpassen, das in einem gewissen Rahmen prägenden Einfluß auf sie hatte. Während z.B. in den Bergbaugebieten des Urals oder in den Moskauer Industriebezirken ökonomische Verbindungen zum Dorf 24Vgl u.a. Bernd Bonwetsch, Die Russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 zum Oktoberumsturz. Darmstadt 1991, S. 66. Vgl auch dazu. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 31. 25Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 30. 26Vgl ebd., S. 5. 27 Vgl. M.E. Falkus, The Industrialisation of Russia, 1700-1914. London 1972, S. 75-76. 28Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 5. 29Vgl. Victoria E. Bonnel, Roots of Rebellion, S. 25-26. 30Vgl. Bernd Bonwetsch, Die Russische Revolution 1917. S. 62. Vgl auch dazu. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 3. -9- bestanden, war das in Petersburg nicht der Fall. Im Ural oder in den Moskauer Industriebezirken lagen die Fabriken in geringeren Maße innerhalb der städtischen Grenzen, sondern in den meisten Fällen dezentral auf dem Land oder in kleinen Dörfern. Dort prägt ein ganz anderes Verhaltensmuster das Bild, obwohl es natürlich auch dort Ausnahmen gab, die es schwieriger machen, die Lage zu verallgemeinern. Auf jeden Fall waren diese Gebiete laut Bonwetsch rückständiger als die Hauptstadt, weil die Arbeiter neben ihrer Arbeit in der Fabrik oder im Bergbau auch noch Landwirtschaft betrieben.31 Wenn man zusätzlich berücksichtigt, daß ein sehr großer Teil der Arbeiterschaft der Hauptstadt aus verhältnismäßig weit entfernten Bezirken des Russischen Reiches kam, kann man daraus ableiten, daß wegen der Entfernung die Bindung der Arbeiter an ihren Herkunftsort über kurz oder lang nachließ, so daß sich ein Ablösungsprozeß konstatieren läßt.32 Die Arbeitskräftekonzentration der Fabrikarbeiterschaft in der Stadt betreffend stimmen sowjetische Historiker mit Karl Marx überein, daß dies ein wichtiger Faktor im Prozeß der Solidaritätsbildung der Arbeiterbevölkerung war. Auf die Textilindustrie trifft diese These jedoch nicht zu, weil die Arbeiter nicht in klar abgrenzten Abteilungen arbeiteten, so daß die Kommunikation dort nicht so gut funktionierte wie beispielweise in der Metallindustrie, wo durch den hohen Grad der Spezialisierung Arbeitsgruppen möglich waren.33 engere Kontakte zwischen einzelnen Aber damit hingen auch wertere Faktoren zusammen, insbesondere die Qualifikation der Arbeiter. Im Hinblick auf die hochtechnisierten Industriezweige, vor allem auf die Metall- und Chemieindustrie, gab es in der Hauptstadt einen sehr hohen Anteil von Facharbeitern. Die berufliche Qualifikation und der Bildungsstand spielten eine wichtige Rolle im Prozeß des Aufbaus von Solidarität und laut mehrerer Quellen bildeten diese Facharbeiter die Hauptträgerschicht der Gewerkschaften.34 Angesicht dieser doppelten Rolle der Stadt als Wohn- und Industrieort, die bildende Einflüsse auf die Arbeiterschaft und die Einwohner hatte, kann man vielleicht etwas besser verstehen, warum Sankt Petersburg eine treibende Kraft in den zwei Revolutionen von 1905 und 1917 war. 31Vgl. Bernd Bonwetsch, Die Russische Revolution 1917, S. 67-68. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 503. 33Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 30-31. 34Vgl ebd., S. 32. 32Vgl. Allerdings gab es weitere -10- wichtige Faktoren, die zusätzlich Wasser auf die Mühlen der unzufriedenen Arbeiterschaft lenkte. 3. Die Lage der Arbeiterbevölkerung in Sankt Petersburg 3.1. Die Arbeitsbedingungen Die Welt der russischen Fabrik zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte wahrscheinlich fremd und grau für diejenigen, die zum ersten Mal diese Welt erblickten. Lärm, Rauch, eine Anzahl beschäftiger Arbeiter und große Maschinen gehörten zu diesem Kosmos, der auf den ersten Blick unmenschlich erschienen sein muß. Der Fabrikarbeiter Kanatchikov beschreibt in seiner Autobiographie, welche Eindrücke diese Welt in ihm weckte, als er um die Jahrhundertwende nach „Petri“, wie er die Hauptstadt nannte, kam, wie folgt: „An entire forest of enormous factory chimneys was spewing forth clouds of black smoke, which covered the already gray Petersburg sky. Factory buildings, houses, streets, and people moving rapidly about - all were covered by a thick layer of soot. Massive rhythmic noises resounded from every direction (...) . Everything here bespoke the power of human labour and the grandeur of its inexhaustible creative force.“35 Aber außer mit diesem äußeren Milieu der Fabrik, das Kanatchikov beschreibt, mußte der Neuankömmling sich auch mit, den Strukturen, die innerhalb der Fabrik wirkten, dem inneren Milieu auseinandersetzen und sich ihm anpassen. Dieser letztere Aspekt des Themenkreises „Fabrik“, die Arbeitsbedingungen, unter denen die Arbeiterbevölkerung arbeiten mußte, wird jetzt behandelt. Am Anfang ihrer Tätigkeit bekamen die Arbeiter nach Abgabe ihres Passes sogenannte Lohnbücher, wie eine gesetzliche Regelung aus dem Jahr 1886 anordnete. In diesen Lohnbüchern, die eigentlich ein Vertrag zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeiter waren, wurde u.a. der Lohn, die Fabrikregeln und -11- die Vertragsfrist niedergeschrieben. Der Vertrag konnte nach einer bestimmten Zeit oder nach einer bestimmten Arbeit für beendet gelten, oder auch, wie in den meisten Fällen üblich, unbefristet sein. Diese zuletzte genannte Form des Vertrags ermöglichte beiden Seiten nach zweiwöchiger Kündigungsfrist den Vertrag zu beenden. Die größere Ellenbogenfreiheit bei der Kündigung des Vertrags lag klar jedoch auf der Seite des Arbeitgebers. Er konnte z.B. den Vertrag ohne Kündigungsfrist abbrechen, wenn der Arbeiter z.B. für zwei Wochen nicht zur Arbeit gekommen war, obwohl dafür ein triftiger Grund beigebracht wurden konnte.36 Die Entscheidung, ob der Grund triftig war oder nicht, lag allein bei ihm und man kann nur spekulieren, ob diese Entscheidung immer gerecht fällte. Aber auch ein „triftiger“ Grund gab dem Arbeiter nur die Möglichkeit bis zu zwei Wochen bei der Arbeit zu fehlen, so daß - wegen der hohen Epidemierate in der Stadt - wenn er z.B. länger krank zu Hause lag, was nicht selten vorkam, ihn dies trotzdem seine Stellung kosten konnte. Man kann sich vorstellen, wie diese Bedingungen insbesondere die Arbeiterin belasteten, weil sie manchmal als Arbeiterin und als Mutter zwei Rollen spielen mußte. Sie mußte während ihrer Schwangerschaft fast bis zur Geburt arbeiten und nachher mußte sie oft ohne eine ausreichende Erholung zur Arbeit zurückkehren, weil sie Angst vor ihrer Entlassung hatte.37 Infolgedessen war das Risiko von Fehlgeburten oder der Behinderung von Neugeborenen in der Arbeiterschaft ziemlich groß, weil die Mütter häufig unter ungünstigsten Arbeitsbedingungen arbeiteten. Von seiten des Arbeiters bestand nur eine Möglichkeit, den Vertrag abzubrechen, nämlich wenn er z.B. zum Militär einberufen wurde oder wenn er vom Arbeitgeber mißhandelt wurde, aber im letzteren Fall, mußte er dies beweisen und die Justiz stand selten auf seiten des Arbeiters. Angesichts dieser harten Vertragsbedingungen, die sich natürlich in dem Moment erschärften, wenn allgemeine Arbeitslosigkeit herrschte, zeigen die Unsicherheit der Existenz der Arbeiter - häufige Arbeitsplatzwechsel waren an der Tagesordnung. Neben der latentdrohendenden Arbeitslosigkeit wurde die Instabilität der Arbeiterexistenz auch durch die niedrigen Reallöhne geprägt. 35S. Reginald E. Zelnik, A Radical Worker in Tsarist Russia, S. 83-84. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 87-88. 37Vgl. Rose L. Glickman, The Russian Factory Woman 1880-1914. In: Dorothy Atkinson u.a. (Hg.), Women in Russia. Stanford 1977, S. 63-83, S. 71. 36Vgl. -12- Die Nominallöhne in St. Petersburg waren im Vergleich zu anderen Gebieten des Russischen Reiches ziemlich hoch.38 Aber wenn man berücksichtigt, daß das Leben in der Hauptstadt teurer war, dann ist klar, daß sie oft nur für die notwendigsten Sachen zum Überleben ausreichten. Die Arbeiter hatten keinen Spielraum für außerordentliche Ausgaben, wie folgende Darstellung von Prokopowitsch beschreibt: „Jeder außerordentliche Fall im Leben des Arbeiters ruft eine neue Schuld hervor; so waren meine ersten Schulden bei der Geburt und Taufe der Tochter und der mit der Geburt verbundenen Krankheit der Frau; dann erfaßte mich eine Berufskrankheit [in der Arbeiterschaft weit verbreitet war-JIK] (...), ich lag etwa zwei Monate im Krankenhaus; das verursachte neue Schulden.“39 Aber auch in der Lohnfrage gab es natürlich Unterschiede und die Darstellung von Prokopowitsch traf nicht immer zu. Die Höhe des Lohns hing von dem Industriezweig, von der Qualifikation, dem Alter und dem Geschlecht ab.40 So bekamen die Arbeiterinnen im allgemeinen das geringsten Lohn. Die Textilindustrie bezahlte die niedrigsten Löhne und die Metallindustrie die höchsten, was mit der der hohen Qualifikation der Metallarbeiter zusammenhing, die eine große Rolle spielte. Die Metallschneider bekamen 500-600 Rubel pro Jahr im Vergleich zu 200-300 Rubeln, die die ungelernten Arbeiter im Schnitt erhielten.41 Wenn man berücksicht, daß laut Prokopowitsch etwa 600 Rubel im Jahr 1908 notwendig waren, um eine Familie zu gründen, dann ist klar, daß die Chancen der letzteren Lohngruppe nicht gut aussahen. Dies war auch tatsächlich der Fall, denn laut McKean war, die Mehrheit der Arbeiter ledig oder wohnte in der Stadt ohne eine Familie.42 Die Arbeitsstunden die man für diesen Lohn arbeiten mußte, wurden im Jahr 1897 auf 11,5 Stunden während der Woche und 10 Stunden an Samstagen begrenzt. Im Sog der Revolution von 1905 wurde die Forderung der Arbeiter nach einem achtstündigen Arbeitstag erfüllt. Aber als sich wegen der schlechten Lage der Wirtschaft nach 1907, die politische Lage zugunsten der Unternehmerschaft veränderte, wurde der Arbeitstag wieder etwas verlängert. So galt in der Mehrheit 38Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg bis 1917, S. 117. S. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 30 (1910), S. 66-90, S. 79. 40Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 36. 41Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 118-119. 42Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 20-21. 39 -13- der Betriebe der Hauptstadt laut einer Studie der Unternehmerschaft aus dem Jahre 1907 ein Grundarbeitstag von 10,0-10,5 Stunden.43 Aber die Unternehmer nutzten in dieser Zeit auch das Instrument der Überstunden, um den Arbeitstag zu verlängern, weil die Arbeiter sich dagegen wegen der Androhung der Entlassung nicht wehren konnten.44 So konnte die Länge des Arbeitstags effektiv etwa 2-3 Stunden über der Grundarbeitszeit steigen und dazu gehörte noch nicht einmal die Zeit, die der Arbeiter auf dem Weg von seinem Wohnort zur Arbeit und zurück verbrachte. Infolge des langen Arbeitstags und der mangelhaften Arbeitssicherheit, die fast in alle Industriezweigen der Stadt die Norm war, war die Rate der Verletzungen und Berufskrankheiten verhältnismäßig hoch. Jeder Arbeiter konnte laut Steffens statistisch mindestens einmal pro Jahr mit Verletzungen rechnen und die Metallindustrie war die unfallträchtigste Branche überhaupt.45 Im allgemeinen wurde allenortens an der Sicherheitstechnik oder dem Arbeitsschutz für die Arbeiter gespart, so daß z.B. gefährliche Maschine ohne Schutzgitter gelassen wurden. In der Textilindustrie war es auch üblich, daß unerfahrene Arbeitskräfte an den komplizierten Maschinen eingesetzt wurden, weil der Unternehmer sparen wollte. Dergestalt vergrößerte sich die Verletzungsgefahr und auch bei der Rate der Berufskrankheiten.46 Man kann feststellen, daß Frauen und Jugendliche das Gros dieser billigen und unerfahrenen Arbeitskräfte bildeten, weil diese Gruppe auch wenige Möglichkeiten hatte, eine Lehre zu machen. Im allgemeinen verlangte auch die Textilindustrie fast keine Fachkenntnis von ihrer Arbeiterschaft, weil die hohe Mechanisierung, den Arbeitsprozeß vereinfachte. Nach 1907 nahm diese Entwicklung besonders wegen der schwierigen Lage der Wirtschaft weiter zu.47 Die Verwaltung der Fabrik wurde in einem hierarchischen System geordnet. Auf der untersten Ebene dieser Rangsordnung waren die Vorarbeiter der verschiedenen Abteilungen.48 Sie hatten die Macht Arbeiter zu entlassen und einzustellen, aber außerdem wurden auch der Lohn und ggf. das Strafgeld von ihnen abgerechnet. Diese große Macht, über die der Vorarbeiter verfügte, gab 43Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 108-111. ebd., S. 113-114. 45Vgl ebd., S. 98, 95. 46Vgl ebd., S. 96. 47Vgl. Victoria E. Bonnell, Roots of Rebellion, S. 319-320. 48Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 39. 44Vgl -14- nicht selten Anlaß zum Mißbrauch, woran z.B. der Fabrikarbeiter P. Timofeev in seiner Darstellung hindeutet. Nach ihm hing eigentlich die gesamte Existenz der Arbeiter vom Vorarbeiter ab.49 Deshalbs mußten sie sich oft die Erniedrigungen, die er gegen seine Arbeiter richtete, gefallen lassen, um eine Entlassung zu vermeiden. Der Zorn der Arbeiter wegen der Ungerechtigkeit des Vorarbeiters nahm jedoch manchmal die Gestalt einer Revolte gegen ihn an, die uns die Forderungen der Arbeiter nach menschenwürdiger Behandlung deutlich vor Augen führt. Aber nach dem Ende der Revolution von 1905, die diese Forderungen der Arbeiter unterstützt hatte, wurde im Jahre 1907 die alte Autokratie in der Fabrik wiederhergestellt. Das Strafgeld und die Durchsuchungen der Arbeiter bei Verlassen der Fabrik, wurden wieder eingeführt und die Fabriksinternevertretung der Arbeiter wurde abgeschafft.50 In der Fabrik herrschte deshalb wie vor dem Jahr 1905 eine strenge Disziplin und die steigende Arbeitlosigkeit gab den Arbeitern wenig Chancen sich ihr zu widersetzen. Nach dieser Skizze der Arbeitsbedingungen kann man festhalten, daß die Arbeit, die die Basis der Existenz der Fabrikarbeiterschaft bildete, unsicher und instabil war. Die Arbeiter hatten kaum ein Anrecht auf gerechte Behandlung und konnten ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, sondern waren ihrem Arbeitgeber und seinem Stellvertreter, dem Vorarbeiter relativ hilflos angeliefert. Die hohe Rate der Verletzungen und Berufskrankheiten sowie die niedrige Entlohnung kamen erschwerend hinzu und vermehrten das Elend, das das Leben der Arbeiterschaft außerhalbs der Fabrik wiederspiegelte. 3.2. Lebensbedingungen und das Alltagsleben der Arbeiterbevölkerung Wenn die Sirenen der Fabrik das Zeichen gaben, daß der Arbeitstag zu Ende war, gingen Hunderte von Arbeitern auf die Straßen der Stadt hinaus und machten sich auf dem Weg zu ihren Wohnplätzen. Dort trafen sie in den meisten Fällen kein schönes Bild an, wie die folgende Darstellung der sogenannten Winkelwohnungen verdeutlicht: „Der hervorragendste Zug dieser Wohnungen (...) ist ihre außerordentliche Ueberfüllung, die zuweilen schreckliche Dimensionen annimmt. (...) [Man] 49Vgl. P. Timofeev, What the Factory Worker Lives By. In: Victoria E. Bonnell (Hg.), The Russian Worker. Life and Labour under the Tsarist Regime. Berkley 1983, S. 72-112, S. 105. 50Vgl. Stephen A. Smith, Red Pedrograd. Revolution in the Factories, 1914-1918. Cambridge 1983, S. 38. -15- schläft nicht nur in den Wohnzimmern und in der Küche, sondern auch auf den Fluren, in den engen Durchgängen, nicht selten in Räumen ohne Licht, in Winkeln, wo kein Luftwechsel möglich ist. (...) Die Luft in solchen Wohnungen ist so „dick“, daß sogar zur Sommerzeit bei offenen Fenstern ein frischer Mensch nur sehr schwer atmen kann.“51 Auch hier gilt es wiederum zu differenzieren, denn das Wohnmuster hing vor allem vom Lohn, aber auch vom Familienstand ab. Zwei Untersuchungen aus dem Jahr 1907 geben uns einige Informationen dazu, einerseits die bereits erwähnte Studie von Prokopowitsch und andererseits die Untersuchung von Davidowitsch. Laut Prokopowitsch wohnten 47% der Familien in einer Wohnung und von diesen hatten etwa 18,8% Untermieter, während circa 47,6% der Familien nur ein ganzes Zimmer mieteten. Angesichts dieser Daten kann man davon ausgehen, daß ein Anteil von 94,6% der befragten Familien über mindestens ein Zimmer verfügten. Von ledigen Arbeitern wohnte nur ein kleiner Teil in einer Wohnung, aber etwa 30,4% dieser Personen stand ein ganzes Zimmer zur Verfügung.52 Nach der Untersuchung von Davidowitsch prägt das Bild ein ganz anderes Wohnmuster, weil seine Befragten in der Textilindustrie beschäftigt waren und deshalb ihre Einkommen unter dem Lohndurchschnitt der Stadt lagen. Nach diesem Autor konnte kaum die Hälfte der Familien und fast keine Einzelperson sich ein ganzes Zimmer oder gar eine Wohnung leisten. Deshalb mieteten die meisten einen „Winkel“ oder eine Schlafpritsche.53 Diese zwei Studien geben wenig Raum für Verallgemeinerungen, weil sie nur einen begrenzten Anteil der Petersburger Arbeiterschaft erfassen. Sie geben uns jedoch einen Einblick in Lebensdimension, die die verschiedenen Varianten der Wohnformen unter der Arbeiterschaft annahmen und zeigen deutlich, daß die Löhne und der Familienstand bezüglich der Wohnform eine wichtige Rolle spielte. Außerdem bekommen wir auch ein Gefühl dafür vermittelt, mit was die Arbeiterschaft zu Hause jeden Tag konfrontiert wurde. Wie das obige Zitat bereits angedeutet hat, kann man feststellen, daß im allgemeinen die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft ungeheuer schlecht waren. Wenn man weiter berücksichtigt, daß ein Arbeiter jährlich etwa 500 Rubel verdienen mußte, um ein Zimmer zu mieten, wird klar, daß nur ein geringer Anteil 51 S. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, S. 90. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 161 53Vgl ebd., S. 161. 52Vgl. -16- der Arbeiterschaft sich einen solchen Luxus überhaupt leisten konnte.54 Deshalb mußte ein verhältnismäßig großer Anteil der Arbeiterschaft seine Wohnplätze mit anderen Personen teilen bzw. einen „Winkel“ oder eine Schlafpritsche in einer Wohnung mieten. Es kam auch vor, daß mehrere „Landsleute“ (d.h. diejenigen, die aus dem gleichen Bezirk oder Dorf stammten) sich in - dem sogenannten Artel - einer Art von Kommune zusammen wohnten. Das enge Zusammenwohnen, das oft pro Person nur der Fläche des Bettes entsprach, und die damit zusammenhängenden unhygienischen Zustände, schufen günstige Bedingungen für verschiedene Krankheiten. Die Ansteckungsgefahr wurde dadurch auch größer, daß in solchen Wohnplätzen fast alle nebeneinander schlaften mußten. Die Möglichkeit, ein bißchen Privatleben zu führen, gab es auch kaum nicht, was für Familien besonderes anstrengend war. Kinder mußten so das unsittliche Benehmen der anderen Mitbewohner ansehen, insbesondere in der Gestalt häufiger Betrunkenheit. Dies hatte eine prägende Wirkung, so daß Jugendliche aus diesem Milieu frühzeitig eine Zuneigung zum Alkohol entwickelten.55 Die Ernährungsweise der Arbeiterschaft hing auch von den Löhnen und vom Familienstand ab. Laut Prokopowitsch bekam nur ein kleiner Anteil von ihnen eine Verköstigung durch den Arbeitgeber und deshalb mußten sie selbst dafür sorgen.56 Die Alleinstehenden, die normalerweise keinen Haushalt führten, waren öfters darauf angewiesen außer Haus zu essen, z.B. als Kostgänger in anderen Familien, in Gasthäusern oder in ihren Artelgemeinschaften. Die Familien oder diejenigen mit höheren Löhnen führten meistens einen Haushalt und aßen deswegen zu Hause.57 Das Essen zu Hause war im Bezug auf die Reichhaltigkeit und die Qualität der Nahrung oft besser als das Essen in Wirts- oder Gasthäusern, wo den Behauptungen befragter Arbeiter zufolge die „ (...) Gerichte dort aus den Abfällen der Lebensmittel zubereitet [wurden].“58 Insbesondere war das Essen zu Hause etwas besser, wenn die Frau nicht in der Fabrik arbeiten mußte. Dann konnte sie sich mehr Zeit für die Vorbereitung des Essens nehmen und auch die teuren und schlechten Fabrikläden zu vermeiden suchen, um so den größten Anteil des Haushaltsbudgets (38%-52%) etwas senken. Aber obwohl das Essen zu Hause 54Vgl. Robert B. McKean, St. Petersburg between the Revolutions, S. 40. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, S. 91-92. 56Vgl. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 143. 57Vgl ebd., S. 142-43. 55Vgl. -17- etwas besser war, diente es auch dort nur dem Zweck, den Hunger zu stillen.59 Im Hinblick auf die Zusammensetzung war das Essen sowohl nährstoffarm als auch eintönig. Fleisch, Milch und Früchte wurden kaum konsumiert und man kann sagen, daß im allgemeinen Brot den größten Anteil an der Ernährung besaß. Nach Steffens war die Tagesration Brot für männliche Metallarbeiter circa 1.000 g und für männlichen Textilarbeiter etwa 1002 g im Vergleich zu respektive 400 g Fleisch und 288 g Fleisch und Fisch.60 Aus diesem Grund wurden die Bedürfnisse des Körpers nach Eisen und Protein kaum anreichend befriedigt, so daß die natürliche Wiederstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten schwach ausgebildet war, wie uns die hohe Sterblichkeitrate der Arbeiterschaft deutlich erkennen läßt. Die Ausgaben für Kleidung rangierten im Vergleich zu den zwei Posten, Wohnung und Nahrung, unter „ferner liefen“. Die Arbeiter trugen in der Regel ein dunkles Hemd oder, eine rauhe Wolljacke und Hosen. Hier gab es jedoch einige Unterschiede, die laut Kanatchikov Rückschlüsse auf das Sozialprestige und den Status der betreffenden Arbeiter zulassen. So legten die Facharbeiter, die keine starke Verbindung zum Dorf hatten, mehr Wert darauf, was sie trugen und man konnte einen großen Unterschied zwischen ihnen und denjenigen Arbeitern, die mehr mit dem Dorf verbunden waren, sehen. Die letzteren trugen ein traditionelles Baumwollhemd, ihr Haar wurde „unter einem Topf“ geschnitten und sie hatten einen langen Bart. Die anderen schnitten ihr Haar nach der sogenannten „polnischen Mode“ und zogen Kleidung an, die in Mode war.61 Die Arbeiterinnen trugen lange Röcke, Baumwollblusen und Baumwollkopftücher.62 Prokopowitsch zeigt uns, daß der Kauf getragener Kleider in der Arbeiterschaft ziemlich weitverbreitet war. Ungefähr ein Anteil von 44.7% der befragten Alleinstehenden und 71,4% der befragten Verheirateten kauften getragene Kleider.63 Wenn man berücksichtigt, daß trotz des durchschnittlich höheren Lebenstandards der Befragten der Prokopowitsch-Studie ein ziemlich großer Anteil getragene Kleidung kaufte, kann man sich vorstellen, daß im allgemeinen der Kauf getragene Kleidung in der Arbeiterbevölkerung an der Tagesordnung war. Auf diese Weise vergrößerte 58Vgl. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, S. 92. Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917, S. 147. 60Vgl ebd., S. 144, 147. 61Vgl. Reginald E. Zelnik (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia, S. 46-47. 62Vgl. Stephen A. Smith, Red Pedrograd, S. 45. 63Vgl. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, S. 93. 59Vgl. -18- sich aber auch die Verbreitung ansteckender Krankheiten, was die Sterblichkeitsrate unter den Arbeitern noch einmal in die Höhe trieb. Die Ausgaben für diese drei Posten (Wohnung, Nahrung, Kleidung) verteilten sich unter den Befragten der Prokopowitsch-Studie wie folgt: Ausgaben 200-300 rb jährlich Ausgaben 300-400 rb jährlich Alleinwohnende: Familien: 80,78% 94,72% 72,10% 87,42% Quelle: Sergej Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 30 (1910), 66-90. S. 93. Diese Ziffern zeigen uns, daß im Schnitt 80% des Lohns nur für das nachte Überleben ausgegeben werden mußte. Deswegen blieb nur ein geringer Anteil übrig, um die geistigen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings ist zu konzedieren, daß der Arbeiter Lohns, der für die Lebenshaltung ausgegeben werden mußte, sich nach der Einkommenshöhe und dem Familienstand orientierte, so daß Alleinstehende der höhern Lohngruppe immerhin knapp 28% ihres Einkommens für andere Dinge ausgeben konnten. S. I. Kanatchikov informiert uns auch darüber in seiner Autobiographie. Er konnte sich Bücher leisten und er besuchte auch Abendsklassen sich fortzubilden.64 Aber im allgemeinen war dies wegen des Geldmangels nicht immer der Fall. Wenn man über dies bedenkt, daß die Arbeiter einen langen Arbeitstag durchlaufen mußten, wird es klar, daß die knappe Freizeit kaum für geistige Beschäftigungen genutzt wurde. Die geringe Freizeit und das wenige übrigbleibende Geld benutzten die meisten lieber dazu in Kneipen, die Sorgen ihres Alltags im Alkohol zu ertränken. Deshalb war der Alkoholkonsum weitverbreitet unter den Arbeitern und spielte eine große Rolle in ihrem Alltags. Insbesondere Zahltage (d.h. die Samstage) verbrachten die Arbeiter in den Kneipen und manchmal wurde Bacchus bis zum Montag gehuldigt. Aber die meisten Arbeiter besuchten auch den Gottesdienst, wozu sie manchmal auch vom Arbeitgeber angehalten wurden.65 Im allgemeinen kann man sagen, daß die Arbeiterschaft vor der Revolution ziemlich religiös war, zumindest wenn man 64Vgl. Reginald E. Zelnik (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia, S. 109. Victoria E. Bonnel, Introduction. In: The Russian Worker. Life and Labour under the Tsarist Regime. Berkeley 1983, S. 1-34, S. 25-26. 65Vgl. -19- auäßere Anziehen wie Ikonen, die in der Wohnungen und am Arbeitsplatz angestellt wurden, in Betracht zieht. In der Realität war diese Frömmigkeit allerdings oft vordergründig, weil einfach das Elend des Alltages und die schlechten Lebensbedingungen dagegen sprachen. Zum Alkoholismus gesellte sich dann auch noch in einem gewissen Rahmen die Prostitution, die u.a. auch betrieben wurde, um die geringen Einkommen in Einklang zu den Ausgaben zu bringen - also schlichtweg aus Armut.66 Es läßt sich also zusammenfassend festhalten, daß die Existenzbedingungen der Arbeiter sehr schlecht waren. Krankheiten, hohe Sterblichkeitraten, Alkoholismus, Prostitution und die schlimmen Arbeitsbedingungen formierten sich zu einem fast unüberwindlichen Geflecht von Rahmenbedingungen, die das Elend der Arbeiterschaft in einem für uns heute kaum vorstellbaren Maß vermehrten. Die ungesicherte soziale Lage der Arbeiter, die permanente Bedrohung durch Arbeitslosigkeit erlaubte ein Absenken der Löhne, niedrige Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz, begünstigte die Prostitution und den Alkoholismus und trieb die Arbeiterschaft tendenziell in einen Teufelskreis aus Krankheit, Armut und Elend, aus dem es praktisch kein Entrinnen gab. 4. Zusammenfassung St. Petersburg spielte eine wichtige Rolle auf der politischen Bühne des 20. Jahrhunderts. Hier wurden die ersten Funken der zwei Revolutionen ausgelöst, die schließlich zum Zusammenbruch des Zarenreiches führten. In der Stadt hatten verschiedene Kräfte dazu beigetragen, daß die Selbstherrschaft des Zars in ernsthafte Gefahr geriet. Die Arbeiterschaft der Stadt, deren Kraft mit jedem neuen Ankömmling vom Lande zunahm, war ein wichtiges Glied in der Koalition der revolutionären Kräfte. Die Unzufriedenheit und der Zorn der Arbeiter wuchs mit jedem Tag, den sie unter ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen litten. Die zweifache Rolle der Stadt - einerseits als Wohnort und andererseits als Industrieort - hatte erheblichen Einfluß auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Als Wohnort kennzeichnte die mangelhafte Infrastruktur die Stadt, 66Vgl u.a. Sergej E. Prokopowitsch, Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, S. 79. -20- die nicht der wachsenden Einwohnerzahl entsprach. Die Besiedlungsdichte war groß und die Dezentralisation der Stadtbevölkerung in der Gestalt von Vor- und Trabantenstädten hatte kaum stattgefunden. Die Probleme der Kanalisation und der Trinkwasserversorgung waren während der Untersuchungszeitraums nie zufriedenstellend gelöst worden - erst im Jahr 1914 wurde eine Fernleitung zum Ladogasee gebaut. Aufgrund dessen war das Gesundheitsniveau der Stadt niedrig und konnten sich Epidemien und Krankheiten sehr schnell verbreiten. Wegen ihrer schlechtesten Lebensbedingungen forderten sie einen besonders hohen Zoll von der Arbeiterschaft. Die Arbeiter wohnten meistens schlecht und ihre Wohnplätze waren ungesund. Ihre Wohnungen waren jedoch oft nicht weit entfernt von den besseren Wohnungen, die den Bürgern oder Adeligen gehörten. Dies verhinderten allein schon die Besiedlungskonzentration und die Wohnungsnot in der Stadt und so waren die einzelnen Viertel ziemlich stratifikatorisch gemischt. Dies gab der Arbeiterschaft einen Einblick in das Leben der „oberen Schichten“, wo ganz andere unvergleichlich viel bessere Lebensbedingungen das Bild prägten. Dadurch konnte die Arbeiterschaft ihre Existenzbedingungen mit dem Leben der anderen sozialen Schichten in der Stadt vergleichen, weshalb ihre Unzufriedenheit im allgemeinen und das Klassenbewußtsein bei einigen wenigen Arbeitern weiter zunahm. Die Industrie der Stadt lag vorwiegend innerhalb der Stadtgrenzen. Die Arbeiter mußten deshalbs auch dort wohnen und sich an das städtische Milieu anpassen, das die Verbindungen zum Dorf besonders im wirtschaftlichen Sinne störte. So verlangte die fortschrittliche Industrie der Hauptstadt von ihrer Arbeiterschaft eine permanente Einstellung und im Unterschied zu anderen Gebieten, die etwas rückständiger waren, gab es fast keine Gelegenheit gleichzeitig neben der Arbeit in der Fabrik auch Landwirtschaft zu betreiben. Die Petersburger Arbeiterschaft verfügte dafür über bessere Bildungsstandards die später eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Solidarität und der Organisation in Gewerkschaften spielten. Angesichts der schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter kann man ihren Zorn und ihre Rolle in den revolutionären Ereignissen besser verstehen. Soziale und ökonomische Faktoren, sowie ihre Folgewirkungen wie Krankheit, hohe Sterblichkeitsraten, Alkoholismus und Prostitution erklärten die Entstehung eines enormen sozialen Konfliktpotentials, das sich in der Revolution von 1917 eruptiv -21- entlud. Die kleine Elite der klassenbewußten Arbeiter fungierte in diesem Prozeß als Transmissionsriemen, der die Arbeiterschaft dafür sensibilisierte, daß ihre Lage kein gottgegebenes Faktum, sondern das Produkt der gesellschaftlichen Ordnung darstellte und schuf somit die Voraussetzung dafür, daß die Arbeiter sich gegen das Regime erhoben. -22- 5. Literaturverzeichnis Bater, James H., Between Old and New. St. Petersburg in the Late Imperial Era. In: Michael F. Hamm (Hg.), The City in Late Imperial Russia. 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