0. Einleitung 0. 1. Einführung „Ez wuohs in Búrgonden ein vil édel magedîn“, so fängt der Dichter des Nibelungenlied nach der Einleitungsstrophe seine Erzählung an. Mit dieser Strophe verortet der Dichter seine Geschichte in einem wohl bestimmten Raum. Der Leser, besser gesagt, der Hörer sollte sich den Handlungsraum schon vorstellen. Diese Vorstellung wird klarer, wenn der Dichter weiter präzisiert: Ze Wormez bî dem Rîne. Die Erzählung scheint definitiv, eine Raumvorstellung zu sein, wenn der Dichter schon am Anfang der zweiten Aventiure wieder Ortsnamen einführt: Dô wuohs in Niderlanden eins edelen küneges kint […] nidene bî dem Rîne: diu was ze Sántén genant. An weiteren Textstellen kommen solche Ortsangaben vor, womit der Hörer, bzw. der Leser, sich eine „mentale Geographie“ (vgl. LIENERT 2010: 125; auch Lienert 1997: 105) bilden könnte, denn die erwähnten Ortschaften waren dem zeitgenössischen Publikum wohl bekannt. Die realistischen Züge der Geographie des Nibelungenliedes stellen einen Unterschied zu den Ortsnamen im höfischen Roman bzw. im Artusroman dar, in dem der Handlungsraum des Helden hauptsächlich nur aus fiktionalen Orten besteht. Warum denn dieser Unterschied im Nibelungenlied? Welche Funktion hat die reale Geographie im Nibelungenlied? Neben den realistischen Orten gibt es Ortsangaben, die als reine Erfindungen fungieren. Diese unrealistischen Orte werden im Epos mythisch gestaltet. Obwohl das Irrationale in diesen Orten herrscht, spielen dort Handlungen ab, die für die reale Welt schwerwiegende Konsequenzen haben (vgl. GILLESPIE 1985: 48). Was geschieht aber in der mythischen Welt und was für eine Wirkung haben diese Ereignisse auf die reale Welt? Der Burgunderuntergang wird also zwischen realen und mythischen Räumen gespielt. Wie werden aber diese Räume strukturiert? Welche Verbindung haben die Räume des Nibelungenliedes miteinander? Besser gesagt, welche Raumstruktur, bzw. Raumstrukturen gibt es im Nibelungenlied? Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, den Raum des Nibelungenliedes kritisch zu analysieren. Angesichts der regelmäßigen Vorausdeutung der künftigen Katastrophe ist davon auszugehen, dass der Raum des Nibelungenliedes auf den Untergang gerichtet ist. Wie man von der Raumstruktur bzw. von den Raumbeziehungen zum Untergang gelangt, ist das Anliegen dieser Untersuchung. Es 3 sollte aber dabei ein Blick über den Raum des historischen Burgunderuntergangs geworfen werden. 0. 2. Forschungsbericht Vor dem eigentlichen Bericht über die Raumforschung des Nibelungenliedes sollte ein Blick über den Forschungsstand über die Konzeption des Nibelungenepos geworfen werden, denn die Untersuchung der Raumstruktur in der vorliegenden Arbeit setzt angesichts der häufigen Vorausdeutung voraus, dass das Lied eine bestimmte Konzeption hat und zwar die Bestimmung des Geschehens zum Untergang. 0. 2.1. Über die Konzeption des Liedes Über die Konzeption des Liedes gibt es in der Nibelungenforschung zwei Meinungsrichtungen. Die einen Forscher vertreten die Meinung, dass das Lied nicht konzipiert wurde, während die anderen sich damit beschäftigen, die Konzeption des Liedes zu belegen. In seiner Einführung in das Nibelungenlied wirft HEINZLE (1987a) dem Nibelungendichter poetische Brüche und Unstimmigkeiten vor, weswegen er sich weigert, dem Dichter eine Konzeption der Dichtung zuzuschreiben. Er hält ihm den falschen Umgang mit den Vorstufen der Sage vor. Als Beispiel führt er die Ermordung Ortliebs durch Hagen ein. Er stellt fest, dass die Ermordung des Kindes und dessen Erziehers im Nibelungenlied nicht schlüssig begründet werden. Er bemerkt, dass diese Szene seinen Grund in der Vorstufe des Nibelungenliedes, zu finden hat und betont, dass es dem Nibelungendichter nicht gelungen hat, das Motiv der Vorstufe wiederzugeben. Er hält deswegen diese Episode des Nibelungenliedes für ein unbewältigtes Relikt der Vorstufe (HEINZLE 1987a: 39). Das gleiche Jahr führt er in seinem Aufsatz „Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten“ ein anderes Beispiel ein und zwar die Hortforderung, womit er die oben erwähnte These weiter belegt. Die Hortforderung im Nibelungenlied sei seiner Meinung nach ein Bruch, den man nicht weginterpretieren könne und dürfe. Er stellt fest, dass es sich auch hierbei um ein Relikt aus einer älteren Schicht der Sage handelt und betont, dass alle Versuche, die Hortforderung wie im Nibelungenlied sinnvoll zu interpretieren, zum Scheitern verurteilt seien, denn die Hortforderung sei im neuen Zusammenhang völlig unverständlich. Diese Szene sei erzählerisch ein Fehler, 4 der als ein nicht bewältigtes Relikt aus der Vorstufe verstanden werden sollte ( HEINZLE 1987b: 257). Auf HEINZLEs Kritik reagiert MÜLLER (1998). Bezüglich der Ermordung Ortlieps schließt er zwar die Möglichkeit eines Reliktes der Vorstufe nicht aus, aber versucht trotzdem die Szene anders zu deuten und weist darauf hin, dass in dieser Szene neue zielgerichtete Motivationszusammenhänge geschaffen werden: Er versteht die Tötung Ortlieps als Instrument, womit Etzel von Hagen bzw. vom Dichter ausweglos in den Konflikt gezogen wird. Damit werde Etzel die Möglichkeit zur Versöhnung genommen (vgl. MÜLLER 1998: 77-78). Ähnlich argumentiert er in seinem 2002 erschienenen Buch: Er betont in diesem Buch, dass einige der umstrittensten Stellen des Epos sich als Ergebnis von Erzählstrategien, die nicht auf Klarheit, sondern auf Ambiguität zielen, deuten lassen (vgl. MÜLLER 2002: 61). Er behauptet, dass die Anspielung auf einen undeutlich mitgewussten Sagenhorizont dem Erzähler es erlaubt, einen Spielraum konkurrierender Deutungen zu öffnen: der Erzähler könne anstelle der Anspielung auf den Sagenhorizont suchen, seine eigene Version zu setzen wie z. B. beim Tod Ortlieps; er könne aber auch die Alternativen offenhalten und aus der „Uneindeutigkeit“ den Impuls für den Fortgang entwickeln (ebd., 145). Auch die Hortforderung Kriemhilds deutet MÜLLER (1998) nicht als erzählerisches Versagen. Er erklärt, dass Kriemhilds Forderung zweideutig sei, denn es komme in ihren Worten der Hort nicht vor. Sie fordere ganz unbestimmt, ‚was man ihr genommen hat‘. Damit, so MÜLLER, könnte auch Siegfried gemeint werden. In diesem Sinne würde die Gutmachung ausgeschlossen sein (ebd., 148). MÜLLER im Gegensatz zu HEINZLE versteht also diese Szene als subtile „Textstrategie“, die Interpretationen nahelegt (ebd., 147). Die sogenannten Brüche sollten nach ihm als kalkulierte Unbestimmtheiten betrachtet werden, womit ein Rezeptions- und Interpretationshorizont geöffnet werden könnte. HAUG (2001), der die gleiche Meinung wie MÜLLER vertritt, geht von einem theoretischen Ansatz über den Autorbegriff aus, um seine These über die Frage der Konzeption des Nibelungenliedes zu belegen. HAUG erklärt, dass die Vorstellung des Schriftstellers als Verantwortlichen seines Werkes als ein Phänomen der Moderne zu begreifen ist, denn es war für die Vormoderne charakteristisch, dass der Autor hinter sein Werk zurücktrat (ebd., 27). Er betont aber, dass schon am Ende der Moderne sich mit MALARMÉ wieder eine Wende zur Selbstpreisgabe des Autors vollzogen habe. Nunmehr versuchten die Schriftsteller, sich einigermaßen aus dem Text herauszuhalten 5 (ebd., 28). In dieser theoretischen Wende, so HAUG wurde der Text einigermaßen nicht mehr der Intention eines Autors unterstellt. Es wurde ihm sondern eine Heterogenität von Stimmen zugebilligt, das heißt, man verstand ihn als Produkt unterschiedlicher Schreibwesen (ebd., 29) In diesem Sinne stelle der Text ein offenes Sinnpotential dar, das dann im Akt des Lesens immer wieder neu und immer wieder anders realisiert werden könnte. In diesem Hinblick sei dem Leser die zentrale Rolle zugeschrieben, das Werk immer neu in Bewegung zu halten(ebd., 30). Von diesem theoretischen Ansatz ausgehend betrachtet HAUG das Nibelungenlied als einen Paradenfall für Autorabsenz und Textheterogenität (ebd., 32). Er vermutet, dass der Dichter des Nibelungenliedes selbstbewusst darauf verzichtet haben sollte, den überkommenen Stoff in fiktionaler Freiheit einer neuen Struktur und über sie einem in sich geschlossenen Konzept zu unterwerfen (vgl. 36). Diese bewusste Selbstbeschränkung sollte nach HAUG nicht als Mangel betrachtet werden: Eine in dieser Weise sich selbst einschränkende Souveränität wäre dann freilich nicht als Mangel abzuurteilen, sondern als eine höhere Form von Souveränität zu würdigen- so wie, genau besehen, auch beim Dichter der späten Moderne (HAUG 2001:36). Im Gegensatz zu HAUG und MÜLLER gehört EHRISMANN der Forschungsrichtung, die die Meinung verteidigt, dass das Nibelungenlied nicht konzipiert wurde. Er betont u.a., dass das Lied außer der Einteilung in Aventiuren keine Gliederungseinheit beweise (EHRISMANN, 2002:144). Was SCHULZE (2003) anbelangt, knüpft sie ihre Meinung an Thesen von MÜLLER und HAUG. Sie erkennt dem Dichter zu, von Anfang an konzeptionell „ein bestimmtes Verständnismodell mitgegeben“ zu haben und zwar, „die Determination alles Geschehens zum Untergang, wie sie die Vorausdeutungen signalisieren“, jedenfalls soweit sie den Umschlag vom Positiven ins Negative, von liebe in liet, ankündigen (vgl. Schulze 2003, 255). Ausgehend von HAUGs (1974) These, dass die Spannung heroischer Tradition und höfischer Idealität als wesentliches Thema des Nibelungenliedes verstanden werden sollte und auch von der Meinung von Jan-Dirk MÜLLER (1998), dass die Widersprüche und Brüche als konzeptionell zu begründen seien, schließt sie, dass der Dichter Brüche hätte zusammenfügen und logische Verbindung hätte herstellen können, „wenn es seiner Erzählintention entsprochen hätte“ (SCHULZE 2003: S.261). Sie betont, dass „konzeptionelle Fähigkeiten und bewusstes Vorgehen des Nibelungendichters“ durch „zahlreiche Momente in der Mikro- und Makrostruktur des Epos“ bezeugt wurden. Immerhin legt sie dem Dichter den Mangel an Erklärungsformel, die dem mittelalterlichen Rezipienten zum Verständnis der 6 erzählten Geschichte und deren Aneignung helfen konnte, zur Last (vgl. SCHULZE 2003: 261). 0. 2. 2. Über die Raumforschung Die Raumforschung über das Nibelungenlied befasst sich sowohl mit textexternen als auch –internen Analysen. Textextern wird der historische Raum des Burgunderuntergangs geforscht, während die textinternen Analysen auf die internen Raumstrukturen der Nibelungendichtung ausgerichtet sind. MACKENSEN unternimmt den Versuch, den im Nibelungenlied dargestellten Burgunderuntergang mit dem Untergang des Burgunderreiches des fünften Jahrhunderts zu vergleichen. Er bezeugt dabei die Existenz des Burgunderhofes, der im Nibelungenlied dargestellt wird. Dann erklärt er, wie die Burgunder am Mittelrhein gesiedelt haben und wie sie 436 niedergeschlagen wurden, als sie versuchten, ihre Wohnsitze in die römische Provinz Belgica auszudehnen (MACKENSEN 1984: 45). MÜLLER bestätigt die These von MACKENSEN und präzisiert, dass der Untergang des Burgunderreichs unter König Gundahari geschah, und dass dabei der König und Tausende seines Volkes von dem römischen Feldherrn Aetius mit Hilfe hunnischer Truppen niedergeschlagen wurden (MÜLLER 2002: 17). Er stellt aber klar, dass der Untergang nicht im Donauraum geschehen ist, wie er im Nibelungenlied dargestellt wird, sondern im Rheingebiet. Wie MACKENSEN und MÜLLER hat sich EHRISMANN mit dem Raum des historischen Burgunderuntergangs beschäftigt. Er stellt fest, dass die historischen Burgunder am Rhein gelebt haben. Dass sie ihren Wohnsitz im Raum von Worms hatten, sei aber nach Auskunft der heutigen Archäologie nicht bewiesen (EHRISMANN 2005: 10). Er schließt, dass wir deswegen nicht von einem Reich der Burgunden in Worms sprechen können, wie es im Nibelungenlied dargestellt wird (ebd., 10). EHRISMANN erklärt auch, wie die Hunnen, ein Nomadenvolk aus Zentralasien, das Ostgotenreich eroberten, und später an die untere Donau zogen, wo sie ihr Herrschaftszentrum in die Gegend der späten Ungarn verlagerten (ebd., 16). Außer dem geschichtlichen Aspekt des Untergangs bemerkt EHRISMANN, dass die Ortsnamen des Nibelungenliedes, die mythischen Räume Isenstein und Nibelungsburg ausgenommen, andere historische Erinnerungen innehaben. Er erklärt, dass z. B. Worms ein Zentrum staufischer Herrschaft war (ebd. 22). Er begründet auch, warum Xanten im Nibelungenlied zum Herrschaftszentrum Siegfrieds gemacht wurde. Dabei stellt er fest, 7 dass das Stift Xanten im vierten Jahrhundert im Gedenken an das Martyrium des heiligen Viktor, der auch als Drachentöter bekannt war, gegründet wurde. Er erklärt, dass das erste Namenglied Siegfrieds eine Anspielung auf diesen Drachentöter sei, dessen Namen Viktor ‚Sieger‘ bedeute. Was Gran (Etzelnburg im Nibelungenlied, heute Esztergom genannt) anbelangt, bemerkt er, dass diese Stadt zu der Zeit des Dichters wegen des Heiligen Stephan I. bekannt war. Er weist auch darauf hin, dass König Konrad III. und Kaiser Barbarossa auf ihren Zügen ins Heilige Land dort aufgenommen wurden(vgl. EHRISMANN 2005: 31) Jahrzehnte vor EHRISMANN hatte auch MACKENSEN den gleichen Versuch unternommen. Er erklärt u.a. die Bedeutung der Städte Passau und Pöchlarn für das Nibelungenlied. Er weist darauf hin, dass Passau im zwölften Jahrhundert wegen des dort 739 gegründeten Bistums bekannt war. Im zehnten Jahrhundert, so MACKENSEN, wurde dort ein bestimmter Pilgrim zum Bischof gemacht. Nach M ACKENSEN wurde dieser Bischof im Nibelungenlied als Onkel Kriemhilds eingesetzt, um damit dem Epos mehr Glaubwürdigkeit zu schenken (vgl. MACKENSEN 1984: 121-123). Was Pöchlarn angeht, erklärt MACKENSEN, dass die im Nibelungenlied beschriebene Empfangsszene der Burgunden, die sich im Pöchlarn abspielt, dem großartigen Empfang nachgezeichnet wurde, den Bela III. von Ungarn und seine Gattin 1189 Barbarossa bereiteten, als dieser auf seiner Kreuzfahrt in Gran empfangen wurde (ebd., 129). Auf der textinternen Ebene versucht GILLESPIE, einen Zusammenhang zwischen dem Mythischen und dem Realen im Nibelungenlied zu ziehen. Dabei stellt er fest, dass sich im mythischen Raum eine irrationale Handlung abspielt, während der reale Raum mit zeitgenössischen Zügen beschrieben wird. Auch erklärt er, dass die Handlung im mythischen Raum grausame Konsequenzen auf den realen Raum hat: „Dort [in dem mythischen Raum] herrscht das Irrationale, dort geschehen schicksalsschwere Handlungen, die mit unerbittlicher Konsequenz die tragischen Folgen in der realen Welt verursachen“ (GILLESPIE 1985: 48). Bezüglich der mythischen Welt betont MÜLLER, dass sie unklare räumliche Dispositionen hat. Er stellt fest, dass es unbestimmt ist, wie man in diese Welt kommt. Auch sei die Umgebung dieser Welt rudimentär (vgl. MÜLLER 2005: 145). Er erklärt, dass es in der mythischen Welt keine raumzeitliche Ordnung sowie keine in klarer Kausalität miteinander verknüpfte Geschehen gibt. Der Anlass und der Verlauf des Streits um den Hort sowie der Grund, aus welchen Siegfried zum Schiedsrichter gemacht wird, scheinen ihm unklar (ebd., 145). 8 Außer dem Zusammenhang zwischen mythischen und realen Räumen betont GILLESPIE, dass die Handlung im ersten Teil des Epos aus Intrige und Mord bestehe, während es im zweiten Teil zwei Abschnitte gäbe nämliche die Reisen zwischen Worms und Ungarn und die Kämpfe in Etzels Palas (vgl. GILLESPIE 1985, 49). Bezüglich der Reisen stellt GILLESPIE fest, dass die Donau bei der letzten Reise der Burgunden für eine Grenze fungiert, über die man in ein Land kommt, von dem es keine Wiederkehr gibt. Die Ermordung des Fergen sowie die Vernichtung des Bootes seien daher eine Herausforderung des Schicksals (ebd., 53). IHLENBURG betont, dass der Donauübergang der Burgunden im Nibelungenlied eine Anspielung auf ein traditionell bekanntes mythisches Motiv ist, und zwar das „von der Überfahrt über ein Wasser in das Land des Todes“. Er erklärt, dass die Evozierung mythischer Vorstellungen den Ereignissen die Symbolik schicksalhafter Unausweichlichkeit verleiht (IHLENBURG 1997: 274). Angesichts der Rückkehrlosigkeit der Reise der Burgunden ins Hunnenreich betont LIENERT in einem Aufsatz bezüglich des Donauübergangs, dass die Donau zum Totenfluss stilisiert scheint, über den es kein Zurück gibt (vgl. LIENERT 1997: 109). Im gleichen Aufsatz stellt sie heraus wie der Nibelungenraum konstituiert ist: Die Großstruktur des Nibelungenliedes wird auch bestimmt durch das Gegeneinander und die räumlichen Beziehungen bestimmter Großräume: Worms und die nördlichen Reiche Siegfrieds und Brünhilds im ersten, Worms und Etzels östliches Reich im zweiten Teil (ebd., 109). Bei der Raumkonstellation stellt sie fest, dass der Raum des Nibelungenliedes ein personalisierter Raum sei, d.h. der Raum wird durch Personenbeziehungen bestimmt (ebd., 110). Sehr relevant sei für sie die großräumige Bewegung von Auszug und Rückkehr. Denn sie erklärt, dass die räumliche Ordnung des Nibelungenliedes hauptsächlich davon abhängt. Jeder Auszug in die Fremde sollte mit einer Rückkehr vollzogen werden, so LIENERT. Nach ihr sei im Nibelungenlied ein Auszug ohne Rückkehr Synonym für Katastrophe (ebd. 113). Den Untergang deutet sie als „gestörte Räumlichkeit“ (ebd. 116). MÜLLER vertritt die Meinung, dass die Ordnung der nibelungischen Welt auf Verhaltensmuster beruht. Er deutet den Untergang als „Durchbrechung regelhaften Verhaltens“ (vgl. MÜLLER 1998: 345) und erklärt, wie „die Perversion höfischer Ordnung und der Ausbruch von Gewalt“ eng zusammenhängen (ebd., 418). In ihrem 2003 geschriebenen Aufsatz wirft BRÜGGEN einen kritischen Blick auf die Räume und die Begegnungen im Nibelungenlied. Dabei analysiert sie die „erzählerische 9 Präsenz“ sowie die Funktionalisierung des Hofes unter wechselnden Gesichtspunkten. Sie geht auch auf die zeremoniellen Empfänge ein. Ihrer Meinung nach sind Räume und Begegnungen im Nibelungenlied im Hinblick auf das Endgeschehen nämlich den Untergang strukturiert: Räume und Begegnungen stehen im Nibelungenlied im Zeichen höfischer Ordnung, sie werden aber ebenso für die Poetisierung der Störung und des Zerbrechens dieser Ordnung in Dienst genommen (BRÜGGEN 2003: 163). Grundlegend für die vorliegende Arbeit werden aus den oben erwähnten Meinungen der Forschung die Thesen von Müller und Lienert sein. 0. 3. Struktur der Arbeit Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil besteht aus vier Kapiteln, während der zweite Teil allein einen großen Abschnitt konstituiert. Im ersten Kapitel des ersten Teiles soll der Raum des historischen Burgunderuntergangs geforscht werden. Das zweite Kapitel befasst sich mit einer Konstellation der Großräume im Nibelungenlied. Das dritte Kapitel möchte belegen, dass der Raum des Nibelungenliedes menschenbezogen ist. Das letzte Kapitel setzt sich zum Ziel, die Funktion der Kleinräume des Nibelungenliedes zu analysieren. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den großräumigen Bewegungen im Nibelungenlied. Dabei werden zuerst das Motiv sowie der Verlauf jeder Reise im Nibelungenlied vorgestellt werden. Es wird dann belegt werden, inwiefern die Struktur von Auszug und Rückkehr in den großräumigen Bewegungen von Bedeutung ist. Es sollten auch die Funktionen des Wassers bei den Reisen analysiert werden. Am Ende des Abschnitts wird ein Blick auf die Ankunftsszenen im Nibelungenlied geworfen werden. Die vorliegende Untersuchung möchte beweisen, dass der Raum des Nibelungenliedes im Hinblick auf den Burgundenuntergang strukturiert ist, und auch dass der Untergang sich als Ergebnis von der Störung der unterschiedlichen Raumstrukturen erweist. 10 Teil I: Die Schauplätze des Nibelungenliedes Es sollen die Schauplätze des Nibelungenliedes sowohl textextern als auch textintern analysiert werden. Textextern wird ein Blick über die historische Geographie des Epos geworfen werden, das heißt, über die reale Geographie mit ihren geschichtlichen Zügen. Die textinterne Analyse wird aus drei Abschnitten bestehen. Der erste Abschnitt will die großräumige Vorstellung im Nibelungenlied darstellen. Der zweite Abschnitt setzt sich zum Ziel, zu zeigen, dass der Raum des Nibelungenliedes auf Personenbeziehungen bezogen ist. Im dritten Punkt wird eine kleinräumige Vorstellung dargelegt. I.1. Historische Geographie des Nibelungenliedes „Die Artusromane versetzten ihre Leser ins Niemandsland“, stellt Lutz MACKENSEN fest. (1984: 111). Obwohl es manchmal im Artusroman von Ländern wie Britanje, Ispanje, Almanje, usw. die Rede ist, spielt die Handlung des nach Aventiure suchenden Ritters in unbekannten Ortschaften. So kommen Bezeichnungen vor, wovon niemand gehört hat wie z. B. die Drachenbehausung Anferginan, das Feenland Avalun. Erecs Heimat heißt Destregales; die Schlösser von Artus heißen Karidol und Titajol. Die besten Beinschienen werden in Glenis gerechtfertigt und die guten Speere stammen aus Lofainge. Die meisten dieser Namen sind reine Erfindungen. Im Gegensatz dazu lokalisiert der Dichter des Nibelungenliedes seine Geschichte in einem Raum, der dem Hörer wohl bekannt war.1 Außer Isenstein und dem Nibelungenland- die jeweils erzählerisch in Island und Norwegien lokalisiert werden - scheint die Geographie des Nibelungenliedes jedenfalls so realistisch, dass von seinen Schauplätzen Landkarten gefertigt wurden, worin man den ‚Weg der Nibelungen‘ verzeichnet hat (vgl. LIENERT 1997: 104; siehe auch Anhang). In diesem Sinne könnte man die historische Geographie des Nibelungenliedes untersuchen. Zentralthema im Nibelungenlied ist der Untergang der Burgunden, der mit dem Hunnen Attila(Etzel im Nibelungenlied) verknüpft wird. Das Nibelungenlied hat im ersten Teil das Rheingebiet mit Worms und im zweiten den Donauraum mit Etzelnburg/Gran als Spielplatz. Es ist auffällig, dass historische Ereignisse im Epos herangezogen werden. Hierbei wird den Versuch unternommen, den historischen Raum 1 Vgl. dazu GILLESPIE 1987: GILLESPIE bemerkt, dass der Dichter des Nibelungenliedes- im Gegensatz zur Darstellung einer idealisierten gallisch-keltischen Landschaft und der Ermahnung zur idealen Lösung, die in der Artusepik zu bemerken ist- eine Darstellung der Wirklichkeit bietet, indem aber die mächtigen Symbole der überlieferten Erzählungen verwendet werden, um die Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen. Dadurch ist die Szenerie des Gedichts teilweise vertraut. (S. 44) 11 des Untergangs der Burgunden zu untersuchen. Wer die Burgunden waren, wo sie gelebt haben, wie der Untergang ihres Reiches geschehen ist sowie die Rolle, die die Hunnen dabei gespielt haben sind die Fragen, die hierbei einerseits erörtert werden sollen. Es wird andererseits nach der Geschichtlichkeit der Ortschaften gesucht werden, die die Burgunden auf dem Weg ins Hunnenland durchreisen. Einen besonderen Wert wird dabei auf Passau gelegt werden. Es muss in der Schlussfolgerung dieses Abschnitts belegt werden, dass der Dichter des Nibelungenliedes einen historischen Stoff benutzt hat, um sein Epos zu entwickeln, wobei der historische Burgundenuntergang durch willkürliche aneignende räumliche Fixierung transloziert wurde. Der Begriff der ‚aneignende[n] räumliche[n] Fixierung“ kommt von Hermann SCHNEIDER, wird aber hierbei nach Heinrich BECK zitiert. BECK erklärt, dass SCHNEIDER in seiner Germanischen Heldensage(1962) drei Arten räumlicher Fixierung unterscheidet: 1. Die altgeschichtliche: Dabei geht die Handlung „auf demselben Schauplatz vor sich wie in der historischen Realität und hat diesen (den Schauplatz) in der ganzen Entwicklung des Stoffes auch nicht verlassen“. Als Beispiel sei der Entscheidungskampf Dietrichs um Italien, der als Schlacht um Raben(=Ravenna) in der Saga weiter lebt; 2. Die rekonstruierte, wobei die Handlung in ein historisches Lokal verlegt wird. (Ein Beispiel biete „die Kämpfe Dietrichs in Oberitalien, die schließlich zur Einnahme Roms führten“, die „nicht die Kenntnis gotischer Geschichte, sondern die moderner italienischer Geographie verraten); 3. Die willkürliche aneignende, wobei die Heldenfabel „von ihrem ursprünglichen Boden in die Heimat des Dichters verlegt worden“ sei. (vgl. BECK 1997: S.30). Auch werden Orte erwähnt, die dem zeitgenössischen Publikum vertraut waren, womit der Dichter seiner alten maere Glaubwürdigkeit schenken wollte. Die historischen Burgunder zogen im frühen 5. Jahrhundert während der Völkerwanderung aus der Odergegend an den Mittelrhein und installierten sich im Rücken der Alemannen. Es ist aber nach Auskunft der heutigen Archäologie nicht bewiesen, dass die Burgunden im Raum Worms gelebt hatten. Wir können deswegen nicht von einem Reich der Burgunden am Rhein sprechen, wie uns in vielen Darstellungen zum Nibelungenlied gezeigt wird (vgl. EHRISMANN 2005: 14). Diese Meinung vertritt auch MACKENSEN, wenn er betont, dass der Burgunderhof an dem sich der erste Teil des Nibelungenlied abspielt, existiert hat, denn die Existenz dieses Hofes sowie sein Untergang sind in vielen Quellen bezeugt, anders freilich, als wie im Nibelungenlied erzählt. MACKENSEN bestätigt, dass es nicht bewiesen ist, dass die 12 Burgunder Worms zu ihrem Herrschaftssitz gemacht haben. Doch glaubt er, dass die verkehrsgünstige Lage am Hochufer des Rheins sie dazu hätte verlocken können, weil die Stadt ein breites Rheinufer - wie es im Nibelungenlied gesagt wird (vgl. Nibelungenlied: 71) - sowie einen Knotenpunkt wichtiger Straßen in alle Himmelsrichtungen hatte (vgl. MACKENSEN 1984: 44). Die Burgunden versuchten 435/436, unter König Gundahari ihre Wohnsitze in die römische Provinz Belgica auszudehnen. Dieser Versuch scheiterte, denn König Gundahari wurde mit Tausenden seines Volkes vom römischen Feldherrn Aetius mit Hilfe verbündeter Hunnen niedergeschlagen. Dabei wurde aber der burgundische Volksstamm nicht ausgelöscht wie es im Nibelungenlied zu lesen ist. Ein paar Burgunder entgingen der Katastrophe und wurden von Aetius in der Westschweiz nahe der Genfer See auf dem Gebiet der späteren Freigrafschaft Burgund an Rhone und Saône angesiedelt (vgl. MÜLLER 2002: 17; vgl. auch SCHULZE 2003: 61). Der Untergang geschah nicht im Donauraum wie im Nibelungenlied dargestellt, sondern im Rheingebiet! Wer waren aber die Hunnen und wo haben sie gelebt? Die Hunnen sind ein Nomadenvolk aus Zentralasien, das im 4. Jh. das Ostgotenreich eroberte und Ende des 4. Jh./Anfang des 5. an die untere Donau zog. 423425 verlagerte dieses Volk sein Herrschaftszentrum in die Gegend des späteren Ungarn. Im Nibelungenlied heißt es, dass Etzels Herrschaftszentrum ze Gran (Esztergom) liegt und Etzelnburg heißt. Esztergom war tatsächlich die erste Residenz der ungarischen Monarchen, Umlage- und Stapelplatz auf dem Weg nach Kiew. Dort wohnten im 12. Jahrhundert deutsche Kaufleute. Zwischen 434 und 445 wurde unter Bleda - Bloedelîn im Nibelungenlied - das Hunnenreich von Mittelasien und dem Kaukasus bis zur Donau und zum Rhein verbreitert. Unter Bledas Bruder und vorübergehenden Mitregenten Attila, dem Etzel des Nibelungenlied, wurden Kriegszüge nach Gallien unternommen. Das Hunnenreich zerfiel aber als Attila 453 starb.2 Er hatte jedenfalls an den Kämpfen nicht teilgenommen, die zum Burgunderuntergang geführt haben, wie es im Nibelungenlied vorkommt. Neben der Stadt Worms, die als Hauptort der Handlung im ersten Teil des Nibelungenliedes fungiert, steht eine andere Stadt, die voller geschichtlicher Ereignisse ist, und zwar die Stadt Xanten. Zur Zeit des Dichters des Nibelungenliedes hatte Xanten eine zentrale Stellung sowohl im kirchlichen als auch im politischen Raum am Niederrhein (vgl. EHRISMANN, 2005: 25). Obwohl die Stadt im Römischen Reich eine 2 Die bisherige Information über die Hunnen halte ich von Ehrismann. (Vgl. Ehrismann, 2005: 16) 13 kleinere Rolle spielte, könnte sie mit dem mittelrheinischen Worms verglichen werden. Denn es gab zwischen dem Xantener und dem Wormser Raum relativ starke kirchliche und wirtschaftliche Verbindungen. Außerdem wird von EHRISMANN ein sagengeschichtliches Faktum in Erinnerung gerufen, das in Bezug auf die Herkunft Siegfrieds im Nibelungenlied von großer Bedeutung ist. Ehrismann erklärt, dass das Stift Xanten im vierten Jahrhundert im Gedanken an das Martyrium des heiligen Viktor gegründet wurde, der wie Siegfried als Drachentöter gefeiert wurde. Das erste Namenglied Siegfrieds (Sieg) ist eine Anspielung auf den Namen Viktor, der eigentlich Sieger bedeutet (vgl. EHRISMANN, 2005: 25). Ferner stellt er die Hypothese auf, dass Siegfrieds Erhebung zum Ritter eine Wiederaufführung eines dem zeitgenössischen Publikum bekannten geschichtlichen Ereignisses sein könnte und zwar der sehr eindrucksvollen Schwertleite, die der Kaiser zu Pfingsten 1184 für seine Söhne Friedrich und Heinrich organisierte. Dies geschah aber nicht in Xanten, sondern in Mainz (ebd. 26). Der Dichter des Nibelungenliedes hat auch andere Ortschaften in seine Dichtung integriert, die überprüfbar sind und teilweise geschichtlich von Bedeutung sind. Sowohl die Reise Kriemhilds als auch die der Burgunden nach Etzelnburg stellen eine ausführliche Darstellung von Reisewegen dar.3 Bei beiden Reisen wird ungefähr fast denselben Weg benutzt. Es wird vom Rheingebiet über die Donau durch Passau, Pöchlarn und Wien nach Esztergom/Gran gereist. Das Bistum von Passau, deren Bischof auch Gerichtsherr von Passau war, wurde 739 von Bonifaz gegründet und war das größte aller Bistümer des Reiches. Die Stadt hatte eine Schlüsselstellung zwischen Ost und West wegen des Salzhandels, und war auch als Warenumschlagplatz beachtlich. Dort wurde zwischen 971 und 991 von Bischof Pilgrim den Stephansdom gegründet, der 1181 abbrannte. Später siedelte er zum Bistum von Erzbischof von Salzburg. Von dort aus gewann er die Sympathie des Kaisers. Er wirkte bei der Konversion des Ungarnherzogs Wajk mit und gewann den Kaiser Heinrich II. dazu, seine Tochter Gisela dem Herzog zur Frau zu geben. Es gelang ihm auch durch Erwerb des kaiserlichen Marienstifts und wichtiger Zollrechte des Kaisers als Bischof Stadtherr von Passau zu werden. Bei dem Wiederaufbau des 1181 abgebrannten Stephansdoms wurde Pilgrims Grab entdeckt. Diese Geschichte war dem Dichter nicht unbekannt. Dass er Pilgrim im Nibelungenlied als Onkel Kriemhilds fungieren lässt, deutet MACKENSEN als Mittel zur Glaubwürdigkeit der Dichtung: 3 Bei der Beschreibung des Rheingebietes aber wird es dem Dichter geographische Fehler vorgeworfen. 14 Darum nahm ihn der Dichter in seinen Strophen, machte ihn zum Onkel der Burgunderfürsten, stärkte damit die historischen Bezüge seines Werks und huldigte gleichzeitig dem regierenden Nachfolger, ohne ihm zu schmeicheln. (MACKENSEN, 1984: 122) In der Beschreibung der Reise Kriemhilds-auch die der Burgunden- wird nach Passau Pöchlarn zur nächsten Station. Pöchlarn fungiert im Nibelungenlied als die Markgrafschaft Rüdigers, der in der Nibelungenforschung als des Dichters Vorzugsgestalt aufgefasst wird (vgl. MACKENSEN, 1984: 128). Die geschichtliche Pöchlarn gehörte damals zum Regensburger Hochstift und war ein Grenzort. Dort wurde 1189 Barbarossa von Bela III. von Ungarn und seiner Gattin einen großartigen Empfang bereitet als jener auf seiner Kreuzfahrt war. Dieser Empfang dauerte vier Tage. Am letzten Tag wurde dem Kaiser reichlich beschenkt. Kurz vor dem Abschied wurde Belas Tochter mit Friedrich von Schwaben verlobt. Dieser Verlobung aber folgte keine Heirat, weil Friedrich im Osten fiel. Der viertägige Aufenthalt der Burgunden in Pöchlarn, der Geschenkaustausch sowie die Verlobung Giselher mit Rüdigers Tochter scheint eine Anspielung auf dieses geschichtliche Ereignis zu sein (Ebd. 129). Nachdem die Burgunden von Rüdiger Abschied nehmen, reiten sie geradewegs nach Etzels Land. Kriemhilds Reise kennt aber andere Stationen. Sie fährt bis Mautern, wo Pilgrim von ihr Abschied nimmt, bevor sie über Tulln nach Wien reitet wo die Hochzeit mit Etzel zelebriert wird. EHRISMANN versucht, zu erklären, warum die Hochzeit in Wien stattfindet, und nicht in Etzels Residenz. Dabei stellt er fest, dass Wien zur Zeit des Dichters die wichtigste der landesfürstlichen Städte Österreichs und überhaupt eine der bedeutendsten der deutschen Länder war, aber auch ein Zentrum der ritterlich-höfischen Festkultur. Er betont auch, wie Walther von der Vogelweide in seinem Lied hof ze Wiene sprach den babenbergischen Hof in Wien lobte, dem nur der Hof des Königs Artus gleichkomme (EHRISMANN, 2005: 35-36). 1203 wurde die Hochzeit Herzog Leopolds VI. mit der Prinzessin Theodora Komnena aus dem byzantinischen Kaiserhaus in Wien zelebriert. EHRISMANN geht davon aus, dass sich der Dichter davon inspiriert haben sollte (ebd., 136). Zum Schluss kann man sagen, dass das Nibelungenlied in einem realistischen Raum abspielt, und zwar dem Rheingebiet und dem Donauraum. Der Dichter bemühte sich, um des Verständnisses seines Publikums Willen, einen dem zeitgenössischen Publikum vertrauten Stoff in einem ihm bekannten Raum zu schildern. Der Dichter, der wahrscheinlich aus der Umgebung von der Stadt Passau stammt, holt zu seinem Zweck Motive aus der Zeit der Völkerwanderung und versucht, sie in sein Epos reinzupassen. 15 So wird der Burgunderuntergang des 5. Jahrhunderts, der eigentlich im Rheingebiet ohne direkte Teilnahme des Hunnenkönigs Attila geschah, in den Donauraum am Hof Etzel versetzt. I.2. Die großräumige Vorstellung und Raumkonstellation im Nibelungenlied Es soll präzisiert werden, dass die vorliegende Überlegung nicht zum Ziel hat, geographische Bezeichnungen zu untersuchen. Es soll deswegen keine Erörterung geographischer Genauigkeit von dieser Arbeit erwartet werden. Es sollte gezeigt werden, dass der Raum des Nibelungenlieds ein personalisierter Raum, d.h. auf Personenrelation basiert ist(vgl. LIENERT 1997: 105). Die Welt des Nibelungenliedes ist eine Welt der Höfe, unter denen Worms und Etzelnburg für die Handlung am wichtigsten sind (vgl. BRÜGGEN 2004: 164). Worms ist der erst dargestellte Hof der Dichtung und fungiert als Kernpunkt der Handlung im ersten Teil und teilweise im zweiten Teil der Handlung. Schon in der ersten Aventiure bekommt man zu lesen, dass Worms in Burgunden am Rheinufer liegt (Nibelungenlied, 6, 1). Worms hat einen ziemlich großen Burghof, am dessen Ende der Palas liegt mit einem Saal im ersten Stock; am anderen Ende ist das Münster zu finden. Dort residieren die drei burgundischen Könige Gunther, Gernot und Giselher, auf deren Eigenschaften schon am Anfang des Liedes hingewiesen wird, und zwar unmâzen küene, milte,und von arde hôhe erborn. Diese Auszeichnungen waren in der Dichtung des 12. Jahrhundert „magische Qualitäten“, die zum „Standard fürstlicher Profilbildung“ gehören (vgl. EHRISMANN 2005: 22). Die drei Könige haben eine Schwester – Kriemhild - , deren Schönheit vom Erzähler gelobt wird (Nibelungenlied, 2,2) und als Ursache des künftigen Untergangs gedeutet wird. Neben den Königen und deren Schwester Kriemhild, dem vil édel magedîn, daz in allen landen niht schoeners mohte sîn (Nibelungenlied 2,1-2), ist auch Ute, ihre Mutter, in Worms wohnhaft. Der Erzähler führt die Organisationsstruktur des Wormser Hofes sorgfältig ein. Zuerst werden die mit den Königen verwandten Vasallen vorgestellt: Hagen von Tronje, sein Bruder Dankwart und Ortwin von Metz. Hagen kommt kein definiertes Hofamt zu. Er spielt jedoch im königlichen Rat die wichtigste Rolle. Dankwart ist der Marschall (Nibelungenlied, 178, 1) und deswegen für die Pferde und die fürstlichen Gesinde auf Reisen und Heerzügen zuständig. Ortwin ist als Truchsess tätig. Die zweite Gruppe bilden Gere und Eckewart, die als Markgrafen fungieren sowie Volker (Nibelungenlied 172, 2). Die dritte Gruppe ist für die Hofhaltung und ihren Glanz verantwortlich 16 (Nibelungenlied, 10, 2-3) und besteht aus dem Küchenmeister Rumold, dem Mundschenk Sindolt und dem Kämmerer Hunold. Die Organisationsstruktur in Worms wird von EHRISMANN geschätzt. Er betont, dass diese Hofämter einen großen Beitrag zur Bewahrung der Ehre am Hof leisten: Die hôhe êre des burgundischen Hofes fußt nicht nur auf dem namhaften Erbe und dem Ansehen der gegenwärtigen Könige, sondern auf dem Dienst einer hervorragenden Ritterschaft und Vasallität, die uns protokollarisch in drei Dreiergruppen vorgestellt (EHRISMANN 2005:22-23). Während Worms im ersten Teil die wichtigste Rolle spielt, steht im zweiten Teil Etzelnburg (Nibelungenlied 1379,1) im Mittelpunkt der Handlung. Etzelnburg ist die Residenz des hunnischen Königs und liegt ze Gran (Nibelungenlied, 1497,2). Etzel wird als ein friedlicher König dargestellt. An seinem „Vielvölkerhof herrscht Religionsfreiheit“ (ebd., 32). Es steht unter seiner Herrschaft eine Unzahl slawischer und germanischer Fürsten, die am Hof mit deren Gefolgsleuten friedlich leben. Nach dem Tod seiner ersten Frau, der Königin Helche wirbt Etzel um Kriemhild und lässt sie nach Etzelnburg als seine Ehefrau ziehen. Dort geschieht der burgundische Untergang. Neben beiden Hauptorten sind die anderen Höfe als Nebenschauplätze von unterschiedlichem Eigengewicht zu verstehen (vgl. BRÜGGEN, 2003: 163) und erscheinen in Konstellation zu den Haupthöfen, grundsächlich zu dem Wormser Hof. Die Raumkonstellation legt ein Fundament für den Untergang dar. Parallel zu Worms wird Xanten dargestellt und am Niederrhein gelegen. Wie Worms ist Xanten eine mächtige Burg. Dort wächst Siegfried, ein adliger Junger heran, dessen Eltern Siegmund und Sieglinde heißen. Gelegt wird der Akzent auf die Erziehung des jungen Siegfried sowie auf dessen ritterliche Kraft und seine Schönheit, weswegen ihn hübsche Frauen später begehren werden. Er wird sorgfältig am Hof erzogen, wobei er „eine gediegene Einführung in das ritterliche Leben“ erhält (vgl. EHRISMANN, 2005:24). Seine ritterliche Initiation endet mit seiner Schwertleite. Es wird betont, dass Siegfried über eine ungewöhnliche Kraft verfügt, womit er kämpferisch sein Ansehen verstärkt. Als Siegfried später in Worms ankommt, hört man von Hagen seine Jugendgeschichte. Bei Hagens Bericht erhält man die Existenz des Landes der küehnen Nibelunge (Nibelungenlied 87, 2)-eines mythischen Ortes- in Kenntnis. Wir erfahren, dass das Nibelungenland, nachdem Siegfried die Söhne des Königs Nibelung mit dem 17 Schwert Balmung erschlagen, und dessen Hort beschlagnahmen hat, nunmehr unter seiner Herrschaft steht. Später bekommt man aber den Eindruck, dass Xanten und das Nibelungenland obwohl mythisch! - das gleiche Land bilden. In der Tat werden Siegfried und Kriemhild nach ihrer Heirat in Xanten als Könige gekrönt: In einer tageweide, dâ man die geste sach. die kunden unt die vremden liten ungemach, unz daz si kômen z’einer bürge wît, diu was geheizen Santen, dâ si krône truogen sît. (Nibelungenlied, 708, 1-4) Wie kommt man aber dazu, dass Markgraf Gere in der 12. Aventiure die Xantener Könige ze Nibelunges bürge trifft? Man könnte schließen, dass die Burg der Nibelungen Xanten erzählerisch angeschlossen wird. Was wäre nun der Bezug beider Ortschaften auf den künftigen Untergang? Der Untergang steht in enger Verbindung mit Siegfrieds Tod sowie dem Raub des Hortes und dessen Versenkung in den Rhein durch Hagen. Indem die Burgunder den Nibelungenhort holen, ziehen sie gleichzeitig das Unheil nach Worms mit. Man bemerkt, dass die Wegnahme und die Versenkung Kriemhilds Morgengabe in den Rhein entscheidend ist, insofern diese Tatsache dem Motiv des zweiten Teils Anlass gibt. Bis zum Ende des Liedes kommt Kriemhild immer wieder auf die Forderung des Hortes zurück. Der kleine Funke der Hoffnung auf ein Happyend wird damit erloschen. Denn Kriemhilds Rachegedanke wird vom Gedanken an den Hort immer wieder belebt. Der Untergang als Konsequenz der Rache Kriemhilds wird, so kann man schließen außer Siegfrieds Ermordung im ersten Teil - im zweiten Teil der Dichtung durch die Hortforderung motiviert. Außerdem muss im Kapitel über die Bewegungen im Nibelungenlied gezeigt werden, dass das Nibelungenlied in Bezug auf räumliche Bewegungen eine zentripetale Raumstruktur hat, d.h. eine Struktur von Auszug und Rückkehr (vgl. LIENERT, 1997:113). In diesem Sinne wird die Bedeutung von Xanten in der Raumstruktur deutlich. Siegfried zieht mit Kriemhild und Siegmund nach Burgunden auf Einladung von Gunther. Siegfried und Kriemhild werden nie wieder nach Xanten/Nibelungenburg zurück fahren. Siegfrieds Leiche bleibt in Worms. Es wird Kriemhild zu Recht die Mitausübung der Herrschaft angeboten: Ir sult ouch haben, vrouwe, allen den gewalt, den iu ê tete künde Sifrit der degen balt. daz lant und ouch diu krône daz sî iu undertân. ir suln gerne dienen alle Sîfrides man. (Nibelungenlied, 1075, 1-4) 18 Diese Entscheidung wird zuerst von Kriemhild gebilligt. Aber dann wird sie von ihren Geschwistern gebeten, in Worms zu bleiben. Schließlich muss Siegmund alleine nach Xanten zurückkehren. Für Siegfried (sowohl die Figur als auch die Leiche) und Kriemhild gibt es keine Rückkehr. Der letzte Hof, womit sich meine Analyse befasst, ist Isenstein. Dort werden die ersten Schritte getan, die zum Untergang führen. Brünhild setzt klare Bedingungen voraus, die erfüllt werden müssen, um ihre Hand zu erhalten. Sie müsse vom Werber im Wettkampf besiegt werden. Da Brünhild selber sehr stark ist, ist diese Voraussetzung eine Herausforderung, die nur von einem Stärkeren gemeistert werden kann. Siegfried ist doch freilich der Stärkste. Daher die Reaktion Brünhilds als ihr gemeldet wird, dass Siegfried in ihrer Burg sei. Sie vermutet sofort, dass er um ihrer Liebe willen da sei: Dô sprach diu küneginne: „nu brinc mir mîn gewant. unt ist der starke Sîfrit komen in diz lant durch wille mîner minne, ez gât im an den lîp. ich fürhte in niht sô sêre, daz ich wérdé sîn wîp. (Nibelungenlied, 416, 1-4) Will Gunther erfolgreich um sie werben, dann müsste er als der Stärkste erscheinen, bzw. scheinen. Der Erfolg der Werbung um Brünhild bedingt deswegen die Standeslüge, die schon vor der Ankunft auf Isentsein von Siegfried sorgfältig gedacht wurde: Er solle als Gunthers Lehnsmann vorgestellt werden (Nibelungenlied, 386, 3). Die Begrüßungszeremonie wird ins Betrugsschema eingefügt, indem Siegfried Brünhild wissen lässt, dass er Gunthers Vasall sei. Der Rest folgt schnell. Brünhild wird im Wettkampf betrogen und vom getarnten Siegfried besiegt. Sie legt aber Gunther ihre Waffen zu Füßen, denn er hête diu spil mit sîner getân (Nibelungenlied 467,4); was doch ein reiner Betrug ist, wodurch das feudale Machtgefüge in Unordnung gerät (vgl. MÜLLER 2005:79). Diese Betrugsszene ist für die Folge der Handlung maßgeblich. Dadurch wird der Untergang mittelbar auf Isenstein ausgelöst. Aus der Raumkonstellation ergibt sich, dass die Räume in Hinsicht auf den Untergang strukturiert sind. In den Raum des ersten Teils der Dichtung wird der Untergang in die richtige Bahn gelenkt. Der Raum, in dem der zweite Teil der Dichtung abspielt, ist der des Untergangs. Um zum Untergang zu kommen, müssen sich beide Räume treffen. Dies geschieht durch Kontaktaufnahme. I.3. Der Raum des Nibelungenliedes: ein personalisierter Raum In ihrem Aufsatz „Raumstrukturen im Nibelungenlied“ weist LIENERT darauf hin, dass mittelalterliche Raumvorstellungen grundsächlich menschenbezogen sind. Sie stellt 19 zunächst einen Vergleich zwischen der Raumvorstellung des Nibelungenliedes und der der höfischen Literatur, wobei sie feststellt, dass der Raum des Artûshofes im Artûsroman für höfische Werte stehe, während Wildnis und Wald, die vom Artûsritter auf der Suche nach Aventiure durchgeritten wird, als anti-höfische Gegenwelt erscheinen. Sie erklärt, dass während in der höfischen Literatur Landschaft und Natur etwa zeichenhaft menschliche Befindlichkeiten spiegeln, weisen sie im Nibelungenlied zeichenhaft und gleichsam objektiv auf kommende Ereignisse. Lienert betont, dass niemals die Räume des Nibelungenliedes wie die des Artûsromans für soziale Werte stehen. Der Raum des Nibelungenliedes sei vielmehr wesentlich durch Personenbeziehungen konstituiert. (vgl. LIENERT 1997: 110). Das heißt also, dass es ein enger Zusammenhang zwischen Raum und Personen besteht. Figuren werden zum Beispiel mit deren Herkunft identifiziert, während Räume durch den Herrscher definiert werden. So kann man lesen: Guntheres lant (Nibelungenlied 139,1), ze Prühinde (Nibelungenlied 329,2), Prünhildes lant (Nibelungenlied 374, 3), Etzelen lant (1537,1). Aufgrund der Verbindung zwischen Raum und Person bezeichnet LIENERT den Raum des Nibelungenliedes als „personalisierter Raum“ (LIENERT 1997: 105). Der Charakter des Raumes ist deswegen im in den Personenbeziehungen zu deuten. Welches sind aber die Personenbeziehungen im Nibelungenlied? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich einen kurzen Blick auf die Reflexionen von GANSHOF über die mittelalterliche Gesellschaftsordnung werfen. GANSHOF stellt fest, dass die gesellschaftliche Zughörigkeit im Mittelalter auf mehreren Ebenen gestaltet ist, unter denen zwei Arten von Bindungen von besonderer Bedeutung sind, und zum einen das Lehnswesen, das eine herrschaftliche Bindung zwischen Personen ungleicher Stellung bezeichnet, und zum anderen die sog. Sippe, d.h. verwandtschaftliche Bindungen. Das Lehnswesen ist ein vasallischer Vertrag, der in gegenseitigen Rechten und Verpflichtungen zwischen einem Herrn und einem Vasallen besteht (vgl. GANSHOF, 1961:87). Verwandtschaftliche Bindungen dagegen sind Abhängigkeiten zwischen Blutsverwandtschaften - die das Adelsgeschlecht bilden - und schließen sowohl agnatische als auch kognatische Bindungen ein. Nun schauen wir uns die Personenbeziehungen im Nibelungenlied näher an. Dabei sollen der Wormser Hof und die Herrschaft in Etzelnburg in Betracht gezogen werden. Am Wormser Hof herrschen, wie schon erwähnt, die drei Brüder Gernot, Giselher und Gunther, unter denen der letztere als ,primus inter pares‘ fungiert. 20 Kriemhild, die in erste Linie dargestellt wird, ist ihre Schwester. Es wird vom Dichter angedeutet, dass die Königsbrüder den Vormund der Prinzessin bilden. Dazu kommt auch Ute, die Königsmutter. Hagen ist der zunächst nach der Königsfamilie eingeführte Vasall. Obwohl seine Verwandtschaft mit der königlichen Familie nicht eindeutig fixiert wird, wissen wird jedoch durch Giselhers Aussage in der Strophe 1133, dass er auf jeden mit den Königen verwandt ist: Dô sprach der herre Gîselher: „Hagen hât getân vil leides mîner swester; ich sold‘ iz undertân. waer‘ er niht mîn mâc, ez gienge im an den lîp.“ (Nibelungenlied, 1133, 1-3) Der Marschall Dankwart wird als Hagens Bruder eingeführt (Nibelungenlied, 9, 1-2). Ortwin von Metz, der am Hof als Truchsess dient, ist Dankwarts Neffe (Nibelungenlied, 11, 1). Einschließlich wird Volker als Hagens Verwandter dargestellt. Die Personenbeziehung ist also im Burgunden-Reich durch verwandtschaftliche Bindungen konstituiert, die mehr oder wenig klar definiert werden. FALK belegt, dass das Prinzip der Ehre unter den burgundischen Verwandten eine relevante Rolle spielt: „Hof und Ehre bedeuteten in Worms letztlich dasselbe. Die Ehre war das höchste Prinzip des Burgundenhofes“ (FALK, 1974:104).4 Der Hofrat sowie die ruhmreichen burgundischen Helden setzen sich dafür ein. Dabei scheint Hagen, die wichtigste Rolle zu übernehmen. Ehrismann betont, dass er neben dem König die wichtigste Stimme im ‚consilium familiare‘ habe. Sein Ziel sei es, die Ehre des Hofes zu bewahren: „An ihr [der Ehre des Hofes] richtet er sein Denken und Tun aus“ (EHRISMANN 2005: 58). Er wird doch dabei Taten begehen, die die Ordnung zwischen Verwandten stören und letztlich den ganzen Hof zugrunde richten werden. Nachdem sich die Königinnen sich zerworfen haben, und Kriemhild die Ehre Brünhilds, bzw. des Reiches geschwächt hat, schlägt Hagen Siegfrieds Ermordung vor, um die getrübte Ehre wieder herzustellen. Er gewinnt den König für die Ermordung, indem er ihm die Nutzen vor Augen führt, die aus dem Tod Siegfrieds gezogen werden könnten: ob Sîfrit niht enlebte, sô wurde im [Gúnther] undertân/ vil der künege lande(Nibelungenlied, 870, 3-4). Ein solcher benehmen könnte, durch die heutige Brille betrachtet, als nicht moralisierend gewertet werden. ALTHOFF erklärt aber, dass Schlauheit und List zur Kunst, sich in dem Personenverbandsstaat des Mittelalters durchzusetzen, zählen (ALTHOFF 1990:16). Es werde nach Erfolg und Misserfolg 4 Das Prinzip der Ehre am burgundischen Hof scheint doch angesichts der verschiedenen Betrugshandlungen nur Anschein zu sein. Die Betrugshandlungen konstituieren aber kein Problem, solange sie verborgen bleiben. 21 abgerechnet, nicht nach der Moral. Während Hagen List verwendet, um Siegfrieds Verwundbarkeit zu erfahre, reagiert Kriemhild mit Rücksicht auf die verwandtschaftliche Beziehung: Si sprach: „dú bist mîn mâc, sô bin ich der dîn. ich bevilhe dir mit triuwen den holden wine mîn, daz du mir wol behüetest den mîn lieben man.“(Nibelungenlied, 898, 1-3) Verwandtentreue wird Kriemhild gegenüber um des Hofes Ehre willen verachtet. Die Preisgabe von Siegfrieds Verwundbarkeit wird von Hagen nicht im Sinne des Schutzes genutzt, sondern für den Mord zur Ehre des Reiches (vgl. EHRISMANN 2005: 60). EHRISMANN unterstreicht, dass Hagen immerhin für „Wiederherstellung und Mehrung der Reichsehre“ eingreift, und für deren Gefährdung ein scharfes Auge habe (ebd. 60). Deswegen wird der Hort in den Rhein versenkt, um einen eventuellen Racheversuch seitens Kriemhilds zu vermeiden. Im personalisierten Raum sind Personenbeziehungen von Raumbeziehungen nicht zu unterscheiden. Denn das eine hängt vom anderen ab. Raumbeziehung wird von Personenbeziehungen bestimmt, so dass Störungen von Personenbeziehung zur räumlichen Trennung führen. So z. B. trennt sich Kriemhild von ihren Brüdern, nachdem Siegfried ermordet wurde: Ze Wormez bî dem münster ein gezimber man ir slôz, wît únd vil michel, rîch únde grôz, dâ si mit ir gesinde sît âne vreude saz (Nibelungenlied, 1202, 1-3). Isoliert vom Hof klagt und leidet Kriemhild. Sie vermeidet jeglichen Kontakt mit ihrem Bruder Gunther und ihrem Feind Hagen, denen sie die Schuld an ihrem Unglück gibt. So lebt sie bis sie mit Gunther anscheinend versöhnt wird. Erst nachdem die Personenbeziehung wieder hergestellt wurde, geschieht eine räumliche Annäherung. Auch Hagen muss sich dem Hof entfernen, nachdem er getadelt wird, Kriemhilds Hort geraubt zu haben. Somit sind Raumbeziehung und Personenbeziehung eng verbunden. Was die Personenbeziehungen in Etzelnburg anbelangt, beruhen sie hauptsächlich auf Vasallität und Lehensprinzipien. Die Macht und der Schutz der Zentralgewalt werden durch Etzel verkörpert und gesichert. Bei Rüdigers Werbung um Kriemhild, versucht er die ablehnende Kriemhild für Hochzeit mit Etzel zu gewinnen, indem er ihr die Machtbasis der früheren Königin Helche schildert. Es wird Kriemhild erklärt, dass sie ihre Gewalt über zwölf Königreiche ausüben könnte. Dazu würden ihr dreißig Fürstentümer dienen, welche vom ihrem zukünftigem Gatten unterworfen wurden (vgl. Nibelungenlied, 1235). Obwohl die Struktur des Hunnenreiches von 22 Rüdiger nicht näher erläutert wird, ist dieses Angebot an Kriemhild genug, um sich ein Bild von dem Umfang sowie von der Herrschaft im Hunnenreich zu machen. Es gibt zudem eine Unzahl von Fürsten, welche dem hunnischen König gegenüber Dienstpflichten haben wie z. B. „herre Dietrîch (…) und der küene Hildebrant“, „herre Blœdelîn“, „herzoge Herman, ein fürste ûzer Pœlân“, „Sigeher von Walâchen“, „Walber der edelvrîe“, „Irnfrit“ aus Thüringen, Vogt „Hâwart“ aus Dänemark, „Îring“ aus Lothringen (Nibelungenlied, 1395), „herzoge Râmunc ûzer Walachen“, „fürste (Nibelungenlied, Gibech“(Nibelungenlied, 1394.), „Schrûtân“ 1393, (Nibelungenlied, „Hornboge 1880, 1), der usw. snelle“ Auch bemerkenswert ist, dass Rüediger als Fremder zu höchstem Ansehen und Einfluss gekommen ist. Es wird aber leider nicht gesagt, welche Stellung diese Edelleute untereinander innehaben. Man könnte jedoch aufgrund der dominanten Rolle Rüedigers und Dietrichs gegen Ende des Epos vermuten, dass diese eine stärkere Position gegenüber den weiteren Adligen innehaben und als Berater des Herrschers den größten Einfluss auf Etzel haben. Die religiöse Verschiedenartigkeit des hunnischen Hofes, worauf Rüdiger bei der Werbung hingewiesen hatte, wird bei Kriemhilds Empfang im Hunnenreich nochmals außerordentlich hervorgehoben: Bî im z´allen zîten (daz waetlîch mêr ergê) Kristenlîcher orden unt ouch der heiden ê, in swie getanem lebene sich ietslîcher truoc. daz schuof des küniges milte, daz man in allen gap genuoc (Nibelungenlied, 1335, 1-4). Die Voraussetzung für diese große Heterogenität am hunnischen Hof wird von der milte des Herrschers geschaffen. Wegen des gewaltfreien Umgangs Etzels mit den religiösen und kulturellen Differenzen werden viele Nationen in seinem Land vereint. Etzel wird ja von Russen, Griechen, Polen, Walachen, usw. begleitet: Von vil maniger sprâche sah man ûf den wegen Vor Etzelen rîten manigen küenen degen,, von kristen und von heiden vil manige wîte schar. dâ si die vrouwen funden, si kômen hêrlîchen dar. (Nibelungenlied, 1338, 1-4) Das große Geleit des Herrschers könnte hierbei als Angabe zur territorialen Ausdehnung bzw. zum Einflussbereich der Hunnen gedeutet werden, welcher im Vergleich zu dem der Burgunden ungleich größer erscheint und die Zahl der vertretenen Nationalitäten erheblich erweitert. Dass es in der Darstellung des Hofes Etzels, keinen Hinweis auf Feinde gibt, die die Integrität des Landes gefährden könnten, sollte als ein 23 Zeichen verstanden werden, dass der Aufbau des Hunnenreiches sowie die Personenbeziehungen im Gegensatz zu Worms sehr gut konsolidiert sind. Während die Burgunden mit der Feindschaft der Sachsen im ersten und der der Bayern im zweiten Teil konfrontiert sind, gibt es in der Handlung keinen Hinweis, dass die Hunnen irgendeine Feindschaft befürchten. Auch war die unglaubliche Kraft ihres Verwandten Siegfried hielten die Burgunden für die Ehre des Wormser Hofes problematisch. Aus diesem Grund musste Siegfried ermordet werden. Während die Personenbeziehungen am Wormser Hof gestört werden, kann sich Etzel offenbar auf loyale Vasallen stützen, die das strukturelle Fortbestehen seines Königtums gewährleisten und dessen territoriale Ausdehnung durch Treue und Schutz bewahren. I.4. Die kleinräumige Vorstellung I.4.1. Der Hof Der Hof heißt auf mittelhochdeutsch entweder „hof“ oder „hove“. Dem Begriff kommen im Nibelungenlied so vielfältige Deutungen zu, dass man den ‚Hof‛ nicht eindeutig definieren kann. Man könnte dennoch dank Müllers Untersuchung in seinen Spielregeln für den Untergang dessen Konnotationen einordnen: hof als Raum, als Personengruppe, aber auch als Institution: „Damit[mit hof] wird sowohl ein Raum wie eine Personengruppe wie eine Institution benannt, häufig aber alles zugleich“ (MÜLLER 1998: 300). Definiert als Raum ist manchmal unter „Hof“ „ein unbestimmter Raum mit unbestimmten Grenzen“ zu verstehen, der als Zentrum der Herrschaft gilt (vgl. Ebd. 300): Wormez ist das Herrschaftszentrum der burgundischen Könige, Etzelnburg das des Hunnenreiches, usw. Als Beispiel für die Anwendung des Begriffes hove/ze hove als Herrschaftszentrum sei die Ankunft der zweiunddreißig sogenannten sächsischen Boten, die ze hove rîten (Nibelungenlied, 877,2), um die betrügerische Kriegserklärung ankündigen. Hierbei, so erklärt MÜLLER sollte unter ze hove die „weitere Umgebung“ der burgundischen Könige verstanden werden (vgl. ebd. 300). Anderes Beispiel in diesem Sinne bemerkt man, als die Burgunden auf der Reise zu Etzel das Feld verlassen, wo sie das Zeltlager aufgeschlagen hatten, um sich dann zur Etzels Regierungssitz zu begeben. Es wird gesagt, dass sie hin ze hove riten (Nibelungenlied, 1732,1). 24 In manchen Szenen bezieht sich der Begriff hof oder ze hove auf die einzige Person des Königs: Als die sächsischen Boten in der vierten Aventiure vor den König treten, heißt es, man hiez die boten balde ze hove für den künec gân. (Nibelungenlied, 141,4) Als Gere als Bote in Siegfrieds Land empfangen wird, wird er ze hove erloubet (Nibelungenlied, 744,4); d.h. er wird erlaubt, vor dem König zu erscheinen. Auch in der Strophe 1803 schlägt Volker den Burgunden vor, ze hove zu gehen, um dort vom König zu hören, was er denke. In dieser Szene wird nicht die Umgebung des Königs gemeint, wie in der Strophe 877, sondern eher der König selbst. Ze hove weist in diesen Fällen auf die Person des Königs hin: Ze hove gehen heißt hierbei zum König gehen. Hove könnte aber auch „eine rein räumliche Bedeutung“ haben (vgl. MÜLLER 1998: 300). MÜLLER erklärt, dass „mit hof (…) der freie Platz im Inneren der Burg gemeint sein[könnte], auf dem sich Ankömmlinge aufhalten, die jungen Ritter ihre Kräfte messen oder ein bûhurt stattfindet“ (MÜLLER, 1998: 300). In diesem Hinblick stehen Gere und seine Gefährten an dem hove, als sie bei Siegfried und Kriemhild als Boten ankommen (Nibelungenlied 741,2). Siegfried nimmt bei seinem ersten Aufenthalt in Worms regelmäßig an den ritterlichen Kampfspielen teil, die ûf dem hove stattfinden. Auch kann der Hof als „Raum zwischen den verschiedenen Gebäuden verstanden werden. Als Beispiel sieht man Hagen und Völker bei der Ankunft der Burgunden bei Etzel über den hof vil verre für einen palas wît gehen, während die herren ûf dem hove stân. (Nibelungenlied, 1760, 1-3) (vgl. MÜLLER 1998: 300). Mit hof kann auch eine Personenkonstellation bezeichnet werden, bzw. „die Versammlung derer, die über das Land Herrschen“ (MÜLLER 1998: 301) Nach Kriegserklärung der Boten Liudegers und Liudegasts ruft Gunther einen Hofrat ab. Dabei wird gesagt, dass er Gernot darum bittet, sogleich ze hove (an die Versammlung) zu kommen (Nibelungenlied, 148,4). Anderes Beispiel des Hofes als Personenkonstellation sei dessen Erwähnung bei der Eheschließung Kriemhilds mit Siegfried. Kriemhild wird gebeten, ze hove zu erscheinen (Nibelungenlied, 609,4). Man sieht in der Handlungsfolge Kriemhild vor ihren Brüdern erscheinen. Ze hove könnte außerdem als die Umgebung der Damen gedeutet werden(Vgl. MÜLLER 1998: 301). Nachdem Brünhild von Gunther erobert wurde, wird Siegfried als Bote nach Worms geschickt, um dort die Nachricht der erfolgreichen Werbung sowie die künftige Ankunft der Werber anzukündigen. Nachdem er sich mit Giselher unterhalten hat, möchte er zu Ute und Kriemhild gehen, um ihnen die Nachricht zu übergeben. Man merkt, dass Giselher seiner Mutter um Erlaubnis bittet, damit Siegfried 25 ze hove gê (Nibelungenlied, 550,2); d.h. er soll erlaubt werden, zu Ute und Kriemhild zu gehen. Auch als Gunther und Siegfried kurz vor der Reise nach Isenstein Kriemhild in ihrem Gemach besuchen, befinden sie sich auch dort ze hove. Willekómen sî mîn bruoder und der geselle sîn. Diu maere ich wiste gerne“, sô sprach das magedîn, „waz ir herren woldet, sît ir ze hove gât. daz lâzet ir mich hoeren, wie ez iu edelen recken stât (Nibelungenlied349) Der Hof kann also nicht eindeutig definiert werden. Ze hove hat sowohl eine rein räumliche als auch eine institutionelle Deutung. Im letzteren Fall hebt MÜLLER eine kleine Nuance auf. Er erklärt, wie sich unterschiedliche Vorstellungen überlagern. Es gäbe neben dem Herrschaftszentrum in der Nähe der Fürsten ein zweites mit der vrouwe als Mittelpunkt. Die Damen gehören das eine Mal nicht dazu, wo es um die Herrschaft geht, so Müller; das andere Mal sei ihre Sphäre der Mittelpunkt von Hof, zu dem sogar der König um Zutritt bitte (vgl. Müller 1998, 301) I.4.2. Die Kemenaten Die Kemenate wird im Nibelungenlied als den Ort vorgestellt, an dem vor allem die Frauen vorübergehend leben. BRÜGGEN definiert sie als ein aus der Welt der Männer ausgegrenzter Raum. Sie ist „ein beheizbares Gemach, das den Frauen als Wohn- und Schlafstätte dient“ (vgl. BRÜGGEN 2003: 169). Die Kemenate wird von den Frauen im Allgemeinen nur bei besonderen Gelegenheiten, wie höfischen Festen u.a. verlassen; was eigentlich eine bestimmte Bedeutung oder Funktion hat. So tritt Kriemhild beim Siegesfest nach dem Krieg gegen die Sachsen in Begleitung ihrer Mutter aus. Die Präsenz der Frauen sollte dem Fest einen besonderen Glanz verleihen, wie es Ortwin betont: Welt ir mit vollen êren zer hôhgezîte sîn, sô sult ir lâzen scouwen diu wünneclîchen kint, die mit sô grozen êren hie zen Búrgónden sint. ( Nibelungenlied, 273, 2-4) Kriemhilds Auftritt wird sorgfältig organisiert. Sie wird außer ihrer Mutter von mehr als hundert vorzüglichen Damen begleitet, mit denen sie von einer kemenâten (Nibelungenlied,280, 1) rauskommt, eskortiert von hundert Gefolgsleuten des Königs. Die Atmosphäre wird von der ungewöhnlichen Präsenz der Hofdamen, und besonders der schönen Kriemhild so angeheizt, dass es unter den anwesenden Rittern großes Gedränge entsteht (vgl. BRÜGGEN: 2003:170), weil alle die mâget edele solden vroelîche sehen (Nibelungenlied, 280, 4). 26 Kriemhild lässt dreißig ihrer Hoffräulein ûz ir kemenâten kommen, als sie von Gunther den Auftrag bekommt, Gewänder und Ausrüstungen für die Fahrt nach Island zu fertigen. Außerdem kann im Nibelungenlied die Kemenate als ein Ort des Geheimnisses vernommen werden, wobei ihr meistens eine negative Konnotation verliehen wird, wenn darunter das Schlafgemach gemeint wird: Kriemhilds heimliche Liebe zu Siegfried lässt sich in ihrer Kemenate durch „verräterische Zeichen ins Gesicht“ (BRÜGGEN, 2003:171) merken; Gunthers Frustration in der Brautnacht muss geheim gehalten bleiben. Als die Nachricht des Sieges gegen die Sachsen nach Worms gebracht wurde, sollte Kriemhild diese Nachricht vil tougen (ganz heimlich) in ihrer Kemenate zu hören bekommen, denn sie scheute die Öffentlichkeit, weil sie im Heere ihren Herzallerliebsten hatte ( Nibelungenlied, 224, 3-4). Als sie „den enthusiasmierten Bericht über Siegfrieds Erfolge“ (BRÜGGEN, 2003:171) anhört, wird ihr Gesicht rôsenrôt: Ir scoenez antlütze daz wart rôsenrôt, do mit líebe was gesceiden ûz der grôzen nôt der waetlîche recke, Sivrit der júnge man.(Nl., 141,1-3) In ihrer Kemenate, weit weg von der öffentlichen Atmosphäre des Hofes, entfaltet sich ihre bis dahin heimlich gehaltene Minne zu Siegfried. Auch Gunthers sogenanntes leit in der Brautnacht darf nicht öffentlich werden. Deswegen bittet er Brünhild flehentlich darum, sein Ansehen-und somit ihr eigenesnicht zu schaden: „Ouch het ichs wênic êre“, sprach der snelle man. „durch iuwer selber tugende nu lât mich zuo iu gân. sît daz iu mîne minne sint alsô starke leit, ich sol mit mînen handen nimmer rüeren iuwer kleit. (Nibelungenlied, 641,1-4) Was hier im Schlafgemach geschieht, darf dem Hof nicht bewusst werden. Brünhild ist dessen bewusst und entfesselt deshalb Gunther, bevor die Diener den Raum betreten. In dieser Episode erhält die Kemenate „eine durchgreifende Negativierung“ im Nibelungenlied: Zunächst wird das sexuelle Begehren des Königs durch „Anwendung physischer und psychischer Gewalt“ frustriert (vgl. BRÜGGEN: 171) Dann geschieht der Versuch Siegfrieds, die normale Ordnung wiederherzustellen, durch „Vergewaltigung und Betrug“ (ebd., 171). In diesem Sinne kann die Kemenate als „Ort der Täuschung und des Verrats“ gedeutet werden(vgl. MÜLLER 1998: 364-366). 27 Die Tatsache, dass sich Siegfried heimlich ins Schlafgemach des Königspaars schleicht, gehört einer bestimmten Raumstörung. Denn er überschreitet die Grenzen seines eigenen Zimmers und greift in einer Privatsphäre ein. Diese Überschreitung räumlicher Grenze motiviert teilweise den Streit der Königinnen, dessen Folgen dramatisch sind. Denn wäre Siegfried nicht in Gunthers Zimmer eingetreten und hätte er beim Brauttrug Brünhilds Gürtel und Ring nicht vereinnahmt, die er später Kriemhild verschenkte, dann hätte jene nicht solche Schande über Brünhild bringen können. Wenn Brünhild nicht von Kriemhild beleidigt gewesen wäre, dann hätte es keinen Anlass zur Ermordung Siegfrieds gegeben. Denn obwohl Hagen auf die Länder Siegfrieds beiläufig hinweist, in der Absicht die Könige für die seine Pläne zu gewinnen, bleibt zweifellos die Beleidigung Brünhilds der Auslöser des Ermordungsgedanken. Weitere Szenen, die die Kemenate als Betrugsort ausweisen, sind die der Einladungen. Obwohl es im Text kein Element gibt, das darauf hinweist, könnte man vermuten, dass das Gespräch, in dem Brünhild ihren Willen äußert, das Xantener Königspaar in Worms einzuladen, in einer Kemenate geführt wird. Gehen wir davon aus, dass Männer und Frauen im Nibelungenlied das Schlafgemach als einzige Kommunikationsmöglichkeit haben (siehe unten), dann kann dieses Gespräch nirgendwo anders geführt gewesen sein als im Privatzimmer des Königspaars. Kriemhilds Bitte, die Burgunden in Etzels Burg einzuladen, wird im Gegensatz eindeutig in ihrem Schlafzimmer formuliert: Dô si eines nahtes bî dem künige lac, (mit armen umbevangen het er si, als er pflac Die edelen vrouwen triuten: si was im als sîn lîp), dô gedâhte ir fînde daz vil vil hêrliîche wîp. (Nibelungenlied, 1400, 1-4) Beide Einladungen sind betrügerisch gedacht. Während die Könige sie als Sehnsucht nach Verwandten, als freundlich verstehen, wird seitens der Königinnen die Frage der Sitten unter Verwandten nur als Vorwand geliefert, um im ersteren Fall eine rätselhafte Situation aufzulösen, und zwar Siegfrieds Status und Kriemhilds Stolz, obgleich mit einem Vasallen vermählt. Der Hintergedanke im letzteren Fall war es, Rachepläne auszuführen. Die erstere Einladung führt zum Streit der Königinnen während die letztere zum Untergang führt. Auch Rüdiger wird in Worms von Kriemhild in ihrer Kemenate betrogen und zum Zweck ihrer Rache instrumentalisiert. Bei dem Gespräch unter vier Augen (gesprach in heimlîche Nibelungenlied, 1255,2) mit Kriemhild nimmt Rüdiger die Verantwortung auf sich, ihr immer beizustehen, und alles Leid, zu rächen, was ihr 28 zugefügt sein würde. Daraufhin zwingt ihn Kriemhild, ein Eid zu schwören, dass er sein Wort halten würde. Rüdiger ist aber der Zweideutigkeit dieser Aufforderung unbewusst. Doch indem er Kriemhild den Eid schwört, verpflichtet er sich unabänderlich dazu, Siegfrieds Tod zu rächen, womit er eigentlich nicht rechnet. Das beweist seine Reaktion, als ihn Kriemhild an seinen Eid erinnert: Daz ist âne lougen:ich swuor iu, edel wîp, daz ich durch iuch wâgte êre und ouch den lîp. daz ich die sêle vliese, des enhan ich niht gesworn. (Nibelungenlied, 2150, 1-3) Indem Rüdiger klarstellt, dass er Treue versprochen hat, aber nicht seine Seele, betont er gleichzeitig, dass sein Eid nicht absolut war. Seine Klage, die darauf folgt, drückt nicht seine Verzweiflung aus, sondern schließt eine unausgesprochene Reue ein, ein Eid gesprochen zu haben, deren Voraussetzungen nicht eindeutig waren. Einen genderorientierten Weg wird in der Deutung der Kemenate von SCHOFER eingeschlagen. SCHOFER stellt fest, dass die Gender im Nibelungenlied räumlich getrennt werden. Neben den Fenstern, die sie als Verbindungskanäle zwischen den Genderfinierten Bereichen definiert, deutet sie „das eheliche Schlafgemach“ als weitere Möglichkeit für die Annäherung der Geschlechter an. In den Kemenaten hätten die Paare „eine separate, wenn auch beschränkte Möglichkeit eines Kommunikationsraumes“ (SCHOFER, 2009:181). I.4.3. Die Fenster Die Fenster verbinden Räume und Figuren einerseits; andererseits vermitteln sie eine symbolische Bedeutung. Die letztere Funktion kommt im Text nur dreimal vor und zwar bei Rüdiger und bei der schwierigen Brautnacht Gunthers. Hier werden die Fenster nicht als Verbindungsmittel zweier Räume oder Figuren eingesetzt. Als Kriemhild auf der Reise zu Etzel bei Rüdiger ankommt sieht man alle Fenster in den Mauern offen stehen: Diu venster an den mûren sah man offen stân, diu burc ze Bechelâren diu was ûf getân. dô ríten dar ín die geste, die man vilgerne sach. (Nibelungenlied, 1318, 1-3) Die zweite Fensterszene in Bechelaren kommt vor, als die Burgunden von Rüdiger Abschied nehmen, um zu Etzel weiter zu fahren: Dô wurden allenthalben diu venster ûf getân/ der wirt mit sînen mannen zen rossen wolde gân. (Nibelungenlied, 1711, 1-2) In beiden Szenen verkünden die offen stehenden Fenster die Gastfreundlichkeit von Rüdiger (vgl. GILLESPIE, 1987:59). Kriemhild wird in der ersten Szene 29 willkommen geheißen, während es den Burgunden durch die offen stehenden Fenster angekündigt wird, dass sie immer willkommen sein würden. In der Brautnacht mit Brünhild bleibt Gunther die ganze Nacht an der Wand hängend, bis es Tag wird: Sine rúoche, wie im waere, want si vil sanfte lac. dort muost‘ er allez hangen die naht unz an den tac, unz der liehte morgen durch diu venster schein. (Nibelungenlied 639, 1-3) Der Tagesanbruch lässt sich mit einem Sonnenschein durch die Fenster bemerken. Die Fenster spielen hierbei einigermaßen die gleiche Rolle wie der Wächter in Tagesliedern. Dadurch wird man gemeldet, dass es Tag wird. Im Gegensatz zu den Tageliedern, in denen der Tagesbruch Schmerz im Herzen verursacht, führt er hierbei zum Ende des an der Wand hängenden Königs. Durch die Fenster wird ein Signal gegeben, damit die Schande von Gunther nicht ans Licht kommt. Die andere Funktion der Fenster, die üblichste, ist die der Verbindung von Räumen, bzw. von Figuren. WENZEL schreibt den Fenstern „Visualisierungsstrategien“ (WENZEL, 2009:205) zu. Für GILLESPIE aber haben die Fenster im Nibelungenlied die Funktion „einer Theaterloge“ (GILLESPIE 1987: 58) Es kann aus ihnen Ritterspiele beobachtet werden, die im Hof veranstalten werden. So schauen Kriemhild und Brünhild die Unterhaltungsspiele von den Fenstern aus (Nibelungenlied, 810,1). Durch einen Blick aus den Fenstern können Neuankömmlinge identifiziert werden. Obwohl Hagen Siegfried nie gesehen hat, braucht er nur ihn aus dem Fenster in Augenschein zu nehmen, um ihn zu identifizieren (Nibelungenlied, 84). Freunde, Getreue und Verwandte werden von hier aus erwartet und willkommen geheißen(vgl. BRÜGGEN 2003: 168). BRÜGGEN Stellt fest, dass die Fenster ein „Aufenthaltsort der Frauen“ sind (BRÜGGEN 2003: 168). Diese Feststellung BRÜGGENs stimmt aber nicht ganz, weil sich auch Männer manchmal (obwohl sehr selten) an den Fenstern befinden. Siegfried wird von Hagen von den Fenstern aus identifiziert (Nibelungenlied 84,1). Auch Etzel sieht Volker von einem Fenster aus, als jener einen Hunnen tötet(1893,4). SCHOFER geht ihrerseits auf eine geschlechterorientierte Analyse ein und stellt fest, dass den Geschlechtern „unterschiedliche Handlungs- und Aktionsräume zugewiesen“ werden. Doch gäbe es „eine Verbindung zwischen den genderdefinierten Bereichen“. Diese Verbindung besteht an den Fenstern, die sich, ihrer Meinung nach als „Möglichkeit der Kontaktaufnahme“ auffassen lassen (vgl. SCHOFER 2009: 180). So 30 können sich die ankommenden Brautwerber und die Hofdamen in Isenstein gegenseitig schauen (Nibelungenlied, 389, 3). Kriemhild beobachtet die ritterlichen Leistungen Siegfrieds von den Fenstern. I.4.4. Der Palas Es gibt im Nibelungenlied keine genaue Beschreibung des Palas. Wenn man aber auf BUMKES historischer Burgforschung rekurriert, versteht man, dass der Palas „das gesamte herrschaftliche Wohngebäude bezeichnet“. (vgl. BRÜGGEN 2003: 172). Der Palas hat im Nibelungenlied unterschiedliche Funktionen. Er fungiert als Raum für politische Beratung und für den Empfang von Gästen und Boten. Bei Siegfrieds Ankunft in Worms wird gesagt, dass der König in jenem sale wîten in Begleitung von seinen Männern zu finden ist. Dort wird ihm die Nachricht der Ankunft fremder Ritter überbracht. Dort wird abgesprochen, was für einen Empfang den Ankömmlingen bereitet werden sollte. In Isenstein wird Brünhild von Gunther befohlen, die von Siegfried mitgebrachten Ritter im Palas freundlich zu empfangen. Nachdem Rüdiger bei seiner Ankunft in Worms zunächst von Hagen und dann von den nächsten Verwandten des Königs im Burghof begrüßt wird, wird er im Saal vom König empfangen. Der Saal des Palas wird gelegentlich zum Raum für höfische Feste gemacht. So z. B. den Hochzeitsfeierlichkeiten in Worms. Der Palas wird den Gästen zu Ehre geschmückt, während im Saal Tische aufgestellt. (vgl. Nibelungenlied, 565). Auch bei der Hochzeit Kriemhilds mit Etzel werden Palas und Saal für den Empfang von Gästen vorbereitet: Des küneges ambeliute die hiezen überal mit gesidele rihten palas und sal gegen den lieben gesten, die in dâ solden komen (Nl., 1505, 1-3) Aufgrund der angespannten Situation bei Etzel wird der Palas später zum Kampfplatz. Nachdem Volker einen Hunnen im Kampfspiel getötet hat, greift König Etzel ein, um den Kampf zu vermeiden. Dann zieht er mit den Gästen in den Palas. Im Saal deckt man schon den Tisch. In der Zwischen erscheint Blödel mit seinen Leuten kampfbereit als Etzel an der Tafel, an der Dankwart mit seinen Knappen sitzen. Nachdem Blödel den Kopf durch Dankwart abgeschlagen wird, geraten dann seine Leute im Kampf, wobei neuntausend Krieger erschlagen werden, darunter zwölf Burgunden. Dankwart klagt über den Tod seiner Krieger und geht die Treppe hinauf in den Saal, in dem „der Gastgeber mit seinen Gästen tafeln“ (vgl. BRÜGGEN 2003: 172), um den König die Nachricht des Angriffs durch Blödel sowie die der dadurch verlorenen Ritter zu 31 überbringen. Als Hagen diese vernimmt, schlägt er den jungen König Ortlieb den Kopf ab, den Kriemhild vorher provokatorisch an den Tisch hatte bringen lassen. Ortliebs Tod löst den Einsatz der Männer Etzels im Kampf aus. Die Hunnen setzen sich zur Wehr. Seitens der Burgunden wird Dankwart von Hagen beauftragt, die Tür des Saals zu bewachen. „Der Festsaal, Ort frieden- und gemeinschaftsstiftenden Mahls, wird pervertiert zum Ort von Kampf und Vernichtung“, so formuliert LIENERT (LIENERT 1997:118). Der Saal wird tatsächlich zum Schlachtort. Es werden so viele Ritter getötet, dass die Toten und Verletzten aus dem Saal rausgeschmissen werden, damit der Saal für den Kampf frei bleibt: (vgl. BRÜGGEN: 2003: 173). Schließt lässt Kriemhild das ganze Gebäude mit den drinnen kämpfenden Kriegern in Brand setzen: Den sal den hiez dô zünden daz Etzelen wîp. dô quelte man den recken mit fiwer dâ den lîp. das hûsvon einem winde vil balde állez enbrán. Ich waene, daz volc enheinez groezer angest ie gewan. (Nibelungenlied, 2111, 1-4) Der Brand des Palas lässt die Totenglocke der Burgunden läuten. Die Umfunktionierung des Palas sowie des Festsaal zum Kampfort, wird von J-D. MÜLLER als „Schrumpfung des Raumes“ bezeichnet (MÜLLER 1998: 327). 32 Teil II. Die großräumigen Bewegungen In diesem Kapitel geht es darum, sich mit der Bewegungen in den schon als Hauptorten bezeichneten Großräumen zu beschäftigen. Es soll einerseits bewiesen werden, dass das Nibelungenlied bezüglich der großräumigen Bewegungen eine Struktur von Auszug und Rückkehr hat. Leute ziehen aus und sollten auf den Ausgangspunkt zurückkommen. Da es bei jeder Bewegung Begegnungen gibt, wird dann auch untersucht werden, wie sich diese Begegnungen gestalten. Es wird also ein Blick auf die Empfangs- und Abschiedszeremonielle geworfen werden. Es sollte von den vorliegenden Überlegungen keine Beschreibung von Reiserouten erwartet werden. Denn es ergibt sich aus der Analyse der Reiserouten kein aufschlussreiches Argument in Zusammenhang mit der Problematik des Untergangs. Am wichtigsten ist hierbei wie durch die großräumigen Bewegungen der Grundstein zu dem Untergang gelegt wird. Bei der letzten Reise der Burgunden nach Etzelnlburg aber bedürfen einige Ereignisse der Erklärung. Die sollen also analysiert werden. Großräumige Bewegungen geschehen im Nibelungenlied entweder als Werbungsfahrt, oder als Kriegszüge, oder infolge einer Einladung zu einem höfischen Fest, aber auch als Jagdzug. Werbungsfahrten geschehen dreimal, während es zweimal zu höfischen Festen eingeladen wird. Die zweite Reise, die nach einer Einladung geschieht, wird - nicht zu Unrecht - als Kriegszug gestaltet. Es wird einmal offiziell zum Krieg gezogen. Jagdzug kommt auch nur einmal vor. Die meisten Bewegungen geschehen im ersten Teil der Dichtung, während nur zwei in dem zweiten Teil. Sowohl im ersten als auch im zweiten Teil haben die durch die großräumigen Bewegungen veranlassten Begegnungen den Charakter einer Kontaktknüpfung zwischen den Akteuren des Untergangs. Die erste großräumige Bewegung im ersten Teil des Nibelungenliedes gibt Siegfrieds Entscheidung, um Kriemhild zu werben, zum Anlass. Diese Reise lässt sich in der Bewegungskategorie der Werbungsfahrten einordnen. Die zwei ersteren Werbungsfahrten werden von den Werbern selber unternommen, die sich begleiten lassen. Die letzte aber wird von einem Boten des Königs Etzel gemacht. Nach seiner Schwertleite beschließt Siegfried, trotz der Zurückhaltung seiner Eltern um die burgundische Königstochter zu werben. Die zweite Werbungsfahrt ist die Gunthers in Brünhilds Land. Nach dem Siegesfest gegen die Sachsen erfährt Gunther, dass es sich jenseits des Meeres eine mächtige Königin lebt, deren Liebe sich durch 33 Speerwerfen gewinnen lässt. Gunther beschließt, um sie zu werben und macht sich auf den Weg begleitet von Hagen, Dankwart und Siegfried. Die letzte Werbungsfahrt ist die Reise nach Worms, die von Rüdiger unternommen wird Darauf werde ich später zurückkommen. Den Kriegszügen und Fahrten zu höfischen Festen gehen entweder eine Kriegserklärung oder eine Einladung voraus, die von Boten übernommen werden. So wird die Kriegserklärung der Sachsen in der vierten Aventiure von unbekannten Kriegern überbracht. (Nibelungenlied, 139, 3). Die betrügerische Kriegserklärung in der fünfzehnten Aventiure wird von Boten angekündigt, die wahrscheinlich von Hagen geschickt wurden. Der Krieg gegen die Sachsen gibt Siegfried Anlass, den Burgunden seine Treue zu beweisen, indem er große Wundertaten vollbringt (vgl. Nibelungenlied, 227,4), die das Ansehen des burgundischen Hofes intakt bewahren. Dieser Kriegszug erweist sich als eine Treuebindung zwischen Siegfried und dem burgundischen Hof. Denn er setzt sich für die Ehre jenes Hofes ein, wie es Siegfried selbst vor dem Kriegszug betont: lât mich iu erwerben êre unde frumen (Nibelungenlied, 159, 3). Darauf antwortet Gunther: Daz dien ich immer um dich (Nibelungenlied, 160, 4). Hierbei wird etwas wie ein Eid geschworen: Bleibt das Ansehen des Wormser Hofes durch Siegfrieds Hand unbeschädigt, dann sollte ihm der Hof immer dankbar sein. Das mittelhochdeutsche dienen/dienst verweist auf Ergebenheit, Dienstwilligkeit und sogar Lehnsdienst (vgl. Lexers Wörterbuch). Gunther schließt somit eine starke Treuebindung mit dem niederländischen Helden. Die vorgetäuscht Kriegserklärung erscheint als Kränkung und Verachtung des von Siegfried im Krieg gegen die Sachsen geleisteten Dienstes. Denn wie sonst könnte man die Tatsache verstehen, dass die Burgunden eine Kriegserklärung Liudegasts und Liudegers vorgeben - denn die vorgetauschte Kriegserklärung hätte ansonsten auch von irgendeinem anderen Volk kommen können!- , um dann Siegfried zu ermorden, wenn man seine hervorragende (Dienst)-Leistung im früheren Krieg gegen die Dänen und Sachsen bedenkt? Als die vorgebliche Kriegerklärung annulliert wurde, wird von Gunther vorgeschlagen, auf die Jagd zu ziehen: Nu wir der herverte ledic worden sîn Sô will ich jagen rîten bérn únde swîn Hin zem Waskenwalde, als ich dícke hân getân. (Nibelungenlied, 911, 1-3) 34 Ferner heißt es, dass sie kurzewîle willen (Nl., 926, 2) in den Wald reiten, d.h. um Vergnügung zu haben. Hierbei soll eine knappe Erläuterung der Funktionen des Waldes im Mittelalter eingeführt werden. Der Wald erschien im Mittelalter als Ort des Schreckens, der von bedrohlichen dämonischen Wesen bevölkert ist, aber auch von wilden Tieren, Giftschlangen und Räubergesindel. Dem Wald stand die Bevölkerung eher feindlich als freundlich gegenüber wegen verbreiteter Ängste vor seinen realen und irrealen Gefahren. Man fürchtete, entweder von wilden Tieren oder dämonischen Wesen angegriffen zu werden, oder in die Irre zu gehen, aber auch von umstürzenden Bäumen erschlagen zu werden, oder im Winter zu erfrieren (vgl. Lexikon des Mittelalters, Sp. 1944). Obwohl der Wald im Mittelalter als ein gefährliches Gebiet betrachtet wurde, spielte er trotzdem im Bereich der Jagd eine wichtige Rolle. Denn außer dem Minne- und Waffendienst war das Leben des Ritters durch die Jagd ausgefüllt und sein Tagesablauf dadurch bestimmt (vgl. RÖSENER 1997: 143). Sie stellte vielmehr „in Friedenszeiten die hauptsächlichste Beschäftigung der Vornehmen dar“ (STAUFFER 1959: 164) Die Jagd wurde auch als sportliche Betätigung angesehen, denn sie bot die Gelegenheit, „den Körper zu ertüchtigen und in ständiger Übung zu halten“(ebd., 164). Die Jagd ließ sich als geeignetes Mittel auffassen, wodurch der Mut des Einzelnen auf die Probe gestellt werden konnte; dadurch wurde die eigene Geschicklichkeit und die eigenen Fertigkeiten denen wilder Tiere (z.B. Wölfe, Wildschweine und Bären) beigemessen (vgl. FENSKE 1997: 37). Die Jagd war also eine Unterhaltung im höfischen Leben genauso wie die ritterlichen Turniere. Während der Jagd übernahm also der Wald einen höfischen Charakter. In der Jagd erweist sich Siegfried als der beste Jäger. Bei der Mahlzeit veranlasst Hagen, dass es an Wein fehlt. Als die Jagdgesellen vom Durst gequält waren, empfiehl Hagen, sich zu einer nahegelegenen Quelle zu begeben, die er kenne: Dô sprach von Tronege Hagene: „ir edeln ritter balt, ich weiz hie bî nâhen einen brunnen kalt (daz ir niht enzürnet) dâ suln wir hine gân. (Nibelungenlied, 969, 1-3) Diese Quelle sollte man - immerhin auf Hagens Rat - in einem Wettlauf erreichen. Obwohl Siegfried zuerst zum Ziel gekommen ist, wartet er bis Gunther getrunken hat. Dann beugt sich Siegfried über die Quelle, um seinen Durst zu stillen. Hagen, der hinter ihm steht, räumt schnell die Waffen Siegfrieds beiseite, und durchschießt mit seinem eigenen Speer durch das Kreuzzeichen, das Kriemhild vorher gestickt hatte. So wird Siegfried erschlagen. 35 Der Mord an Siegfried während der Jagd stellt sich einerseits als Raumstörung heraus: Der Vergnügungsort des Jagdwalds „wird zum Mordort pervertiert“. (vgl. LIENERT 1997: 118) Die Ermordung Siegfrieds in dieser Szene könnte mit der Gewalttat Volkers verglichen werden, als er einen Hunnen im Buhurt erschlug; dadurch wird auch die höfische Ordnung gestört. Andererseits lässt sich die Ermordung Siegfrieds als Verletzung der Verwandtschaft zwischen Siegfried und dem Wormser Hof auffassen, da Siegfried der Ehemann von Kriemhild ist, und auch da Hagen Kriemhild mit dem Scheingrund der Verwandtschaft schmeichelt, um die verletzbare Stelle Siegfrieds zu entdecken. Was die Einladungen zu höfischen Festen anbelangt, scheinen sie, eine Gemeinsamkeit zu haben. Denn es steht eine Hinterlist im Hintergrund beider Einladungen: Zehn Jahre nach Heirat mit Gunther findet Brünhild seltsam, dass ihr Siegfried als Lehnsmann Gunthers keine Dienste geleistet hat. Auch den Stolz Kriemhilds, einen Vasallen als Mann zu haben, löst Brünhilds Misstrauen gegenüber dem Stand Siegfrieds aus. Dass Siegfried seine Lehnspflichten Gunther gegenüber nicht erfüllt, findet sie unerträglich. Sie bittet deswegen Gunther darum das niederländische Königspaar nach Worms einzuladen. Gunther, der seine vorherigen Lügen aufdecken möchte, verneint ihre Bitte. Daraufhin verzichtet Brünhild hinterlistig auf ihren Anspruch auf Dienst und stellt die Sehnsucht nach den Verwandten in den Vordergrund: Si sprach: „vil liber herre, durch den willen mîn Sô hilf mir, daz Sîfrit unt ouch diu swester dîn Komen zuo diesem lande, daz wir si hie geshen. sone kúndé mir zwâre líbér geschehen (Nibelungenlied, 729, 1-4) Diener swester zühte unt ir wól gezogener muot, swenne ich dar an gedenke, wie sampfe mir daz tuot wie wir ensamt sâzen, do ich êrste wart dîn wîp! nâch in beiden senden, daz si uns komen an den Rîn.“ (Nibelungenlied, 730, 1-4) Auf diese flehentliche Bitte hin wird Siegfried und Kriemhild eine Einladung geschickt. Während dem darauf folgenden höfischen Fest geraten Krimhild und Brünhild aneinander. Der Streit der Königinnen führt unmittelbar zur Ermordung Siegfrieds in der Jagdszene. Es geschehen also im ersten Teil die Begegnungen der meisten Akteure des Untergangs. Siegfried tritt in Kontakt mit den Burgunden, hilft Gunther bei der Werbung um Brünhild und heiratet dann Kriemhild. So treten die an dem Untergang 36 Beteiligten in Kontakt. Die Handlung wird dann unvermeidlich auf den künftigen Niedergang ausgerichtet; zuerst mit der Treuebindung zwischen Siegfried und den Burgunden, die später mit dem Mord an Siegfried verletzt wird. Die Ermordung Siegfrieds wird aber von Störungen motiviert, die hauptsächlich bei der Reise nach Isenstein geschehen. Die Standeslüge auf Isenstein und der Betrug an Brünhild in der Brautnacht konstituieren die Hauptmotive, die zur Schrumpfung des Raumes des Nibelungenliedes führen. Denn die betrügerische Einladung Brünhilds, der Streit zwischen ihr und Kriemhild und schließlich die Ermordung Siegfrieds sind indirekte Konsequenzen der Standeslüge auf Isenstein. Dem Willen Kriemhilds nach Rache, der durch den Hortraub aus dem Weg geräumt wurde, wird in dem zweiten Teil der Dichtung die Werbung Etzels den Weg bereiten. Die Werbung Etzels um Kriemhild erweist sich im Nibelungenlied als die einzige Werbung, die von einem Boten überbracht wird. Diese Werbung geschieht nach dem Tod der ersten Ehefrau des Hunnenkönigs Etzel. Etzel wird von seinen Freunden vorgeschlagen, um Kriemhild, die verwitwete Frau des tapferen Siegfried zu werben. Aber Etzel zweifelt daran, dass ihn Kriemhild als Ehemann akzeptieren würde, denn er ist ein Heide und Kriemhild eine Christin. Die Freunde versuchen, Etzels Bedenken zu heben, indem sie seinen berühmten Namen und seinen großen Besitz als Vorteile darlegen, weswegen Kriemhild die Werbung annehmen könnte: Dô sprâchen aber die snellen: „waz ob siz lîhte tuot duch iuwern namen den hôhen und iuwer michel guot?“ (Nl., 1146, 1-2). Dazu fügt Rüdiger, der die burgundische Königsfamilie von kinde[…] hêr kennt, hinzu, dass Kriemhilds Schönheit die der verstorbenen Helche gleich ist. Kriemhild sei Helche an Ehre ebenbürtig und könnte deswegen am Hof die Krone tragen. Somit ist Etzel für die Werbung um Kriemhild gewonnen. Er beauftragt Rüdiger, dem Land und Leute am Rhein bekannt ist, für ihn um Kriemhild zu werben. Kriemhild, die die Etzels Werbung als Mittel zum Ziel betrachtet, nimmt die Werbung an und zieht mit Rüdiger nach Etzelnburg. Nach sieben Jahren Heirat mit Etzel hat Kriemhild noch nicht von ihren Racheplänen abgelassen. Sie fühlt sich sogar nunmehr in der Lage, ihre Rache zu üben. Darum bittet sie Etzel, ihr zu erlauben, ihre Verwandten einzuladen: Si sprach zuo dem künige: „vil lieber herre mîn, ich wolde iuch bitten gerne, möcht‘ iz mit hulden sîn daz mich sehen liezet, ob ich daz het versolt, ob ir den mînen vriunden waeret inneclîchen holt.“ (Nibelungenlied, 1451) 37 Ihr Wunsch wird von Etzel befriedigt, ohne von der bösen Absicht Kriemhilds zu wissen. Hierbei wie bei der ersten Einladung wird die Sehnsucht nach vriunden zum Vorwand genommen mit dem Hintergedanken, im ersteren Fall einen Betrug zu entdecken; im letzteren Fall geht es um die Erfüllung von Racheplänen. Letzterer Fall gilt als Reaktion auf die tragischen Konsequenzen der betrügerischen Einladung des niederländischen Königspaars in Worms. Hagen, der die Gefahr hat kommen sehen, rät davon ab, die Reise ins Hunnenland zu unternehmen. Da Hagens Rat nicht von den Königen befolgt wird, empfiehlt er dann bewaffnet zu reisen. So übernimmt die Fahrt zum höfischen Fest den Charakter eines Kriegszuges. Wie gesehen werden die Akteure des Untergangs durch die Bewegungen in Kontakt gesetzt. Während es im ersten Teil durch Raum- und Beziehungsstörungen zum Ermordung Siegfried kommt, was natürlich in Kriemhild das Gefühl von Rache erweckt, leisten die großräumigen Bewegungen im zweiten Teil dem Untergang Vorschub: Die Werbung Etzels wird von Kriemhild sofort als einmalige Möglichkeit gefasst, ihre Rache zu üben. Indem sie als Königin ins Hunnenland zieht, gibt sie sich die Mittel, um ihre Rachepläne zu vollbringen. Das schafft sie mit der Einladung ihrer Verwandten. Wie schon erwähnt, bedingen die großräumigen Bewegungen Begegnungen, die in Empfangs- und Abschiedszeremonien bestehen. Eine solche Gestaltung der Begegnungen ist für die großräumige Struktur von Auszug und Rückkehr5 ausdrücklich: Ankömmlinge werden an Höfen empfangen. Nachdem die Mission der Reise erfüllt wird, nehmen sie dann Abschied. Nicht auf den Ausgangspunkt zurückkehren heißt im Nibelungenlied eine Katastrophe. „Jeder Auszug in die Fremde zielt auf schnelle Rückkehr“, stellt LIENERT fest (LIENERT 1997: 113)6. Siegfried beweist sich als der einzige im Nibelungenlied, der jahrelang in der Fremde bleibt. Alle anderen Reisenden bleiben nur kurzweilig an 5 Die Struktur von Auszug und Rückkehr nennt Lienert auch Struktur der demeure. Den Begriff demeure hält LIENERT von ZUMTHOR. ZUMTHOR unterscheide in La mésure du monde zwei Grundstrukturen räumlicher Erfahrung im Mittelalter: demeure ,Bleiben‘ und chevauchée ,Unterwegssein‘ aber auch ‚Ritt‘. Der Modus der demeure ist der arschaischere, chevauchée der jungere, moderne-weltbildlich und lebensweltlich (man denke an die Entdeckungsreisen im Übergang zur Neuzeit). Literairisch aber ist chevauchée der Raummodus des höfischen Romans, in dem es um fahrende Ritter geht, die auf der Suche nach Aventiure sind. In dem Modus der demeure aber kommt Unterwegssein, nur wenn man es nicht vermeiden kann, wie z. Beispiel bei Werbungsfahrten, Kriegszügen, Gesandtschaften, Besuchen, usw. Bei solchen Reisen ist der andere Hof für den Reisende nur Fremde. Daher haben die meisten nicht viel anders im Kopf als ihre schnelle Rückkehr(vgl. LIENERT 1998: 112). 6 LIENERT erklärt, dass die meisten Reisenden nicht viel anders im Kopf haben, als ihre schnelle Rückkehr. Sie stellt aber klar, dass nur die Frauen als Ehefrauen in der Fremde verbleiben. So verlässt Brünhild ihr Reich und kehrt nie wieder dort zurück. Kriemhild zieht im ersten Teil in Siegfrieds Land als seine Ehefrau, im zweiten Teil ins Hunnenland als Frau Etzel. 38 fremden Höfen. Keiner bleibt gerne an einem fremden Hof. Die mit Nachrichten beauftragten Boten, kehren sofort zurück nach ihrem Land, nachdem sie ihre Botschaft einrichten. In der vierten Aventiure kann man bemerken, wie glücklich die sächsischen Boten sind, nach Hause zurückkehren zu dürfen, nachdem ihnen Gunther seine Antwort auf die Kriegserklärung gegeben hat: Die boten Liudegêrs ze hove giengen dô. daz si ze lande solden, des wâren si vil vrô (Nibelungenlied, 164, 1-2). An einem fremden Hof lange aufhalten müssen, wird sogar manchmal als Last wahrgenommen. Als Beispiel kann der Aufenthalt Gere mit anderen burgundischen Helden in Siegfrieds Land eingeführt werden. Obwohl die burgundischen Boten ganz herzlich willkommen geheißen werden, versetzt ihnen die Nachricht, dass sie dort neun Tage bleiben müssten, in schlechte Laune: Si muosen dâ belîben bevollen niwen Tage. des heten endeclîchen die snellen ritter klage, daz si niht wider solden rîten in ir lant (Nibelungenlied, 757, 1-3) Trotz dem freundlichen Empfang (den gesten hiez er schenken/spîse man in truoc Nl. 74, 2a/756,3b) und der Ehre, die ihnen bewiesen wird(die boten bat man sitzen756, 3a)Denn nicht alle Gäste dürfen mit dem König sitzen!-, halten sie einen längeren Aufenthalt nicht für gut. An einem fremden Hof lange aufhalten könnte sogar Ärger erregen. Als Beispiel dafür könnte der Aufenthalt von Wärbel und Swemmel in Worms angeführt werden: Die boten Kriemhilde vil sêre dâ verdroz, wande ir vorht z’ir herren diu waz harte grôz si gerten tägelîche úrlóubes von dan(Nibelungenlied, 1479, 1-3) Obwohl die Boten hierbei den Ärger Etzels als Grund deren Willen, sofort zurückzuziehen, einführen, gehört die Szene trotzdem dem Motiv des schnellen Rückzugs. Denn „jeder Auszug erfolgt im Grunde nur um der Rückkehr willen“ (vgl. LIENERT 1998, 113). Außer Siegfrieds Reise nach Worms, die sich als der längste Aufenthalt in die Fremde erweist, geschehen sogar Werbungsfahrten so schnell wie möglich. Dann macht man sich auf den Rückweg. Nachdem Brünhild auf Isenstein gewonnen wurde, wird sofort die Idee des Rückzugs von Siegfried vorgebracht: nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn (Nibelungenlied, 474, 4). Länger bleibt man nur, deswegen weil Brünhild darum bittet, über die Verwaltung ihres Landes mit den Verwandten zu beraten, bevor sie 39 Island verlässt. Dass Siegfried später nach seinen Leuten reisen muss, geschieht aufgrund Hagens Zweifel an Brünhilds Loyalität (vgl. EHRISMANN 2002: 84). Auch jener Reise wird sehr schnell gemacht. Sobald Siegfried mit seinen Leuten zurückkommt, wird die Rückfahrt nach Worms unternommen. Länger bleibt man nicht. Siegfried, der bis dahin in Worms aufgehalten hatte, zieht unverzüglich nach Xanten zurück, nachdem er mit Kriemhild vermählt wird. Nach der Erfüllung seiner Mission hat er keinen Grund mehr, in Worms zu verweilen. Auch Rüdiger schlägt Kriemhild vor, - um der schnellen Rückkehr Willen! - sofort aufzubrechen, nachdem sie ihm ihre Einwilligung gibt: ir sult niht, vrouwe, langer hie zen Búrgonden sîn! (Nibelungenlied, 1265, 4). Ein aufschlussreiches Beispiel der Struktur von Auszug und Rückkehr bietet die Reaktion der Hofangehörigen bei manchen Auszügen: Siegelinde weint, als Siegfried Xanten verlassen sollte (vgl. Nibelungenlied, 60, 4); auch viele Hofmädchen weinen(vgl. Nl. 70, 1). Auch bei Gunthers Werbungsfahrt nach Island wird erzählt, dass die Hofdamen bei dem Abschied viel weinen(Nibelungenlied, 376, 4); so geschieht es auch bei der Reise der Burgunden zu Etzel: dô wart in dem lande ein michel uoben/ beidenthalp der berge weinte wîp und man(Nibelungenlied, 1522, 2-3). Bei den wichtigsten Reisen also machen sich hinter bleibende Frauen und Verwandten Sorgen und wünschen sich, dass die Reisenden zurückkommen(vgl. Nibelungenlied, 67, 3). Nicht zurückkommen wäre katastrophal. Deswegen - immer noch um der Rückkehr Willen! - sind Verwandte bei jedem Auszug bedrückt. Und nicht nur für den Reisenden oder für den Fremden scheint die Rückkehr von Bedeutung zu sein, sondern auch für den Gastgeber, egal ob der Fremde ein verwandter ist oder ein Feind. Dass z. B. Wärbel und Swemmel auf deren Rückweg ein Geleit gegeben wird, damit sie nicht geschadet werden: daz es in niemen missebôt.(Nibelungenlied, 1493, 4), drückt den Willen Gunthers, sogar seine Sorge, seine Gäste unversehrt zurückkehren zu sehen, aus. Die Problematik des Untergangs steht in enger Verbindung mit der Struktur von Auszug und Rückkehr. Jedes Mal, wenn ein Auszug nicht mit einer Rückkehr abgeschlossen wird, wird es zu einem Schlüsselproblem. Die zwei größten Störungen in der Nibelungendichtung sind Reisen aus denen es keine Rückkehr gegeben hat. Siegfried wird in Worms zu einem höfischen Fest eingeladen, anlässlich dessen er ermordet wird. Durch Siegfrieds Tod wird die Struktur der großräumigen Bewegung weitgehend gestört. Siegmund muss allein nach Xanten zurückkehren. Kriemhild bleibt 40 in Worms.7 Siegfried kann nicht in sein Land zurückkehren, weil ermordet. Für ihn gibt es keine Rückkehr. Auch seine Leiche bleibt in Worms. Der zweite Auszug, der mit keiner Rückkehr abgeschlossen wird, erweist sich als die größte Störung im Nibelungenlied. Die Burgunden ziehen auf Kriemhilds Einladung ins Hunnenland. Aus dieser Reise gibt es keine Rückkehr, denn die Burgunden von Kriemhild vernichtet werden. Mit dem Untergang der Burgunden wird der ganze Raum des Nibelungenliedes zerstört. Die großräumigen Bewegungen im Nibelungenlied bestehen hauptsächlich aus Auszug und Rückkehr. Der (schnelle!) Rückkehr auf den Ausgangspunkt ist in der Struktur der Bewegungen von großer Bedeutung. An fremden Höfen bleibt man länger, nur wenn man auf eine Antwort warten muss. Ein Auszug ohne Rückkehr wird als Katastrophe aufgefasst, wobei die größten Störungen daraus resultieren. Die Reise der Burgunden zum Hof Etzels wird ungewöhnlich ausführlich beschrieben (vgl. BOKLUND-SCHLAGBAUER 1996:79), besonders bei dem Motiv des Wassers das anders funktionalisiert wird. Bis dahin wurden dem Wasser unterschiedliche Funktionen zugewiesen, die sich weitgehend davon unterscheiden, wie es in der Szene der Donauübergang von den Burgunden funktionalisiert wird. Flüsse wurden als Reisewege benutzt, aber auch als Grenze zwischen Gebieten. So vermutet man, dass Siegfried auf Wasserweg nach Worms gereist ist. Bei Gunthers Werbungsfahrt ist es eindeutig, dass die Werber den Wasserweg benutzen. Diese Werbungsfahrt erinnert an die Brautwerbungsgeschichten in den nordischen Sagen, in denen die Brautwerber immer über das Wasser gehen, um ihre Bräuten zu holen. Es wird zunächst über den Rhein und dann über das Meer gefahren. Hierbei erweist sich das Wasser als Reiseweg aber auch besonders als weiträumige Wassermasse (gemeint wird hierbei das Meer!), die die reale Welt von einer mythischen aber auch vor allem gefährlichen Welt trennt. Die Reise dorthin bedingt deswegen einer ebenso mythischen Kraft, die Siegfrieds Tarnkappe symbolisiert. Siegfrieds Reise ins Nibelungenland wird auch auf einem Bot gemacht. Der Rhein wird sowohl beim Kriegsauszug gegen die Sachsen als auch beim Jagdzug als Grenze dargestellt. Man muss von Wormez über Rîn durch Hessen reiten(vgl. Nibelungenlied, 172, 3), um das Schlachtfeld zu erreichen. Auch der Wald, in dem die Jagd stattfindet, befindet sich jenseits des Rheins. Bei 7 nach LIENERT sollte die Tatsache, dass die verwitwete Kriemhild Worms als Wohnsitz wählt, nicht Störung wahrgenommen werden, denn ihre Entscheidung wird mit der Sippenbindung motiviert (vgl. LIENERT 1997: 113). man könnte also schließen, dass das Motiv der Sippenbindung alle anderen Motive übertrifft. 41 Kriemhilds Reise ins Hunnenland fungiert die Donau zudem als Grenze. Das Wasser wurde also zwar schon bei früheren Reisen als Grenze funktionalisiert, aber nicht als jene Grenze, die schwer zu überschreiten ist, und die sich als ein Hindernis errichtet. Die Burgunden fahren viele Orte durch bis sie auf die Donau kommen, die starke Wellen führt. Auch lässt sich kein Schiff finden, mit dem sie übersetzen könnten. Auf der Suche nach einem Fährmann trifft Hagen auf zwei Wasserfrauen, die sich in einem Brunnen baden. Hagen nimmt schnell ihre Kleider weg, als er merkte, dass sie davonheilen möchten. Dann wird ihm von einer der Frauen versprochen, den Ausgang der Reise vorauszusagen, wenn ihnen ihre Kleider zurückgegeben würden. Sie verkündet hinterlistig eine schöne Zukunft. Als die Frauen endlich ihre Kleider zurück kriegen, wird von der anderen Meerfrau offenbart, dass kein Burgunder außer dem Kaplan nach Worms zurückkehren würde8: Ez muoz alsô wesen, daz íuwér deheiner kann dâ niht genesen, niwan des küneges kappelân, daz ist uns wol bekannt. der kumet gesunder widere in das Guntheres lant. (Nibelungenlied, 1542, 1-4) Hagen gibt aber der Warnung keine Acht und fragt nach einem Fährmann. Es wird ihm dann erklärt, dass er sich dem Fährmann als Almerîch vorstellen sollte. Als der Fährmann später erfährt, dass er gelogen wurde, verweigert er sich, die Reisenden überzubringen und schlägt mit dem Ruder auf Hagens Kopf ein. Darauf reagiert Hagen, indem er ihm den Kopf abschlägt. Hagen rudert danach das Schiff stromabwärts bis er die Burgunden erreicht. Die Frage Gunthers nach den Blutspuren im Boot wird durch Lüge beantwortet. Hagen erklärt, er habe den Fährmann nicht gesehen. Dann bereitet er das Übersetzen vor, wobei er sich als Fährmann einsetzt. Beim Übersetzen wirft er den Kaplan über Bord, um somit die Wahrsagung der Meerfrauen zu proben. Die Prophezeiung wird bestätigt, als der Kaplan bis zum Ufer kommt, obwohl er nicht schwimmen kann. Diese „ wundersame Errettung des […]ins Wasser geworfenen Kaplans lässt nunmehr keinen Zweifel, dass die Prophezeiung der ,merwibe‘ zutreffen“ (IHLENBURG 1997: 273). Hagen zertrümmert später das Boot, als es entladen wird9. 8 IHLENBURG stellt fest, dass der Donauübergang im Nl. eine Anspielung auf ein traditionell bekanntes mythisches Motiv sei, und zwar das „von der Überfahrt über ein Wasser in das Land des Todes“(274). Er erklärt, dass die Evozierung mythischer Vorstellungen den Ereignissen die Symbolik schicksalhafter Unausweichlichkeit verleihe. Diese Symbolik finde hier ihren Höhepunkt, wennschon sie im Epos von Anfang an präsent sei, hervorgerufen und getragen durch unheilvolle Träume der Handelnden sowie durch die ständig auf Tod und Verderben hinweisenden Vorausdeutungen des Erzählers. (vgl. 274) 9 Die Zerstörung des Bootes entspricht einem heroischen Muster. Ein Held muss bis zum Letzten um sein Leben kämpfen, auch wenn er das mythische Wissen besitzt, dass er im Laufe des Kampfes sterben wird. Auch im Straßburger Alexander zerstört Alexander der Große nach dem Übergang über den Euphrat in 42 Man versteht damit, dass Hagen niemandem die Möglichkeit zur Rückkehr geben will, der am Schicksal der Fahrgenossen zu verzagen versuchen würde. (vgl. MACKENSEN 1984: 119). Indem das Boot zerbrochen wird, wird gleichzeitig die großräumige Struktur von Auszug und Rückkehr symbolisch gebrochen. Im Gegensatz zur Kriemhilds Reise ins Hunnenland wird die Donau hierbei nicht nur als Grenze eingesetzt; sie wird sondern auch mit mythischen Zügen beladen, die auf die Gefahr der Reise hinweisen: Hier findet der Namenaustausch statt. Die Burgunden, die nunmehr im Besitz vom Nibelungenhort sind - weswegen sie sterben müssen! - werden ab der Grenze als Nibelungen bezeichnet. Auch hier an der Grenze, jenseits derer es keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt, wird Hagen der Untergang verkündigt stellt M ÜLLER fest: Allerdings halten die merwîp an einer Grenze auf, an der die Burgonden die sichere eigene Welt für immer hinter sich lassen und in den gefährlichen Raum jenseits ihres Einflussbereichs hinüberwechseln. (MÜLLER 1998: 304) Die Donau überfahren, heißt bei dieser Reise der Burgunden zum Tod fahren. LIENERT schließt deswegen zu Recht, dass die Donau zum Totenfluss stilisiert scheint, über den es kein Zurück gibt (1997, 109). Außer dem Motiv der todgefährlichen Grenze bemerkt man in der Donauepisode, bzw. in der Szene mit dem Fährmann einen Sozialverband, der der gesellschaftlichen Struktur in Worms sehr ähnlich ist(vgl. MÜLLER 1998: 305). Hagen wird von den Meerfrauen erklärt wird, wie er den Fährmann finden könnte, der ein Dienstmann Landesherrn Else, der mit seinem Bruder Gelfrat über das Land herrschen. Wenn Hagen vom Fährmann, der das Land bewacht und Else treu ist, keinen Ärger bekommen möchte, dann sollte er sich als ein gewisser Amelrich ausgeben, der auch mit den Herrscher verwandt ist, aber wegen einer Fehde das Land verlassen musste -genauso wie auch Hagen sich dem Wormser Hof entfernen sollte nachdem er Kriemhild den Hort geraubt hatte: nu hol mich Amelrîchen! Ich bin der Elsen man, /der durch starke fîntschaft von disem lándé entran (Nibelungenlie, 1552, 3-4). Man merkt wie in Worms, dass auch hier Brüder gemeinsam herrschen. Auch wie in Worms haben Else und Gelfrat in den Fährmann einen starken Gefolgsmann, der ihnen wie Hagen dient (vgl. MÜLLER 1998: 305-306). Dass die Bayern die Burgunden später angreifen geschieht zu Recht, denn sie sollten den Tod ihres Fährmanns, eines Mitglieds des Personenverbands rächen. einer Symbolischen Handlung die Brücke, um seinem Heer jeder Rückkehr abzuschneiden. (vgl. EHRISMANN 2002,: 116-117) 43 Bis zur Reise der Burgunden fungierte das Wasser als Reiseweg oder als einfache Grenze, deren Überfahrt kein Problem gestellt hatte. Obwohl der Rhein und das Meer bei Gunthers Werbung in eine gefährliche Welt führen, hat dieses Motiv nicht die gleiche Funktion wie die Gefahr, die die Donau während der Reise der Burgunden darstellt: Die Donau wird gleichzeitig zu einem mythischen Ort und zu einem Hindernis, wo der künftige Untergang offenbart wird. Das von der Donau geführte Hochwasser ist ein symbolisches Zeichen dafür, dass die Welt aus den Fugen gerät (vgl. EHRISMANN 2005: 38). Indem die Burgunden den ‚Warnungsfluss‘ überfahren, geraten sie in eine Welt, aus der sie nie zurückkommen werden. In der Szene der Donauübergang erhalten wir „ein veritables Soziogramm“ der Bayern; was uns ermöglicht zu verstehen, aus welchen Gründen die Bayern-im Gegensatz zur Kriemhilds Reise- die Burgunden später überfallen. Nach dem Donauübergang wird der Raum des Nibelungenliedes mit einer angespannten Atmosphäre beladen. Es wird den Fahrgenossen die Prophezeiung der Wasserfrauen verkündet: Daz sageten mir zwei meerwîp hiute morgen fruo/daz wir niht koemen widere (Nibelungenlied, 1588, 1-2). Als die Helden diese Nachricht vernehmen, werden sie vor Schmerz totenblass. Die Krieger haben die schlechte Nachricht kaum verdaut, dass sie von den Bayern überfallen werden. In dem darauf folgenden Kampf fallen vier Burgunden. Das Unheil kündigt sich schon an. Die Burgunden sind jetzt in einem Raum, dessen Gefährlichkeit sich allmählich herausstellt (vgl. MÜLLER 1998: 336). Sie reiten dann weiter bis Passau. Der Empfang wird nicht, wie bei Kriemhilds Reise, großartig beschrieben. Es gibt sogar anscheinend keine Begegnung mit dem Bischof Pilgrim. Die mit dem Tod gezeichneten Burgunden können von Gott kein Heil mehr erwarten. Es gibt bestimmt deswegen keinen Grund, den Gottesdiener zu treffen. Gott sollte ja schon sein Urteil gefällt haben, indem er beim Donauübergang den Kaplan von den Fluten rettete. Die Burgunden können dann auch nicht in Passau untergebracht werden. Sie müssen deswegen die Enns überfahren, um jenseits des Flusses Zelte aufzuschlagen. Die Burgunden, die jetzt über ihr Schicksal im Klaren sind, werden nunmehr versuchen, Sympathie zu erwecken und zwar durch Freundschaftsschließung und Allianz. Nachdem die Reisemüden sich ausgeruht haben, reiten sie weiter, bis sie an der Grenze zur Rüdigers Mark kommen, wo sie Eckewart, dem Wächter begegnen, der da tief schläft. Es sollte erwähnt werden, dass Eckewart aus Worms mit Kriemhild ins Hunnenreich gezogen war. Nun steht er als hunnischer Diener logischerweise auf 44 Kriemhilds Seite. Hagen zwingt ihm das Schwert ab. Als er erwacht schämt er sich und klagt über die Reise der Burgunden: jâ riuwet mich vil sêre der Búrgónden vart (Nibelungenlied 1633, 2). Hagen bemerkt Eckewarts Trübseligkeit und gibt ihm das Schwert mit dazu sechs Goldringen wieder zurück. Die Rückgabe des Schwerts sowie die Beschenkung deutet EHRISMANN (2002) als allegorische Verleihung einer neuen Identität an Eckewart: Eine Fundgrube der Quellenkritik, jedoch auch für mancherlei Allegorese. Zweierlei scheint plausibel: (1) Der schlafende Wächter steht für das sorglose Hunnenreich; (2) der Raub des Schwerts allegorisiert den Raub der alten, auf Kriemhild bezogenen Identität, seine Rückgabe die Verleihung einer neuen, jetzt nibelungischen (EHRISMANN 2002: 117). Dass Eckewart die Burgunden vor dem Hass Kriemhilds warnt, und sie nach Pöchlarn geleitet, hält EHRISMANN für folgerichtig (ebd. 117). In dieser Szene möchten die Burgunden einen Freund gewinnen, wie es Hagen betont: die habe dir, helt, ze minnen, daz du mîn friunt sîst (Nibelungenlied, 1634, 3). Und das gelingt ihnen. Auch weiter bei Rüdiger wird Freundschaft gepflegt werden. Die sechzig ausgewählten Krieger, die tausend tüchtigen Ritter, sowie die neuntausend Knappen, die in Passau keine Unterkunft finden konnten, werden bei Rüdiger untergebracht werden können! Als Eckewart Rüdiger die Nachricht der Ankunft der Burgunden an seinem Hof überbracht wird, freut er sich darüber und empfiehlt seiner Frau und seiner Tochter, die burgundischen Helden so gut zu empfangen, als sie Kriemhild empfingen. Er weist ihnen an, wie sie die Burgunden begrüßen, bzw. wie sie sich ihnen gegenüber benehmen sollen: „Vil liebiu triutinne“, sprach dô Rüedegêr, „ir sult vil wol enpfâhen die edelen künige hêr, sô si mit ir gesinde her ze hove gân. ir sult ouch grüezen Hagen, Gunteres man (Nibelungenlied, 1651, 1-4). Mit in kumt ouch einer, der heizet Dancwart; der ander heizet Volkêr, an zühten wol bewart. die sehse sult ir küssen unt diu tohter mîn, unde sult ouch bî den recken in zühten güetlîche sîn“ (Nibelungenlied, 1652, 1-4). Die Anweisungen Rüdigers an seiner Familie bezeugt, dass er ein „Meister in Fragen höfischer Rangordnung“ ist (vgl. SPLETT 1968: 62). Obwohl Rüdigers Tochter eine Weile zögert, den furchterregenden Hagen zu küssen, werden die Burgunden freundlich empfangen. Auf Rüdigers Bitte bleiben sie vier Tage, in denen es an seinem Hof gefeiert wird. Hagen, der nunmehr auf Freundschaftsschließung gesonnt ist, veranlasst, 45 dass Rüdigers Tochter mit Giselher verlobt wird. Die Schilderung der Verlobung Giselhers mit der Tochter Rüdigers entspricht dem höfischen Ritus. Nach MACKENSEN macht diese Szene das Epos zu einem Lehrbuch höfischer Sitten: „dies ist eine Stellen, an denen das Epos zum Lehrbuch höfischen Benehmens wird“ (MACKENSEN 1984: 129). Ehrismann belegt in der Tat, dass die Ehe im Mittelalter ein Rechtgeschäft war, das auf einem Austausch von Gaben beruhte (vgl. EHRISMANN,2002:118). Dass der Tochter Rüdigers Burgen und Länder zugewiesen wurde (man beschíet der juncvrouwen bürge unt lant. Nibelungenlied, 1681, 1), entspricht den mittelalterlichen Verlobungsritualen. Der Markgraf Rüdiger, der keine Burg zu schenken hat, verspricht, den Burgunden für immer treu zu bleiben. Dazu werden die Burgunden vor dem Abschied reich beschenkt. Gegen die höfische Gepflogenheit, dass ein gesellschaftlich Höherstehender von einem niedriger Gestellten kein Geschenk annimmt (vgl. DÜRRENMATT 1945:125), werden Rüdigers Geschenke von den burgundischen Königen angenommen, um somit das Ritual der gâbe zu beschließen (vgl. EHRISMANN 2002:118). Gunther bekommt eine Rüstung, Gernot ein Schwert. Volker wird mit zwölf Goldringen beschenkt, während Hagen Nudungs Schild erhält. In dem verdüsterten Raum des Nibelungen, dem des Untergangs gilt nunmehr eine andere Regel. Die Burgunden ehren Rüdiger, indem sie seine Geschenke annehmen, um dadurch einen Verbunden zu gewinnen. Mit dem Bündnis mit Rüdigers Familie sichern sich die Burgunden „die potentielle Hilfe hunnischer Adelskrieger (ebd. 119), die ihnen am hunnischen Hof nützen wird. Es sei hierbei an den Schildaustausch zwischen Hagen und Rüdiger in der Kampfszene erinnert! Im Vordergrund des strategischen Handelns der Burgunden werden aber der warmherzige Empfang sowie der prachtvolle viertägige Aufenthalt in Pöchlarn von dem Dichter als lange und bedeutungsvolle Pause der Ruhe vor der Katastrophe in Etzelnburg eingelegt. Nach Pöchlarn reiten die Burgunden nach Etzelnburg, wo sie sich keine Ruhe gönnen werden. Bei der Ankunft der Burgunden in Etzelnburg sowie in den meisten Ankunftsszenen im Nibelungenlied wird der Raum symbolisch vertikal besetzt, das heißt, es gibt eine Verteilung von oben und unten (vgl. MÜLLER 1998:323). Nach MÜLLER lässt sich an der vertikalen Anordnung der Akteure eine gefestigte Herrschaft und Hierarchie ablesen. Auch WENZEL stellt fest, dass es im Mittelalter einen engen Zusammenhang zwischen Status und Höhe gibt. Er erklärt, dass wichtige Personen räumlich auf eine höhere Ebene gestellt werden: 46 Das Verhältnis von Status und Abstand wird bestätigt durch den Zusammenhang von Status und Höhe: Wichtige Personen werden räumlich auf einer höheren Ebene platziert. Das mag seinen Grund darin haben dass die ,hochgestelle‘ Person die Augen aller auf sich zieht, so dass die Höherstellung zu einem anerkannten Statussymbol werden konnte. (WENZEL 1995:132) Die Höherstellung symbolisiert also einen höheren Status. Wenn der Regel der Höherstellung verletzt wird, heißt es, dass der Status in Frage gestellt wird (ebd., 132). Im Nibelungenlied wird die vertikale Ordnung immer mehr gebrochen, je näher man dem Untergang geht (vgl. MÜLLER 1998: 323). Bevor die Ankunftsszene der Burgunden in Etzelnburg, in deren Folge die vertikale Ordnung weitgehend gestört wird, sollte die anderen Ankunftsszenen in Erinnerung gerufen werden. In jeder Ankunftsszene befindet sich der Herrscher oben in seiner Burg. Nach Wenzel entspricht diese Position der Zentralstellung des Herrschers, denn, so meint er, der herrscherliche Blick sollte sein ganzes Territorium durchdringen (vgl. WENZEL 1995:135). Gunther befindet sich also zu Recht oben in seiner Burg, als Siegfried in Worms ankommt. Da Siegfried als König identifiziert wurde, empfiehlt Gunther, hinabzusteigen um dort den edlen Helden zu begrüßen: wir sulen im engegene hin nider zuo dem gân (Nibelungenlied, 102, 3). Hagen hält Gunthers Vorschlag für gut: „Daz mugt ir“ sprach dô Hagene, „wol mit êren tuon./ er ist von edelem künne, eines rîchen künneges sun (Nibelungenlied, 103, 1-2). Dass der König hinuntergeht, um dort Siegfried zu empfangen, entspricht nach WENZEL dem höfischen Code, denn die Anerkennung der Ebenbürtigkeit drücke sich in der symmetrischen Zuordnung der Körper und der Blicke aus: Die Darstellung von gleichem Rang, die wechselseitige Anerkennung der aristokratischen Ebenbürtigkeit, zeigt sich dementsprechend in der symmetrischen Zuordnung der Körper und der Blicke. Das gegenseitige Sich-Anblicken ist sinnlich unmittelbarer Ausdruck von sozialer Symmetrie (WENZEL 1995: 135) Indem Gunther Siegfried unten im Hof begrüßt, erkennt er damit seinen königlichen Rang. Auch bei Gunthers Werbung um Brünhild wird eine vertikale Ordnung dargeboten: Die Herrscherin steht oben mit ihren Dienerinnen. Dort wird ihr die Ankunft der Fremden gemeldet. Der Diener erklärt, dass einer der Fremden Siegfried sein könnte. Den solle die Königin ehrenvoll grüßen. Er fügt hinzu, dass auch die anderen Gefährten es verdienen, von der Königin gut empfangen zu werden. Nachdem die Königin vernommen hat, mit wem sie tun hat, begibt sie sich auf die gleiche Ebene 47 wie die Ankömmlingen. Nachdem Brünhild im Wettkampf besiegt wurde, werden neue Verhältnisse hergestellt. Gunther steht nunmehr oben mit Brünhild. Sie sehen von dort aus Siegfried mit seinen Leuten kommen, die er aus dem Nibelungenland geholt hat. Um Siegfried zu ehren, schickt Gunther die Königin Brünhild hinab, um ihn zu empfangen. Beim Empfang Brünhilds in Worms wird keine vertikale Ordnung dargestellt. Denn es gibt keinen Anlass dazu. Kriemhild und Ute, die Brünhild empfangen, sind von adliger Herkunft, genauso wie die isländische Königin. Aufgrund der Ebenbürtigkeit müssen sie auf der gleichen Höhe erscheinen. Nachdem Brünhild aus dem Schiff aussteigt, gehen ihr die burgundischen Königinnen entgegen. Wie die Handlung beschrieben wird, kann man nur vermuten, dass sowohl Brünhild als auch Kriemhild (und Ute) zu Fuß sind, wenn sie sich treffen. Es gibt also keinen höhen Punkt, von dem aus die einen die anderen herunterblicken. Im Gegensatz dazu wird die Szene, in der Kriemhild von Gotelind empfangen wird, anders beschrieben. Der Empfang geschieht außerhalb des Pöchlarner Hofes, nämlich auf einem freien Feld. „Kriemhilds höherer Rang zeigt sich darin, dass sie zu Pferd ist, Gotelind sie sieht“ (Müller 1998: 325). Durch den Blick Kriemhild von oben (sie ist auf dem Pferd) nach unten auf Gotelind, die vorher von Rüdiger gebeten wurde, auf der Wiese abzusitzen (vgl. Nibelungenlied, 1310, 1-4), ist die Balance zwischen hierarchischer Ordnung und höfisch unterstellter Gleichheit gelungen (vgl. MÜLLER1998:325). Dass Kriemhild nachher herabhebt und Gotelind küsst, deutet Müller als höfische Geste und nicht als Einebnung (ebd., 325). In Pöchlarn stehen die Fenster der Burg offen. Es gibt aber niemanden, der herausschaut, nicht nur weil die Bewohner Kriemhild entgegengeeilt sind, sondern auch deswegen weil der Blick von oben auf sie unpassend wäre (ebd., 325). Später wird bei der Begegnung Etzels mit Kriemhild Ebenbürtigkeit vorgeführt: Beide sind zu Pferd, wenn sie sich begegnen. Sie steigen dann gleichzeitig ab und treffen sich zu Fuß. Auch beim Botenempfang besteht die symbolische Räumliche Ordnung von oben und unten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es keine Einebnung vorkommt. Der Herrscher bleibt oben. Der unterstellte Bote muss dazu erlaubt werden, hinauf vor den König aufzutreten. So z. B. die Ankunft der sächsischen Boten in Worm: man hiez die boten balde ze hove für den künec gân (Nibelungenlied, 141, 4). Auch als Gere in Siegfrieds Land als Bote geschickt wird, wird berichtet, dass Kriemhild und Siegfried die Szene von oben aus herabsehen. Sie erscheinen vor dem Königspaar, erst nachdem sie dazu erlaubt wurden. Bei Rüdigers Ankunft in Worms aber wird diese 48 Ordnung nicht erwähnt. Es kann trotzdem behauptet werden, dass die vertikale räumliche Ordnung von oben und unten auch bei Botenempfang besteht. Es geschieht aber keine Einebnung, weil ein Herrscher einem Boten gegenüber die Höherstellung innehat. Nicht nur in den Ankunftsszenen ist die räumliche Ordnung von oben und unten ablesbar, sondern auch während der Turniere. Bei den Kampfspielen, an denen Siegfried in Worms teilnimmt, steht Kriemhild als Prinzessin und besonders als hochgestellte Dame, an die sich Siegfrieds Minne richtet, oben am Fenster. Von dort aus schaut sie Siegfried hinunter. Erst bei dem höfischen Fest nach dem Sachsenkrieg werden der werbende Ritter und die vrouwe auf das gleiche Niveau gestellt, indem Siegfried und Kriemhild nebeneinander gestellt werden (vgl. MÜLLER 1998: 324). Ebenfalls beobachten die Königinnen die Kampfspiele beim Hochzeitsfest von oben. Bis zur Ankunft der Burgunden bei Etzel bleibt die vertikale Ordnung ungebrochen. In Etzelnburg aber wird diese Ordnung bis zur Zerstörung des ganzen Raumes allmählich gestört werden. Bei der Erscheinung der Burgunden in Etzelnburg scheint alles noch konventionell (vgl. MÜLLER 1998: 325). Kriemhild befindet sich oben, als die Burgunden ankommen (Nibelungenlied, 1716, 1). Von der ,Herrscherstellung‘ aus schaut sie die Ankunft ihrer Verwandten. Später kommt sie herab, um ihre Verwandten zu grüßen. Obwohl sie nur Giselher grüßt, könnte man trotzdem so sagen, dass sie den Rang ihrer Brüder anerkennt. Sie stellt somit symbolisch die symmetrische Zuordnung wieder her. Nach der Begrüßung zieht sie in ihre herrscherliche Position hinauf. Einmal oben schafft sie eine neue vertikale Ordnung Hagen und Volker gegenüber, während jene auf einer Bank mitten im Hof sitzen: si ersáh ouch durch ein venster daz Etzelen wîp (Nibelungenlied, 1762, 3). Daraufhin steigt sie hinab, um Hagen zu tadeln. Hagen verweigert ihr den Gruß durch Aufstehen. Weil sich Kriemhild auf den gleichen Fuß wie ein Unterstellter begibt, wird sie erniedrigt (vgl. MÜLLER 1998: 327). Durch den Bruch der symbolischen räumlichen Ordnung wird der Status von Kriemhild in Frage gestellt, denn wie WENZEL erklärt, heißt es, dass man den Staus in Frage stellt, wenn man die Regel der vertikalen Ordnung verletzt (WENZEL 1995: 132). Die letzte und größte Störung der räumlichen vertikalen Ordnung von oben und unten finden statt, als der Kampf im Festsaal ausgelöst wird. Etzel und Kriemhild den Saal unter Dietrichs Schutz: dô fuort er [Dietrich] anderthalben Etzelen mit im dan (Nibelungenlied, 1995, 3). Den Saal verlassen, heißt, dass sie hinabsteigen. Er wird 49 dann nie wieder oben auf seine herrscherliche Position zurückkehren. In dem Kampf im Saal werden die räumliche umgekehrt, so MÜLLER. Die Burgunden befinden sich nunmehr in der oberen Position während der Landesherr und seine Leute in die untere Position gezwungen werden: Von jetzt an[ab dem Augenblick, wo Etzel hinabsteigt] sind die Grenzen klar gezogen: Die Burgonden ,oben‘ im Saal, Etzel und seine Leute von ,unten‘ gegen anrennend, so lange bis, bis fast keiner mehr übrig bleibt. Mit dem Gemetzel beim Mahl haben sich oben und unten umgekehrt. (MÜLLER 1998: 327). Indem der Landesherr räumlich unterstellt wird, und der Festsaal des Hunnenkönigs den Burgunden überlassen wird, werden die Burgunden ins Zentrum des Geschehens gerückt, und die Hunnen zu Randfiguren degradiert. Dadurch wird eine unkonventionelle Ordnung hergestellt, und zwar die des Untergangs. 50 Schlussfolgerung In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, den Raum sowie die Raumstruktur im Nibelungenlied zu analysieren. Ziel der Arbeit war es, der Burgunderuntergang im Nibelungenlied als Konsequenzen räumlicher Störungen zu belegen. Die Analyse bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil, der zwei Kapitel enthält, hat sich mit den Schauplätzen des Nibelungenliedes beschäftigt, während sich der zweite Teil mit den großräumigen Bewegungen befasste. Es wurde im ersten Kapitel des ersten Teils eine textexterne Überlegung über den Raum des Epos geführt. Es ging dabei darum, sich mit der realhistorischen Geographie des Nibelungenliedes zu befassen. Es wurde von der allgemeinen Feststellung ausgegangen, dass der Raum des Nibelungenliedes sich von dem des Artusromans unterscheidet. Der Unterschied besteht darin, dass der Dichter des Nibelungenliedes seine Geschichte in einem Raum lokalisiert, der dem zeitgenössischen Hörer wohl bekannt war, also in einem historisch überprüfbaren Raum. Die These bei dieser realgeschichtlichen Untersuchung lautete, dass der Dichter einen germanischen Stoff der Völkerwanderungszeit in sein Epos übernimmt und zwar den Untergang des burgundischen Reiches von dem fünften Jahrhundert, wobei aber der Burgundenuntergang transloziert wird. Um diese These zu belegen, wurde der geschichtliche Raum geforscht, in dem die Burgunden sowie die Hunnen, die im Nibelungenlied am Untergang Anteil haben, gelebt hatten. Es wurde herausgefunden, dass die Burgunden im Rheingebiet, und die Hunnen im Donauraum sesshaft waren wie es im Nibelungenlied dargestellt wird. Anders ist aber, der Raum des Untergangs sowie der Anteil, den der Hunnische König Attila daran hatte. Während der geschichtliche Burgundenuntergang im Rheingebiet geschah, wird er im Nibelungenlied im Donauraum gelegt. Es wurde auch belegt, dass der Hunnenkönig Attila an den Kämpfen, in denen das Burgunderreich unterging, nicht teilgenommen hat. Die Versetzung des Untergangs in den Donauraum wurde als willkürliche aneignende räumliche Fixierung bezeichnet. Ziel dieser Raumänderung war es, einen dem Publikum vertrauten Raum zu beschreiben, um damit dem Epos mehr Glaubwürdigkeit zu verschenken. Im zweiten Kapitel wurde eine textinterne Analyse des Nibelungenraumes gemacht. Diese Analyse sollte als Hauptgegenstand der vorliegenden Masterarbeit verstanden werden, denn die ganze Überlegung wurde textintern geführt. Dieser Kapitel 51 bestand aus drei Abschnitten. Im ersten Abschnitt wurden die textinternen Schauplätze der Erzählung vorgestellt. Dabei wurden manche Räume als Hauptorte bezeichnet nämlich Worms und Etzelnburg, während den anderen Orten die Bezeichnung ‚Nebenschauplatz‘ zukam. Die Nebenräume, die nur geschichtliche Züge tragen, wurden ausgeschlossen, da der geschichtliche Aspekt des Nibelungenraumes schon im ersten Kapitel erörtert wurde. Es kam dann zu Raumkonstellationen, aus denen es belegt wurde, dass die Raumstruktur in Hinsicht auf den künftigen Untergang gebaut wurde: im Raum, bzw. in den Räumen des ersten Teils der Dichtung wird durch Betrug, hinterlistige Einladungen und Verletzung von Personenbeziehungen der Grundstein des Untergangs gelegt, während im Raum des zweiten Teils die allerletzte Bedingung, die den Untergang vollendet, erfüllt wird. Im zweiten Abschnitt wurde gezeigt, dass der Raum des Nibelungenliedes ein personalisierter Raum, das heißt auf menschenbezogen ist. Unter „personalisierter Raum“ sollte erklärt gewesen sein, dass Raum und Personen zusammen hängen, wobei das eine durch das andere definiert wird, so dass die Störung von Personenbeziehungen manchmal durch räumliche Isolierung manifestiert wird (vgl. Nibelungenlied, 1102; 1136, 3). Es wurde auch einen Blick über die Personenbeziehung in Worms sowie in Etzelnburg geworfen. Dabei wurde rausgefunden, dass die Personenbeziehung sowie die Herrschaftsbindung in Worms auf verwandtschaftliche Bindungen beruhen, während sie in Etzelnburg durch Lehenswesen und Vasallität konstituiert sind. Im letzten Abschnitt des Kapitels wurde gezeigt, welche Funktionen die sogenannten kleinen Räume haben. Es wurde belegt, dass der hof sowohl eine rein räumliche als auch eine institutionelle Deutung hat. Am wichtigsten ist aber die Funktion der Öffentlichkeit, die der Begriff innehat. Was am Hof passiert ist öffentlich und wird von allen gesehen, bzw. gehört. Insofern wird es zur Störung, sobald die heimlichen Betrugshandlungen, die eigentlich der Heimlichkeit gehören, am Hof offenbart werden. Ein anderer kleiner Raum, der besprochen wurde, ist die Kemenate. Es wurde gezeigt, dass die Kemenate eine mit Grenzen konturierte Privatsphäre konstituiert. Die Überschreitung dieser Grenzen wurde als Störung bezeichnet. Es wurde auch gesagt, dass die Kemenaten die Räume der Heimlichkeit und des Betrugs sind. Dort geschehen teilweise die größten Störungen, die den Untergang als mittelbare Konsequenzen haben. In Bezug auf das Gegensatzpaar Öffentlichkeit und Heimlichkeit wurde belegt, dass die Fenster als Verbindungsmittel zwischen Innen und Außen gedeutet werden 52 könnten. Der letzte Raum, der in der kleinräumigen Vorstellung besprochen wurde, ist der Palas, ein friedlicher höfischer Ort, der schließlich zum Kampfort umfunktionalisiert wurde. Der zweite Teil der Arbeit war ein großes Kapitel, der sich mit den sogenannten großräumigen Bewegungen beschäftigt hat. Dabei wurde das Motiv der Reisen im Nibelungenlied ausführlich analysiert. Untersucht wurde auch, welche Struktur das Lied in Bezug auf die großräumigen Bewegungen hat. Es wurde auch die Funktion des Wassers bei jenen Reisen analysiert. Bezüglich der letzten Reise der Burgunden wurde im Vergleich zu Kriemhilds Reise nach Etzelnburg untersucht, welche Bedeutung die Begegnungen haben. Nach Überlegung wurde herausgefunden, dass im Nibelungenlied großräumige Bewegungen entweder als Werbungsfahrten, Kriegszüge oder infolge einer Einladung zu höfischen Festen, aber auch als Jagdzug geschehen. Die These hierbei war, dass die Akteure des Untergangs durch die großräumigen Bewegungen in Kontakt treten. Dabei geschehen im ersten Teil Störungen wie Standeslüge, Brautnachtbetrug, die zur Brünhilds hinterlistige Einladung, die die Ermordung von Siegfried während der Jagd zur Folge hat, führen. Von der Unterhaltungsfunktion der Jagd im höfischen Leben ausgehend bin ich syllogistisch zur Überzeugung gelangt, dass die Ermordung Siegfrieds im Jagdwald sich sowohl als räumliche als auch verwandtschaftliche Störung erweist. Es wurde auch gesagt, dass Kriemhild, die am Ende des ersten Teils durch den Hortraub entmachtet wird, der Werbung Etzels nur als Ermächtigungsmittel zu ihrer Rache nachkommt. Eines der wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, das wichtigste überhaupt aus der Untersuchung der großräumigen Bewegungen ist, dass die Bewegungen im Nibelungenlied eine Struktur von Auszug und Rückkehr haben. Diese Struktur spielt im Nibelungenraum eine hervorragende Rolle, sofern die räumliche Ordnung grundlegend dadurch bestimmt wird: Ein Auszug ohne Rückkehr heißt im Nibelungenlied Katastrophe. Ein anderes wichtiges Thema, das im Rahmen der großräumigen Bewegungen besprochen wurde, ist das des Wassers. Es wurde überlegt, welche Funktion das Wasser im Raum des Nibelungenliedes nämlich während der Reisen hat. Zur Beantwortung dieser Frage wurden die verschiedenen Reisen unter die Lupe genommen. Daraus hat sich ergeben, dass das Wasser-inbegriffen das Meer und die Flüsse- im Nibelungenlied wesentlich zwei Funktionen hat und zwar die von Grenzen und Reisewegen. Es wurde festgestellt, dass die Grenzfunktion der Donau bei der Reise der Burgunden ins 53 Hunnenland von besonderer Bedeutung ist. Die Donau wird dabei mythisiert, um den bevorstehenden Untergang wahrzusagen. Es wurde auch gezeigt, wie sich die Gefahr der Reise jenseits der mythisierten Grenze zeichenhaft manifestiert und zwar durch den Überfall von Bayern sowie durch den relativ schlechten Empfang in Passau. Es wurde am Ende des Kapitels einen Blick über die Ankunftsszenen geworfen. Dabei wurde festgestellt, dass die Höherstellung durch die räumliche vertikale Ordnung von oben und unten als Hinweis auf die gesellschaftliche Ordnung zu verstehen ist. Die Störung dieser Ordnung in Etzelnburg markiert die Zerstörung des ganzen Nibelungenraums. Zusammenfassend wurde in dieser Masterarbeit gezeigt, dass der Raum des Nibelungenliedes menschenbezogen ist. Die Personenbeziehungen bedingen die Raumordnung. Durch allerlei Störungen aber, darunter prinzipiell die der Struktur von Auszug und Rückkehr, wird der Nibelungenraum zerstört. 54 Literaturverzeichnis Textausgabe Das Nibelungenlied, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl BARTSCH und Helmut de BOOR ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried GROSSE, Stuttgart, Philipp Reclam-Verlag, 2007 Forschungsliteratur Heinrich BECK, Heldensage in Sächsisch- dänischer Tradition und die Dimensionen Raum und Zeit. In: 4. Pöchlarner Heldengespräch, Heldendichtung in österreichÖsterreich in der Heldendichtung. Hrsg. von Klaus ZATLOUKAL. Wien 1997. S. 29-40. Ragnhild BOKLUND-SCHLAGBAUER, Vergleichende Studien zu Erzählstrukturen im Nibelungenlied und in nordischen Fassungen des Nibelungenstoffes. Göppingen 1996. Elke BRÜGGEN, Räume und Begegnungen. Konturen höfischer Kultur im Nibelungenlied. In: Die Nibelungen. Sage, Epos und Mythos. Hrsg. von Joachim HEINZLE u.a. Wiesbaden 2003. S. 161-188. Nelly DÜRRENMATT, Das Nibelungenlied im Kreis der höfischen Dichtung. Bern 1945. Otfrid EHRISMANN, Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Auflage. München 2002. Otfrid EHRISMANN, Das Nibelungenlied. München 2005. Walter FALK, Das Nibelungenlied in seiner Epoche: Revision eines romantischen Mythos. Heidelberg 1974. Lutz FENSKE, Jagd und Jäger im früheren Mittelalter. Aspekte ihres Verhältnisses. In: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner RÖSENER. Göttingen 1997, S. 29-94 T. George GILLESPIE, Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des Nibelungenliedes. In: Nibelungenlied und Klage: Sage und Geschichte, Struktur und Gattung Passauer Nibelungengespräche. Hrsg. von Fritz Peter KNAPP. Heidelberg 1987. S43-60 55 Walter HAUG, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied. Tübingen 1974. Walter HAUG, Hat das Nibelungenlied eine Konzeption? In: Nibelungenlied. actas do Simpósio Internacional 27 de Outuboro de 2000. Hrsg. Von John GREENFIELD 2001. S. 27-49 Joachim HEINZLE, Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten. In: Nibelungenlied und Klage: Sage und Geschichte, Struktur und Gattung (Passauer Nibelungengespräche 1985). Hrsg. von Fritz Peter KNAPP. Heidelberg 1987. S. 257-276. Joahim HEINZLE, Die Nibelungen. Lied und Sage. Darmstadt 2005 Karl-Heinz IHLENBURG, Fremdheit und Reisen im Nibelungenlied. In: Fremdheit und Reisen im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz SPIESS und Irene ERFEN. Stuttgart 1997. S. 267-275 Elisabeth LIENERT, Die ‚historische‘ Dietrichepik: Untersuchungen zu ‚Dietrichs Flucht‘, ‚Rabenschlacht‘ und ‚Alpharts Tod‘. Texte zur mittelhochdeutschen Heldenepik. Berlin 2010. Elisabeth LIENERT, Raumstruktur im ,Nibelungenlied‘. In: 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus ZATLOUKAL. Wien 1997. S. 103-122. Lutz MACKENSEN, Die Nibelungen. Sage, Geschichte, ihr Lied und sein Dichter. Stuttgart 1984 Jan- Dirk MÜLLER, Spielregeln für die Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998. Jan-Dirk MÜLLER, Das Nibelungenlied. Berlin 2002. Werner RÖSENER, Jagd, Rittertum und Fürstenhof im Hochmittelalter. In: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner RÖSNER. Göttingen 1997. S. 123-149 Simone SCHOFER, Mythos – Geschlecht – Medien, Die Nibelungenstudien: ein kulturhistorischer Vergleich. Berlin 2009. Ursula SCHULZE, Das Nibelungenlied, ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2003 56 Ursula SCHULZE, Der weinende König und sein Verschwinden im Dunkel des Vergessens. König Etzel im Nibelungenlied und in der Klage. In: Attila und die Hunnen. Hrsg. vom Historischen Museum der Pfalz. Stuttgart 2007. S. 337-347 Jochen SPLETT, Rüdiger von Bechelaren: Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes. Heidelberg 1968. Horst WENZEL, Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter. Darmstadt 2009. Horst WENZEL, Hören und Sehen. Schrift und Bild. München 1995. Julia ZIMMERMANN, Frouwe, lât uns sehen iuwer spil diu starken. Weitsprung, Speerund Steinwurf in der Brautwerbung um Brünhild. In: Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung: 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Alfred EBENBAUER u.a. Wien 2006. S. 315-335. Lexikon und Wörterbuch Lexikon des Mittelalters, München 1997. Band 8. Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Auflage. Mit den Nachträgen von Ulrich PRETZEL. Stuttgart 1992 57 Anhang: Der Weg der Nibelungen.10 10 Lutz MACKENSEN, Die Nibelungen. Sage, Geschichte, ihr Lied und sein Dichter. Stuttgart 1984: 113 58 59