Sitzung 8: Die Dekolonisierung in den internationalen Beziehungen Die Dekolonisierung in Asien und Afrika vollzog sich parallel zum Ost-WestKonflikt, dem so genannten Kalten Krieg. FOLIE: KALTER KRIEG: TEILUNG EUROPAS UND DEUTSCHLANDS Der Kalte Krieg entzündete sich in Europa, genauer: in der Auseinandersetzung zwischen den USA und den demokratisch-kapitalistischen Ländern und der Sowjetunion und den von ihr installierten kommunistischen Marionettenregimes in Osteuropa um die künftige politische Landkarte Deutschlands und Europas nach dem zweiten Weltkrieg. Die Teilung des besetzten Deutschland und die Gründung von zwei deutschen Teilstaaten 1949 war das herausragende Ergebnis dieser Auseinandersetzung. Endpunkt des Konflikts um die Teilung Deutschlands war der Bau der Mauer entlang der innerdeutschen Grenze und die vollkommene Abriegelung West-Berlins gegenüber der DDR im Jahre 1961. Bis dahin hatten mehrere schwere Krisen immer wieder die Gefahr eines großen Krieges, und das bedeutete eines Atomkrieges, in Europa heraufbeschworen. FOLIE: KALTER KRIEG: KRISEN IN EUROPA Die beiden großen Siegermächte des zweiten Weltkrieges, die USA und die Sowjetunion, versuchten nach 1945 zunächst, ihre Einflussbereiche in Europa auszuweiten. Dies galt insbesondere für die Sowjetunion, die nach dem zweiten Weltkrieg versuchte, Griechenland und die Türkei unter ihre Kontrolle zu bringen. Das galt aber auch für die Vereinigten Staaten, die beispielsweise 1949 mit Hilfe des amerikanischen Geheimdienstes CIA massiv die italienischen Wahlen beeinflusste, um eine starke kommunistische Fraktion im Parlament in Rom zu verhindern. Vordringliches Anliegen der beiden Supermächte in Europa aber war die Konsolidierung (Festigung) ihrer jeweiligen Einflussbereiche: die Sowjetunion bzw. ihre Klientelregimes schlugen mit brutaler Gewalt mehrere Volksaufstände nieder (DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968), 1955 gründete Moskau den so genannten Warschauer Pakt, ein Militärbündnis, dem alle osteuropäischen Länder mit Ausnahme Jugoslawiens beitraten. FOLIE: DOPPELTE HEGEMONIE IN EUROPA Die USA hatten bereits 1949 mit westlich-demokratischen europäischen Ländern die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft gegründet. In den fünfziger Jahren setzten sie sich dann vehement für die Wiederaufrüstung des westdeutschen Teilstaates ein. Die Hegemonien, die die beiden Supermächte in Europa errichteten, waren völlig unterschiedlich: die Sowjetunion errichtete in Osteuropa Zwangsregimes, die nicht den politischen Willen der Mehrheit der Bevölkerung widerspiegelten. Sie und ihre Klientelregimes unterdrückten 1 fundamentale Menschenrechte, die Wirtschaften wurden, vergleichbar den Bedingungen kolonialer Herrschaften, in den Dienst der sowjetischen Wirtschaft gestellt. Die USA dagegen errichteten in Westeuropa ein „empire by invitation“ (so der norwegische Historiker Geir Lundestad): sie folgten dem dringenden Wunsch der Westeuropäer, ihnen Schutz gegen die Sowjetunion zu gewähren. Unter der amerikanischen Hegemonie in Westeuropa entwickelten sich freiheitlich-demokratische Regimes, die Menschenrechte achteten und die ihren Bürgern einen noch nie gekannten Reichtum bescherten. FOLIE: DIMENSIONEN DES KALTEN KRIEGES Hier angedeutet ist bereits, dass der Kalte Krieg auf mehreren Ebenen ausgetragen wurden: der machtpolitischen, der ideologisch-kulturellen, der wirtschaftlichen und der sozialen Ebene. FOLIE: KALTER KRIEG: BIPOLARITÄT VERSUS POLYZENTRISMUS In Europa wurde ein großer Krieg vermieden, weil das Militärpotential der beiden Blöcke die Gefahr einer globalen Katastrophe und das Ende jeder Zivilisation in sich barg. In der außereuropäischen Welt, in der sich die Dekolonisierung vollzog, mündete der Kalte Krieg jedoch in vielen Konflikten, die durch die Auseinandersetzung zwischen Ost und West aufgeladen wurden. Durch den Kalten Krieg wurden manche Dekolonisierungskonflikte – wir haben es bereits am Beispiel Indochinas oder der Befreiungskriege in den portugiesischen Kolonien gesehen – zu Stellvertreterkriegen antagonistischer Systeme und Systemvorstellungen. Der Kalte Krieg brachte also Stabilität im Zentrum und schürte Konflikte in der Peripherie. Kompliziert wurde diese Konstellation des internationalen Systems nach 1945 aber noch durch zwei weitere wichtige Aspekte: die Konkurrenz innerhalb der jeweiligen Blöcke, und zweitens das in gewisser Weise schizophrene Bestreben der Länder der Dritten Welt, dem Konflikt zwischen West und Ost auszuweichen, ihn gleichzeitig jedoch für eigene Zwecke zu nutzen. Insofern ist es zwar sinnvoll, von einem bipolaren internationalen System zu sprechen. Das gilt aber nur für Europa. Auf globaler Ebene handelte es sich vielmehr um ein polyzentrisches System, um ein System, in dem viele kleinere und größere Akteure um Einfluss und Macht rangen. FOLIE: USA UND DEKOLONISIERUNG Diskutieren wir zunächst die Konkurrenz innerhalb der Blöcke. Verschiedentlich wurde bereits angedeutet, dass die Vereinigten Staaten und die europäischen Kolonialmächte durchaus unterschiedliche Interessen und Strategien verfolgten. Denken Sie etwa an die Atlantik-Charta vom August 2 1941, die nach amerikanischer Lesart für alle Völker die Selbstbestimmung forderte (und die der britische Premierminister Churchill auf die von den Nationalsozialisten besetzten Länder beschränkt wissen wollte). Auch nach dem Krieg, und bis in die sechziger Jahre hinein, gab es in den USA eine weit verbreitete kolonialismuskritische öffentliche Meinung. Die amerikanischen Regierungen unter Harry S. Truman (1945-1953), Dwight D. Eisenhower (19531961), John F. Kennedy (1961-1963) und Lyndon Johnson (1963-1968) waren gegenüber den Kolonialmächten zwar sehr viel zurückhaltender als etwa Senat, Repräsentantenhaus und öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung. Sie fürchteten immer wieder Verbindungen zwischen Nationalisten in der dritten Welt und dem Kommunismus. FOLIE: DECLARATION OF INDEPENDENCE In der Regel wog die Sorge, ein Land könne zum Kommunismus wechseln, schwerer als das Freiheitspostulat, das sich aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 („We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness“) und der Verfassung von 1787 ergab. FOLIE: KOLONIALISMUSKRITIK IN AKTION Das bedeutete aber nicht, dass sich die USA vorbehaltlos hinter die Kolonialmächte stellten: in den Vereinten Nationen setzten sie sich immer wieder von der Linie der Kolonialmächte ab, im Treuhandkomitee der UN sprachen sie sich für konkrete Zeitpläne und für eine graduelle Dekolonisierung aus, im Fall der Konflikte im Maghreb rieten sie den französischen Regierungen zum Kompromiss und zum Rückzug. Offen auf die Seite der nationalistischen Befreiungsbewegungen stellten sie sich in Indonesien, wo sie mit finanziellem Druck die Niederlande zwangen, die Unabhängigkeitserklärung anzuerkennen. In Indochina, und auch darüber sprachen wir bereits, hatte das amerikanische Engagement eine subversive Qualität: einerseits unterstützten sie die Franzosen in ihrem Kampf gegen die kommunistische nationalistische Bewegung unter Ho Chi Minh, andererseits versuchten sie, eine unabhängige „dritte Kraft“ jenseits von Kolonialismus und Kommunismus aufzubauen. Grundsätzlich wirkten also die Vereinigten Staaten auf eine Welt hin, die frei vom Kolonialismus war. Sie waren davon überzeugt, dass Kolonialismus wirtschaftlicher Protektionismus bedeutete und dem Gedanken des Freihandels entgegen stand. Für die USA war der Kolonialismus ein anachronistisches Relikt der Vergangenheit. FOLIE: INNEREUROPÄISCHE DIFFERENZEN 3 Ideologisch-kulturelle und auch machtpolitische Konflikte gab es innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft aber nicht nur zwischen den Kolonialmächten und den Vereinigten Staaten. Auseinandersetzungen gab es auch zwischen den Kolonialmächten, insbesondere zwischen Großbritannien und Frankreich. (Die Niederlande waren trotz ihrer Besitzungen auf Papua (bis 1962), Surinam (bis 1975) und in der Karibik (bis heute) als Kolonialmacht nicht mehr von Bedeutung. Portugal als relativ große Kolonialmacht wurde von einer autoritären Führung regiert, die sich jeder Kolonialismuskritik von außen grundsätzlich verweigerte.) Frankreich versuchte bis in die frühen fünfziger Jahre immer wieder, in Afrika und in den Vereinten Nationen mit Großbritannien kolonialpolitisch zusammen zu arbeiten, etwa im Bereich der gemeinsamen Ausbeutung von Bodenschätzen, der Entwicklung, der Gesundheit, Migrationspolitik etc. Das lehnte Großbritannien immer ab, weil es fürchtete, dies könne nach einem kolonialpolitischen „ganging up“ aussehen (was schlecht im Hinblick auf die öffentliche Meinung in den USA und in der Welt war) und weil London nicht mit dem französischen Kolonialismus in Verbindung gebracht werden wollte. Dieser unterschied sich ja, das haben wir vielfach gesehen, erheblich vom britischen, nicht zuletzt – aber entscheidend – in der Frage der Gewährung der Unabhängigkeit. Mittelbar trug diese Weigerung Großbritanniens übrigens dazu bei, dass Charles de Gaulle in den sechziger Jahren den Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (später: EU) verweigerte. FOLIE: KOMMUNISTISCHER PLURALISMUS FOLIE: SOWJETUNION Die Sowjetunion verstand sich qua ihrer Ideologie als die antikolonialistische Macht. Der antiimperialistische Freiheitskampf galt als wesentliches Element der Weltrevolution, und für Lenin führte der revolutionäre Weg in die kapitalistischen Metropolen Europas über Asien. Doch hier gab es um 1920 nur sehr wenig Kommunisten. Lenin empfahl daher die Zusammenarbeit von Kommunisten und ‚bürgerlichen’ Nationalisten, eine Linie, der die in Moskau nach der Revolution gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) folgte. Doch diese Strategie erwies sich als gefährlich, wie die nach 1927 ausbrechenden Kämpfe zwischen chinesischen ‚bürgerlichen’ Nationalisten (Guomindang unter Chiang Kaishek) und chinesischen Kommunisten (seit 1935 unter Führung Mao Zedongs) zeigten. Überhaupt hatten es Kommunisten in der kolonialen Welt schwer: seit 1920 gab es drangsalierte, aber letztlich geduldete kommunistische Parteien in den Metropolitanmächten, aber in den Kolonien wollten koloniale Verwaltungen keine Unruhestifter. Winzige kommunistische Splittergruppen operierten etwa in Indonesien oder Indien daher weitgehend im illegalen Raum. 4 FOLIE: STALINS SCHOCKTHERAPIE Der zweite Weltkrieg bescherte den Kommunisten in der Dritten Welt dann einen dreifachen Schock: erst blieb die Sowjetunion Stalins im europäischen Krieg neutral, dann verbündete sie sich im Hitler-Stalin-Pakt mit dem ideologischen Erzfeind der Kommunisten, und schließlich ging sie nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion ein Bündnis mit den Kolonialmächten ein. Diese Vorgänge waren bei allem Verständnis für die bedrängte Lage der Sowjetunion in den Kolonien schwer vermittelbar, und einige, etwa Ho Chi Minh in Vietnam oder Tito in Jugoslawien, zogen daraus den Schluss, dass sie aus eigenem Antrieb ihre Länder befreien mussten. Eine vierte Kehrtwende vollzog die Sowjetunion 1948, als sie die so genannte „Zwei Lager“- Theorie verkündete (dabei stand dem „imperialistischen und antidemokratischen Lager“ unter Führung der USA das „antiimperialistische und demokratische Lager“ unter Führung der Sowjetunion gegenüber). Die Konsequenz dieser Theorie war, dass die nichtkommunistischen antikolonialistischen Kräfte aus Sicht Moskaus plötzlich dem „imperialistischen und antidemokratischen Lager“ zugehörten, also zum Beispiel die noch junge indische Regierung oder die nationalistische Bewegung in Indonesien. Letztere schlug dann auch gleich (September 1948) einen schlecht vorbereiteten kommunistischen Aufstand auf Java nieder, um sich den Vereinigten Staaten in ihrem Kampf gegen die Niederlande zu empfehlen. Ideologisch war die Sowjetunion für die überwältigende Mehrheit der nationalistischen, westlich sozialisierten Eliten der Dritten Welt also kein Vorbild. Auch machtpolitisch hatten sie mit der sowjetischen Führung unter Stalin ihre Probleme. Denn dieser hatte am Ende des zweiten Weltkrieges die Unverfrorenheit besessen, öffentlich Anspruch auf sowjetische Kolonien zu erheben (Bosporus, Libyen). Im Grunde war Stalin die außereuropäische Welt relativ gleichgültig. Seine schrille Propaganda unterstützte die kleinen kommunistischen Bewegungen in Indien, Malaya oder Indonesien, und die eine oder andere Waffenlieferung dürfte auch den Weg von der Sowjetunion in die weite Ferne gefunden haben. Stalin war alles recht, was den Westen irgendwie destabilisierte. Wichtiger als die koloniale Welt war für ihn aber die Zusammenarbeit mit der starken französischen kommunistischen Partei – und die tauchte beim Problem der Dekolonisierung im Interesse ihrer Klientel ab. FOLIE: CHRUSCHTSCHOWS CHARME-OFFENSIVE Erst nach dem Tod Stalins wandelte sich das Verhältnis der Sowjetunion zur Dekolonisierung und zur entstehenden dritten Welt auf grundlegende Weise. Nikita Chruschtschow, seit 1955 in Moskau pares inter pares, betrachtete auch die ‚bürgerlichen’ Nationalisten als Verbündete im Kampf gegen Kapitalismus 5 und den Westen. Triumphale Reisen führten ihn 1955 nach Neu Delhi und nach Jakarta, wo er die von russischen Arbeitern und Bauern mühsam erwirtschafteten Dollar herumwarf wie Konfetti. Vor allem Indien, Indonesien und Ägypten profitierten bis weit in die sechziger Jahre hinein von sowjetischer Entwicklungshilfe. Im Mittelpunkt der sowjetischen Auslandsaktivitäten stand aber bis zur Implosion der Sowjetunion die Militärhilfe: mit russischen Waffen hielten sich afrikanische Potentaten ebenso an der Macht wie Fidel Castro auf Kuba, die Kalaschnikow feierte ihren Triumph als Instrument echter und vermeintlicher Befreiungskriege in aller Welt. Unter Leonid Breschnew (Parteichef 1964-1982) setzte die Sowjetunion dann zunächst erfolgreich zum wirklich globalen Ringen um Einfluss und Macht in allen Erdteilen an. Im Schatten des amerikanischen Krieges in Vietnam rüstete sie weiter auf, baute eine global aktive Marine auf, erwarb Stützpunkte in Asien und Afrika. Dieses Ausgreifen in die Dritte Welt führte dann aber vergleichbar dem französischen Beispiel zu einem klassischen imperial overstretch. FOLIE: JUGOSLAWIEN Wenden wir uns nun den anderen kommunistischen Staaten zu. Da finden wir in Europa zunächst einmal Jugoslawien, dass sich Anfang der fünfziger Jahre dem Einflussbereich der Sowjetunion entzog und eine unabhängige Außenpolitik verfolgte. (Als einziges Land des östlichen Europa war Jugoslawien am Ende des zweiten Weltkrieges nicht von der Roten Armee, sondern von eigenen Kräften vom Nationalsozialismus befreit worden – Stalin liebäugelte zwar mit einer Besetzung, entschied sich dann aber aus historischen und strategischen Gründen dagegen). Diese orientierte sich zwar an der kommunistischen Linie, die von Moskau propagiert wurde („Anti-imperialistischer Kampf“), Jugoslawiens Staatschef Tito engagierte sich aber in den fünfziger und frühen sechziger Jahren gemeinsam mit Ländern der Dritten Welt in der Bewegung der blockfreien Staaten, die auf eine Überwindung des Ost-West-Konflikts und auf ein Ende des Kolonialismus hinwirkte. Aber Jugoslawien war letztlich kein entscheidender weltpolitischer Akteur. FOLIE: VOLKSREPUBLIK CHINA Viel wichtiger für die Dekolonisierung war das kommunistische China unter Mao Zedong. Mao wurde das ideologische Vorbild einer ganzen Generation von revolutionären Nationalisten in der Dritten Welt, und zwar von Kommunisten und Nichtkommunisten gleichermaßen. Denn Mao hatte in China eine Revolution gemacht, bei der nicht die Arbeiter (nach Marx, Engels, Lenin und Stalin die Speerspitze der Revolution), sondern die Bauern die treibende Kraft gewesen war. In seinen Schriften betonte Mao immer wieder, die sozioökonomischen Verhältnisse in der Dritten Welt wären grundsätzlich anders als in Europa (einschließlich Russland/Sowjetunion). Mao propagierte die 6 Mobilisierung der bäuerlichen Massen, er verkörperte einen kommunistischen Pluralismus und damit eine Selbstbestimmung, die nicht durch Weisungen aus Moskau eingeschränkt war, er wies der Dritten Welt einen Weg (besser: Irrweg), gewissermaßen aus dem Nichts die Industrialisierung voranzutreiben. Und er verstand es meisterhaft, der Welt eine dem sowjetischen Kommunismus fehlende Flexibilität des Denkens und Handelns vorzuspiegeln. Mao galt als der Befreier in der Dritten Welt, und auch noch viele demonstrierende Studierende und Intellektuelle der „68er“ trugen sein Konterfei auf T-Shirts. Heute wissen wir, dass Maos Politik mindestens 30 Millionen Chinesen das Leben kostete (Stichwort: Demozid, in Abwandlung von Genozid). FOLIE: CHINESISCH-SOWJETISCHE SPANNUNGEN Das China Mao Zendongs verhinderte im Koreakrieg den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im Norden der Halbinsel (1950-53), es unterstützte die Viet Minh in ihrem Kampf gegen die Franzosen in Indochina, und es forderte in den fünfziger Jahren zweimal die Vereinigten Staaten heraus, als es zu Taiwan (dem nichtkommunistischen China) gehörende Inseln bombardierte. Nach 1956 aber wurde es auch zu einer ideologischen Bedrohung für die Sowjetunion. Denn nun begann Mao, offen um die Meinungsführerschaft unter den Kommunisten in aller Welt zu werben. (Hintergrund: Mao warf dem nach Stalin – gestorben 1953 – an die Macht gelangten sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow Abweichung von der reinen Lehre des Kommunismus und Anbiederung an die USA vor. Chruschtschow trat für eine „friedliche Koexistenz“ von Osten und Westen ein). Nicht alle Länder der Dritten Welt folgten Mao und dem Vorbild China. Indien beispielsweise wurde von seinen Erwartungen in China 1962 furchtbar enttäuscht, als die Chinesen indische Teile Tibets besetzten. Auch Fidel Castro auf Kuba versprach sich von Moskau mehr als von Beijing. Zurecht: die Möglichkeiten der Sowjetunion, den jungen Staaten der Dritten Welt Entwicklungshilfe zu geben, waren ungleich größer als die des noch armen China. Dennoch: seit Ende der fünfziger Jahre gaben sich nationalistische Führer Afrikas, Befreiungskämpfer, big men und solche, die es werden wollten, in Beijing ein Stelldichein. Als Nikita Chruschtschow im Januar 1960 in einer Aufsehen erregenden Rede nationalistischen Gruppen in aller Welt die uneingeschränkte Unterstützung – das bedeutete: auch militärische Unterstützung – der Sowjetunion zusagte, war der Westen empört. Der eigentliche Adressat der Rede aber war China. Wie wir gesehen haben, unterstützte China in den sechziger und siebziger Jahren beispielsweise in Mosambik und Angola Bewegungen, die nicht nur in den portugiesischen Kolonialisten, sondern auch in rivalisierenden sowjettreuen Bewegungen ihre Gegner sahen. Das Engagement Chinas – und damit verbunden die Sicherstellung von Rohstoffen für die expandierende chinesische Wirtschaft – in Afrika hält bis heute an. Beispielsweise unterzeichnete Beijing 7 noch kürzlich mit dem international geächteten Autokraten Robert Mugabe (Simbabwe) ein Abkommen über Entwicklung und gemeinsame Ausbeutung von Rohstoffen. FOLIE: ZWISCHENFAZIT Während also der Ost-West-Konflikt vor allem aus deutscher Perspektive ein bipolarer Konflikt war, der sich symbolisch an der Berliner Mauer ausdrückte, stellte er sich für viele Staaten der Dritten Welt als ein Konflikt dar, in dem verschiedenste Akteure und deren Interessen aufeinander trafen. Dabei spielte zwar für alle Beteiligten der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten schon allein wegen seiner atomaren Dimension eine herausragende Rolle. Dennoch: das polyzentrische Weltsystem wurde als solches anerkannt. Es sorgte für Wettbewerb innerhalb der Blöcke, es begrenzte zuweilen Einfluss der Supermächte, es eröffnete antikolonialistischen Befreiungsbewegungen ideologische und materielle Alternativen, und es ermöglichte einigen Staaten der noch jungen dritten Welt, die vielfältigen Konkurrenzen auszunutzen, um mehr Entwicklungshilfe zu erhalten (dies gilt insbesondere für Indonesien unter Sukarno [bis 1965] und einige afrikanische Staaten). FOLIE: INTEGRATIONSBESTREBUNGEN IN DER DRITTEN WELT Für fast alle Nationalisten in der kolonialen Welt und in der Dritten Welt war der Kolonialismus eine Folge des Kapitalismus. Dieser bildete die Triebkraft, die europäische Händler und später europäische Nationalstaaten dazu gebracht hatte, Handelsstützpunkte, Siedlungskolonien und Beherrschungskolonien zu gründen. Skepsis gegenüber dem Kapitalismus und Vorbehalte gegenüber der Politik des Westens – und zunächst auch des Ostens – bildeten ein wichtiges Moment asiatisch-afrikanischer Solidarität. Hinzu kam nach gewonnener staatlicher Unabhängigkeit auch das Interesse an Mitsprache in der internationalen Politik. Sämtliche Regierungen der dritten Welt wollten nicht länger mehr nur Objekte, sondern Subjekte in den internationalen Beziehungen sein. FOLIE: INTEGRATIONSBESTREBUNGEN: PHASEN Die Bemühungen um Solidarität innerhalb der dritten Welt und um Integration lassen sich, grob gesagt, in drei Phasen gliedern: in der ersten Phase, die bis Mitte der fünfziger Jahre andauerte, gab es zwei wesentliche Ziele: die Distanzierung vom Ost-West-Konflikt, und die Forderung nach Unabhängigkeit der afrikanischen Territorien. In der zweiten Phase, die 1961 herum ihren Höhepunkt fand, stand der Versuch einer lockeren Gemeinschaft von Staaten der Dritten Welt im Mittelpunkt, eine gemeinsame Politik der Blockfreiheit im 8 Kalten Krieg zu finden. Daneben wurden bereits Probleme der Entwicklungspolitik diskutiert. Diese Diskussion mündete dann nach 1964 in einer dritten, stark entwicklungspolitisch geprägten Phase, die mit der Gründung der United Nations Conference on Trade and Development einsetzte und in deren Rahmen die Länder der Dritten Welt nach 1967 als „Gruppe der 77“ (Konferenz von Algier) eine gemeinsame Stimme gegenüber den Interessen der entwickelten Länder zu finden suchten. FOLIE: PHASE I Noch vor der Unabhängigkeit Indiens berief der indische Premierminister Jawaharlal Nehru im März 1947 die so genannte Asian Relations Conference ein, die ein Forum zur Diskussion gemeinsamer asiatischer Anliegen bieten und ein gewisses Einigkeitsbewusstsein gegenüber dem Westen demonstrieren sollte. Heraus kam dabei aber nichts, weil die Interessen und Ziele der Teilnehmer zu disparat waren. Eine weitere Konferenz, die Nehru im Januar 1949 einberief, hatte daher moderatere Ziele: es ging um die Unterstützung der indonesischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen die Niederlande. Wirklichen Einfluss auf die Entwicklungen in Indonesien konnte diese Konferenz auch nicht nehmen, aber ihre Ziele wurden im wesentlichen von den Vereinigten Staaten vertreten, die in dieser Phase des indonesischen Befreiungskampfes mit Hilfe der Vereinten Nationen auf den raschen Rückzug der Niederlande hinarbeiteten. Eine vergleichbare Konferenz zu Indochina kam übrigens nicht zustande, weil einige asiatische Länder, beispielsweise Thailand, aber auch Indien, Sorge vor einer kommunistischen Unterwanderung ihrer Gesellschaften hatten. Hier deutete sich bereits das zentrale Problem an, an dem letztlich jede afro-asiatische Integration scheiterte: es gelang nicht, sozialistische, kapitalistische, autoritäre und demokratische Regimes auf eine gemeinsame Linie gegenüber dem OstWest-Konflikt zu verpflichten. Die vielleicht wichtigste, damals zumindest medienwirksamste Konferenz fand im April 1955 in Bandung (Indonesien) statt. Zu ihr kamen auf Einladung des indonesischen Präsidenten Sukarno Vertreter von 23 asiatischen, darunter der chinesischen Regierung, sowie 6 afrikanische Länder (vor allem Nasser aus Ägypten). Die Konferenz sandte einen Appell an die Kolonialmächte aus, ihre afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen. An der Frage der Blockfreiheit schieden sich aber die Geister. Während Indien, Indonesien und Ägypten die Supermächte auffordern wollten, das Wettrüsten zu beenden, waren Thailand, Pakistan oder auch die Philippinen – Länder, die mit den Vereinigten Staaten militärisch kooperierten – dagegen. Außerdem herrschte völlige Uneinigkeit, was die Politik gegenüber dem kommunistischen China anlangte. Die Konferenz war wichtig, weil sie erstmals die meisten asiatischen Regierungen an einem Tisch vereinte, und weil von ihr ein Signal der Solidarität 9 mit den nationalistischen Strömungen in Afrika ausging. Substantielles wurde aber nicht erreicht. FOLIE: PHASE II 1956 belasteten zwei Krisen die internationale Politik: die brutale Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn durch die rote Armee, und der letztlich gescheiterte Versuch Großbritanniens und Frankreichs, den Suezkanal zu besetzen und die souveräne ägyptische Regierung zur Rücknahme der Verstaatlichung der Betreibergesellschaft zu zwingen. Vor dem Hintergrund dieser Krisen verdichteten sich Bemühungen von Jugoslawien, Ägypten und Indien, eine Gruppierung von Staaten ins Leben zu rufen, die den Ost-WestKonflikt und jede Form von Imperialismus ablehnten. Dass nun Jugoslawien eine führende Rolle übernahm, machte deutlich, dass sich die Interessen verschoben: weg von einer afro-asiatischen Solidarität hin zu einer globalen Interessengemeinschaft, deren Hauptanliegen nun nicht mehr das Ende des Kolonialismus war. Nach langen Vorbereitungen tagte im September 1961 in Belgrad eine Konferenz, an der die meisten asiatischen Länder, die unabhängigen Staaten Afrikas und viele Vertreter nationaler Befreiungsbewegungen teilnahmen. Sämtlich lateinamerikanischen Staaten hatten aber abgesagt, weil das kommunistische Kuba an der Konferenz teilnehmen wollte. Die Konferenz symbolisierte einen Moment der Einheit und der Solidarität. Über allgemeine Floskeln zum Erhalt des Weltfriedens kam aber auch sie nicht hinaus. Zu unterschiedlich waren die Interessen zwischen den Ländern, die einem Allianzsystem angehörten (vor allem Länder, die bilateral oder im kollektiven Rahmen militärisch mit den Vereinigten Staaten kooperierten, aber auch das mit der Sowjetunion verbündete Kuba), und denen, die bündnisfrei waren (Indien, Indonesien, Ägypten, Jugoslawien). FOLIE: PHASE III Entwicklungspolitik stand seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ganz oben auf der Agenda der Kolonialmächte, der Vereinigten Staaten, der Vereinten Nationen und der neuen unabhängigen Staaten. In Expertenforen, im Rahmen regionaler Organisationen der Vereinten Nationen (Lateinamerika, Asien), auf bilateraler und auch auf multilateraler Ebene wurden Fragen von Entwicklung und Entwicklungspolitik diskutiert. Mit der Gründung der United Nations Commission on Trade and Development (UNCTAD) 1964 übernahmen nun aber die Länder der Dritten Welt die Initiative. Gemeinsam wollten sie nun wirtschaftliche Problemlösungen erarbeiten und Mittel für Entwicklungspolitik einfordern. Dafür schien ein Forum der Vereinten Nationen am besten geeignet. Um die Kooperation zu vertiefen, formierten sich 1967 auf einer Konferenz in Algier, zu der der algerische Präsident Houari Boumedienne eingeladen hatte, 77 zumeist asiatische und afrikanische Staaten zur so genannten „Gruppe der 10 77“. Sie sandte zwar in der Tradition der Blockfreien Bewegung einen Appell an die Supermächte, doch dieser war nun nicht mehr rein politisch, sondern primär entwicklungspolitisch motiviert: man kritisierte die Entwicklungspolitik des Ostblocks und die Politik der Liberalisierung des Welthandels, die die amerikanische Regierung vorantrieb. Im Rahmen des General Agreement on Tariffs und Trade (die Welthandelsorganisation WTO trat in den 90er Jahren die Nachfolge des GATT an) trat die „Gruppe der 77“ immer mal wieder gemeinsam auf, insbesondere wenn es um die Forderung nach Erhöhung von Entwicklungshilfe ging. Aber auch hier zeigte sich, wie bereits bei der politisch ausgerichteten Bewegung der Blockfreien, dass die Interessen der vielen Länder letztlich zu disparat waren, als dass sie ein wirkliches Gegengewicht zur industrialisierten Welt hätten bilden können. FOLIE: REGIONALE INTEGRATION Die Gründe für regionale Kooperation sind vielfältig, lassen sich in der Regel aber in zwei Komponenten gliedern. Wirtschaftlich: gemeinsame Interessen aufgrund komplementärer Volkswirtschaften (Austausch von Produkten oder Rohstoffen; Migrationen und Arbeitsmärkte; Kern- und Satellitenwirtschaften, etc.); Sicherheitspolitisch: Abbau von Spannungen zwischen Ländern; Zusammenschluss infolge gemeinsamer Bedrohung. Ein Beispiel einer erfolgreichen regionalen ist die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG (später EG und dann EU), wo zunächst sicherheitspolitische Erwägungen im Vordergrund standen, die durch wirtschaftliche Integration realisiert wurden. In den 1990er Jahren bildete sich aus rein wirtschaftlichen Gründen heraus die North Atlantic Free Trade Area (NAFTA) mit Mexiko, Kanada und den USA – hier handelt es sich im wesentlichen um komplementäre Volkswirtschaften. FOLIE: INTEGRATION IN AFRIKA Bemühungen um eine regionale Kooperation bzw. Integration gab es auch in Afrika. Kwame Nkrumah lud 1958 zu einer All-Africa People´s Convention nach Accra ein. Auf afrikanische Nationalisten hatte der Meinungsaustausch eine elektrisierende Wirkung; integrative Impulse gingen von ihr nur bedingt aus. Nkrumah schwebte aber nach wie vor ein einiges Afrika vor (mit ihm selbst als Führer), und Anfang der sechziger Jahre fand er dabei auch bei anderen afrikanischen Politikern Gehör. Dieser Panafrikanismus hatte politische, wirtschaftliche und kulturelle Wurzeln. Er hing zusammen mit der NégritudeBewegung afrikanischer Intellektueller (Aimée Cesaré, Léopold Senghor u.a.), die der westlichen Kulturhoheit eine afrikanische Kultur und ein afrikanisches Denken entgegensetzen wollten. Diese Bewegung hatte eine klare emanzipatorische Zielsetzung. 11 In politischer Hinsicht gab es die mit Blick auf die Balkanisierung des französischen Kolonialreiches nicht unberechtigte Sorge, die Europäer wollten möglichst kleine afrikanische Einheiten, um diese nach der Unabhängigkeit besser als informal empire steuern zu können. In wirtschaftlicher Hinsicht traten afrikanische Staaten zwar häufiger als Konkurrenten auf dem Weltmarkt auf; zudem war infolge der Kolonialherrschaft die wirtschaftliche Integration (mit Ausnahme des südlichen Afrika) nicht weit fortgeschritten. Aber es gab gemeinsame Interessen: Entwicklung, bessere Bedingungen für afrikanische Produkte auf dem Weltmarkt, eine gerechtere weltwirtschaftliche Finanzarchitektur. Vor diesem Hintergrund gründete sich im Mai 1963 die Organisation of African Unity (OAU, heute: African Union). Sitz der OAU wurde die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba (Äthiopien war als einziges afrikanisches Reich vom Kolonialismus verschont geblieben, sieht man mal von der Besetzung durch das Italien Mussolinis ab 1935 ab). Im Mittelpunkt der Beratungen in der Gründungsphase stand die Unverletzlichkeit der Grenzen. Afrikanische Staatschefs erkannten damit die von den Kolonialisten gezogenen Grenzen an, um zwischenstaatliche Konflikte zu vermeiden. Dies war angesichts der Heterogenität der Kulturen und Ethnien eine große Leistung. Zu mehr war die OAU dann aber auch kaum in der Lage. Insbesondere in entwicklungspolitischer Hinsicht glaubten die Mitgliedstaaten, über Abkommen der Einzelstaaten mit Geberländern und Geberinstitutionen mehr für ihre Länder erreichen zu können als im Verbund. FOLIE: INTEGRATION IN SÜDOSTASIEN Eine zweite regionale Organisation gehört eigentlich kaum noch in den Zeitraum, den wir besprechen: die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), die sich 1967 in Bangkok gründete und an der sich zunächst Indonesien, die Philippinen, Thailand, Malaysia und Singapur beteiligten (heute sind alle zehn Staaten Südostasiens Mitglied der Organisation). Ihr Zweck bestand zunächst aus zwei miteinander verknüpften Zielen: die Festschreibung der Unverletzlichkeit der Grenzen (die ebenfalls weitgehend von Kolonialregimes gezogen worden waren) und das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten. Das war nach den Spannungen zwischen Malaysia und Indonesien während der so genannten Periode der Konfrontasi wichtig. Seit den neunziger Jahren standen dann auch Fragen der wirtschaftlichen Integration auf der Agenda der ASEAN. FOLIE: ZUSAMMENFASSUNG Verschränkung von Ost-West-Konflikt und Dekolonisierung Kalter Krieg in Europa – heiße Kriege in der Dritten Welt Polyzentrisches Weltsystem Beschleunigende und verlangsamende Faktoren 12 FOLIE: VON DER WELTPOLITIK…. Wir haben bisher den Zusammenhang von Ost-West-Konflikt und Dekolonisierung untersucht und dabei die Positionen der verschiedenen Akteure im Hinblick auf Kolonialismus, Dekolonisierung und Systemkonkurrenz Revue passieren lassen. Wir haben darüber hinaus Kooperations- und Integrationsformen innerhalb der dritten Welt diskutiert. Werfen wir zum Schluss dieser thematischen Einheit einen Blick auf den Kongo. Denn hier trafen Dekolonisierung und Kalter Krieg wie in keinem Land Afrikas unmittelbar aufeinander. FOLIE: KONKO: ECKDATEN Das Ende der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo Francis Ford Coppola benutzte für seinen 1979 erstmals in den Kinos gezeigten Film „Apocalypse Now“ – meiner Meinung nach der eindrucksvollste Spielfilm über den Vietnamkrieg und vielleicht einer der besten Kriegs- und Antikriegsfilme überhaupt – eine literarische Vorlage von Joseph Conrad, die dieser 1902 unter dem Titel „The Heart of Darkness“ veröffentlichte. Die Novelle handelt von der Reise in das Herz der Finsternis – die Finsternis der Urwaldlandschaft am Kongo, und die persönlichen Abgründe des Protagonisten Kurtz. Es ist eine Geschichte über Gewalt, Brutalität und menschliches Versagen – sie spiegelt die Lage im Kongo der Jahrhundertwende wieder. Belgisch-Kongo war seit der Berliner Konferenz von 1884 (Sie erinnern sich) der Privatbesitz des belgischen Königs Leopold III. Dieser errichtete ein für die Kolonialherrschaft beispielloses Regime von Zwangsarbeit, moderner Sklaverei und rücksichtsloser Ausbeutung. Doch auch nachdem Leopold 1908 aufgrund internationaler Proteste das riesige Gebiet an den belgischen Staat abgetreten hatte, änderte sich wenig. Die Kolonie wurde im Grunde bis weit nach dem zweiten Weltkrieg wie eine einzige riesige Plantage betrieben. Erste Kommunalwahlen wurden 1957 abgehalten, nachdem auch den Politikern in Brüssel klar geworden war, dass es so nicht weitergehen konnte. FOLIE: UNABHÄNGIGKEIT Wir können die Entwicklungen im Einzelnen hier nicht behandeln. Hier nur die wesentlichen Aspekte: Belgien entschloss sich 1959 völlig überraschend und überstürzt, angesichts der Entwicklungen in Afrika nun auch den Kongo in die Unabhängigkeit zu entlassen. Allerdings hatte die Kolonialmacht politische Beteiligung vorher massiv unterdrückt, es gab praktisch keine ausgebildeten Fachkräfte, keine Politiker, keine Bildungselite, keine einheimischen Händler. Und um was für eine Art Unabhängigkeit es sich handeln sollte, machte der Befehlshaber der Armee, der belgische General Jansen deutlich. Er gab an seine kongolesischen 13 Soldaten die Weisung aus: „Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit“. Das hörten die Soldaten gar nicht gerne und meuterten. An die Spitze der Armee wurde ein junger Oberst namens Joseph Mobutu berufen. Und zwar von einer tief zerstrittenen kongolesischen Regierung, die im Frühjahr 1960 von den Belgiern berufen worden war und die am 30. Juni 1960 die Unabhängigkeit vollzog. Zu diesen Zeitpunkt gab es im Kongo Dutzende von Parteien, die sich vorwiegend ethnisch organisierten und die nach 1957 in aller Eile gegründet worden waren. Und es gab drei führende Politiker: Joseph Kasavubu vom Volk der Bakongo (östlicher Kongo), seit kurzem Präsident des Kongo und pro-westlich eingestellt; Patrice Lumumba, seit kurzem Premierminister und Nationalist, der von einem kongolesischen Zentralstaat träumte; und Moishe Tschombe, der mit dem Datum der Unabhängigkeit die Unabhängigkeit ‚seiner’ Provinz Katanga vom Kongo proklamierte. Katanga war nicht irgendeine Provinz des Kongo. Sie war das wirtschaftliche Rückgrat des Kongo, und sie verfügte über die größten Uranvorkommen der Welt. Und dafür gab es seit dem zweiten Weltkrieg genau einen Kunden: das Pentagon in Washington. FOLIE: WIRREN: DIMENSIONEN Kehren wir zur Meuterei der Truppe zurück. Sie löste eine Massenpanik unter den noch verbliebenen Belgiern aus, die zu Tausenden nach Rhodesien flüchteten. Belgien schickte nun Fallschirmjäger in den Kongo, die die Landsleute schützen sollten. Daraufhin erklärte der Kongo Belgien den Krieg und rief den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, weil seine Truppen sich nicht in der Lage sahen, die Belgier zu vertreiben. Dieser sah sich nun zum ersten Mal in seiner Geschichte mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzumischen. Zunächst schickte der Sicherheitsrat Truppen aus Tunesien und Ghana, um die Kontrahenten zu trennen, später übernahmen Inder die Führung. Im Hintergrund jedoch agierten nun die Vereinigten Staaten. Sie waren alarmiert darüber, dass Lumumba, um die Belgier des Landes verweisen zu können, in Moskau um Militärhilfe gebeten hatte. (Das gleiche hatte er vorher in Washington versucht, wo man ihm mit Rücksicht auf den belgischen NATO-Partner die kalte Schulter gezeigt hatte. Angeblich hinterließ Lumumba bei Präsident Eisenhower einen sehr ungünstigen Eindruck, als er im Weißen Haus um blonde Hostessen ersuchte.) Von diesem Zeitpunkt geriet Lumumba ins Fadenkreuz der CIA. Diese schmierte Mobutu, der Lumumba gefangen nehmen und ermorden ließ. Kasavubu blieb zunächst Präsident, der starke Mann im Kongo war von nun aber Mobutu. Nachdem nun eine mögliche kommunistische Unterwanderung verhindert worden war, gingen die USA, die UN und die kongolesische Zentralregierung in Kinshasa daran, die abtrünnige Provinz Katanga wieder unter Kontrolle zu bringen. Dort traf diese Koalition auf erbitterten Widerstand Tschombes, der mit Hilfe einer Söldnertruppe weißer Südafrikaner Katanga 14 kontrollierte. Zu allem Übel stürzte dann auch der UN-Generalsekretär Dag Hammerskjöld mit seinem Flugzeug über dem Kongo ab. 1962 eroberten dann aber doch die indischen UN-Truppen die Provinz. Allerdings kam es nach deren Abzug sofort zu einem blutigen Bürgerkrieg, der Kongo zerfiel, die Zentralregierung kontrollierte nur noch ein Drittel des Territoriums. Mit Hilfe belgischer Fallschirmjäger, die von den Amerikanern eingeflogen wurden, konnten Mobutus Truppen 1965 die Lage einigermaßen stabilisieren. Im Jahr darauf putschte er sich dann an die Macht. Mit eiserner Faust, mit einem auch für afrikanische Verhältnisse beispiellosen System von Günstlingswirtschaft und Korruption und mit einigem taktischen Geschick hielt Mobutu dann den Kongo – von ihm in Zaire umgetauft – bis Mitte der neunziger Jahre einigermaßen zusammen. In den 1980er Jahren erfolgte der wirtschaftliche Kollaps, der auf wundersame Weise an dem mittlerweile zum Milliardär mutierten Mobutu spurlos vorbeiging, 1991-1993 zerstörten landesweite Plünderungswellen die Reste der Wirtschaft und der Infrastruktur, und 1997 eroberte ein neuer „big men“ aus dem Osten die leidgeprüfte Hauptstadt: Laurent Kabila. Mobutu ging ins Exil nach Marokko und verstarb dort nach wenigen Monaten an Krebs. Danach hob ein weiterer Akt der nicht enden wollenden Tragödie an: mehrere ethnisch motivierte parallel verlaufende Bürgerkriege im Riesenstaat, Interventionen von Ruanda, Angola, Uganda, Simbabwe, Dauerkämpfe, Chaos, Anarchie. Die Situation im Kongo Ende der neunziger Jahre hat die belgische Reisebuchautorin Lieve Joris eindrucksvoll beschrieben. (Der Tanz des Leoparden. Mein afrikanisches Tagebuch, München 2003). Im Kongo überlappten sich auf unglückliche Weise Dekolonisierung und Kalter Krieg, trafen ein verantwortungsloses Kolonialregime, zentrifugale Kräfte, ethnische Spannungen und Eigeninteressen einiger „big men“ aufeinander. Eine Lösung des Problems ist bis heute nicht in Sicht. 15