An-Ruf und Ant-Wort: Sprache und Alterität

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Dieter Mersch
An-Ruf und Ant-Wort: Sprache und Alterität
1. Anruf
„He, Sie da!“1 Der Anruf bewirkt meine Umwendung, auch wenn ich nicht weiß, ob er mir
gegolten hat. Ich zolle ihm Aufmerksamkeit, ohne gewahr zu sein, daß ich ein Angerufener
bin. Ich habe mich bereits umgewendet, indem ich ihn gewahrte und aufnahm, auch wenn
ich seinen Sinn nicht verstand, oder er vielleicht nicht einmal eine Bedeutung gehabt hat.
Meine Umwendung ist Re-Aktion, kein Reflex, der unwillkürlich geschieht, vielmehr AntWort, selbst wenn ich den Ruf übergehe und seine entschlossene Beantwortung verweigere.
Offenbar kommt dem Anruf die Macht zu, mich re-agieren zu lassen. Louis
Althusser ist in seiner Erhellung der Macht des Ideologischen von der Struktur solcher
„Anrufung“ (interpellation) ausgegangen.2 Er hat damit einen Ausdruck verwandt, den in
ähnlicher Weise auch Emmanuel Lévinas seiner Untersuchung der Sprache voranstellte.3
Indem aber Althusser einfache Formen der Intervention durch einen Polizisten auf der
Straße zugrundelegte, entzifferte er im Augenblick der Umwendung das Schema der
Anerkenntnis einer Macht. „Warum? Weil [das Subjekt] damit anerkennt, daß der Anruf
‘genau’ ihm galt und daß es ‘gerade es war, das angerufen wurde’ [und niemand
anderes].“4 So konstituiert der Akt der Anerkenntnis das Subjekt zugleich als
ideologisches. Der Anruf ruft es in eine Struktur, in die es immer schon hineingezogen ist,
ohne sie gewollt oder eigens akzeptiert zu haben. Das Ideologische kennzeichnet nichts
Bewußtes; es gehört weder der Ordnung von Herrschaft und Unterdrückung noch der
Struktur der Infiltration an: Es geht dem Subjekt voraus, indem sie es ermöglicht.
Die Szene ist freilich gebunden an die Realität der Macht. Der Ruf galt einem
Passanten, der durch den Polizisten als ihren Repräsentanten angehalten wurde. Insofern
bleibt die Analyse zwiespältig: Althusser denkt die Sprache als Sprache der Macht. Sie ist
bereits Ideologie. Doch unabhängig davon läßt sich in der fiktive Szene zugleich die
Urszene des Angesprochenwerdens selbst durch die Sprache ablesen. Sie erhellt nicht so
sehr das Funktionieren der Ideologie, als vielmehr die Form der Kommunikation als
Ereignis von Alterität. Gewiß ist aus ihr die Macht niemals auszustreichen. Es gibt die
Hierarchie, die Staatsgewalt, die subtilen Spiele von Herrschaft und Knechtschaft, von
Demütigung und Ignoranz bis in die einfachsten Unterhaltungen hinein. Aber zunächst und
in erster Linie schafft der Anruf die Tatsache des Dialogs und stellt damit allererst den
Raum der Sprache her. Er öffnet die Möglichkeit ihrer Performanz. Es wäre die
Konstitution einer Bühne, auf der die besonderen Szenen der Macht und der Unterwerfung
wie auch des Widerstandes ihren Platz fänden.
Das bedeutet, die Struktur der Sprache als soziales Geschehen vorgängig aus der
Struktur der Anrufung zu verstehen. Sie erlaubt einen anderen Blick auf das, was man die
1
Althusser 1977: 142
vgl. Althusser 1977: 130-154, bes. den Abschnitt Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an 140ff.;
dazu auch kritisch: Butler 1995: 6-26 und dies. 1998: 25-35, 41-47
3
Lévinas 1993: 141f. Ferner ders. 1995: 165
4
Althusser 1977: 143
2
2
„Performativität“ des Gesprächs nennen könnte. Denn der Anruf geht der Sprache voraus,
indem er an-spricht und damit die Situation der Rede erst erschafft. Doch gleichzeitig ist
der Anruf selbst schon Rede, wie er umgekehrt das Hören noch voraussetzt. Erneut sind
wir so mit der jener Anfangslosigkeit konfrontiert, die das Thema der Sprache seit
Saussure, Heidegger und Wittgenstein beschäftigt. Wir beginnen nicht völlig unvorbereitet;
wir sagen nicht irgend etwas, sondern alles Sprechen geschieht bereits im Rahmen einer
„Primordinalität“ von Sprache, ein Umstand, dem der Strukturalismus dadurch Rechnung
getragen hat, daß er die Sprache, langue, als Ordnung verstand, die die Performanz der
Rede konstituiert, wie gleichermaßen Heidegger davon gesprochen hat, daß nicht „wir“
sprechen, indem wir die Sprache gleich einem instrumentum oder ein zur Verfügung
stehendes Medium nutzen; vielmehr ist die Sprache: Sprache. „Die Sprache spricht“.5 Die
Kette von Tautologien entlarvt die Sinnlosigkeit ihrer Objektivierung. Das bedeutet auch:
Die Sprache kann nicht länger als der Ort einer diskursiven Vernunft fungieren, die sich
selbst einholt; vielmehr rückt sie in die Anonymität eines Geschehens, dessen Kreativität
weder Begriff noch Bestimmung oder Maßstab zuläßt. Demnach gibt es auch keine
ausschöpfende Philosophie der Sprache, die sie nicht wesentlich reduzierte – eine
Konsequenz, die gleichermaßen Wittgenstein in seinen lediglich noch „exemplifikatorisch“
verfahrenden Philosophischen Untersuchungen dadurch gezogen hat, daß diese nicht mehr
„über“ Sprache handelten, sondern nurmehr „Beispiele“ vorführten: partielle Sprachspiele,
die als „kritische Vergleichsmodelle“ figurierten, die sich selbst erläutern.6
Wenn daher der Anruf die Szene der Sprache eröffnet, so selbst schon im Rahmen
von Sprache. Das bedeutet auch, daß ich durch die Sprache angerufen werde, ja durch sie
bereits angerufen bin, noch bevor irgend etwas gesagt ist. Dabei ist nicht so sehr
entscheidend, wie Lévinas gesagt hat, daß die Art der Appellation auf den Anrufenden
selbst zurückschlägt, insofern „(d)en Anderen ansprechen heißt, seinen Ausdruck
empfangen“.7 Vielmehr geht es zuerst und zunächst um die Reformulierung einer
„Vorstruktur“, die keine hermeneutische ist, die zwar ihren Ort in der Sprache findet, die
gleichwohl aber erst die Möglichkeit der Rede determiniert. In diesem Sinne muß der
Anruf kein Wort sein; häufig genügt er sich im Laut, in der Interjektion. D.h., ich werde
nicht durch einen Satz oder eine bestimmte Aussage angesprochen: Das „He, Sie da!“
bedeutet nichts; es spricht nicht einmal etwas Bestimmtes an, vielmehr ruft es in die
Sprache hinein, rückt mich an ihren Platz. Solches Einrücken meint, daß ich, als
vermeintlich Angerufener, dadurch allererst einen Ort gewinne. Der Anruf weist mir
gleichsam eine Position zu, von dem aus ich zu sprechen vermag. Er ermöglicht meine
Rede und damit den Dialog. Nicht notwendig muß ich mich dabei konkret angesprochen
fühlen; auch das Schweigen, die Tatsache, gerade nicht angesprochen zu sein, wie Judith
Butler bemerkt hat, jene undurchdringliche Stille, die unnachgiebiger sein kann als das
Sprechen und eine Spannung des Wartens gebiert, kann mich anrufen und mir eine
Stellung zuerteilen, z.B. mir unmöglich machen, überhaupt das Wort zu ergreifen.8 In
diesem Sinne läßt sich sagen, daß das Schweigen schon zur Sprache gehört, die Sprache
voraussetzt.
Gleichwohl ist eine Unterscheidung angebracht, die den Horizont betrifft, in dem
Sprechen geschieht. Der Anruf ermöglicht – oder verunmöglicht – das „Daß“ des
Sprechens, die spezifische Präsenz des Dialogs. Das impliziert zugleich, daß solcherart
5
Heidegger 1975: 13
Wittgenstein 1971: 24 (§ 23)
7
Lévinas 1993: 64
8
vgl. Butler 1998: 45
6
3
Anrufung zwar der Rede vorangeht, aber nicht selbst schon Sprache im Sinne der
Verständigung, der Kommunikation ist, auch wenn sie zu ihr gehört. Selbst wenn sie
spräche, wenn sie sich als Ruf artikulierte und nicht nur fordernd schwiege, bliebe sie
lediglich Verweis, d.h. im Modus eines Zeigens. Der Ruf berührt mich, er weist auf mich
als Angerufenen; aber er spricht nicht zu mir, er spricht mir nicht zu. Und das meint
wiederum: Der Anruf – galt er überhaupt mir? – wendet sich in seiner Indirektheit nicht
ausdrücklich an mich. Er hat noch nicht die Gestalt einer Beziehung. Er bezeichnet
demnach jenes Ereignis, das, wie auch eine gewisse Form von Schweigen, das Nicht-Sagen
zerreißt und mich oder irgend jemand anders auffordert zu ant-worten. Das gilt auch dann,
wenn ich mich ihm verweigere, wenn ich so tue, als hörte ich nicht hin, oder wenn ich die
Situation buchstäblich übergehe: All dies sind nur Modalitäten einer selbst noch
antwortenden Negation. Ich bin – vielleicht – angerufen worden: aber ich stelle mich nicht:
Dann besteht meine Ant-Wort darin, nicht zu antworten, den Anruf zu ignorieren und
weiterzugehen. In diesem Sinne kann die Fortsetzung des Nicht-Sprechens selbst eine
Antwort sein, sogar, wie Karl Popper gegen Karl-Otto Apel eingewandt hat, ein
„Argument“. D.h. wie immer ich reagiere oder mich äußere, ob ich schweige oder mich
entrüstet verwahre, ob ich im Sinne der Rede eine direkte Replik vornehme oder den
Anrufenden durch meine Antwortlosigkeit beschäme: Ich habe bereits geantwortet. Wie
immer ich mich also verhalte: Der Ruf, sein Appell stellt mich in die Unausweichlichkeit
eines Antwortens. Diese Unausweichlichkeit ist nicht Pflicht, sondern sie nennt die
Unmöglichkeit, sich entziehen zu können. Der Ruf „ersucht mich“, wie Lévinas es
ausgedrückt hat. Und es ist dieses Ersuchen, diese Unausweichlichkeit des Antwortenmüssens, aus der die Performanz der Rede als Beziehung, als Kommunikation schöpft.
M.a.W.: Die Eröffnung des performativen Feldes beruht überhaupt erst auf dem
Ereignis der Anrede. Es konstituiert die Sprechsituation gleichwie die beteiligten Subjekte
und stellt sie damit von vornherein in die Sekundarität eines Anderen. Im Anruf spricht
deswegen die Sprache im Sinne der Alterität an: Wir können uns nicht weigern, den Anruf
entgegenzunehmen; er ruft uns in die unvermeidliche Struktur der Responsivität hinein.
Auf diese Weise werde ich, wie Lévinas weiter vermerkt hat, „auf den anderen Menschen
verwiesen, durch den mir der Anruf bedeutet“.9 Wohl gemerkt: Nicht notwendig muß man
mich dabei konkret angesprochen haben: Angerufen-sein heißt nicht, durch jemand
Bestimmtes angesprochen sein, sowenig sich der Anruf an jemanden wendet, um seine
spezifische Antwort zu erhalten. Vielmehr ist er bereits ergangen, wenn sich jemand
überhaupt angesprochen fühlt. D.h. der Anruf hat nicht eigentlich einen Adressaten: Er
geschieht, und sein Geschehen stellt mich in eine Relation zum Anderen, aus der wiederum
das Ereignis des Sprechens hervorgeht. Etwas zieht mich in die Sprache, fesselt mich,
etwas, was sich zwar im Medium der Sprache ereignet, aber die Performativität des
Gesprächs bedingt. Es bedrängt mich mit dem Anspruch des Anderen, flüstert mir zu,
schmeichelt sich ein oder fordert mit der gebieterischen Kraft einer Autorität. Man könnte
daher sagen, daß das Ereignis des Anrufs das Begehren der Sprache evoziert, gesprochen
zu werden: Spur einer Präsenz, eines unwiderruflichen In-Erscheinung-tretens, an dem ich
nicht vorbeikomme: Appell, der nötigt und mich zum Sprechen bringt.
Und wiederum erhellt sich seine eigentümliche Macht vielleicht dort am
Eindringlichsten, wo gerade nicht gesprochen wird oder wo umgekehrt ein plötzlicher Laut
die Stille aufreißt und vergebliche Erwartungen knüpft. Gerade in der Eisigkeit des NichtAntwortens, das gewiß oft unvermeidlich ist, liegt die Signatur einer Verletzung, wie sie
9
Lévinas 1995: 165
4
nur der Sprache zufällt und deren Schmerz zuweilen tiefer reichen kann als offene Gewalt.
Es gibt das ausbleibende Wort, das einen verzweifeln läßt, der Schnitt, dessen Wunde die
Möglichkeit des Bezugs selbst betrifft und restlos unser Verhältnis zum anderen zu
erschüttern vermag,10 wie auch umgekehrt das inadäquate, das ent-setzliche Wort, das nicht
nur Fehl am Platze war, sondern einen Abgrund offenbart. Die Sprache geht deshalb
niemals in ihrer Bedeutung, im Verständnis ihres Sinns auf: Sie ist eine Praxis, die
gleichsam vom „Gewicht des Anderen“, seiner „Gravitation“ getragen und gehalten wird.
Sie ist entsprechend nicht ausschließlich ein Phänomen der Interpretation, keine Textur, in
der nur das Gesagte eine Rolle spielt. Aber ebensowenig bringt sie, wie Austin und Searle
oder auch Habermas über die Hermeneutik des Sagens hinaus betont haben, das Soziale im
Akt ihres Vollzugs hervor, sondern sie geschieht allererst vom Ort der Alterität her, den
wir gleichsam durch sie „erleiden“. Der Terminus des „Erleidens“ betont dabei die
besondere Passivität einer Konstitution, eines „Empfangens“, wie sie ähnlich an Bildern
erfahrbar ist, die den Blick fokussieren, selbst da, wo sie mir nichts sagen oder restlos ins
Unverständliche gleiten. Was dort sich allerdings als ein „Auratisches“ bemerkbar macht,
ergeht hier mit dem Nimbus des Appells, der in seiner Dringlichkeit zugleich eine ethische
Note beinhaltet. Ich werde durch ihn, wie es wiederum Lévinas formuliert hat, „gestellt“.
Das will sagen: Der Andere stellt mich in die Notwendigkeit einer Responsivität, ohne daß
schon eine Frage ergangen sein muß. Vielmehr eignet dem Anruf eine genuine
Fraglichkeit; er hat mich „in Frage gestellt“ und Angesprochen-sein heißt, einer Frage zu
ent-sprechen suchen, die nie gestellt war oder dessen Sinn verdeckt bleibt.
Damit ist in der Performativität der Sprache zugleich die Vorgängigkeit einer
Appellation angezeigt, die sie bedingt und deren Horizont weit hinausgreift auf die
Möglichkeiten des Ausdrucks und des Handelns. Daß das Ereignis der Anrufung der Rede
ihren Raum zuweist, bindet sie auf eine nicht zu verweigernde Weise an das, was mit der
„Gravitation der Alterität“ gleichzeitig ihre „Gravität“ bezeichnet, an der das Soziale hängt
und die auf das ganze Wortspiel der „Gravitas“ und der „Grazie“ verweist, woran Michel
Serres erinnert hat: „Gratia, das heißt so viel wie das Gegebene, es ist dasselbe Wort und
dieselbe Sache; es heißt Anmut, Leibreiz. [...] Die Gnade, die Grazie, die den Körper
erfüllt, bevor er sich mit dem Wort füllt, gleicht der Schönheit – als dem Unentgeltlichen.
Die Gabe ist frei von jeder Verpflichtung [...].“ 11 Als solche gemahnt sie an ein
Unverfügbares – auf etwas, was nicht verneinbar ist. Die Sprache vom Anruf her entziffern
heißt folglich, in ihr die Unverneinbarkeit des Anderen mit dem ganzen Gewicht und der
Würde seiner ethischen Konsequenz anerkennen. In gewisser Hinsicht kann man sogar die
Gestalten der Souveränität, die das Denken der Neuzeit seit Descartes und früher bevölkert
haben, als Verneinung, ja Untergrabung der Anerkennung dieser primären Alterität lesen.
Von vornherein wird damit die Dimension des sozialen Bandes problematisch. Es gehört
zu den Grundstellungen neuzeitlicher Philosophie, ihrerseits auf diese Gefahr zu antworten
und die Figuren des Begehrens und der bedingungslosen Freiheit durch den Ausweis einer
bedingenden Norm, durch das Gesetz der Vernunft wie bei Kant zu bändigen. Der Zirkel
besteht darin, die Souveränität vorauszusetzen, um aus ihr selbst ihre Grenze zu schöpfen,
d.h. sie vermöge ihrer Freiheit in die Pflicht zu nehmen und dadurch von Anfang an den
Anderen zu verlieren. Indem allerdings die Sprache und mit ihr das Gesellschaftliche
erneut ins Spiel kommt, ein Prozeß, deren Beginn man spätestens seit Humboldt und Marx
lokalisieren kann, kommt auch das Moment der Notwendigkeit der Alterität neu in den
10
11
vgl. Bulter 1998: 20ff.
Serres 1993: 273, 275, 287 passim
5
Blick: Die Sprache avanciert zu einer Macht, deren Geschichtlichkeit die subjektive
Freiheit und ihre Möglichkeit des „Nein“ übersteigt. Aber die Sprache ist, vielleicht bis
Wittgenstein und heute erneut wieder, allein auf das Gesagte, die Struktur der dictio
reduziert worden. Folgerecht hat man die fragliche Norm, die die Begrenzung der
subjektiven Freiheit besorgt und den Hof praktischer Verpflichtungen de-finiert, in
vermeintlichen Geltungsanspüchen der Rede zu finden gesucht: die Verbindlichkeit, die
durch die Performativität dessen entsteht, was behauptet oder versprochen worden ist.
Doch nicht das, was ich jeweils sagen kann oder gesagt habe, sanktioniert meine Pflicht; es
geht an dieser Stelle nicht um das Gesagte, das den Bezug schon voraussetzt, sondern um
das, was unendlich viel elementarer ist und durch das hineinspielt, was sich durch den
Appell des Anrufs immer schon gezeigt hat: An-Spruch des Anderen, der mich gefangen
hält. Nicht ist auf diese Weise eine apriorische Gefangenschaft gegen das Moment der
Freiheit pointiert, eine Art „Geiselsein“, wie sie Lévinas mit beinahe alttestamentarischer
Strenge ausgemacht hat, sondern jene Fesselung, wie sie gleichermaßen dem Auratischen
zukommt und wie in der „Gravitation“ besteht: Gewicht, das mir nicht abzuweisen oder zu
ignorieren frei steht.
Das bedeutet als ersten Befund: Vermöge der Struktur des Anrufs ist die Sprache
bereits vorgängig vom Ort des Anderen ergangen. Sie birgt den Appell zu ant-worten,
selbst da, wo er schweigend geschieht und eine adäquate Antwort nicht gegeben werden
kann. Der Appell meint darum keinen Zwang, sondern Ersuchen, das nicht das Gesicht
einer Verpflichtung trägt, sondern eines Begehrens, das nach Ver-Antwortung begehrt;
Antwort, auf eine nirgends gestellte oder ge-gebene Frage; Fraglichkeit also, die ich nicht
verstehen kann oder irgendwo vernommen hätte, die jedoch mit der Fragwürdigkeit meiner
Existenz selber zusammenfällt. Das bedeutet zugleich: Mein Sprechen erfährt sich überall
schon als ein anderes, d.h. von der Frage des Anderen affiziert und durchdrungen, selbst
dort, wo ich kein Gegenüber habe. Und das impliziert, daß mein Sprechen am Ort des
Anderen in gewisser Weise von Anfang an entwendet worden ist: Sprechen, das gleichsam
nicht nur „ich“ bin, das nicht ich allein ausdrücke oder vertrete, sondern daß ich durch den
Anderen entgegennehme, der in mir spricht und an mich appelliert und mich daher stets
schon von mir getrennt hat. Das ist gemeint, wenn gesagt wurde, daß sich das Subjekt als
Sprechendes durch die dem Appell folgende Antwort konstituiert: Es ist diese Struktur der
Responsivität, die allererst den Platz des Sprechers in der Rede bestimmt. Insofern bedeutet
Sprechen nicht, wie noch auszuführen ist, die Sprache als den selbstbestimmten Akt einer
Performativität ereignen zu lassen, vielmehr ist der Möglichkeit der Performanz die Form
des Responsiven bereits immanent. Und das gilt selbst dann, wenn ich scheinbar den ersten
Schritt gemacht habe, wenn ich ein Schweigen unterbreche und anhebe zu sprechen oder
umgekehrt meine vergebliche Rede auf die Gleichgültigkeit tauber Ohren trifft. Jede
Äußerung ist vielmehr bereits in die Struktur der Alterität verortet und trägt das Siegel
einer untilgbaren Differenz in sich.
2. Antwort
Der Befund kehrt die Relation von Sprache und Sprecher am Ort der Rede um. Indem das
Feld ihrer Performanz durch das Ereignis des Anrufs eröffnet wird, ist etwas der
Möglichkeit des Sagens vorausgegangen, was sich ihr ebenso entzieht, wie sie durch es
gezeichnet ist. Sprechen heißt darum in erster Linie, einem Appell Folge zu leisten, in
dessen Ver-Antwortung es gestellt ist. Der Akt des Sprechens geschieht deshalb wesentlich
als ein Antworten. Lévinas nennt diesen Akt „erste Sprache“. „(D)as Sagen bezeichnet die
Tatsache, daß ich dem Antlitz gegenüber nicht einfach dabei verbleibe, es zu betrachten,
6
sondern ihm antworte. Das Sagen ist eine Art, den Anderen zu grüßen, aber ihn zu grüßen
meint bereits, ihm zu antworten. Es ist schwierig, in Gegenwart von jemandem zu
schweigen; diese Schwierigkeit beruht letzten Endes in dieser eigentlichen Bedeutung des
Sagens, unabhängig davon, was das Gesagte ist. Man muß über etwas sprechen, über den
Regen und über das schöne Wetter, über irgend etwas, aber man muß sprechen, ihm
antworten und bereits seinen Erwartungen entsprechen.“12
Der Akt der Rede spricht damit stets vom Anderen her. Doch bezeichnet dieses
Vom-Anderen-her zunächst nicht mehr als die Schwelle einer Möglichkeit; entscheidend
ist das Zusammenspiel von An-ruf und Ant-wort, das mit der Struktur der Responsivität
die Spezifik der sprachlichen Beziehung, den Dialog erst entstehen läßt. Anders gesagt: Die
Anrufung markiert jene Vorstruktur, die daran erinnert, daß jede actio in erster Linie in
einer re-actio wurzelt, mithin in die Ursprungslosigkeit der Sprache hineingenommen ist,
die den derart Angerufenen im Sprechen als Antwortenden konstituiert und daher als
Sprechenden überhaupt erst hervorbringt. Wie jedoch das Ereignis des Anrufs die
Möglichkeit des Sprechens ein-räumt, ist es umgekehrt der Vollzug der Responsivität, der
den Bezug setzt und das Gespräch einleitet. Erst im Antworten geschieht das eigentliche
Sichwenden an eine andere Person; erst hier beginnt das Ereignis der Rede: Die Einsamkeit
erteilt keine Antwort. Doch es hängt wiederum von der Weise des Antwortens ab, welche
Form von Beziehung sich herstellt, ob eine bereitwillige, eine konsumtive, eine
anerkennende oder demütige etc. Erst, indem wir antworten, kommt die besondere Weise
des Bezugs, des Verhältnisses zum Anderen, das Soziale zum Vorschein.
Zu unterscheiden wäre also zwischen dem Anruf, der, obzwar selbst schon Sprache,
ihr allererst eine Stätte gibt, und dem Antworten, das den Dialog und damit die
Performativität einer Beziehung herstellt. Der Anruf geschieht vor dem Sprechen, aber
nicht ohne die Sprache; er er-öffnet dessen Platz. Doch die Antwort, indem sie das Wort
ergreift oder verfehlt, indem sie schweigt oder sich abwendet, ist das Ereignis des Bezugs:
die Gabe, die das erst Wort schenkt oder verweigert. Nicht verwechselt werden darf sie
zudem mit der Erwiderung, die schon die Rede voraussetzt. Die Ant-Wort ergeht nicht auf
eine Frage, die sie beantwortet; darum ist die Struktur von Anruf und Antwort eine andere
als jene Frage-Antwort-Dialektik, wie sie Gadamer der Philosophischen Hermeneutik
zugrundelegte:13 Sie geht ihr noch voraus. Diese privilegiert noch das Sagen, das
gegenseitige „Geben“ und „Nehmen“, denn, so Gadamer, „(w)er verstehen will, muß also
fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muß es als Antwort von einer Frage her
verstehen, auf die es Antwort ist.“14 So wird das Antworten allein auf den Sinn einer Frage
kapriziert, wie umgekehrt das Verstehen absolut gesetzt wird: Die Frage rührt an ein
Rätsel, das kein Enigma ist, sondern Unverständlichkeit, die eine Antwort im Sinne der
Erwiderung provoziert. Die „Ursprünglichkeit des Gesprächs“ ergeht nach Gadamer von
dort her;15 demgegenüber erscheint der Anruf als das zunächst Sinn-lose: Fraglichkeit, die
im Ganzen trifft und nicht bedeutet, weil sie darin besteht, durch den Anderen in Frage
gestellt zu sein, ohne daß es etwas zu verstehen gäbe. Entsprechend entspringt auch nicht
die Antwort einer vorläufigen Deutung, die das Unverständliche auszuräumen trachtet,
vielmehr jener abgründigen Leere, die dem Ruf folgt: Augenblick, der Verwirrung stiftet,
der eine Ratlosigkeit aufbrechen läßt und die Schwierigkeit deutlich macht, wie zu
12
Lévinas 1986: 67
vgl. Gadamer 1972: 351ff.
14
Gadamer 1972: 352, auch: 350
15
Gadamer 1972: 350f., auch: 360
13
7
antworten sei: Winzige Unterbrechung, an der die ganze Möglichkeit oder Vereitlung des
Bezugs hängt, der der Respons erteilt.
Alles fängt dann mit dem Akt einer Responsivität an, was gleichermaßen bedeutet:
Die Rede unter-liegt (sub-icere) der Alterität. „Man muß mit dem Antworten beginnen. So
wäre der Anfang kein erstes Wort. Der Ruf ruft sich erst von der Antwort aus“, heißt es
entsprechend bei Derrida.16 Was sich daher sagen läßt, folgt ihrem Modus, reagiert schon
auf ein anderes Sprechen, schließt sich ihm an, führt es fort oder lenkt es in eine andere
Richtung. Jedes Wort wird auf eine mehr oder weniger explizite Weise vom Schatten des
Anderen bewohnt, nimmt seine Spur auf, gewinnt an ihm seine unverwechselbare Färbung.
Das gilt bis in die Wahl der Formulierungen hinein, dem Ausdruck der Stimme, sogar für
die schillernden Masken des Schweigens, der Aussetzung der Rede. Der Andere, dessen
Anwesenheit auf vielgestaltige Weise mit jeder Äußerung bezeugt ist, zeigt sich in der
Rede, entwendet sie vom Ort ihrer vermeintlichen Intentionalität, ver-setzt sie an einen
fremden Platz. Das Sagbare erscheint so immer schon in die Struktur der Alterität
verwickelt, selbst da, wo ich mich weder direkt an einen anderen wende noch überhaupt
mit jemandem rede. D.h. auch: wo das Sprechen anhebt, wo es schon angefangen hat, sich
zu beziehen, ist seine Bezugsform nicht die Intention, die etwas zum Ausdruck bringen
will, sondern die Responsivität. Nicht der Sprecher ist das Subjekt seiner Rede, sondern die
Struktur der Alterität. Der Andere geht vor: Das Subjekt ist das sub-iectum, das, was ihm
subordiniert ist.
Die Privilegierung der Struktur von Anrufung und Antwort impliziert demnach, daß
etwas dem sprechenden Subjekt unwiderruflich vorausgeht: Der Anruf nötigt es, in die
Sprache einzutreten und antwortend Stellung zu beziehen. Die Konsequenz ist, daß im
Ereignis des Antwortens die Rede der Form ihrer Souveränität beraubt ist. Es bedingt einen
Umsturz in der Struktur des Intentionalen, ihre Umwendung, die den am Dialog beteiligten
Subjekten ihre Handlungsmacht entzieht. Nichts anderes bedeutet die Betonung der
Responsivität. Sie impliziert, das Sprechen vom Ort des Anderen her zu dechiffrieren und
den Sprechenden an seinen Platz zu ver-setzen (trans-ponare). Zu wenig wäre es deshalb,
wie bei Lacan, jede Rede in bezug auf einen imaginären oder hypothetischen Adressaten
hin zu lokalisieren, dessen Antwort sie begeht, was sie gleichwohl an die Position der
Souveränität fixiert, um sie im Hinblick auf die Position des Anderen als Bezugspunkt zu
erweitern.17 Statt dessen wäre noch diese Struktur des Begehrens umzukehren und sie als
Geschehen denken, das sich vom Anderen her ereignet, was Lacan zwar selbst angedeutet
hat, nicht aber durchgeführt, weil es ihm allein um die Metonymien jenes Phantasmas ging,
die sich im Begehren des Anderen (genetivus subjectivus und objectivus) entzündet. Nicht
die Logik der Affektion und ihre phantasmatischen Symbolisierung ist entscheidend,
sondern jene „Gravitation“, die die Ordnung der Subjektivität ebenso ent-grenzt und
umstürzt, wie sie diese umgekehrt in den Sog des Anderen zwingt. Es wäre aber
gleichermaßen auch zu schwach, den Begriff der Alterität im Sinne von Habermas oder
Apel durch den der „Intersubjektivität“ zu ersetzen, weil dies die Wechselseitigkeit der
16
vgl. Derrida 1999: 43. In gewisser Hinsicht erfährt damit zugleich die Figur des Anrufs bei Althusser eine
Umkehrung. Denn der Ruf wäre nur Anruf, wenn er seinerseits von der Antwort her ausgelöst würde. Das
heißt nicht, daß es keinen Ruf ohne Antwort gäbe; doch wäre ein solcher lediglich Schrei. Der Schrei
antwortet auf nichts, was Sprache wäre: Der Schrei antwortet auf ein Ereignis, nicht auf einen Anderen. Der
Schrei ist deshalb Laut; in ihm offenbart sich das Fleisch der Sprache, ihre Materialität.
17
So heißt es bei Lacan 1975: 97, 143: „Denn das gibt uns Gelegenheit, nachdrücklich darauf hinzuweisen,
daß die Rede das Subjekt eines Adressaten einschließt, anders gesagt, daß der Sprechende sich in ihr als
Intersubjektivität konstituiert. [...] Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen.“
8
Rede, ihren gleichberechtigten Austausch noch betonte und dem jeweils Sprechenden
dieselbe Macht und denselben Status zubilligte, wie dem Anderen, der der Rede erst ihren
Platz zuteilt. Ja, die Sprechenden gehen bei Habermas überall vor: Die „InterSubjektivität“ geschieht zwischen ihnen, die gleichermaßen eher als Redende denn als
Hörende agieren um im gegenseitigen Agon ihre Stellung im Gespräch zu erobern: Sie
begegnen einander mit Behauptungen oder Überzeugungen, die sie jeweils mit Gründen zu
verteidigen oder zu bekräftigen suchen. Dann erscheint die Logik des Diskurses als Streit.
Sowenig deshalb die Rede dadurch bestimmt ist, daß ich anhebe zu sprechen oder
etwas Bestimmtes sagen will, sowenig führen die Sprechenden den Dialog, vielmehr
werden sie durch die Struktur der Responsivität geführt, um einen weiteren grundlegenden
Topos der Philosophischen Hermeneutik Gadamers aufzunehmen: Es gehört zu den
hartnäckigsten Illusionen der freien Selbstbestimmung zu glauben, ein Gespräch „machen“
oder beherrschen zu können. „(J)e eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die
Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche
Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu
sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein Gespräch
verwickeln. (...) Die Verständigung oder ihr Mißlingen ist wie ein Geschehen, das sich an
uns vollzogen hat.“18 Der Gedanke der Responsivität radikalisiert diese Erfahrung: Ich bin
nicht die Quelle des Gesprächs, sowenig wie ich vollständig im Besitz meines
Gesprochenen sein kann oder über das Gesagte verfüge. D.h. auch: Ich bin nicht im Besitz
der Performanz, dem Vollzug eines Sprechaktes; dieser wäre weniger Handlung als reactio. Dasselbe gilt umgekehrt: Statt ein Gespräch abschließen zu können, weckt es
zuweilen einen Nachhall, der es weit über das Gesprochene hinaus fortführt, so daß
gleichsam der Andere mit seiner Stimme, der Präsenz seiner Rede in uns weiterspricht und
uns beschäftigt, ohne anwesend zu sein. Besessen von Alterität, hat Lévinas dazu gesagt:19
Besessen auch von einer „Gravitation“, einer Schwerkraft, der eine besondere Gravitas,
eine Gravität oder Würde zukommt, wie man ergänzen könnte.20
So liegt in der Entdeckung der Spur der Alterität die Zurückweisung oder
zumindest Durchkreuzung des Intentionalen in der Sprache – und sei sie verschanzt in die
äußerste Bastion der Performativität der Rede, die sie noch im Sprachakt einbehält:
Souveränität einer Handlung, der es „frei“ steht anzufangen, die sich mithin die Freiheit
18
Gadamer 1972: 361
Lévinas hat solche Besessenheit unter dem Titel der „Verfolgung“ gestellt. Das Ich ist seiner „zänkischen
und herrschsüchtigen“ Subjektivität beraubt: Es wird durch den Anderen verfolgt, ist von ihm „besessen“.
„(A)uf der Höhe seines Seins, strahlend im Glück, egoistisch, sich selbst setzend als Ich - siehe! da übertrifft
es sich selbst, da ist es eingenommen von einem anderen Seienden.“ vgl. Lévinas 1993: 83. Zu den Begriffen
„Verfolgung“ und „Besessenheit“ vgl. ders. 1998: 270, 283, 320f.
20
Die Verbindung von „Gravitation“ mit „Gravität“ folgt keiner metaphorischen Marotte, die mit einer
homologischen Assoziation spielte: Sie entspringt der Sache selbst. Denn die Gravitation nennt jenes
Gewicht, mit der wir aus der Nähe mit uns selbst zum Anderen hin errückt wird, der uns sein Gewicht
auferlegt. Was daher jäh uns in die Nähe einer Alterität zieht, kommt mithin ein Gewicht zu, dem wir uns
kaum zu entschlagen vermögen, wie es Walter Benjamin auch von der „Aura“ beschreiben hat. Es ist ein
Gewicht, das sie zugleich mit der Bedeutung einer „Erhabenheit“ bekleidet, die ein Nichtnegierbares deutlich
macht. Dann wäre die Erfahrung der Präsentheit des Anderen als Anderen die Erfahrung seiner gravität.
Friedrich Schiller hat in diesem Sinne die Würde, die gravitas, mit dem Ausdruck der Freiheit verbinden,
Lévinas hingegen mit der vor aller Freiheit kommenden Maßgabe der Alterität. Schillers Diktum läßt sich als
„Würde der Souveränität“ beschreiben, Lévinas, als äußerster Gegenpol, als Würde des Ethischen. Schillers
Manifestation der Würde durch Freiheit entspränge der Apotheose des freien Willens; dagegen kommt es
darauf an, in genauer Umkehrung die Gravität des Anderen aus der Begegnung als Widerfahrnis aufmersam
zu machen.
19
9
erlaubt, so oder so beginnen oder auch nur den Beginn verweigern zu können. Eine solche
Theorie von Subjektivität, von Meinen-können oder auch Handeln-können, gibt nicht den
geringsten Aufschluß über die Tragweite der Sprache im Prozeß des Sozialen. Denn es gibt
keine Entscheidung zu sprechen, der nicht wesentlich und eindringlich ein An-sprechen
vorausginge, sowenig wie ich die Freiheit besitze, in die Sprache einzutreten, ihr mein
Wort zu verleihen oder die Kontur meiner unverwechselbaren Subjektivität aufprägen.
Vielmehr verdankt sich die Möglichkeit der Rede dem Spiel von An-Ruf und Ant-Wort.
Dann konstituiert sich das Subjekt als Sprechendes allererst durch die Struktur der
Responsivität. So bedarf der Begriff des Intentionalen einer Umkehrung: Nicht die Freiheit
oder die Souveränität kennzeichnet seinen Ort, sondern eine Art intentionsloses Gehören,
das Heidegger mit dem „Gehorsam“ in Verbindung gebracht hat – nicht um die Autorität
der Tradition, der Geschichte zu unterstreichen, die es zweifelsohne in einem bestimmten
Sinne gibt, ohne damit schon deren Re-Volution oder das Utopische auszuschließen,
sondern vor allem um das Horchen hervorzuheben: das Hören, das schon beim Anderen ist
und ihn aufgenommen hat.21
„Ich sage“ – „ich behaupte“: das meint dann vor allem: Ich antworte auf diese oder
jene Weise, ich suche dem Vor-Gesagten solcherart zu ent-sprechen. D.h. in der Sprache
als Antworten ist der Andere immer schon primär; er hat bereits in der Performanz meiner
Rede vor-gesprochen: Sich behauptet. Folglich bezeugt die Performativität des
„Behauptens“ keinen praktischen Modus, der sich dem Gesagten gleich einer Norm
auferlegt und ihm einen Geltungsanspruch zuwiese. „In-Geltung-sein“ unterliegt dem
Format des Antwortens – und das bedeutet gleichzeitig die Rücknahme, die
Einklammerung oder epoché jeder Geltung. Gültigkeit besteht relativ zur Frage, d.h. immer
auch: relativ zum Anderen, der mich bereits in Frage gestellt hat. Das erfordert natürlich,
den Begriff der Frage so weit zu fassen, daß er an die Fraglichkeit des „daß“ (quod) rührt:
Fraglichkeit, die dem Ereignis der Rede selbst entspringt, der Frage, wieso überhaupt etwas
gesagt wurde und nicht vielmehr nichts. Das Antworten, daß den Anruf des Anderen als
Grund nennt, hat sie schon in seine Ver-Antwortung gestellt. M.a.W.: Geltung ist nicht so
sehr eine Funktion des Begründens, als vielmehr solcher Verantwortlichkeit.
Deswegen hat Lévinas hinzugefügt, daß die Verantwortung früher ist als der
22
Dialog. Sie geht ihm voraus, weil sie ihn konstituiert. Sobald wir sprechen, und sei es nur
die banalste oder allereinfachste Bemerkung, stehen wir bereits mit uns und unserem
Verhältnis zum Anderen in Frage. Mit jedem Satz, jeder Äußerung sind wir in diese
Fraglichkeit ausgesetzt. Sie impliziert die buchstäbliche Aussetzung an die Grenze der
Alterität. Sie bezeichnet zugleich die Grenze der Subjektivität, jene De-Markation, an der
sie in die Struktur der Responsivität umschlägt. Doch offenbart sie dadurch das Prekäre der
Rede. Denn sowenig der Andere wissen kann, was ich gemeint haben mag, d.h. worauf
meine Antwort eine Antwort war, sowenig kann ich wissen, wie meine Äußerung
verstanden worden sind, d.h. was meine Antwort beantwortet. Nicht geht es dabei um den
Maßstab eines eigentlichen Verstehens, sondern um die Permanenz eines Risses, durch den
das Gesagte unablässig von sich getrennt wird und seinen Sinn zerteilt. Indem nämlich das
Antworten stets im Modus eines Antwortens auf eine Antwort geschieht, weil in gewisser
Weise schon der Anruf, aufgrund der Anfangslosigkeit der Sprache, einer Ant-Wort
entspringt, vor allem aber, weil im Dialog unentscheidbar bleibt, worauf eine Äußerung
21
Gadamer hat diese Verbindung von Gehorsam und Gehören zur Autorität der Tradition umgedeutet; vgl.
ders. 1972: 264ff. Zugleich wird damit aber das gelassene Hineingestelltsein ins „Ereignis“ des Seins, um das
es Heidegger ging, eingebüßt.
22
Lévinas 1998: 246ff.
10
sich bezieht, bleibt ihre Bedeutung systematisch ins Unbestimmte entzogen. Sie erweist
sich, im Moment ihres Sagens, am Ort des Anderen entwendet. Er enteignet mir das
Gesagte – ent-eignet es, insofern ich nicht mehr der Eigner meiner Rede bin, d.h. ihren
Sinn durch meine Intentionalität kontrolliere. Vielmehr geschieht Sinn allererst durch das,
wie der Andere meine Äußerung aufnimmt und seinerseits antwortend umwendet. In
diesem Sinne hatte auch Sartre immer wieder die leidvolle Erfahrung geschildert, daß mir
der Andere meine Sprache „stiehlt“.23 Etwas bleibt im Sprechen unwiderruflich fremd. Es
verdeutlicht zugleich, daß die Performanz der Rede ohne die Alterität nicht hinreichend zu
beschreiben ist.
Darin liegt ebenfalls, daß die Struktur des Responsiven dem geäußerten Satz einen
Überschuß verleiht, der nirgends einzuhegen oder zu beschränken wäre. Nicht selten gibt
die Antwort des Anderen der Rede eine überraschende Wendung, die auf den Sprecher
zurückweist und die Bedeutung seines Gesagten ent-setzt (trans-ponare). Weil darum
sprechen heißt, vom Anderen her gesprochen sein, enthält die Rede stets mehr, als gesagt
worden ist und entsprechend verstanden werden kann. Es beinhaltet eben nur eine Seite,
wenn gesagt worden ist: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“24 – ein Satz, der
diese in den Rang eines „universellen Mediums“ hebt, „in dem sich das Verstehen selber
vollzieht“.25 Aber eben weil die Sprache zugleich der Gravitation der Altertität gehorcht,
„gibt“ sie die Möglichkeit des Verstehens ebenso, wie sie es vereitelt, weil Sprechen auch
bedeutet, im Antworten woanders zu sein als man sein kann. So wäre die Kommunikation
gleichermaßen der Ort eines Austrags und der Gefährdung des Verstehens, insofern das
Gewicht des Anderen ununterbrochen seine Bahn umlenkt und verbiegt. Losgelöst vom
Sender wie vom Empfänger, wie Derrida mit bezug auf die Schrift gesagt hat,26 wird der
Sinn nicht durch den Kontext der Dialogsituation de-finiert und festgelegt, sondern durch
das gleichsam schwebende Spiel seiner Kontinuierung und Brüchigkeit dauernd umbesetzt
und verschoben.
D.h. auch: das Ereignis der Rede erscheint im Augenblick seines Sagens seinem
Grunde ent-fremdet und erfährt, indem ein Wort das andere gibt, eine Eigendynamik, die in
niemandes Macht oder Schuld steht und womit keiner gerechnet hat. Daher ist auch kein
Gespräch errechenbar: Man betritt vielmehr ein Universum, das sich sowenig der Strategie,
der taktischen Verfügung beugt, wie es sich umgekehrt in ein deutbares Schema pressen
läßt. Statt dessen gewahre ich den Blick des Anderen, ich antworte ihm mit einer Geste der
Annäherung, des Mitleids oder einer Abweisung; aber seine irritierende Reaktion hat mich
unmittelbar meiner Absichten beraubt und in ihre wie immer gemeinte Zuwendung eine
andere Spur eingetragen, die ihre Quelle bereits überschrieben hat und der ich meinerseits
nur antwortend folgen kann, ohne Hoffnung auf eine Ankunft oder Chance, das Gesagte
und Geantwortete jemals zur Deckung zu bringen. Es gibt deshalb keine Finalität im
Antworten; sie sucht keine Erfüllung, kein gemeinsames Verstehen oder Ein-Verständnis,27
auch keine „Horizontverschmelzung“,28 sondern sie schöpft aus der Zuwendung, die als
Gabe zugleich Hin-Gabe bedeutet. D.h. zugleich: Das Ereignis der Zuwendung, welches
Lévinas mit der Idee der Un-Endlichkeit als der Idee der Ent-Grenzung assoziiert,
entspricht nicht der Ordnung des Intentionalen; es ist nicht der Art und Weise eines
23
Sartre 1977, Bd. 1: 20f.
Gadamer 1972: 450
25
Gadamer 1972: 366
26
Derrida 1988: 291-314
27
vgl. Lévinas 1985: 19f.
28
vgl. Gadamer 1972: 289f.
24
11
Wollens geschuldet, so wie man beiläufig sagen könnte, daß immer eine Antwort möglich
ist; vielmehr unter-stellt sie sich dem, was ihr vorausgegangen ist. Zwar bleibt ihr als Sichreichen-an die Struktur der Intentionalität immanent, doch so, daß diese nicht konstitutiv
erscheint: Anderes ist ihr bereits zuvorgekommen. Gewiß ist nichts anderes möglich als der
Respons; aber es gibt keine adäquate Responsivität, wir können dem anderen nicht
genügen, ihm nirgends ent-sprechen. Verstrickt in die Struktur des Antwortens, bleiben wir
vielmehr systematisch dem Horizont unseres Sagens und damit auch dem Horizont von
Identität ent-rissen. Sinn ist das, was ohne Ortschaft ist, was buchstäblich „Dazwischen“
geschieht.
Das hat, als zweiten Befund, Konsequenzen für die Beziehung zwischen Bedeutung
und Performativität – und entsprechend zwischen Interpretation und Vollzug. Denn die
Performanz der Sprache wäre als Antworten eines Antwortens zu analysieren, das in
gewisser Weise die Selbsttäuschung über den Status der eigenen Rede und damit die
Verkennung des eigenen Sinns einschließt. Zwar gilt die von Roderick Chisholm bis
Donald Davidson in Anschlag gebrachte Autorität der Ersten Person insoweit, als daß ich
der einzige bin, der in reflexiver Einstellung über das Gemeinte Auskunft geben kann, und
selbst die Psychoanalyse, die von der äußersten Verzerrung der Rede ausgeht, gibt deren
Deutung dem Sprecher selbst auf, der sie „als“ Verzerrung anerkennen muß; doch bleibt
das, was immer ich dabei vortrage, in bezug auf meine Antwort und die in ihr manifeste
Alterität irrelevant – ebenso wie die Auskunft des Neurotikers über die tieferliegenden
Ursachen seiner haltlosen Obsessionen nicht im mindestens etwas dazu beiträgt, ihre Rolle
im Sozialen aufzuklären. Nicht, was ich intendiert haben könnte, oder was mir mein
Unbewußtes willenlos diktierte entscheidet, sondern die Bedeutungen, die ant-wortend
vereignet wurden und mich in ein Geschehen stellen, das mir beständig wieder
nachschleicht und mich am Ort des Anderen verfolgt, um die an ihm gebrochene oder
zurückgespiegelte Antwort erneut zu ver-antworten. Dann rückt der Primat des
Responsiven die Performanz der Sprache in die Struktur einer nichtintendierbaren und
nichtzweckhaften Perlokutionarität. Sie verleiht dem Sinn eine Fremdheit, eine nicht
auszuräumende Trübung.
3. Antwort der Antwort
Erweitert man auf diese Weise die Struktur der Responsivität um die Sequenzierung der
Beantwortung eines Antwortens, wie sie dem Prozeß der Verständigung zugrundeliegt,
gerät ebenfalls das Konzept der performativen Kraft (illocutionary force) außer Kraft.
Insbesondere büßt der Begriff der Performativität, wie ihn Austin und Searle entwickelt
haben, seine Plausibilität ein, desgleichen die Herleitung kommunikativer Rationalität, wie
sie im Anschluß daran Habermas und Apel vorlegten. Indem nämlich die Rede sich als
Antwort einer Antwort kontinuiert, nistet der Andere gleichermaßen am Platz der
Intentionalität nicht nur dessen, was ich „sagen“ kann, sondern auch meiner Handlungen.
Solange ein Satz isoliert und im Format des Textes erscheint, der sich auf etwas bezieht,
bleibt er auf die dictio, dem, was er besagt, verpflichtet; hingegen reflektiert der Begriff der
Performanz auf seine kommunikative Rolle, der das Gesagte im Kontext seines Gebrauchs
modifiziert: Darauf hat, neben Wittgenstein, bereits Husserl aufmerksam gemacht.
Indessen wird die Kategorie des Gebrauchs an Absichten und Regeln geknüpft, die den Akt
austragen, so daß sein Vollzug ein Netz von Freiheiten und Konventionalitäten unterstellt,
das nirgends die Stelle der Alterität berücksichtigt. Im Gegenteil: Die theoretische
Perspektive privilegiert allein den Sprecher, dem bestenfalls die Eigenschaft, auch ein
12
Hörer zu sein, angehängt wird. Entsprechend gibt es nach Habermas nicht die Sprache, es
gibt nur die Kommunikation, die Verständigungspraxis, die allein auf Sprechakten, sogar
auf gegenseitigen Sprechaktangeboten beruht, der Struktur allein aus der Reziprozität der
Sprecher-Hörer-Perspektiven rekonstruiert werden. Sprechen geschieht dann
wechselweise: als Rede und Gegenrede, in der Äußerung auf Äußerung folgt, ohne daß
zwischen ihnen die geringste Beeinflussung bestünde, im Vollbesitz der Verfügung dessen,
was sie zu sein vorgeben: Behauptungen, Bitten, Versprechen und dergleichen. D.h.: Ich
weiß, was ich tue, selbst da, wo ich mich der Sprache unwillkürlich bediene und im Sinne
der Differenz zwischen knowing that und knowing how mein Wissen nicht eigens zu
explizieren vermag.
Doch holt der Andere, die Struktur der Responsivität, die Pragmatik der Rede selbst
ein. Man hat deshalb dem Anderen in der Sprache zuwenig Beachtung geschenkt; man hat
ihn auf den Hörer, den Adressaten, den Angesprochenen reduziert. Hingegen wird, liest
man die Sprache aus der Antwortstruktur, der Andere zum Akteur meiner Rede. Dies reicht
bis in den Vollzug eines einfachen Sprechaktes hinein. Dessen Performanz erscheint vom
Respons durchdrungen. Er prägt sich der Form der Performativität auf und eskamotiert sie
vom Ort meiner Verfügung. Die aufgewiesene Gravitation der Alterität wird so zur Chiffre
eines Verlusts an Intentionalität. Sie wäre noch an den Akten der Rede, der Struktur des
Dialogs selber zu entziffern. Der Hinweis findet sich gleichermaßen bereits bei Humboldt:
Die Äußerung, die in der Singularität ihrer Erscheinung Präsenz gewinnt und im Moment
ihres Aktes schon wieder verlöscht ist, gewinnt seine Dauer, seine eigentliche Bedeutung
erst mit dem Anderen. Seine Antwort verleiht ihr Verknüpfung; deswegen, heißt es, kann
die Sprache „nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einem
gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden. Das Wort
muss also Wesenheit (...) in einem Hörenden und Erwidernden gewinnen.“29
Demgegenüber hatte Austin, von Wittgenstein her, ihren Vollzug allein an
performative Verben gebunden, die sprachliche Prozesse indizieren, so daß der praktische
Modus einer Äußerung, wie Habermas ausgeführt hat, jederzeit rekonstruierbar wird durch
die erweiterte Fassung: „Ich meine, rufe aus, bestreite oder stelle fest, daß ...“. Sie
unterstellt, daß ich weiß, was ich tue, wenn ich rede. Freilich ergibt sich damit ein schiefes
Bild, das der Schieflage des Begriffs der Verantwortlichkeit korrespondiert, indem es
unterstellt, daß ich zugleich für mein Handeln einstehe und gleichsam die Bürde seiner
lastenden Folgen tragen kann. Der Voraussetzung haftet eine bestimmte Vorstellung der
Relation zwischen Ich und Anderem an, die beide rigoros trennt, um sie als autonome und
selbstbewußte Subjekte zu kreieren, die nichts anderes können, als sich solipzistisch
aufeinander zuzubewegen und aneinander zu messen oder im Zufall gemeinsamer
Interessen zu begegnen. Denn nach Habermas adressiere ich meine Äußerung an einen
Zuhörer und gehe erst dadurch eine sprachliche Beziehung ein. Ich richte also mein Wort
an den Anderen, der zuhören oder auch ausweichen kann; ich habe dann die Freiheit, dieses
oder jenes auszusagen, wie der Andere die Freiheit hat, so oder so auf mich zu reagieren,
ohne daß zwischen mir und ihm ein Band bestünde, das uns sein Gewicht im Sinne einer
bindenden Kraft auferlegte, die weder er noch ich abschütteln können. Indem freilich die
freie Selbstbestimmung dominiert, bleiben jene Figuren der „Egologie“ erhalten, die
Lévinas als Grundlage des europäischen Denkens überhaupt zu entlarven versucht hat.
Demnach scheint noch in der Sprache die Position der Subjektivität ausgezeichnet, die
doch durch das Paradigma der Kommunikation gerade getilgt werden soll.
29
Humboldt 1903ff., Bd. VI: 26; auch: 160
13
Insofern jedoch demgegenüber in jeder Äußerung, kraft ihres Charakters als
Antwort einer Antwort der Andere seine Präsenz bezeugt und bereits mitspricht, ergibt sich
eine Verwicklung, die den Primat des Subjekts durchstreicht. Insbesondere wird dadurch
unmöglich, im performativen Satz zwischen mir und dem Anderen zu unterscheiden.
Vielmehr gewinnt, was ich die „nichtintentionale Perlokutionarität“ genannt habe, die
Gestalt eines genuinen double bind. Es kennzeichnet eine spezifische Form von
performativer Doppelbesetzung. Sie erweist sich als unvermeidlich, weil erst die ReAktion deutlich macht, was eine Äußerung war und wie sie zu verstehen ist. Ihre Deutung
tritt dann nicht von der ausgezeichneten Position der Intentionalität in Szene, um von ihr
her die Logik der Konversation zu entschlüsseln, sondern ereignet sich im Prozeß des
Antwortens als charakteristische Rückständigkeit. Das bedeutet auch, daß in einem
bestimmten Sinne das Miß-Verständnis, die Differenz unvermeidlich ist, weil der Andere,
insofern er stets mitspricht, im Gesagten sich als Spur seiner Entwendung einschreibt.
Folglich besteht die Doppelbesetzung nicht in der Duplizität eines Sagen-wollens, das in
sich schon die Zweiheit des Bedeutens und Handelns birgt, die beide an Formen des
Intentionalen gebunden sind, so daß Habermas von einer „performativ-propositionalen
Doppelstruktur der Rede“ sprechen kann; vielmehr haftet die Gravitation der Alterität wie
ein Schatten an der Sprache, der gleichermaßen ihren Sinn wie ihre Performanz beugt.
Anders gesagt: Wir verfügen nicht über die performativen Rolle unserer Rede. Weder kann
ich wissen, was ich gemeint habe, noch, was ich jeweils gesagt oder sprechend getan habe.
Der Sprache inhäriert die Tragödie des Sagens.
Was bedeutet z.B. die scheinbar zärtliche Geste: „Ich liebe dich inniglich“? Gewiß
handelt es sich um das Zitat eines Zitats, mit dem Umberto Eco die inszenierte
Nichtauthetizität eines postmodernen Lebensstils zu dekuvrieren trachtete.30 Habermas
würde nicht zögern, die Äußerung unter die „expressiven Sprechakte“ zu rubrizieren. Als
solcher erhebt sie den Anspruch auf Lauterkeit. Wir unterstellen ihre Authentizität, selbst
wenn ich, wie bei Eco, vorausschicke: „Wie jetzt Liala sagen würde ...“, um ihre
Zitathaftigkeit deutlich zu machen. Was aber konstituiert seinen praktischen Modus?
Handelt es sich dennoch um einen aufrichtigen Gefühlsausdruck, ein Geständnis in der
Maske der uneigentlichen Rede – oder gar um eine Beleidigung, ein Übergriff? Als Zitat
beschränkte sich die Äußerung auf jene Ironie, mehr sagt als sie buchstäblich zum
Ausdruck gibt, weil sie nicht länger das zu sagen wagt, was sie zu sagen wünscht, und der
eben gerade dadurch, wie Eco ausgeführt hat, noch einmal gelingt, eine Liebeserklärung
auszusprechen. Das Ironische aber läßt systematisch im Dunkeln, wie es gemeint ist; es
changiert zwischen Ernst und Nicht-Ernst. Indessen sind die Schwierigkeiten der
Sprechakttheorie im Umgang mit Ironien bekannt, eben weil diese die Kraft der
Illokutionarität durchkreuzen. Wie aber, wenn die Ironie an der Antwort des Anderen
scheitert? Zwar kann die Äußerung, selbst wenn ich glaube, mit distanzierter Aufrichtigkeit
meinen Gefühlen Ausdruck verliehen zu haben, um auf die Situation eines gelegentlichen
Augenaufschlags zu antworten, der mir das Phantasma seiner Berechtigung einflößte, den
Beginn einer Beziehung darstellen, gleichermaßen aber auch ihren Abbruch. Harmlos bin
ich ein Wagnis eingegangen, aber unversehens ist mein Satz in eine Zudringlichkeit
umgeschlagen, die, wie in Sartres Analysen der „Unwahrhaftigkeit“,31 gar keine Reaktion
zur Folge hatte, um sich aus der Affäre zu stehlen. Weder erfolgte dann Zustimmung noch
Zurechtweisung; er ist einfach übergangen worden, als habe man ihn nicht zur Kenntnis
30
31
Eco 1984: 78f.
vgl. Sartre 1962: 91ff.
14
genommen oder als sei er nie ausgesprochen worden. Hat man mich nicht gehört? Habe ich
überhaupt etwas gesagt? Üblicherweise zerfrißt der Zweifel nicht nur den Sinn der
Äußerung, sondern auch die vermeintliche Deutung des Kontextes und die Sicherheit der
Performanz. Die Antwort auf meine Antwort konstituiert sie als Grenzüberschreitung, als
Nichtigkeit oder Leere eines Nichtgesagten, die die Äußerung – war sie am Ende nur eine
Einbildung? – in der Hitze meiner obskuren Leidenschaft buchstäblich ent-eignete und sie
ihres performativen Sinns beraubte.
Selbst die Nachfrage würde keine Klärung bieten: Sie würde womöglich die
exzentrische Situation ins Explosive verschärfen, weil meine Erklärungen wie
Rechtfertigungen ein Gespräch fortschrieben, das zu seiner Beendigung tendiert und damit
seinerseits ignorierte, was in seiner Uneigentlichkeit deutlich schien. Das Beispiel erhellt,
daß der Sprechakt seine Bedeutung gleichwie seine Performanz immer aus einer
Verspätung bezieht. Es ist die Antwort, die gleichermaßen seinen propositionalen Gehalt
wie seinen praktischen Modus induziert. Nicht ich erteile ihn vermöge meiner intentionalen
Handlung, sondern der Andere kraft seiner Reaktion. Die „performative force“, von der
Austin wie Searle ausgegangen waren, variiert dann zur Gewalt einer Alterität. Sie besteht
als Effekt eines Respons. Darum ist in der Rede die „Perlokutionarität“ auszuzeichnen: die
Differenz zwischen Gesagtem und Bewirktem, statt der Illokutionarität, der Identität von
Inhalt und Vollzug.32
Entsprechend wäre der performative Status einer Äußerung nicht mehr allein
rückführbar auf die zugrundeliegenden Verben: Bereits Austin hatte solches im Falle der
Perlokutionen ausgeschlossen. Vielmehr deutet sich eine Komplexität an, die der Sprache
eine Dramatik auferlegt, die das Subjekt der Rede mit einer nicht aufzulösenden
Unentscheidbarkeit bekleidet. Jede sprachliche Situation erweist sich als ein „kleines
Drama“, die keiner Ordnung von Motiven oder Gründen unterliegt, sondern, wie Roland
Barthes das Wort „Diskurs“ aufgelöst hat, sich gleichsam ir-rational fortspinnt: „Discursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Herlaufens, das ist Kommen
und Gehen, das sind ‘Schritte’, ‘Verwicklungen’.“33 Jenseits der Pragmatik der Performanz
ergibt sich eine Theatralik des Sprechens, die die Struktur der Zeit miteinwebt und der
Rede die Duplizität eines Sagens und Zeigens aufbürdet, die nicht allein auf die
Bedingungen des Handelns reduzierbar ist, sondern ein Gewebe aus Differenzen erzeugt,
dem etwas Unentwirrbares anhaftet. Dies gilt vor allem wegen der Unkenntlichkeit des
Anderen im Satz, seiner stillen, aber hartnäckigen Anwesenheit, die mitspricht, jedoch sich
nicht explizit offenbart. Die Analyse der Rede erfordert deswegen ihre Entfaltung in
dialogischen Sequenzen, die nicht auf die Formel der „Anschlußfähigkeit“ (Luhmann) oder
das agonale Theater von Rede und Gegenrede zurückgebracht werden kann: Der Sprechakt
bildet keine monolithische Figur; er ist nicht isolierbar und unabhängig von seiner VorRede und Nach-Rede zu untersuchen; er findet seinen Platz erst inmitten einer Folge von
Reaktionen, die ihn zugleich szenisch situiert. Gewiß hat dem Habermas dadurch
Rechnung zu tragen versucht, daß er in Was heißt Universalpragmatik? die spezifisch
illokutionäre Bindungkraft von Sprechakten an komplette „Sprechhandlungssequenzen“
koppeln wollte,34 doch büßte er die Einsicht gerade in dem Maße wieder ein, als er diese
wiederum als „rational motiviert“ auswies. „Dank der Geltungsbasis der auf Verständigung
angelegten Kommunikation kann also ein Sprecher, indem er für die Einlösung eines
kritisierbaren Geltungsanspruch die Gewähr übernimmt, einen Hörer zur Annahme eines
32
vgl. dazu meine Ausführungen: Mersch 1997
Barthes 1984: 15
34
Habermas 1976: 251
33
15
Sprechaktangebots bewegen und damit für die Fortsetzung einen anschlußsichernden
Verkopplungseffekt erzielen.“35 An der vernünftigen Übernahme der Gewähr, für das
Gesagte auch einzustehen und es begründen zu wollen, d.h. der Verbindlichkeit im
Sprechen, wie sie durch die Einlösung der Geltungsansprüche gegeben ist, hängt demnach
das ganze Gewicht des Sozialen, hängt die Fortsetzung des Gesprächs, die Rationalität von
Verständigungen: „[I]m kommunikativen Handeln [wird] einer vom anderen zu einer
Anschlußhandlung rational motiviert, und dies kraft des illokutiven Bindungseffekts eines
Sprechaktsangebotes.“36
M.a.W: Habermas interpretiert die illokutionäre Kraft als soziale Verantwortung im
Sprechen. Sie wird von vornherein normativ sanktioniert. In eine Dialogsituation eintreten
heißt, ein rationales Feld betreten, dessen Abweichungen unweigerlich Asozialitäten
erzeugen. Doch setzt dies eben überall die Privilegierung des Sprechers im performativen
Satz und die Auszeichnung der Perspektive der 1. Person voraus: Jederzeit halte ich mein
Wort in den Händen, offeriere dem Hörer eine Bitte, ein Versprechen oder eine Meinung,
wohl wissend, daß ich damit die Verpflichtung eingehe, ihre Wahrheit oder Richtigkeit zu
übernehmen – ungetrübt aller Entwendungen, die es immer schon dadurch erlitten hat, daß
ihm antwortend eine Alterität eingeschrieben war, über die ich nicht verfüge. Das bedeutet:
Eine Unverfügbarkeit verstellt mir den Zugang zur Rationalität des Gesprächs, eine
Unverfügbarkeit, die zugleich einen zeitlichen Riß markiert, der die vermeintliche
Autorität der 1. Person entautorisiert und den Sprecher als Subjekt aus seinem Zentrum dezentriert.
Die Konsequenz ist, daß auch die Geltungsbasis der Rede ihre Basis verliert. Denn
zweifelhaft wird schon die Rekonstruierbarkeit der Performanz, den Austin durch den
Übergang von „primär performativen Äußerungen“ wie „Ich werde da sein“ zu „explizit
performativen Äußerungen“ wie „Ich verspreche hiermit, daß ich da sein werde“
angedeutet hat.37 An seiner Möglichkeit hängt das ganze Pathos der Geltungsanalyse. Doch
birgt die Logik der Explikation gleichzeitig deren Variation. Beide Sätze sagen anderes,
nicht nur, wie Austin selbst bemerkt hat, insofern jede Modifizierung einer Äußerung auch
ihre Bedeutung modifiziert,38 sondern vor allem, weil zwischen ihnen die Lücke einer
chronischen Distanz klafft. Sie trägt in sie die zeitliche Kluft eines Unter-Schieds ein, der
auf die Performativität der Äußerung selbst zurückschlägt.39 Sie wird da virulent, wo die
Rückfrage aus einer belanglosen Unvorsichtigkeit allererst ein Versprechen macht, auf das
ich verpflichtet werde – wie umgekehrt das Versprechen zur Tollkühnheit wird, wo es mit
Gelächter oder Unglauben quittiert wird. Dann impliziert die Antwortstruktur, in die sie
35
Habermas 1983: 69
Habermas 1983: 68
37
Austin 1972: 87ff.
38
Austin 1972: 84f.
39
Es gibt noch weitere Gründe: Der primär performative Satz „Ich werde da sein“ ist als Versprechen nicht
unbedingt expliziert. Die Rekonstruktion gelingt nur dann, wenn ich weiß, was ich tue, d.h. über meine
praktische Absicht verfüge. Allerdings wirkt der Übergang von „Ich werde da sein“ zu „Ich verspreche
hiermit, daß ich da sein werde“ im Dialog tatsächlich verwirrend. Er vereindeutigt, was keiner Explikation
bedurfte, verleiht dem Versprechen womöglich eine theatralische Note und läßt gerade dadurch Verdacht
schöpfen. Die Verschiebung vereitelt, was sie zu betonen suchte und stellt auf diese Weise eine Abweichung
dar. Die Schwierigkeit ist dem Konzept der Performativität inhärent, wie Davidson herausgestellt hat:
Keineswegs besteht ein schlüssiger Zusammenhang zwischen Modus und Vollzug. Weder ist ein Satz
eindeutig „als“ Behauptung, Verweis oder Versprechen explizierbar, noch garantiert eine explizit
performativen Äußerungen wie „Ich behaupte hiermit, daß ...“, daß es sich dabei um eine Behauptung
handelt. D.h., etwas sagen und es als Behauptung betonen, können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Vgl.
dazu Davidson 1994: 160ff.
36
16
eingebettet ist, eine temporale Transformation. Sie affiziert die rekonstruktive Analyse mit
einem nicht zu tilgenden Riß, die die Performanz der Rede im Modus von Verspätung
verfaßt. Erst aufgrund des Umwegs über die Antwort oder die Nachfrage des Anderen
erzeugt sich eine Äußerung „als“ dieser oder jener Sprechakt, der ihr die Eindeutigkeit
einer performativen Zuschreibung zuspricht. So wird aus ihr vermöge der in die Struktur
der Responsivität eingelassene Perfektstruktur eine Behauptung, Bitte, Drohung oder
ähnliches. Ihre Nachträglichkeit er-findet sie sekundär als diese. Entsprechend wäre die
Struktur der Performativität, in dem Maße, wie sie von der Struktur der Alterität
heimgesucht ist, zugleich immer schon durch die Struktur der Nachträglichkeit verstellt.
Der Geltungsanalyse von Habermas inhäriert also insbesondere ein Vergessen von
Zeitlichkeit. Denn der Übergang vom Präsens zum Perfekt macht aus dem Sagen ein
Gesagtes. Systematisch verpaßt die Rekonstruktion dessen Geltungsbedingungen; vielmehr
entrückt sie die Gegenwärtigkeit des Aktes in ein bereits Gewesenes und vereitelt damit die
Evidenz der Reflexion, auf die sich Habermas allein stützt. Deswegen kann ich nie genau
sagen, was ich sage, sowenig ist anschließend mit Gründen dafür einstehen kann. Der
Traum von der Vernunft in der Kommunikation, der ihre internen Verzerrungen
zurechtrücken und erneut ein Stück Aufklärung sichern sollte, scheitert daran, daß ich als
Sprechender immer schon durch das Gewicht des Anderen, seiner „Gravitation“ im
Gespräch mitkonstituiert bin, die meiner Rede gleichwie ihrer Selbstauslegung eine ebenso
zeitliche wie strukturelle Differenz auferlegt. Die Sprache aus dem Antworten verstehen
heißt, sich am Ort dieser Differenz zu befinden. Sie ist bereits mit dem ersten Anruf
gegeben. Das bedeutet es schließlich, wenn Lévinas gesagt hat, daß der Andere immer
schon bei mir vorgesprochen hat, selbst wenn ich monologisiere. Es ist der Andere, der
mich zum Sprechen einläd; er gewährt mir ebenso einen Platz in der Sprache, wie er
umgekehrt meiner Rede einen Sinn erteilt und ihrer Performativität eine Stätte erlaubt, die
die Zeit immer schon zerteilt hat. Deshalb kann ich in gewisser Weise nur sprechen, wenn
ich ihm nach-spreche – und ihm jeweils dadurch erst zu-spreche. Was bleibt dann von der
Analyse der Rationalität des Gesprächs? Nichts, was sich philosophisch halten ließe:
Einzig die Sprache und das immerwährende Rätsel – wie ebenso das Begehren nach und
die Bemühung um Antwort.
Literatur
Althusser, Louis 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie,
Hamburg/Berlin (VSA)
Austin, John L. 1972: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart (Reclam)
Barthes, Roland 1984: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M (Suhrkamp)
Butler, Judith 1995: Conscience Does Make Subjekts of Us All, in: Yale French Studies 88, p. 6-26.
- 1998: Haß spricht, Berlin (Berlin-Verlag)
Davidson, Donald 1994: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M (Suhrkamp) 2. Aufl.
Derrida, Jacques 1999: Adieu, Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München Wien (Hanser)
- 1988: Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien (Passagen), S. 291-314.
Eco, Umberto 1984: Nachschrift zum Namen der Rose, München/Wien (Hanser)
17
Gadamer, Hans-Georg 1972: Wahrheit und Methode, Tübingen, 3. Aufl. (Mohr Siebeck)
Habermas, Jürgen 1976: Was heißt Universalpragmatik?, in: Karl-Otto Apel (Hsg.), Sprachpragmatik und
Philosophie, Frankfurt/M (Suhrkamp), S. 174-272.
- 1983: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und
kommunikatives Handeln, Frankfurt/M (Suhrkamp)
Heidegger, Martin 1975: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen (Neske) 5. Aufl.
Humboldt, Wilhelm von 1903ff.: Gesammelte Schriften, Berlin, Bd. VI.
Lacan, Jacques 1975: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders.,
Schriften I, Frankfurt/M (Suhrkamp), S. 71-169
Lévinas, Emmanuel 1985: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München (Alber)
- 1986: Ethik und Unendliches, Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien (Böhlau)
- 1993: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München (Alber) 2. Aufl.
- 1995: Zwischen uns, München/Wien (Hanser)
- 1998: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München (Alber) 2. Aufl.
Mersch, Dieter 1997: Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemerkungen zu
Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität, in: Die Rolle der Pragmatik in der
Gegenwartsphilosophie, 20. Internationales Wittgenstein Symposium, 2 Bde., Beitrage Bd. 2, Kirchberg am
Wechsel, S. 621-628
Sartre, Jean-Paul 1962: Das Sein und das Nichts, Hamburg (Rowolth)
- 1977: Der Idiot der Familie, 5 Bde., Reinbek bei Hamburg (Rowolth), Bd. 1
Serres, Michel 1993: Die fünf Sinne, Frankfurt/M (Suhrkamp)
Wittgenstein, Ludwig 1971: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M (Suhrkamp)
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