Joachim Rumpf Ein Buch für Eltern und für alle, die sich mit Erziehung und Bildung befassen (Rumpfs-paed.de) Vorwort 4 1. Teil Über die Grundbedürfnisse von Kindern Einführung Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen Eltern sorgen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen Grundbedürfnisse und Erziehung Zur Auswahl der Grundbedürfnisse Die Grundbedürfnisse im Einzelnen Physische Grundbedürfnisse Das Bedürfnis nach Sicherheit Das Bedürfnis nach Liebe Das Bedürfnis nach Anerkennung Das Bedürfnis nach Vertrauen Das Bedürfnis nach Führung Das Bedürfnis nach Förderung Das Bedürfnis nach Freude Das Bedürfnis nach Verständnis Das Bedürfnis nach Frieden Das Bedürfnis nach Sinn Zum Schluss 6 7 8 9 9 12 12 15 19 21 24 27 30 33 35 37 40 44 2. Teil Was Eltern und Berufspädagogen bewegt 1. Übereinstimmungen in der Erziehung Einführung Die Familie als interaktives Geflecht In der Erziehung an einem Strang ziehen Eltern erziehen nicht allein 47 48 51 53 2. Drohen, strafen, Grenzen setzen Einführung Was sind Strafen? Straffolgen Brauchen Kinder Strafe? Kinder lernen aus Folgen Kinder ermutigen 56 57 58 60 62 64 1 3. Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen Einführung Die menschlichen Aggressionen Einige Ursachen aggressiven Verhaltens Aggressivität in unserem Alltag Aggression und Gewalt als pädagogische Herausforderungen Zank und Streit unter Kindern Geschwister streiten gern miteinander Im Vorschulalter macht uns der kindliche Trotz zu schaffen 65 66 69 73 74 79 81 84 4. Über die Ängste von Kindern Einführung Die Verlassenheitsangst Von der Angst, nicht beachtet zu werden Die Versagens- oder Leistungsangst Vom Umgang mit Ängsten Einige Hinweise zum Schluss 92 92 94 94 97 98 5. Sexualität und Erziehung Einführung Sexualität ist natürlich Sexualität als soziales Verhalten Sexualität und Entwicklung Sexualität und Erziehung 100 101 101 102 107 6. Kinder werden selbständig Einführung Die Verselbständigungsphase „Pubertät“ Selbständigkeit als Erziehungsaufgabe Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung Günstige Bedingungen auf dem Weg zur Selbständigkeit Wer sich lösen können soll, muss sich gebunden haben Erfahrungen von Eltern 106 107 110 113 115 118 119 7. Der Umgang mit Geld Einführung In den Familien ist Geld immer ein Thema Einige Rahmenbedingungen und Erfahrungen 121 122 125 8. Kinder spielen und lernen Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischem Lernen Einführung Die kindliche Neugier Kinder brauchen andere Kinder Einige Informationen über das Lernen Was das Lernen fördert oder behindert Über das Spiel und seine Bedeutung 131 132 134 135 136 142 2 Spielen muss möglich sein Spielen wir gern mit unseren Kindern? Formen des Spiels Spielleidenschaft 144 146 148 149 9. Lernen und Schule Einführung Die Schule als Herausforderung Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken Eltern und Kinder berichten Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens Lernmotivation und Schule Eine gute Schule? Bewährte Haltungen und Strategien 152 153 156 158 163 166 168 171 10. Unsere Kinder und die Bildschirmmedien Einführung Elektronische Medien und Erziehung Vor dem Bildschirm Der Computer als Freund und Helfer? Mit den Fingern auf dem Smartphone Anmerkungen zum Internet Zusammenfassung 177 178 182 187 193 195 199 11 Schlussbemerkungen 200 Anmerkungen 201 Literaturverzeichnis 205 3 „Sei still!“ Erziehung und Bildung in der Familie Ein Buch für Eltern und für alle, die sich mit Erziehung und Bildung befassen Vorwort Liebe Miteltern und –großeltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ mit diesen Worten überreichten meine Großeltern meinen Eltern für ihre beiden Kinder einen Rohrstock, als sie uns Ende der dreißiger Jahre im vergangenen Jahrhundert besuchten. Meine Schwester und ich waren empört. Und als Oma und Opa wieder abgereist waren, zerbrachen wir den Stock. Mich ließ dieses Erlebnis nicht los. Ich muss noch heute immer wieder daran denken. Und dass ich später Pädagoge von Beruf wurde, ist auch dieser Erinnerung geschuldet. Brauchen Kinder „Züchtigungen“? Müssen wir Eltern und Berufspädagogen sie aus welchem Anlass ständig ermahnen: „sei still!“ oder sonst wie „zur Ordnung rufen“ und auch noch bestrafen? So, wie das in einigen Kulturen und Religionsgemeinschaften noch heute üblich ist. Seither suchte und fand ich Antworten auf diese und viele andere Fragen. Gern berichte ich Ihnen darum auf den folgenden Seiten über meine Erfahrungen als Erzieher vieler Kinder, eigenen und fremden. Und ich trage zusammen, was ich mit anderen Eltern in vielen Elternabenden und Familienwochenenden über Erziehungsfragen austauschte. Aus alledem ergaben sich eine ganze Reihe von Empfehlungen ganz allgemein zum Leben mit Kindern und im Besonderen zu bestimmten Einzelthemen. Ich hatte bereits vor zehn Jahren begonnen, alles dies auf meine Homepage www.rumpfs-paed.de einzustellen. Sehr häufig wird sie inzwischen aufgesucht. Ich habe einen großen Teil dieser Texte überarbeitet und in diesem Buch für Sie zusammengestellt. Es ist kein einfaches Unterfangen, dieses Buch zu lesen. Ich habe nicht nur rund sechzig Jahre in pädagogischen Berufen gearbeitet, sondern mich auch theoretisch mit Themen aus Erziehung und Bildung befasst. Aus beidem erwuchsen die Ansprüche an Inhalt und Form alles dessen, was hier zusammengestellt ist. Sollten Sie Fragen haben oder etwas ergänzen wollen, dann teilen Sie mir das bitte mit! Und wenn Sie es wünschen, dann füge ich gern Ihre Erfahrungen auf die 4 thematisch dazu passenden Seiten auf meine Homepage mit ein. Vielleicht gelingt es dann mit der Zeit, beide mit Gewinn zu verbinden: einen Buchtext, der ja nicht einfach verändert werden kann, mit dem dazu passenden Aufsatz im Internet, der jederzeit modifiziert und gleichsam auf den neuesten Wissensstand gebracht werden kann. Die von mir verfassten Texte ersetzen weder die Fachliteratur über die jeweiligen Gegenstände noch können und wollen sie mit Elternratgebern über Fragen der Erziehung und Entwicklung konkurrieren. Ich denke da unter anderem an Veröffentlichungen wie die im Internet „Elternwissen kompakt“ oder die Schriftenreihe „Klett Extra für Eltern“ aus den siebziger Jahren, an die Taschenbücher aus dem Rowohlt Verlag „Das Elternbuch“ oder an die ElternRatgeber-Reihe aus dem Südwest-Verlag, die ganz neu in den Buchhandel kamen. Aber auch die populärwissenschaftlichen Bücher von dem Adler-Schüler Rudolf Dreikurs u.a. (z.B. „Kinder fordern uns heraus“) oder von der Ärztin und Waldorfpädagogin Michaela Glöckler (z.B. „Elternfragen heute“), möchte ich interessierten Eltern als Literatur empfehlen. Im Unterschied zu diesen Schriften sind meine Texte auf wenige Erziehungsprobleme beschränkt und konzentrieren sich auf Fragestellungen, die Eltern im Alltag bewegen. Ihre Auswahl wurde von der Häufigkeit bestimmt, mit der die jeweiligen Kapitel in meiner Homepage aufgerufen wurden. Meine eigenen fachlichen Überzeugungen werden von drei humanwissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet: 1. Die ethischen Fundamente einer humanistischen Psychologie und die von ihr ableitbaren Normen und Wertvorstellungen sind Ausgang und Ziel von Erziehung und Bildung. 2. Was Kinder zu ihrem Gedeihen brauchen beziehungsweise was ihrer Entwicklung schadet, ist hinreichend erforscht. Diese Grundbedürfnisse gelten unabhängig von Zeit und Kultur. 3. Im Zusammenhang mit Erziehungs- und Bildungsprozessen haben die Erkenntnisse über den pädagogischen Bezug nach dem die Basis aller erzieherischen Bemühungen das „leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen (ist), und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Hermann Nohl, 1970, S. 134). Darüber hinaus können die hier vorliegenden Texte Moderatorinnen und Moderatoren von Gesprächskreisen mit Eltern die inhaltlichen Vorbereitungen erleichtern, sowie, ganz oder in Ausschnitten, den Eltern als Begleitmaterial dienen. 5 1. Teil Über die Grundbedürfnisse von Kindern Einführung Einmal im Monat kommen Elsbeth und ihre Tochter uns besuchen. Die kleine Anita ist inzwischen anderthalb Jahre. Stolz über ihre Leistung schaut sie meine Frau und mich an, nachdem sie die zwei Etagen ganz allein und Stufe für Stufe emporgestiegen ist. „Was sagt ihr nun? Bin ich nicht schon groß?“ Natürlich bewundern die Mama und wir ihren Erfolg und lächeln sie an und freuen uns darüber. Anschließend geht sie voran in den Raum mit den vielen Büchern. Zielsicher strebt sie dem kleinen Tisch zu, auf dem, wie sie von den vorangegangenen Besuchen her weiß, etwas zum Spielen für sie bereitliegt. Diesmal ist ein kleines Büchlein dabei: Die Biene Maja ist auf dem Einband zu sehen. Sie nimmt das Buch, zeigt es strahlend ihrer Mama, schaut sich um und geht durch den Raum hinüber zur Couch auf die sie hinaufklettert. Sie wendet sich zum Tisch, legt das Büchlein darauf und beginnt zu blättern. Ihr Tun begleitet sie mit Ein- und Zweiwortsätzen, auf die wir Erwachsenen jeweils bestätigend reagieren. Einer von uns setzt sich zu ihr und schaut mit ihr gemeinsam die Bilder an und spricht mit ihr darüber… Nichts Besonderes möchte man sagen. So begegnen wir unseren Kindern doch jeden Tag. Das ist doch für uns kein Thema! Was hat dieses alltägliche Geschehen mit den Bedürfnissen der Anita zu tun? In unserem Alltagshandeln im Umgang mit unseren kleinen und großen Kindern gehen wir auf sie ein, befriedigen so deren Bedürfnisse, sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen. Michele erfuhr in dieser kaum halbstündigen Episode eine vielseitige Förderung: Die Herausforderung des Treppensteigens, den Stolz auf die erbrachte Leistung, die Anerkennung von Seiten der für sie wichtigen Bezugspersonen, die Freude über ein neues Spielzeug und dessen Aufforderungscharakter, die verbale Kommunikation vor dem Hintergrund liebevoller, akzeptierender Zuwendung… Und über jede Stunde im Leben dieses Kindes in Gemeinschaft mit seinen Eltern und anderen Erwachsenen und Kindern ließe sich viel erzählen. Auch darüber, dass Anita fordernd und quengelig sein kann, wenn sie mit den Eltern über den Markt geht, oder dass sie sich beim Spiel mit Gleichaltrigen heftig streitet mit älteren Kindern aber gut zu Recht kommt. Und stets sind Mutter und Vater gefordert so zu reagieren, dass sie den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht werden, sie angemessen „beantworten“ und auf diese Weise dessen Wohl fördern. Und dieses „Wohl“, um das es im Zusammenleben mit unseren Kindern unaufhörlich geht, soll nun etwas ausführlicher betrachtet werden. 6 Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen. Die Bedürfnisse von Kindern waren und sind zu allen Zeiten und in allen Kulturen oder in jeder Bevölkerungsgruppe die Gleichen. Bei näherem Hinschauen ist erkennbar, dass die hier vorgetragenen "Grundbedürfnisse" konkreter Ausdruck der in der deutschen Rechtsprechung zentralen Formel vom "Wohl des Kindes" sind. Weder Veränderungen in politischen und ökonomischen Systemen noch in den Bereichen der Kultur, wie zum Beispiel unterschiedlicher Akzentuierungen von Wertvorstellungen, haben etwas an diesen Grundbedürfnissen geändert. In einem Interview in der Zeitschrift Diskurs (2/1992) sprach Urie Bronfenbrenner in diesem Zusammenhang von den in der Erziehung gültigen "Universalien". Diese "Universalien in der Kindererziehung" sind genau die, die sich in den Forschungsergebnissen der verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen widerspiegeln. Die US-amerikanischen Professoren Thomas Berry Brazelton und Stanley Greenspan (2002, S. 9) ziehen nach ausführlichen Recherchen eine niederschmetternde Bilanz: "Die elementaren Bedürfnisse der Kinder werden weder bei uns noch in anderen Ländern wirklich befriedigt". Beide Mediziner haben folgende Grundbedürfnisse" ("irreducible needs", d. i.: nicht ableitbare, unabdingbare Bedürfnisse) herausgearbeitet: beständige liebevolle Beziehungen, körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation, Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind, entwicklungsgerechte Erfahrungen, Grenzen und Strukturen, stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität, globales Verantwortungsbewusstsein, das auch die Kinder in armen Ländern einbezieht. Diese, von den Amerikanern so bezeichneten Grundbedürfnisse sind zwar sehr abstrakt formuliert, sie enthalten aber durchaus Elemente, die sich in den auf diesen Seiten veröffentlichten Bedürfnissen wiederfinden. Hier jedoch in konkreterer Gestalt und aus dem Erfahrungshorizont betroffener Eltern sowie Pädagogen und Psychologen aus theoretischen und praktischen Arbeitsfeldern. Dass auch in Deutschland Mediziner nach optimalen Bedingungen für die kindliche Entwicklung fragen, das zeigen uns die Vertreter der Gehirnforschung. Deren Forschungsergebnisse bestätigen in sehr eindrucksvoller Weise den Erfahrungsschatz und die Handlungsempfehlungen maßgeblicher Pädagogen seit Johann Amos Comenius im 17. Jahrhundert bis heute. Es handelt sich dabei weniger um bestimmte pädagogische Strategien, als vielmehr um allgemeine Verhaltensweisen und menschliche Haltungen, wie sie Begriffe wie 7 "Achtung" vor jedem Kind, "Verantwortung für ein Kind und seine Entwicklung" oder sehr wohl beschreibbare "Familienatmosphären" andeuten. Armin Krenz hat nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus, unsere Begegnungen mit dem Kind als eine, an Werten orientierte „Umgangskultur“ beschrieben (1999, S. 69 ff). Welches Einzelthema wir auch betrachten: unsere pädagogische Wirksamkeit in Erziehung und Bildung in den Familien und in pädagogischen Einrichtungen ist von vielen dieser allgemeinen Bedingungen beeinflusst. Und wenn hier die Formulierung gewählt ist: „Jedes Kind hat das Bedürfnis nach…“ dann sollte das nicht missverstanden werden. Es ließe sich dafür auch setzen: „Jedes Kind hat Anspruch auf…“ oder „Jedes Kind hat ein Recht auf…“. Dies zu vermitteln, ist ein ganz zentrales Anliegen dieses ersten Teils. Eltern sorgen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen Kinder sind nicht - zumindest nicht in erster Linie - für ihre Eltern da. Wohl aber Eltern für ihre Kinder! Die Entscheidung für ein Kind ist stets zugleich die Entscheidung für eine ganz besondere Form der Verantwortung! Ein Kind ist kein Besitz wie ein Fahrrad oder ein Möbelstück. Es gehört also nicht uns, auch wenn wir als Mutter oder Vater von "meinem" Kind sprechen. Doch das ist so selbstverständlich und banal, dass es eigentlich keiner gesonderten Erwähnung bedürfte, wenn - ja wenn! - es nicht doch Eltern gäbe, die meinten, das ist mein Kind und ich allein habe zu bestimmen, ich allein weiß, was ihm gut tut, ich ..., ich..., ich...". Jedes Kind aber ist und hat eine eigenständige Persönlichkeit von Anfang an, die sich entwickelt und ausformt im Dialog mit uns. Und Dialog heißt unter anderem auch, den eigenen Willen und das eigene Streben unseres Kindes mit unseren Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnissen in einer für unser Kind fördernden Weise in Beziehung zu bringen. Was Eltern in Bezug auf ihr Kind wirklich und zunächst unteilbar "besitzen", das ist die Verantwortung für ihr Kind. Die Eltern tragen diese Verantwortung zunächst ungeteilt und sorgen dafür, dass die Grundbedürfnisse ihres Kindes befriedigt werden. Im Grunde lassen sich Eltern wie überhaupt die Erwachsenen im Umfeld eines Kindes selbst zu den „Grundbedürfnissen“ zählen1. Bei dieser Fürsorge für ihre Kinder bedürfen Eltern in allen Kulturen selbstverständlich der wohlwollenden Förderung durch ihr Umfeld. Das ist einmal die eigene Familie, in der Regel also die Großeltern, die Geschwister und die anderen in enger Verbindung mit ihm lebenden Verwandten. Das sind aber auch die ideellen und materiellen Rahmenbedingungen, die das Familienleben in vielfältiger Weise fördern, wie unsere Familiengesetzgebung, die Länder, Landkreise, Städte und Gemeinden oder die Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in unserem Staat. Von dort her sind familienunterstützende Einrichtungen am Werk und müssen ständig ausgebaut werden. Während Kinderkrippe und Kindergarten – gleichsam im Auftrage der Eltern – an der Betreuung, Erziehung und Bildung mitwirken, tritt später die Schule im Auftrag des Staates hinzu und teilt sich von nun an mit dem 8 Schwerpunkt auf die „Bildung“, die Verantwortung für die Entwicklung eines Kindes. Auf den folgenden Seiten wird diese Verantwortung in Bezug auf die Beachtung der Grundbedürfnisse von Kindern beschrieben. Grundbedürfnisse und Erziehung Die Entwicklung eines Kindes lässt sich auch als ein von der Natur her angelegtes ständiges Streben nach Kompetenz und Autonomie, nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit betrachten. Diese Bestrebungen begleiten und unterstützen Eltern und Berufserzieher nach besten Kräften. In unseren Zielvorstellungen, wenn wir Antwort auf die Frage geben, wohin wir das Kind führen wollen, bringen wir das gern zum Ausdruck. Die Prozesse unserer Begleitung, Unterstützung oder Führung bezeichnen wir - etwas verkürzt - als "Erziehung". Erziehung wird in dem Ausmaß erleichtert, in dem wir Erwachsenen bereit und in der Lage sind, auf die Grundbedürfnisse eines Kindes zu achten und sie zu befriedigen. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören neben den physischen die nach Liebe, Sicherheit, Anerkennung, Vertrauen, Verständnis, Orientierung bzw. Führung, Förderung, Freude, Frieden oder Sinn. Wenn wir uns deutlich machen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt, wie sie im Alltag unseres Familienlebens umgesetzt werden, dann wird uns bald klar, dass diese Grundbedürfnisse universell sind für das Wohlbefinden eines Menschen. Haben wir Erwachsenen das erkannt, dann ist der Schritt nicht mehr weit zu der Erkenntnis, dass wir dann von günstigen Entwicklungsbedingungen für unser Kind sprechen können, wenn in unserer Familie eine ausgewogene Balance zwischen der Befriedigung der Grundbedürfnisse unseres Kindes und unserer eigenen besteht. Diese Balance ist bei allen folgenden Erörterungen mitzudenken. Für diese Ausgewogenheit freilich kann nicht unser Kind sorgen. Ein Beispiel: Wenn Kinder zu ihrem Gedeihen "Frieden" brauchen, die ihnen wichtigen Erwachsenen aber im Unfrieden miteinander leben, dann sind alle Betroffenen sehr unglücklich darüber. Und es ist die Aufgabe der Erwachsenen, dafür zu sorgen, dass sich dieser Zustand ändert. Zur Auswahl der Grundbedürfnisse. "Liebe allein genügt nicht". Mit diesem Satz überschrieb der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim eines seiner Bücher. Ist denn elterliche Liebe nicht die Hauptsache oder die Grundvoraussetzung für das Gedeihen eines Kindes? Ohne Zweifel ist das so. Es ist aber bei diesem Gedanken an einen anderen Buchtitel zu erinnern und sich vor Augen zu halten, dass Liebe nicht nur "ein Wort" bleiben darf, sondern sich im Familienalltag zeigen muss. 9 Kinder und ihre Eltern brauchen außer Liebe noch vieles andere mehr, wenn sie gedeihen wollen. Woher kennen wir Erwachsenen diese Bedürfnisse, die selbstverständlich auch in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wirksam sind? Vor allem sind es die Kinder selbst, die ihre Bedürfnisse aus gegebenem Anlass ausdrücken können und, je älter umso klarer, sagen, was sie wollen und was nicht. Darum ist anzumerken, dass mein "Katalog" keineswegs vollständig ist und, je nach eigener Erfahrung erweitert werden kann. Es haben sich aber auch Psychologie, Pädagogik, Anthropologie oder Neurobiologie mit diesen Fragen beschäftigt. Viele ihrer Vertreter kommen hier zu Worte. Eltern und Erzieher werden immer wieder feststellen, dass sich alle Bedingungen, die wir für eine positive Entwicklung unserer Kinder brauchen, überschneiden. Eine säuberliche Trennung ist nicht immer möglich. Es ist zugleich mit zu bedenken, dass die hier als Grundbedürfnisse einer gedeihlichen körperlichen und seelischen Entwicklung von Kindern vorzustellenden Lebensbedingungen auch für Erwachsene Geltung besitzen. Ich denke da besonders an unser Bedürfnis, von anderen Menschen freundlich und höflich (vgl. dazu auch unten S. 22) angesprochen zu werden. Unsere Kinder wünschen sich das von uns auch. Daraus folgt, dass wir unsere Kinder nicht anders behandeln, wie wir von anderen Menschen behandelt werden möchten. Diese Grundbedingung eines friedfertigen zwischenmenschlichen Umgangs kommt nicht aus der Pädagogik oder der Psychologie, sondern ist wenigstens so alt, wie das Christentum. Sowohl im neuen wie im Alten Testament finden wir dieses Gebot (vgl.: Evangelium des Matthäus, Kap. 7.12). Dass diese „Goldene Regel“ so schwer zu verwirklichen ist und wir deren Verletzung noch heute und an jedem Tag erleben, zeigt uns, dass es nicht leicht ist, ein als wertvoll anerkanntes Verhalten in die Tat umzusetzen. Insofern auch wollen wir uns bescheiden: Alle von pädagogischen Fachkräften als sinnvoll und richtig erkannten Verhaltensweisen von Eltern ihren Kindern gegenüber stehen unter dem Vorbehalt unserer eigenen Unzulänglichkeit. Wir wollen zwar immer das Beste aber wir "sind halt auch nur Menschen". Diese Selbsterkenntnis soll uns jedoch nicht daran hindern, darüber nachzudenken, darüber zu sprechen und uns zu vergewissern, was denn - von unserer Lebenserfahrung und von den Wissenschaften her bestätigt - für unsere Kinder gut und schlecht ist. Am Anfang der Entwicklung eines Menschen stehen die Kindheitsphasen in Elternhaus, Tagesstätten und Schulen. Diese Lebensbereiche sind es, die für eine entwicklungsfördernde Befriedigung der Grundbedürfnisse jede Unterstützung verdienen. Sowohl die politischen Gremien, die staatliche Verwaltung wie auch jeder Einzelne in seiner Eigenschaft als Staatsbürger tragen die Verantwortung dafür, dass alle Mittel bereit gestellt und alle Möglichkeiten genutzt werden, um die Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Grundbedürfnisse unserer Kinder sichern. 10 Mit der Bedürfnisauswahl werden Akzente gesetzt ohne damit andere Lebensbedingungen, die dem Kindeswohl dienen, ausschließen zu wollen. Für die Entwicklung von Kindern sind zum Beispiel Bewegung, Musik, Räume, Begegnungen mit anderen Kindern und der Natur ebenfalls von großer Bedeutung. Gläubige Menschen in den verschiedenen Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaften werden ihre Glaubensinhalte als Bedürfnisse betrachten. Bruno Bettelheim schrieb ein Buch mit dem Titel "Kinder brauchen Märchen", (München 12/1988) eine Einsicht, die auch die Waldorfpädagogik teilt, wie es Arnica Esterl (2011) darstellt und Hildegard Bockhorst überschreibt ihr Buch: „Kinder brauchen Spiel und Kunst“ (2/2006). Andere Autoren widmen noch anderen Bedürfnissen ihre Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel Wayne Dosick: „Kinder brauchen Werte“ (München 1995) oder ganz allgemein: Armin Krenz: "Was Kinder brauchen. Entwicklungsbegleitung im Kindergarten" (Freiburg 1995). Einige, der in meinem Aufsatz erwähnten Bedürfnisse überschneiden sich auch oder widersprechen sogar den Auffassungen anderer Pädagogen. So grenzt zum Beispiel Armin Krenz "Erziehung" ab von "Entwicklungsbegleitung". Wir finden ähnliche Unterscheidungen im Konzept der "Antipädagogik", wie es Ekkehard von Braunmühl (Weinheim 1983) oder etwas modifiziert Hubertus von Schoenebeck (München 1982) vertreten. Dagegen wurde von einigen Autoren, von Eltern und Berufspädagogen mehr "Mut zur Erziehung" gefordert und der Erziehungsprozess gleichgesetzt mit Befehl und Gehorsam (vgl. z. B.: Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. München 2006). Derartig unterschiedliche Vorstellungen trugen und tragen nicht zuletzt zu den bereits erwähnten Unsicherheiten bei, von denen vor allem die in Ausbildung befindlichen Berufspädagogen betroffen waren. Ob ein Kind Erziehung, verstanden als bewusste direkte und indirekte Formen der Beeinflussung von Haltungen und Verhaltensweisen durch Erwachsene überhaupt braucht, wird von einigen Autoren in Frage gestellt. Über diese Fragen nachzudenken ist legitim. Wer aber Eltern und Berufspädagogen keine andere Orientierung, die sich in der Lebenswirklichkeit bewährte, anzubieten hat, handelt leichtfertig. Jeder von uns Eltern und Berufserziehern hat erlebt, dass unsere erzieherischen Bemühungen in jeder Entwicklungsphase an Grenzen stießen. Grenzerfahrungen aber sollten zum Nachdenken über uns selbst, über unser Verhalten dem Kind gegenüber und nicht in die Resignation führen oder uns zu einer Haltung veranlassen, das Kind sich gleichsam selbst zu überlassen. Wer nach vergeblichen Anläufen der Einflussnahme auf ein Kind das Handtuch wirft und sagt "mach doch was du willst", öffnet dem Kind, das Orientierung wünscht und Grenzen fordert, die Tür hin zu anderen, durch uns nicht beeinflussbaren Ansichten und Verhaltensweisen. Wenn Eltern sich sagen (lassen) müssen, dass Fehlentwicklungen ihrer Kinder in Umständen ihre Wurzeln haben, die in den Familie beziehungsweise im familiären Umfeld gesucht werden müssen, oder wenn Fehlentwicklungen in der Schule ausgelöst werden, weil dort die 11 Grundbedürfnisse nicht beachtet wurden, dann steht nun eine Plattform zur Verfügung von der aus die Situation eines Kindes geprüft und diskutiert werden kann mit dem Ziel, eine optimale Entwicklung dieses Kindes zu ermöglichen. Nach wie vor aber gilt, dass unseren Kinder selbst jene Bedürfnisse, die sie wünschen und brauchen, bewusst sind. Hierbei ist ihnen die Familie selbst die Wichtigste2. Die Grundbedürfnisse im Einzelnen Die Darstellung in Wabenform symbolisiert, dass alle Bedürfnisse als Elemente eines Systems zu denken sind und sich u. a. gegenseitig beeinflussen und durchdringen und dass alle den gleichen Stellenwert in einem Menschenleben haben. Dieser Wert kann zwar von Situation zu Situation variieren. In Krankheitsphasen werden zum Beispiel physische Bedürfnisse eher im Vordergrund stehen, als das Bedürfnis nach Förderung. Dennoch haben alle hier genannten Bedürfnisse eine wichtige Funktion und tragen gemeinsam das ihre zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Ist in diesem System ein Element beschädigt oder fällt gar ganz aus, und wenn kein anderes diesen Ausfall zu kompensieren vermag, dann kommt es zu Störungen in der seelischen Entwicklung. Physische Grundbedürfnisse Sie sind eigentlich am einfachsten zu erkennen: Nahrung, Wärme, Schlaf und Bewegung brauchen wir alle, um wachsen und gedeihen zu können. Wir Erwachsenen bremsen eher bei der Nahrungsaufnahme; vor allem, wenn wir Gewichtsprobleme bekommen. Aber auch unsere Kinder brauchen von Anfang an die für sie richtige Ernährung. Spätestens an den Zähnen merken wir, wenn wir 12 hier nicht aufgepasst haben. Da begegnet uns zum Beispiel ein Sechsjähriger, dessen Zähnchen aus schwarzen Stummeln bestehen. "Das kommt von der Flasche", erklärt der Zahnarzt. Das Kind hatte seine Flasche nicht entbehren wollen, er war nicht rechtzeitig "entwöhnt" worden und durfte bis zur Schuleingangsuntersuchung süße Tees und Säfte aus der Flasche nuckeln. Wie viel und welche Nahrung Kindern gut tut, ist zweifellos individuell verschieden. Nicht zuletzt spielen hier die Orientierungen der Eltern, die kulturellen Umwelten mit ihren oft grundverschiedenen Nahrungsangeboten und Essensgewohnheiten eine wichtige Rolle. Gerade am Beispiel der unterschiedlichen Ernährungsweisen ließe sich gut darstellen, dass Essen und Trinken für sich genommen, nicht maßgeblich für das Gedeihen eines Kindes sein müssen – wenn es nur nicht hungern und dürsten muss. Oder denken wir an die Bedeutung ausreichenden Schlafs. Was für uns Erwachsene in der Regel ausreicht, um uns am nächsten Tag ausgeschlafen und fit dem Alltag zu stellen, das wissen wir ganz genau. Und wir können leicht erkennen, dass zum Beispiel unsere gedrückte Stimmung, unsere leichte Reizbarkeit oder die gebremste Arbeitslust auf eine schlaflose Nacht zurückzuführen sind. Bei Kindern ist das nicht anders. In Kindergarten und Schule sind unsere Kinder dann "ganz ausgeschlafene Kerlchen", wenn sie genügend Schlaf hatten und nicht (zum Beispiel) mit uns oder älteren Geschwistern bis in die Nacht hinein vor einem Bildschirm hockten. Übrigens würde unseren Kindern dann auch die Bewegung fehlen. Austoben, wenn irgend möglich im Freien, verhilft unserem Kind zu der Müdigkeit, die es für einen gesunden Schlaf braucht. Dass ausreichende Bewegung bei Kindern von großer Bedeutung ist, das weiß heute jeder Mensch. Allein die Fernseh- und Zeitungswerbung von Sportartikelherstellern führen uns das ständig vor Augen. Wozu wir Erwachsene uns aber gleichsam "antreiben" müssen, das ist bei Kindern selbstverständlich. Sie sind von Natur aus immer in Bewegung. Ein Besuch in einer Kinderkrippe, in einem Kindergarten oder Beobachtungen auf Kinderspielplätzen lassen das jeden nacherleben, der selbst keine Kleinkinder mehr daheim in der Familie hat. Wenn die Kinder sich nicht mehr oder zu wenig bewegen, dann sind es die Erwachsenen, die sie daran hindern. Zum Beispiel, wenn sie Kindern statt Bewegungsgelegenheit den Fernseher anbieten. In den USA verbringen bereits Zweijährige im Durchschnitt täglich zwei Stunden vor dem Fernseher. Dass es bei uns nicht besser aussieht, wies Manfred Spitzer nach. Fernsehen aber macht nicht nur dumm sondern auch dick. Dicksein - also Übergewichtigkeit - ist ein Risikofaktor. Allein für Deutschland werden gegenwärtig etwa 20.000 Tote pro Jahr geschätzt, die auf den Risikofaktor "Übergewicht durch Fernsehen (Bewegungsmangel)" zurückgeführt werden müssen (Manfred Spitzer in: „Mediale Umweltverschmutzung“. SWR2 Aula am 27.02.2005). Diese Zahl wird weiter ansteigen, wenn bereits Kinder daran gehindert werden, sich altersgerecht zu bewegen. 13 Die Klassenlehrerin eines dritten Schuljahres in einer einzügigen Schule einer Schwarzwaldgemeinde klagte über die Schülerin Heike und deren Mutter: „Heike wird immer dicker und träger. In der Schule hat sie schon darum große Probleme, weil sie von ihren Klassenkameraden gehänselt wird. Sie ist zwar nicht das einzige Kind mit Übergewicht. Bei ihr sieht man das aber sehr deutlich. Das ist aber auch kein Wunder, denn nicht einmal zur Schule muss sie laufen. Die Mutter bringt sie jeden Morgen mit dem Auto zur Schule und holt sie nach Unterrichtsschluss wieder ab…, nein, die Mutter ist nicht so besonders dick; sie will aber nicht, dass ihre Tochter die höchstens zehn Minuten zur Schule läuft. Es könnte ihr ja etwas passieren… Nach langem Hin und Her habe ich von ihr einfach gefordert, dass sie im Interesse der Gesundheit ihres Kindes, sie wenigstens am Morgen in die Schule laufen lässt… Doch schon nach dem ersten Tag passte mich die Mutter nach der Schule ab: ob die Heike nicht besser mittags nach Hause laufen sollte. Sie kämen morgens nicht so schnell (!) zum Haus raus… Ich bestand aber darauf, dass Heike morgens laufen müsse, weil sie dann allein durch die frische Luft - nicht mehr so unausgeschlafen sei sondern stattdessen aufnahmebereiter werden würde…“ Diese Episode beleuchtet beispielhaft ein weit verbreitetes Problem. Denn nicht nur in dem kleinen Schwarzwalddorf gibt es übergewichtige Kinder. Das Phänomen ist so weit verbreitet, dass die deutsche Ratspräsidentschaft den Kampf gegen Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in Europa vorantreiben wollte. Übergewicht, Mangelernährung, Fehlernährung und Bewegungsmangel fördern eine Fülle meist schwerer und chronischer Erkrankungen. Allein in Deutschland sind nach einer Studie fünfzehn Prozent aller Kinder übergewichtig. Darunter sind achthunderttausend, die unter Fettleibigkeit leiden. Oder sehen wir in eine andere Analyse: „10 bis 20 % der Schulanfänger sind heute zu dick, darunter befinden sich wiederum zwischen 4 und 8 % Kinder, die sogar fettsüchtig sind. Parallel dazu gibt es den anderen Trend: Viele Mädchen eifern bereits im zarten Alter von 9 Jahren einem Körperideal nach, das eindeutig im untergewichtigen Bereich liegt. Sie wollen schön sein, und hervorgerufen wird dieser Normdruck durch umstrittene TV- Sendungen wie "Germany's Next Top Model" und durch die neuen Körperideale der Gesellschaft.“ 3 Bereits 1992 wies die Ärztin und Professorin Michaela Glöckler in dem Buch: „Elternfragen heute“ (S. 391) auf den engen Zusammenhang zwischen Bewegungsreichtum und geistiger Entwicklung: „je geschickter und koordinierter (ein Kind) sich bewegen lernt und seinen Bewegungssinn aktiviert, umso differenzierter und leistungsfähiger wird auch das Nervensystem…“ 14 „Freiheit“ als ein grundlegendes Lebensgefühl kann sich für die aus der anthroposophischen Anthropologie kommende Ärztin nur herausbilden, wenn Freiheitserlebnisse durch intensive Bewegungserfahrungen wie Skateboard fahren, Rad fahren und viele andere sportliche Aktivitäten gepflegt werden. Wer als Kind nicht herumtoben durfte, stets „still sitzen“ musste oder wer sich gar vor dem Fernseher „anbindet“, wird weder das hier angesprochene „Freiheitsgefühl“ entwickeln noch die in ihm angelegten kognitiven und kreativen Möglichkeiten optimal fördern. Bewegung, das ist ein Schlüssel, um geistig und schöpferisch ebenso „fit“ zu bleiben wie körperlich. Dass Bewegung Konzentration, Lerneifer und Selbstdisziplin fördern kann, das hat am 4. Februar 2007 in einem Rundfunkvortag der Erziehungswissenschaftler Ulrich Hermann am Beispiel eines sehr mutigen und pädagogisch verantwortungsvoll handelnden Lehrerteams vorgestellt: „Zum Beispiel in der Bodenseeschule Friedrichshafen kann man es jeden Morgen erleben: Die Klassenzimmertüren stehen offen, es herrscht Ruhe im Schulhaus, es gehen aber auch Schüler umher. Ruhe haben wir, erklärte der Schulleiter Alfred Hinz, weil wir den Kindern Bewegung erlauben. Und weil wir ihnen Bewegung erlauben, lernen sie, die anderen, die still arbeiten möchten, nicht zu stören. Und warum möchten die Kinder morgens still arbeiten? Weil ihnen erlaubt ist, allein oder zu zweien oder zu dritt das zu arbeiten, was sie möchten. Sie wissen übrigens, dass sie, wie die Eltern, morgens zur Arbeit aus dem Haus gegangen sind und nicht, um sich im Unterricht zu langweilen. Ergo: Wer stört schon andere, wenn er selber ungestört arbeiten will? Aber auch: Wer sich wohlfühlen soll, muss Spielräume der Selbstgestaltung haben. Dann lernt er auch Selbstverantwortung – und das Disziplinproblem hat sich erledigt.“ Und noch einmal soll unterstrichen werden: Wer sich wohl fühlen soll, muss sich bewegen dürfen! Dass der in den Ländern der Europäischen Union initiierten „Bewegungskampagne“ von Seiten unverständiger Eltern im Alltag Hindernisse in den Weg gelegt werden, sei nicht verschwiegen. Die Realität sieht eben, zum Nachteil einer optimalen Entwicklung unserer Kinder, hier und da anders aus. Wir brauchen nur an den Umgang mit Bildschirmmedien zu denken! Das Bedürfnis nach Sicherheit Für die Entwicklung von Kindern sind Sicherheit und Verlässlichkeit von existenzieller Bedeutung. Es ließen sich zu beiden Bedürfnissen eigene Kapitel füllen. Hier werden sie gemeinsam betrachtet. 15 Geschützt und geborgen fühlt sich unser Kind bereits im Mutterleib (vgl.: Schindele, Eva: „Beziehung von Anfang an.“ (In: SWR 2 Wissen am 16.02.2008). Sobald es geboren wurde, "ersetzt" die Mutter (die Eltern) diesen Schutz, wenn sie das Kind in ihren Armen birgt. Es ist - auch für den Vater - ein unbeschreiblich gutes Gefühl, dieses kleine Menschenkind, zum Beispiel auf dem eigenen Bauch liegen zu haben und mitzuempfinden, wie es sich in Sicherheit fühlt und, von unseren Händen umfasst, schläft. So wie wir atmen, bewegt es sich sanft auf und nieder und unseren Herzschlag spürt es, wie wir den seinen. Dieses kleine Kind, das noch kein Bewusstsein seiner selbst hat, lebt sozusagen allein durch uns und mit unserer Hilfe. Mehr noch: Damit es sich später, etwa nach 18 Monaten, von uns lösen und ein eigener kleiner Mensch mit eigenem Wissen und Wollen werden kann, muss es sich erst ganz fest an uns binden können. Natürlich kann das Kind derartiges noch nicht denken. Wohl aber fühlt es mit all seinen Sinnen - und ist in dieser Beziehung bereits als Fötus außerordentlich empfindlich - ob wir diese Bindung zulassen. Diese erfühlten Erfahrungen, die für ein Kind gleichsam Antworten auf die Fragen geben: werde ich geliebt und angenommen, bin ich erwünscht und geborgen, bilden jenes Urvertrauen heraus, aus dem jeder Mensch sein späteres Selbstwertgefühl entwickeln kann4. Wir vermitteln unserem Kind die feste Bindung und ein Urvertrauen unter anderem auch dann, wenn wir uns über sein Dasein freuen, seine Nähe genießen und für das Kind da sind, wenn es uns braucht. Natürlich müssen diese Aufgaben nicht die leiblichen Eltern übernehmen. Nur das Bindungsangebot muss verlässlich sein, das heißt, dass die Bezugspersonen nicht ständig wechseln. Auf die Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung weist folgendes Beispiel: Die Geschäftsinhaberin bringt die acht Monate alte Sarah mit in den Laden und berät die Kunden bei der Auswahl von Dekorationsstoffen. Währenddessen krabbelt das Kind auf dem Fußboden herum und geht auf Entdeckungsreisen. An einem der vielen Regale kann sie sich aufrichten und beginnt, den Regalinhalt zu untersuchen. Gründlich prüft das Kind die Papprollen, bewegt sie hin und her, führt sie ans Gesicht und wirft sie endlich hinter sich, und wendet sich dem nächsten Gegenstand zu. Das Kind ist von Natur aus ein aktiver Erkunder und lernt auf diese Weise, seine soziale und dingliche Umwelt kennen. Während Sarah krabbelt und den Regalinhalt untersucht, wendet sie ihren Kopf immer wieder mal zur Mutter. Vor allem dann, wenn diese längere Zeit nicht zu hören ist, weil die Kundschaft spricht. Doch nun muss die Mutter das Ladenlokal verlassen, um im Lager etwas zu suchen. Das Kind bleibt bei der der Mutter gut bekannten Kundschaft zurück. Es dauert gar nicht lange, da hört das Kind auf, das Regal zu untersuchen. Es lässt sich zu Boden gleiten, bleibt sitzen und sucht mit den Augen seine Mutter. Wenige Minuten verhält sich das Kind still, so, als ob es gelähmt sei. Dann beginnt es zu weinen. Bevor aus dem Kummer Angst wird, ist die Mutter wieder da. Und sofort verstummt das Kind und wendet sich wieder dem Regal zu. 16 Ein Kind in diesen ersten anderthalb Lebensjahren braucht, um aktiv sein zu können, eine ihm vertraute Bezugsperson, die ihm das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Nur aus diesem Gefühl heraus kann es sich der Umwelt zuwenden, sie erkunden und damit zugleich "lernen". Natürlich beschränkt sich dieses Bedürfnis nach Sicherheit im Sinne von Schutz, Liebe, Geborgenheit und Zuverlässigkeit nicht auf die ersten achtzehn Lebensmonate. Auch später wird ein Kind sich dessen vergewissern wollen, ob Mutter und/oder Vater für es da ist. Wir Eltern können uns auf den Kopf stellen: unser Kind wird sich durch seine Verhaltensweisen und seine Fragen immer wieder vergewissern wollen, ob wir es noch lieb haben oder es fragt: "hast du mich genau so lieb wie...?" Dieses Bedürfnis nach Sicherheit, Zuverlässigkeit, Geborgenheit und Beständigkeit wird vor allem dann erfüllt, wenn Mutter und Vater beieinander bleiben. Vor dem Oberlandesgericht Freiburg wurde vor einer Sorgerechtsentscheidung (ob die geschiedenen Vater oder Mutter oder beide gemeinsam das Sorgerecht erhalten) die zwölfjährige Tochter gefragt, „zu wem willst denn du?“ Sie antwortete: "ich will, dass wir wieder eine Familie sind". Und weil dieser Wunsch (dieses Bedürfnis) nicht erfüllt werden konnte, weil Mutter und Vater jeweils wieder geheiratet hatten, sagte sie: "Dann ist es mir egal; wenn nur nicht wieder geschieden wird". Selbstverständlich ist, und das wissen wir alle aus der eigenen Lebensgeschichte, dass sich die hier gemeinte Sicherheit in Bezug auf die Eltern mit zunehmendem Alter wandelt, bis wir endlich ganz ohne unsere Eltern leben können. Doch die erwähnten Bedürfnisse bleiben für uns ein Leben lang wichtig. Sie geben uns Halt. Nicht wenige unter uns Erwachsenen können sich ein Leben als "Einzelgänger" gar nicht vorstellen. Sie brauchen die Bindungen an andere Menschen, das Gefühl, in einer sozialen Gruppe aufgehoben und geborgen zu sein, sei das nun eine Partnerbindung, die aktive Mitgliedschaft in einem Verein oder in einem Freundeskreis. Nur haben wir Erwachsenen es selbst in der Hand, für Schutz, Liebe, Geborgenheit und Zuverlässigkeit in dem Ausmaß zu sorgen, wie wir es für unser Wohlergehen brauchen. In einem Elternseminar bestätigte ein Vater: "Das was wir hier besprechen, das gilt doch nicht nur für unsere Kinder. Das gilt doch genauso für uns Erwachsene". Eine ganz andere Dimension von "Sicherheit und Zuverlässigkeit" kommt in den Blick, wenn wir auf den Familienalltag schauen. Auch hier muss und will sich ein Kind darauf verlassen können, dass sich möglichst wenig verändert. Die folgende Schilderung eines Tagesablaufes ist als "idealtypisch" zu betrachten und der eine oder andere wird sie als übertrieben ansehen. Die hier in einem Hochschulseminar zusammengetragenen entwicklungsfördernden 17 Strukturelemente könnten, das war die Überzeugung aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer, von jeder Mutter und jedem Vater unabhängig von sozialem Status oder Lebensort im Familienalltag beachtet werden. Ganz gleich welche regelhaften Abläufe (Strukturen) im Alltag einer jeden Familie üblich sind: Es kommt darauf an, dass es überhaupt welche gibt! Freundlich wird das Kind jeden Morgen rechtzeitig geweckt. Mit Mutter und Vater oder wer immer die Hauptbezugsperson für das Kind ist, wird gemeinsam und in aller Ruhe gefrühstückt und dann das Kind mit dem selbst gerichteten Vesperbrot auf den Weg zur Schule oder in den Kindergarten gebracht oder geschickt. Kommt es dann wieder nach Hause, dann freuen sich Mutter oder Vater über das Wiedersehen, sie hören zu, was das Kind zu erzählen hat, zeigen Verständnis für Probleme, die das Kind mit nach Hause bringt und auch dafür, dass das Kind nicht immer begeistert ist von dem, was es heute zum Mittagessen gibt. Sie trösten das Kind, wenn es traurig ist, weil etwas nicht gelang. Abends geht das Kind stets zur gleichen altersgemäß gestaffelten Zeit in sein Zimmer. Wenn die Eltern hier freundlich und mit ruhiger Bestimmtheit auf Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit achten, Ausnahmen für das Kind erkennbare Ausnahmen bleiben und keine hektische Atmosphäre in der Familie herrscht, sind kaum Schwierigkeiten zu erwarten. Nicht einmal das Fernsehen wird zu einem Problem, wenn die Eltern selbst darauf verzichten, solange das Kind um sie herum ist. Überhaupt gilt in allem, dass ich das, was ich vom Kind erwarte, selbst zuverlässig tue, weil Vorbild die beste Erziehung ist. Die meisten der Grenzen, die wir dem Kind setzen müssen, sind ohnedies Regeln, die auch für Erwachsene verbindlich sind. Von dieser gemeinsamen Verbindlichkeit her lassen sich Regeln auch am besten begründen. Liegt das Kind im Bett, setzen sich Mutter oder Vater zu ihm und verweilen noch ein bisschen. Auch bei mehreren Kindern ist das möglich. Vielleicht wird noch eine Geschichte vorgelesen oder ein Bilderbuch angeschaut. Wenn aber die Kinder älter werden, ist der Abend die beste Zeit, Probleme zu erörtern und Differenzen ins Reine zu bringen. Die Eltern achten darauf, dass ihr Kind nicht einschläft, bevor nicht die gelegentlich unausbleiblichen Konflikte zwischen Eltern und Kind bereinigt sind. Das Kind bleibt erst dann allein in der Wohnung (bei Tag und in der Nacht), wenn es von seiner Reife her das Alleinsein gut verkraftet. Das Kind muss sich auf seine Eltern verlassen können, d. h., die Eltern sind immer da für das eigene Kind. Je jünger das Kind ist, umso mehr braucht es diese Verlässlichkeit, aus der heraus das "Urvertrauen" wächst. Nur wenn eine dem Kind vertraute Person als Ersatz zur Verfügung steht, dürfen es die Eltern in einem vorher gemeinsam vereinbarten zeitlichen Umfang verlassen. Wichtig ist, und das soll noch einmal betont werden, 18 dass ein Kind regelhafte Abläufe erlebt und als hilfreich und zweckmäßig erfährt. Abweichungen von Regeln aber sollten für das Kind als Ausnahmen erkennbar sein. Wir Menschen brauchen ganz einfach derartige verlässliche Orientierungen und Gewohnheiten in unserem Alltag. Sie helfen uns, Zeit zu sparen und Kopf und Seele frei zu halten für bedeutsamere Leistungen, wie Wilhelm Schmid feststellte5. Für eine positive Entwicklung unserer Kinder sind derartige verlässliche Orientierungen von besonders großer Bedeutung. Es hat uns schon Maria Montessori auf dieses erstaunliche Phänomen hingewiesen, als sie entdeckte, wie außerordentlich wichtig es für Kinder ab etwa dem zweiten Lebensjahr ist, in Bezug auf die Ordnung der Dinge und die Zeit alles verlässlich und immer "gleich" zu erleben (2002, S. 122 ff). Denken wir zum Beispiel nur an die „festen“ Plätze unserer Kinder am Familientisch. Sie würden es ja nicht einmal tolerieren, wenn Mutter und Vater die Plätze wechseln. Vor allem, wenn Veränderungen anstehen, können sie sich auf unsere Kinder dramatisch auswirken. Von noch viel größerer Bedeutung für jeden Menschen sind die Beziehungen zu unserem Du. Wir brauchen und wollen Verlässlichkeit in unseren Beziehungen zu den Eltern, dem Freund, der Freundin, der Partnerin oder dem Partner. Wir wollen uns auf sie verlassen können. Und aus der Sicherheit dieser sozialen Bindungen wächst uns die Kraft zu, die wir brauchen, um unseren Alltag zu bestehen und in ihm andere Beziehungen herzustellen und die gelegentlichen Belastungen in zwischenmenschlichen Begegnungen zu ertragen. Ein Kind, das in der Schule Ärger mit seinem Lehrer hatte oder Streit mit dem Klassenkameraden, soll sich darauf verlassen können, dass es daheim von einer verständnisvollen Mutter in den Arm genommen und getröstet wird. Mit einer allzu spröden Auffassung oder gar rigiden Handhabung derartiger verlässlicher Elemente unseres Lebens, sind aber auch Gefahren verbunden. Dort, wo Ordnungen um der Ordnungen erzwungen oder zwischenmenschliche Begegnungen besonders streng geregelt werden, können sie ·umkippen. Darum auch lässt sich nur zustimmen, wenn es in Bezug auf die pädagogische Bedeutung von Strukturen heißt, dass sie sich positiv auswirken, "wenn sie flexibel genug sind, um Kindern Raum für eigene Aktivitäten zu lassen" meint die Pädagogin Anneliese Spreckels-Hülle, (2005, S. 18-20). Die hier dargelegten Verhaltensempfehlungen sind lediglich geeignet, den Alltag in Erziehung und Bildung in Familie, Tagesstätte oder Schule zu erleichtern. Findet die eine keine Beachtung, treten dafür andere an ihre Stelle. Die Hauptsache bleibt, dass Eltern und Berufspädagogen genau wissen, warum sie etwas tun oder lassen und das auch ihren Kindern begründen können. Das Bedürfnis nach Liebe 19 Im Grunde handelt es sich um "Liebe", die wir dem Kind über unsere sorgende Anwesenheit, über unsere verlässliche Existenz (ich bin für dich da, wenn du mich brauchst; ich verlasse dich nicht) und über den Schutz (ich passe auf dich auf; ich helfe dir,) vermitteln. Mit elterlicher Liebe ist eigentlich alles gemeint, was hier beschrieben wird. Es wird damit deutlich, dass Liebe nicht nur ein unbestimmtes Gefühl oder gar nur eine Gefühlsaufwallung ist. Ganz im Gegenteil: Kinder fühlen sich besonders betrogen, wenn sie gelegentlich, so aus einer Stimmung heraus, mit Zärtlichkeit überschüttet werden, Zuwendung und Zeit aber vermissen müssen. Liebe ließe sich also auch mit den drei "Z" umschreiben: Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit! Dennoch ist es nicht leicht zu erklären, was elterliche Liebe ist oder worin sie sich unterscheidet von der Liebe zwischen Mann und Frau. "Liebe ist Verantwortung" sagt Martin Buber und entspricht damit am ehesten jener Grundgesetzformulierung in der es heißt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht". Die Betonung liegt auf "zuvörderst ihnen", eine Akzentuierung, die in allen Ausführungen auf diesen Seiten über die Erziehung und Bildung von Kindern stets mitzudenken ist. Im Familienalltag spielt die Zeit, die wir unseren Kindern widmen, eine große Rolle. Alles Leben vollzieht sich in Zeit, lässt sich in Zeit messen. Wenn wir uns unseren Kindern zuwenden, mit ihnen essen, spielen, sprechen, etwas unternehmen oder ihnen zuhören, gelegentlich auch mit ihnen einen Film anschauen, dann geben wir ihnen (und sie uns) Zeit. Und allein an dieser Gabe können unsere Kinder gleichsam unsere Liebe erkennen. Materielle Zuwendungen können fehlende Zeit für unsere Kinder nicht aufwiegen. Vielmehr stehen an erster Stelle unserer Zuwendungen jene, die kein Geld kosten. Die meisten von uns haben einen Arbeitsplatz. Mütter und Väter, die außer Haus Geld verdienen gehen, haben irgendwann Feierabend, arbeitsfreie Wochenenden und Urlaub. Und diese Zeiten gehören dem gemeinsamen "Tun" und keineswegs nur dem gemeinsamen "Schauen" mit den Kindern. Elternverantwortung zeigt sich im Alltag vor allem darin, dass Eltern auf die Bedürfnisse ihrer Kinder "antworten". Das kann in vielfältiger Weise geschehen. Auch dort, wo wir unsere Kinder in die Pflichten für Wohnung, Haus oder Garten mit einbinden und gemeinsam mit ihnen schaffen. Verantwortungslos handeln Eltern, wenn sie an ihren Kindern vorbei oder neben ihnen her leben. „Ich habe jetzt keine Zeit“ sagt Frau L. und wendet sich wieder dem Gespräch mit ihrer Bekannten zu, als Tochter Anita sie ansprach: „Mama, kannst du mal kommen?“. Nun lassen sich Vierjährige nicht mehr so nebenbei abspeisen, sondern versuchen es noch einmal: „Mama, komm jetzt!“. Frau L. ungeduldig und lauter: „Nerv mich nicht! Wirst ja wohl warten können.“ 20 Eine Situation, wie Eltern daheim und Erzieherinnen in der Tagesstätte sie häufig erleben. Wenn sich aber derartige Zurückweisungen häufen – und je öfter sich ein Kind abgewiesen fühlt, umso häufiger wird es zunächst die Zeit der Erwachsenen fordern – umso stärker wird das Gefühl, nicht angenommen zu werden, nicht geliebt zu sein. Es sind die vielen, oft kaum bewussten Zurückweisungen, die sich von kleinen Narben zu großen Verletzungen auswachsen. Sind diese seelischen Verletzungen groß genug, kann sich ein Kind zurückziehen, unansprechbar werden oder aber aggressiv, gewalttätig gegen Sachen, andere Kinder oder gegen sich selbst. Die Berücksichtigung dessen, was Kinder brauchen, wenn sie ein stabiles Fundament für ihr Leben erhalten sollen, zeigt uns also aus verschiedenen Perspektiven, was Eltern und Berufserzieher alles zu leisten haben. Hier und da sind derartige Leistungen Opfer, die mit jenem Verzicht zu vergleichen sind, die Eltern ihren Kindern in Notzeiten bringen, wenn sie eigene elementare Bedürfnisse zu Gunsten ihrer Kinder hintanstellen. Der Freiburger Oberarzt Professor Dr. Joachim Bauer bestätigte mit seinen Forschungen, dass die Beziehungen von Eltern zu ihren Kindern von herausragender Bedeutung für eine gesunde Entwicklung sind. Er spricht von der "Erfahrung des Geliebt - Werdens ohne Bedingungen" ((5/2005, S. 57 ff). Seine Forschungen über Ursachen depressiver Gesundheitsstörungen führten zu den Ergebnissen, dass eine Quelle des menschlichen Selbstwertgefühls die Erfahrung der bedingungslosen Liebe im Kindesalter ist. Defizite in diesem Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen begünstigen die Herausbildung depressiver Krankheitsbilder. Kinder kommen mit Versagungen, Verboten oder gar Strafen und Züchtigungen überhaupt nicht zurecht, wenn sie sich der liebenden Fürsorge ihrer Eltern nicht sicher sind. Und mit jeder Gewalt, die wir ihnen antun, verunsichern wir sie mehr, so dass sie sich am Ende ungeliebt fühlen. Wenigstens ebenso dramatisch wirken sich wechselhafte erzieherische Verhaltensweisen, instabile Beziehungen zwischen den Eltern und andere Verletzungen elementarer kindlicher Bedürfnisse aus. Eines Tages wird dann aus Gewaltphantasie Gewalttätigkeit, aus dem Wunsch nach Schutz und Geborgenheit Abneigung und Hass. Diese, die Persönlichkeit unserer Kinder schwer belastenden Erfahrungen richten sich als Aggressionen gegen sich selbst und/oder nach außen; sie führen aber auch zu völliger Resignation und zur Suche nach Ersatz wie zum Beispiel zu Süchten. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, soll noch einmal ausdrücklich betont werden, dass es sich bei diesen Ausführungen um einen Versuch handelt, dem Phänomen "elterliche Liebe" etwas näher zu kommen. Liebe im zwischenmenschlichen Bereich, so wie wir sie als Liebe zwischen Mann und Frau oder ganz allgemein als "Menschenliebe" bezeichnen, spricht andere Dimensionen unseres Fühlens und Verhaltens an. Und wieder anderer Natur sind alle zwischenmenschlichen Kontakte, die auf Ausgleich beruhen, auf ein ausgewogenes 21 Geben und Nehmen oder auf die Erwartung, dass das Lächeln, das wir aussenden stets zu uns zurückkommt, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Im Alltag aber werden sich nicht selten die hier angesprochenen Elemente unseres Verhaltens vermischen. Das Bedürfnis nach Anerkennung Ein vierjähriges Kind bringt ein Bild aus dem Kindergarten mit, das es dort gemalt hat. "Guck, das hab ich gemalt" verkündet es stolz, überreicht das Kunstwerk und schaut die Eltern erwartungsvoll an. "Danke" sagen die Eltern, schneiden ein Stückchen Tesaband ab und hängen es neben die anderen Bilder an die Küchentür. Weil dort fast kein Platz mehr ist, schlagen sie vor, ein altes wieder zu entfernen und in die Mappe mit den Bildern unseres Kindes zu legen. Denn alles, was unser Kind uns schenkt, ist uns wertvoll. Und alles, was es mit Anstrengung und Ausdauer schafft, denken wir an unsere Treppen steigende Anita zurück, erkennen wir an. Gerade in den Bereichen von Sport und Bewegung, beim bildnerischen Gestalten oder – nicht zuletzt – beim Musizieren bietet sich unseren Kindern eine Fülle an Möglichkeiten lustvollen Schaffens. Kinder, die nicht erleben, dass ihre „Leistungen“ auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden, strengen sich nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen. Und wenn dann etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „das kann ich nicht“. Die Anerkennung und das Interesse an kindlichem Bemühen oder Leistungsstreben durch jene Personen, die für ein Kind wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der Leistungsmotivation, die in Schule und Beruf gebraucht wird. Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner Anstrengungen vorweist, wird es am Ende resignieren und in seinem Verhalten zeigen, dass ja „alles keinen Zweck“ hat. Anerkennung der Persönlichkeit unseres Kindes meint aber noch mehr, als Ermutigung. Hier ist an das Verfassungsgebot von der Beachtung der Würde des Menschen zu denken. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul spricht von „Gleichwürdigkeit“ und meint damit, dass Anerkennung heißt, sich in Würde zu begegnen, sich aufgehoben fühlen im liebenden Blick eines Gegenübers, stellt keine Bedingungen und fordert nichts (2009, S. 211). Nicht alle mögen gleich empfindsam (oder empfindlich) sein. Wenn aber mein Vater zu mir "Dummkopf", mein Lehrer zu mir "Hornochse" oder die Mutter zur Schwester "blöde Kuh" sagte, dann waren wir Kinder tief verletzt. Natürlich zeigten wir das nicht so deutlich; wir waren ja vom guten Willen unserer Eltern und Lehrer abhängig. In unserem Inneren aber taten uns derartige Herabsetzungen weh. Und so kann eine kleine seelische Narbe zu der anderen kommen und unser Selbstwertgefühl ganz erheblich beschädigen. Wer stets ein Kind als „dumm“, faul“, „behindert“ bezeichnet, darf sich nicht wundern, wenn 22 es in Kindergarten „misserfolgsmotiviert“. und Schule nicht mitkommt. Es wird Wer so etwas in seinem Leben erfahren hat, und von seinen Eltern und Erziehern als dumm, ungeschickt oder minderwertig erlebt wird, dem fällt es später schwer, selbständig zu werden. Er gibt rasch auf und traut sich wenig zu. Statt zu demütigen sollten wir unsere Kinder viel mehr ermutigen. Es waren unter anderen Rudolf Dreikurs und Vicki Soltz, die diese Haltung in ihrem viel beachteten Buch "Kinder fordern uns heraus" (Stuttgart 2005) empfahlen. Strafen im Zusammenhang mit schulischem Lernen können den guten Willen eines Kindes empfindlich beeinträchtigen. Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind genau das Gegenteil von anerkennenden Verhaltensweisen und damit keine guten Begleiter auf dem Weg in eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die sie gelegentlich völlig lähmen. Sie trauen sich nichts zu, weil ihnen in ihrer Kindheit die Anerkennung für ihre Bemühungen fehlte. Bevor Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf den neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe, den Stift richtig zu halten und bei Versuchen im Kindergarten, auf dem Papier seine „Wellen“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen gerade oder gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen, hatte er offenbar Schwierigkeiten. Was Andreas von den anderen Kindern unterschied, das waren Eltern, die damit nicht umgehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit gehabt zum Elternabend zu gehen, als Funktion und Bedeutung derartiger Übungen erklärt wurden, vielleicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört oder verstanden: sie mäkelten an den Versuchen ihres Jungen herum, die er vom Kindergarten mit nach Hause genommen hatte, um sie den Eltern zu zeigen. Die ordneten darauf hin „Hausaufgaben“ an und wollten, dass er zu Hause übe. „So macht man das doch nicht ... Nun gib dir endlich mal Mühe... stell dich bloß nicht so an... das ist doch kinderleicht... wenn das so weitergeht, wirst du nie schreiben lernen...jetzt machst du das alles noch einmal, aber ordentlich...“ so tönte es unentwegt aus dem Mund der Mutter und wenn der Vater kam, dann gab auch der noch seine Kommentare dazu ab. Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit dir nicht zufrieden -! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur weiter, das schaffst du schon“ oder: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“ Kann man es mit dem Anerkennen und Ermutigen auch übertreiben? Gewiss, man kann in allen Lebenssituationen des "Guten zu viel" tun. Kinder aber haben ein 23 gutes Gefühl dafür, wenn Eltern sie ständig loben oder gar belohnen, auch wenn sie sich nicht angestrengt haben. Denken wir noch einmal an die Szene mit dem Bild, das uns unser Kind vom Kindergarten mitbringt. Wer hindert uns daran, dosiert zu reagieren? Niemand zwingt uns, ein Bild schön zu finden, das wir für "Geschmier" halten. Wohl aber können wir ganz genau hinschauen. Wir kennen unser Kind und seine Möglichkeiten und darum erkennen wir auch, wie viel Mühe es sich gegeben hat. Und wenn wir mehrere Bilder zur Auswahl haben, dann sagen wir, was uns warum besser gefällt. Kritische Hinweise verträgt ein Kind besser als Missachtung. Und wenn wir wissen, dass ein Kind etwas besser machen kann, dann sagen wir ihm das auch - aber eben so, dass wir es nicht entmutigen! Ein Kind braucht nicht nur Anerkennung und Ermutigung, sondern auch Anforderungen und Gütemaßstäbe. "Der entscheidende Stimulus für die Vitalitätssysteme des Gehirns - sie werden auch Motivationssysteme genannt - ist die Zuwendung und Wertschätzung anderer Menschen..." sagt der Neurowissenschaftler und Arzt Joachim Bauer6. In unserem Alltag zeigt sich diese Wertschätzung nicht zuletzt in einem höflichen Umgang miteinander. Darum auch gehört das „Bitte“ und „Danke“ sagen, allein schon als Ausdruck von Anerkennung der Persönlichkeit des anderen, zu den Selbstverständlichkeiten unseres Zusammenlebens. Gerade ein „Dankeschön“ als positives Feedback wirkt sich bei jedem Empfänger – also nicht nur bei unseren Kindern – motivationsfördernd und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen außerordentlich positiv aus. Zugleich fühlt sich ein Kind in seiner Gruppe, also in der eigenen Familie oder den anderen Kindern wie zum Beispiel im Kindergarten oder in einer Schulklasse angenommen, anerkannt, akzeptiert. In diesen „Primärgruppen“, also innerhalb seiner Familie oder den „Sekundärgruppen“, also in allen die Familie ergänzenden, wie Kindergarten, Hort oder Schule oder gar ersetzenden Gruppen, wie Kinderheime, kann sich ein Kind entwickeln, sofern dort seinen Grundbedürfnissen optimale Beachtung zuteil wird und das heißt auch, dass sich kulturpolitische Entscheidungen am Wohl der Kinder und weniger an Ideologien orientieren. Das Bedürfnis nach Vertrauen Dieses Stichwort fügt sich nahtlos an das soeben Besprochene an und es wird erneut deutlich, wie sehr alles, was hier ausgeführt wird, wechselseitig zusammenhängt und einander durchdringt. Dem Kleinkind sagen Eltern: "Lass die Finger davon, das kannst du noch nicht", unseren älteren Kindern untersagen wir möglicherweise den Umgang mit bestimmten anderen Kindern, weil wir einen "schlechten Einfluss" befürchten. In beiden Fällen sprechen aus uns die Sorgen um unser Kind, die Verantwortung, die wir für sein Wohlergehen tragen und unser Wunsch, dass unser Kind so wird, wie wir es uns vorstellen. 24 Sobald wir aber Misstrauen in unseren Gründen spüren, mit denen wir von unserem Kind etwas fordern oder ihm etwas verwehren, beginnt der Wurm an unserem Vertrauen zu nagen. Unser Kind, ob klein oder groß, hört genau heraus, ob uns echte Sorge um das Kind umtreibt, oder ob wir ihm einfach nicht zutrauen, mit der Aufgabe oder Situation umzugehen. Es muss uns jedoch bei dem Problem des Vertrauens nicht immer um unser Kind gehen. Eine Voraussetzung dafür, Vertrauen geben zu können, ist, Vertrauen zu sich selber zu haben. Wer sich selbst nicht traut (oder nichts zutraut), dem fällt es auch schwer, anderen Menschen Vertrauen zu geben. Also schauen wir auch in dieser Beziehung in uns selbst hinein und forschen nach unseren Motiven! Hier ein Beispiel, wie es uns häufig begegnet. Und wieder geht es um die Arbeiten für die Schule. Wir alle kennen Eltern, die nur das Beste wollen für ihre Kinder. Da ein höherer Bildungsabschluss, also zum Beispiel das Abitur, nach unserer gegenwärtigen Erfahrung bessere Berufsaussichten mit höheren Verdiensten und Prestigegewinnen verspricht, wollen diese Eltern, dass ihre Kinder gute Schüler sind. Bereits im Kindergarten sollen die Kinder auf die Anforderungen der Schule vorbereitet und erste Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen vermittelt werden. Ist aber das Kind erst in der Schule, dann wachen Mutter oder Vater sorgsam und besorgt darüber, dass das Kind auch wirklich alles gut mitkriegt. Zu denken ist da zum Beispiel an ein Elternpaar, das ganz besonders großen Wert darauf legt, dass ihre Kinder das den Eltern vorschwebende Schulziel erreichen. Jede Bastelarbeit oder jedes Bild, das ihr Kind im Kindergarten angefertigt hat, lassen sie sich vorlegen. Nicht aber, um es deutlich sichtbar in der Wohnung auszustellen, sondern um es zu überprüfen. Pingeliger als jede pädagogische Fachkraft setzen sie ihren Kindern gegenüber die eigenen Maßstäbe durch. Eine scheinbar schlechte Arbeit wird von den Eltern als eine persönliche Beleidigung erlebt. Je stärker ein Kind im Bereich eigener Schöpfungen, seien sie daheim oder in der Tagesstätte angefertigt, von den Erwachsenen gegängelt und kontrolliert wird, je enger sein eigener Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Schwierigkeiten bekommt, ja, dass es völlig versagt. Und im Umkehrschluss lässt sich festhalten: Je frühzeitiger ein Kind in Bezug auf seine eigenen Leistungen in die eigene Verantwortung gestellt wird, und je konsequenter und überzeugter die Eltern der Fähigkeit ihres Kindes vertrauen für seine Angelegenheiten selbst die Verantwortung zu übernehmen, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es – zum Beispiel später in der Schule - die Ziele nicht erreicht. 25 Für den Schulbereich sind diese Zusammenhänge durch die erziehungswissenschaftliche und motivationspsychologische Forschung mehrfach nachgewiesen7. Und was für die Schule gilt, trifft auch für die Kinder in Kindergarten und Hort zu. Mut brauchen wir und vor allem Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder, dass sie das, was wir ihnen zutrauen, auch schaffen, dass sie „Verantwortung“ übernehmen können. Aber was dürfen wir und in welchem Alter von unseren Kindern erwarten? Welche Gefahren sind möglicher Weise mit einer verfrühten, welche mit einer völlig ungenügenden Bereitschaft von Eltern verbunden, Eigenständigkeit zuzulassen? Wie können wir unserem Kind denn in einer verantwortbaren Weise helfen, alles das selbst zu tun, was es kann oder was es lernen soll? Das können Fragen sein, die unsere Überlegungen bei dem Gedanken an die Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung begleiten. Welche Erleichterungen eine souveräne Haltung für Eltern mit sich bringen kann, soll folgendes Beispiel nachweisen: Das Ehepaar Z. im Nebenhaus hatte zwölf gesunde Kinder. Als das älteste Kind, die Käthe, siebzehn Jahre alt war, wurden die jüngsten Kinder geboren. Frau Z. brachte Drillinge zur Welt, wovon ein Kind ein Junge war. Obwohl Frau Z. keiner außerhäuslichen Tätigkeit nachging, wird es leicht verständlich sein, dass sie sich nicht um alle Kinder mit gleicher Intensität kümmern konnte. Sie sah ihre Hauptaufgabe darin, ihren Kindern und dem Vater täglich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Die ältesten Mädchen übernahmen es, die Geschwister zu betreuen. Und alle wirkten, je nach ihren Möglichkeiten, an der Haushaltgestaltung mit. Kein Kind besuchte einen Kindergarten. Stattdessen waren ständig Nachbarskinder in dem kleinen Siedlungshaus oder in dessen Garten anzutreffen. Oft weinte ein Kind und musste von einem anderen getröstet werden. Wenn es gar zu schlimm wurde, lief wohl auch mal eines in die Küche zur Mutter. Die meisten Angelegenheiten regelten die Kinder untereinander selbst, zum Beispiel wer mit welchem Spielzeug spielte oder wer wessen Kleider anzog. Die Kleineren trugen stets die Kleider der Größeren. Für die Flick- und Näharbeiten war die Mutter solange zuständig, bis die älteren Mädchen das selbst tun konnten. Es versteht sich von selbst, dass sich Mutter oder Vater nicht um die Schulaufgaben kümmerten. Natürlich freuten sie sich über Erfolge ihrer Kinder. Wenn aber eines Hilfe brauchte, dann holte es sich die bei seinen älteren Geschwistern. Und die leisteten ganz selbstverständlich diese Hilfe. Dieses Beispiel deutet auf eine bedeutsame Bedingung, die die Selbständigkeit und damit die Eigenverantwortlichkeit von Kindern fördert: Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen Angelegenheiten gar nicht kümmern können, dann zeigt es gleichsam „automatisch“, dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu sorgen. Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von einem 26 Dreijährigen zwar nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie zubereitet. Wohl aber wird er sich an- und ausziehen und seine Schuhe binden, allein auf die Toilette gehen oder sich allein waschen können. Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in Haushalt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend wegen Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel, wird die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß darum bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung pflegen oder einkaufen gehen. Kinder wollen aus eigenem Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur aus neugierig, probieren gern etwas aus und möchten gern alles selber machen. Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind eifrig, stolz und zufrieden. Das Bedürfnis nach Führung Dieser Begriff soll provozieren und Mut machen zugleich. Anders ausgedrückt lässt sich sagen, dass ein Kind sich fragend an die Erwachsenen wendet und von ihnen Orientierung erwartet. Wir haben uns daran gewöhnt, diesen Orientierungswunsch und unsere Reaktion darauf „Erziehung“ zu nennen. Dieses Grundbedürfnis wird ja nicht allein und schon gar nicht bewusst von einem Kind eingefordert. Andere Kräfte, die Gesellschaft, die Politik und die sozialen Gruppen in denen wir leben, erwarten von den Eltern, dass sie ihre Kinder an die Normen und Werte dieser Kultur heranführen. Zur Unterstützung der Familien, die ja diesen Erwartungen nicht im vollen Umfang ohne Hilfe gerecht werden können, wurden Erziehungsund Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Kindertagesstätten und Schulen geschaffen. Und alles was dort – also in Familie, Kindertagesstätte oder Schule geschieht - hat mit Erziehung zu tun. „Erzieherinnen und Leitungskräfte müssen sich selbst als werteorientierte Bildungsträger verstehen und in ihrer Person Werte und Bildungsmerkmale tragen, die sich entwicklungsförderlich für Kinder erweisen…“ fordert Armin Krenz (2007, S. 90). Bereits 1927 setzte Theodor Litt, einer der einflussreichsten deutschen Pädagogen in seiner Schrift „Führen oder wachsen lassen“ (Stuttgart 7/1958) ausführlich mit der Frage auseinander, ob man sich im Umgang mit Kindern darauf beschränken dürfe, es gleichsam sich selbst zu überlassen oder ob es zu führen sei. Dabei verstand Litt unter Führung die erzieherische Aufgabe, jedes Kind einzuführen in bzw. heranzuführen an die „Wertsphäre“ von Kultur und Gesellschaft (S. 72 u. 75). Litt kam zum Ergebnis, dass beide Seiten, das unbewusste von der individuellen Entwicklung bestimmte Heranwachsen und die „Ein-Führung“ einander ergänzen. Den Erziehern kommt die entscheidende Vermittlerfunktion zu8. In der 27 pädagogischen Literatur wird unterschieden zwischen bewusstem, beabsichtigtem und zielorientiertem erzieherischen Handeln und den unbeabsichtigten, nicht durch uns gesteuerten Handlungen oder Situationen, die gleichwohl von nachhaltiger Wirkung sind. Die letzteren meinen wir, wenn wir sagen, dass wir auf das, was ein Kind von der Straße, von anderen Kindern oder aus der Schule mitbringt, keinen Einfluss haben. Auf diese "funktionalen" erzieherischen Prozesse, zu denen auch die Nutzung elektronischer Medien gehört, wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Führung, Grenzen setzen, Orientierungshilfen geben ... alles das sind Elemente von „Erziehung“ und elementare Notwendigkeiten, um unseren Heranwachsenden zu einem Gewissen zu verhelfen, das ihnen sagen kann, was gut und richtig ist (vgl. dazu Hans Janssen 1994). Je klarer und wirksamer die beabsichtigten (intentionalen) erzieherischen Einwirkungen durch uns sind, je überzeugender und von Innen heraus Eltern und Berufserzieher hinter ihnen stehen, umso weniger wirken sich gegenläufige funktionale Einwirkungen aus. Auch die so genannte „antiautoritäre“ Erziehungsrichtung, wie sie in den siebziger Jahren in unserem Erziehungs- und Bildungswesen bis in die Familien hinein heftig umstritten wurde, verzichtete nicht auf jene intentionalen Erziehungsprozesse. Damals ging es vielmehr um die Art und Weise, wie Eltern und Erzieher mit ihren Kindern umgehen sollten, damit sie optimal gefördert werden. Und weil ausgesprochen wurde, was jeder von uns am eigenen Leibe längst erfahren hatte, dass nämlich Erziehung mit Schlägen oder Missachtung kindlicher Würde (autoritäre Erziehung) keineswegs zu einem selbständigen, verantwortlich handelnden und mündigen, sich seiner Selbst bewussten Staatsbürger führt, war zunächst die Begeisterung groß. Es mag einige gegeben haben, die dachten, nun brauche man gar nichts mehr zu tun: ein Kind wird von alleine wissen, was ihm gut tut. Diese bequeme Haltung gab es auch schon vorher. Sie wurde Laissez-faire-Stil genannt und lässt sich mit Gleichgültigkeit übersetzen. Doch war diese erzieherische - oder besser nicht-erzieherische Haltung unter Eltern, Erziehern und Lehrern genauso verpönt, wie die diktatorische. Hier ein Beispiel: Das Ehepaar Herzig gehört zu jenen, die „es geschafft“ haben. Noch relativ jung an Jahren besitzen sie ein schönes geräumiges eigenes Haus in dem jeder ihrer drei Buben (5, 7 und 8 ½ Jahre alt) jeder ein eigenes Zimmer bewohnt. Die Kinderzimmer sind nach allen Regeln der Kinderzimmer-Werbe-Kunst eingerichtet. Sie verfügen zum Beispiel über zwei Ebenen mit Rutsche und Leiter, eine bunte schier unendliche Fülle wertvollen Spielzeugs, sind ausgestattet mit Fernseher und Video und die Mama ist daheim und kümmert sich um ihre Sprösslinge rund um die Uhr. Papa hat im Untergeschoss ein komfortables Büro, in dem er nach Feierabend seine Ingenieurstätigkeit 28 fortsetzt. „Man muss laufend am Ball bleiben, sonst kann man das alles hier (er deutet mit einer weit ausholenden Handbewegung auf seine Einrichtung) vergessen“. Der älteste Sohn Hans aber wurde vom Besuch einer öffentlichen Grundschule ausgeschlossen und in eine Schule für Erziehungshilfe eingeschult. Eine Erklärung bietet der Junge selbst an. Aus gegebenem Anlass sagt der sehr intelligente und sprachgewandte Hans: „Ich mache was ich will. Meine Mutter sagt immer, du bist für das, was du tust selbst verantwortlich.“ Diese Haltung lebt die Mutter tatsächlich. Ganz gleich, wie sie das für sich begründet: Hans war mit diesem Verständnis von Eigenverantwortung deutlich überfordert. Keine Pflöcke, keine Grenzen an seinem Weg führten ihn in das Chaos einer theoretischen Eigenverantwortung, die er praktisch auf seine Weise füllt. Und das bedeutet, dass er sich von niemanden - auch von Mutter und Vater nicht - etwas sagen lassen will. An diesem Beispiel wird deutlich, dass alle Bedürfniselemente, wie hier zum Beispiel „Anerkennung“, „Vertrauen“, „Förderung“ und „Führung“ nicht allein eng miteinander verflochten sind, sondern auch in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Diese Spannungen sind in einer, auf die jeweilige Persönlichkeit eines Kindes hin orientierte elterliche Haltung auszuhalten und auszugleichen. Nicht jedes Kind reagiert auf elterlichen Führungsanspruch oder Führungsverzicht gleich heftig. Erziehung heißt praktisch und in Bezug auf jedes unserer Kinder gebieten, verbieten, meinem Kind ermöglichen, aus den Folgen seines Verhaltens zu lernen, sowie es belohnen und ermutigen. Außerdem muss ich fordern oder verzichten, beharrlich bleiben oder nachgeben. Jede Mutter, jeder Vater oder jede/r Berufserzieher/in wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in diesem Prozess kein Leid angetan wird. Das heißt, dass wir auf körperliche Züchtigung ebenso verzichten, wie auf die Würde des Kindes verletzende Äußerungen. Gerade in kritischen Situationen wird es sich zeigen, ob wir ruhig und souverän handeln können, ob wir mit Geduld und Verständnis das durchsetzen, von dem wir überzeugt sind, dass es gut ist für unser Kind hier und heute und in seiner Zukunft. Kein Erzieher darf den Anspruch von Kindern auf Orientierung ignorieren und meinen, dass die Anderen oder "das Leben" die Kleinen schon formen werden. Zum Leben eines Kindes gehören zunächst und vor allen andere Menschen: die Eltern, die Erzieher und die Lehrer. Und je jünger die Kinder sind, umso wichtiger sind sie. An uns richten die Kinder mit ihrem Verhalten die Fragen: Wie weit darf ich gehen? - Was darf ich? - Was darf ich nicht? Sie fordern den erzieherischen Dialog mit uns heraus! Und die Kinder haben einen Anspruch darauf, eine klare Antwort zu erhalten! Jede Mutter und jeder Vater wird sich daran erinnern, wie ein Kleinkind etwas tat und dabei genau wusste, dass das nicht in Ordnung ist. Denken wir an einen zweijährigen Jungen, der im Bad spielt, indem er am Waschbecken Wasser in den Zahnbecher laufen lässt und den Becher in die Badewanne leert. Als er merkt, dass 29 er beobachtet wird, entleert er den Becher auf den Fußboden. Dabei schaut er zum Vater und in seinem Gesicht lesen wir die Frage: " Was machst du nun?" Können wir Eltern und Erzieher nun angemessen darauf reagieren? "Angemessen" das heißt, zu erkennen, dass uns das Kind weder ärgern will, noch tut es das, weil es bestraft werden möchte. Mit seinem Verhalten fordert es eine Reaktion heraus (es "provoziert"), die wir so übersetzen müssen: "Zeige mir meine Grenzen!" Grenzen, die einem Kind zeigen, wohin es gehen soll, haben Verhaltenssicherheit zur Folge. „Das tut man" oder „das tut man nicht" sagen wir gern. Die Maßstäbe für das, was gut und richtig ist, nehmen wir einmal aus unserer eigenen Lebenserfahrung; vor allem aber aus der uns umgebenden Kultur, die diese unsere Lebenserfahrung mit beeinflusste. Denken wir an das Beispiel "Zeit", von dem oben bereits im Zusammenhang mit "Geduld" die Rede war. Dass ein Mensch den Faktor Zeit zu beachten hat und zum Beispiel lernen muss pünktlich zu sein, in bestimmten Situationen schnell zu reagieren, seine Zeit einteilen können muss u. v. a. m., das ist ja keine subjektive, willkürlich gesetzte, sondern eine für alle gleichermaßen geltende gesellschaftliche Norm. Wir prüfen also, wenn wir etwas von unseren Kindern verlangen beziehungsweise sie Grenzen erfahren lassen, ob wir unseren Maßstab gleichsam aus einer Laune heraus nehmen oder ob es sich um eine allgemein anerkannte gesellschaftliche Norm handelt. Noch einmal sei darauf hingewiesen: Was wir unbeirrt und mit Festigkeit und bestimmender von innen herauskommender Überzeugung vertreten, das wird auch von unserem Kind akzeptiert. Mag es zunächst maulen und Widerworte geben; es wird sich am Ende fügen, wenn es im Grunde weiß (weil das von Anfang an so war), dass es den Eltern allein um sein Wohl (und nicht um deren Bequemlichkeit, deren Eigensinn oder deren Macht) geht. Wir kommen auf Gesichtspunkte der erzieherischen Autorität immer wieder zurück und beantworten uns folgende Fragen: Schaffen wir Eltern und Erzieher es, "Nein" zu sagen: - wenn unser Kind vor seinem zwölften Lebensjahr auf dem Beifahrersitz unseres Autos mitfahren will? - wenn unser Kind den vereinbarten täglichen Beginn der Hausaufgaben verschieben will, um zuerst zu spielen und dann zu arbeiten? - wenn unser Kind über die festgesetzte Zeit hinaus Fernsehen oder am Computer spielen will? - wenn unser Kind uns veranlassen will, etwas zu kaufen, was wir nicht kaufen wollen? 30 Gerade in unserem vom Konsumdenken beeinflussten Leben in der westlichen Industriegesellschaft und den auf Verführung ausgerichteten Angeboten in unseren Kaufhäusern und Einzelhandelsgeschäften braucht jedes Kind eine Orientierung durch uns – und nicht durch die Auslagen! Wenn wir es schaffen, in diesen und vielen anderen alltäglichen Situationen "Nein" zu sagen, dann verringern wir die Gefahr, dass unser Kind uns auf der Nase herum tanzt, und vor allem, dass es Schaden nimmt in seiner Entwicklung9. Das Bedürfnis nach Förderung Mit Förderung ist das gemeint, was im alten Jugendwohlfahrtsgesetz Anspruch auf Erziehung zu seelischer, geistiger und körperlicher Tüchtigkeit hieß. Eltern bemühen sich nicht selten um die geistige Förderung ihres Kindes, wenn sie versuchen, es mit Hilfe von "Nachhilfestunden" zu fördern, um ihm etwas vermitteln zu lassen, was es einfach nicht begreift. Diese Form der Förderung ist nicht gemeint. Hier geht es um mehr. Das, was Förderung umfasst, beginnt bereits im Säuglingsalter, wie wir oben erfahren haben. Denn wenn unser Säugling und Kleinkind Verlässlichkeit, Zärtlichkeit und Zuwendung, Akzeptanz und Vertrauen erlebt, dann wird es gut gerüstet sein für alle Anforderungen, die das Leben an es stellt. Es soll sich dereinst im sozialen Feld unauffällig bewegen können und dennoch durchsetzungsfähig sein, es soll interessiert und aufgeschlossen sein und gern lernen wollen und Aufgaben bewältigen, auch wenn es mal schwer fällt. Es soll in Krisenzeiten nicht gleich den Kopf verlieren und durchhängen, sondern sich im vollen Vertrauen auf seine eigenen Kräfte auch schwierigen Situationen stellen. Eine Menge guter Eigenschaften wünschen wir uns für unser Kind und fragen uns, was wir denn dafür tun können. Das Beispiel von dem Erkundungsdrang des acht Monate alten Kindes deutete bereits darauf hin, dass wir unserem Kind als einem von Natur aus aktiven Erkunder die Gelegenheit anbieten müssen, die Welt selbst zu erkunden und sich im Entdecken, Ausprobieren und dann weiter beim Spiel zu üben. Dazu braucht es sicher Möglichkeiten, sich zu bewegen, auszutoben, sich im Freien zu tummeln, aber auch einen Platz in unserer Wohnung, eine Ecke, in der es ungestört spielen kann. Spielzeug werden wir ihm kaufen oder schenken lassen, das das Bedürfnis nach aktiver Auseinandersetzung fördert. Dem achtjährigen Jungen der Familie K. schenkten Verwandte einen Roboter aus Blech. Doch das einzige, was das Kind mit diesem Roboter zunächst tun konnte war, ihn aufzuziehen. Dann drehte sich der Roboter um seine eigene Achse. Höflich bedankte sich der Junge, denn er wusste, was sich gehört. Dann zog er mit dem neuen Spielzeug ab in sein Zimmer. Als die Eltern und die Verwandtschaft einige Zeit später nach ihm schauten, konnten sie sich davon überzeugen, dass es noch eine weitere Variante (außer dem Aufziehen) gab, um sich aktiv mit dem neuen Spielzeug zu beschäftigen. Mit Hilfe seines 31 Werkzeugkastens hatte der Junge den Roboter zerlegt und versuchte, das Uhrwerk mit Elementen eines Technik-Baukastens zu verbinden. Die Eltern freuten sich über die Kreativität ihres Jungen. Die Verwandten aber zogen enttäuscht von dannen. In ihren Augen hatte der Junge das Geschenk "kaputt" gemacht. Am besten ist es, wenn wir unsere Kinder mit Dingen spielen lassen, die sie in vielfältiger Weise herausfordern. Es gibt zum Beispiel heute bereits Kindergärten, die tageweise oder ganz auf fertiges Spielzeug und andere, industriell gefertigte Spielmaterialien verzichten. Die Kinder langweilen sich keineswegs. Aus "wertlosem Material", wie Papprollen, Holzstücken oder Stoffresten können phantastische Gebilde entstehen. Und draußen können Kinder mit Sand, Erde, Steinen und Ästen lange spielen ohne sich zu langweilen. Kinder sind von Natur aus kreativ und wissbegierig; man kann auch sagen: sie lernen gern! Dass es aber auch anders sein kann und Kinder geradezu daran gehindert werden, ihre natürlichen Kräfte zu entfalten, zeigt das Schicksal von Heinz. In der Familie, in der er heranwuchs, bestimmte der Fernseher, gekoppelt mit einem Video-Gerät, die Freizeiten. Das Gerät wurde morgens angestellt, und weil die Mutter jede freie Minute vor dem Fernseher hockte, taten die drei Kinder ihr das nach. Am Nachmittag und an den Wochenenden setzte sich noch der Vater hinzu, holte die ausgeliehenen Videofilme aus der Tasche und ließ sie ablaufen. Dabei war es den Erwachsenen gleich, ob die Filme für die noch nicht schulpflichtigen Kinder geeignet waren oder nicht. Als Heinz eingeschult werden sollte, wurde gleichsam aktenkundig, was Erzieherinnen bei seinen sporadischen Kindergartenbesuchen bereits festgestellt hatten: Heinz war (unter anderem) in seiner Sprachentwicklung erheblich zurückgeblieben. In der Familie von Heinz waren ganz einfache Muster des Lernens unbeachtet geblieben: Sprechen lernt ein Kind, wenn es viel spricht und alles benennt oder wenn die Eltern auf seine Fragen antworten; soziale Verhaltensweisen lernt es, wenn es mit anderen Kindern spielt; seinen Körper lernt es zu beherrschen, wenn es läuft, springt und sich vielfältig bewegt. Sehen lernt es, wenn es beobachtet, Fahrrad fahren, wenn es Fahrrad fährt und nicht vom Zuschauen. Kinder lernen also am ehesten, wenn sie etwas tun. An allem Tun sollten möglichst viele seiner Sinne beteiligt sein. Zwingen wir aber ein Kind dazu, passiv zu sein, nimmt es Schaden an Geist und Seele. Es sind gerade die Forschungsergebnisse von Manfred Spitzer (2002) oder Joachim Bauer (2005), die uns heute aus neurologischer Sicht nachweisen, auf welche Weise Kinder gefördert oder auf welche Weise der kindlichen Entwicklung erheblicher Schaden zugefügt werden 32 kann. Eines Tages wird es gar nicht mehr aktiv sein wollen. Das angeborene Interesse am eigenen Erkunden wird dem ebenfalls angeborenen Hang zur Bequemlichkeit Platz machen. Erst wurden die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes übersehen oder missachtet. Bald kommt der Zeitpunkt, wo es nicht mehr will. Später wird es zum Verweigerer, der jede Anstrengung scheut und zu nichts "Lust" hat. Genau hier liegt das Geheimnis der Freude und des Interesses an der Leistung. Gerade bei allen Angeboten, die die Kreativität eines Kindes herausfordern, spielt das eine große Rolle. Dort fallen aber noch andere Faktoren ins Gewicht: Zum Beispiel, die Gelegenheit, den schier unerschöpflichen Bewegungsdrang der Kinder ausleben zu können – auch und nicht zuletzt in Freien -, die Art und Weise der Vermittlung von Wissen, die entsprechenden didaktischen Kenntnisse und Strategien der Pädagoginnen und Pädagogen oder die Arbeitsatmosphäre. Je mehr wir ein Kind bei seinen Leistungsbemühungen ermutigen, umso größer das Interesse. Je weniger wir seine Bemühungen anerkennen und nur das Ergebnis im Auge haben, umso größer die Gefahr, dass ein Kind resigniert. "Versuche es noch einmal! Du schaffst das schon!" sollte ein Kind häufiger hören als: "Lass die Finger davon, dazu bist Du noch zu klein (zu dumm, zu ungeschickt)". Das Bedürfnis nach Freude Fangen wir bei uns selber an: Wir wünschen uns bei allen Gelegenheiten "frohe Festtage, Gesundheit und Freude". Sich auf etwas freuen dürfen und freuen können gilt seit langem als ein Gefühl, das dazu beiträgt, das Leben lebenswert zu machen. Friedrich Schiller widmete dieser - nur dem Menschen eigentümlichen Grundstimmung - ein Gedicht, das Ludwig van Beethoven vertonte und an den Schluss seiner Neunten Symphonie setzte. Die "Ode an die Freude" ist zu einer Welthymne geworden. Auch die christliche Botschaft, und hier besonders das Weihnachtsevangelium stellt die Freude in das Zentrum. Während wir Erwachsenen uns aus gutem Grund "Freude" wünschen, weil wir oft verlernt haben, uns zu freuen, freuen sich Kinder gleichsam von Natur aus. Hier ist uns Menschen die Bereitschaft zu einer Stimmung angeboren, die wir nicht erst lernen müssen. Alle Kinder, denen kein Leid angetan wird und deren Bedürfnisse eine hinreichende Befriedigung erfahren, freuen sich bei vielen Gelegenheiten. Frohsinn und Lebensfreude bringen sie ebenso unmittelbar mit ihrem ganzen Körper zum Ausdruck, wie sie ihren Kummer in elementarer Weise so zum Ausdruck bringen, als stürze die ganze Welt zusammen. Freude und Leid liegen noch ganz dicht beieinander. Und wir Eltern und Erzieher möchten unseren Kindern recht viel Freude bereiten. 33 "Mein Kind macht mir viel Freude" sagen wir dann gern und bringen damit zugleich zum Ausdruck, dass auch unser Kind viel Freude hat. Denn wer Freude schenkt, dem wird Freude gegeben. Oder, wie es im Volksmund heißt: "Wie es in den Wald hinein schallt, so ruft es wieder raus." Freude schenken ist bei Kindern nicht schwer. Gerade weil sie sich noch über alles freuen können, brauchen wir nicht, wie bei Erwachsenen, lange zu überlegen. "womit könnte ich ihr/ihm nur eine Freude machen?" Zugleich aber könnte diese Frage Maßstab dessen sein, was wir "Verwöhnen" nennen. Kinder die alles bekommen, eigentlich noch bevor sie ein begehrliches Auge darauf geworfen haben, werden rasch verlernen, sich zu freuen. Ihnen wird das Leben öde und langweilig. Bereits unsere alten Volksmärchen wussten davon zu erzählen: Nur wer noch Wünsche hat, kann sich auch auf etwas freuen. Dass zur Freude die freudige, spannungsreiche Erwartung gehört, das erfahren Eltern und Berufserzieher immer dann, wenn ein für Kinder besonders bedeutsames Ereignis bevorsteht. Und wieder denken wir an die eigene Kindheit zurück: Die Wartezeit vor der „Bescherung“ am Heiligen Abend, die Zeit, die nicht vergehen wollte, wenn wir mit den Eltern ins Kasperle-Theater oder zur Kindervorstellung ins Theater gehen durften, sie füllte unser ganzes Ich mit freudiger Erwartung aus, die so tief erlebt wurde, dass wir sie noch heute als Erwachsene gut erinnern können. Später, als wir dann groß waren, erlebten wir eine ähnliche spannungsreiche Vorfreude, wenn wir uns auf die Verabredung mit der Freundin /mit dem Freund vorbereiteten. Die Freude eines Kindes wächst also aus freudigem Erleben. "Schau mal!" ruft der zweijährige Karl beim Spaziergang und strahlt vor Aufregung und Vergnügen und zeigt uns einen Käfer, der gerade über den Weg eilt. Und so entdecken unsere Kinder die Welt, sind freudig erregt und können sich vor Freude gar nicht lassen, wenn sie etwas sehen, was ihnen neu ist und/oder gefällt. Nehmen in derartigen Situationen die Eltern keinen Anteil an dieser spontanen Freude (weil sie schlechte Laune haben, weil sie nichts dabei finden, weil sie vermeintlich Wichtigeres zu tun haben u. a. m.), dann wird das Kind verstummen. Es braucht das Echo unserer Teilnahme an allem was es tut und besonders an seiner Freude! Mehr als alles, was Geld kostet, schätzt unser Kind die Eltern. Also schenken wir ihm unsere Zeit und unternehmen gemeinsam so viel wie möglich. Wir denken zum Beispiel an einen Besuch im Zoologischen Garten, einen Ausflug an einen See, an den Spaziergang an einem Bach oder wir denken bei der Planung von Ferien und der Fahrt zum Urlaubsort an unsere Kinder: so können wir Freude bereiten. Freude und Wohlbehagen, Frohsinn und Lachen gehören zusammen. Bereits bei unseren Säuglingen können wir dieses Grundbedürfnis erkennen, wenn sie uns 34 zum ersten Mal anlächeln oder sich durch lebhafte Bewegungen und fröhliches Glucksen signalisieren, dass sie froh darüber sind, uns zu sehen und zu hören. Freude, wenn ich mit diesem Begriff alle diese positiven Gefühle im Menschen zusammenfasse, kommt, wie beim Säugling bereits beobachtbar, in sozialen Beziehungen auf. Ein chinesisches Sprichwort sagt „Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück“. Unser Kleinkind beweist, dass das so ist. Und wenn sich erst ein Kindergesicht unserem fünf Monate alten Säugling liebevoll zuwendet, können wir sehen, wie sich nach großäugigem Erstaunen rasch lebhafte Freude zeigt. Kinder brauchen andere Kinder: das ist für ihre Entwicklung unverzichtbar! Wenn wir unserem Kind Freude bereiten wollen, ermöglichen wir ihm, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sowohl Gleichaltrige als auch Kinder unterschiedlichen Alters brauchen diesen Umgang miteinander. Gewiss treten später, bei Geschwistern können wir das genauso gut beobachten wie in Krippe, Kindergarten oder auf dem Spielplatz, Konflikte auf. Wenn die Eltern mit ihrem fünf Jahre alten Roman in die Stadt fuhren, dann wusste er genau, wo die Spielplätze waren. Dort zog es ihn (und er seine Eltern) hin. Keine größere Freude konnten sie ihm bei diesen Stadtbesuchen bereiten, als mit ihm auf den Spielplatz zu gehen. Dort saßen die Eltern dann irgendwo in Sichtkontakt mit Roman, der mal mehr, mal weniger zielstrebig, auf die im Sandkasten spielenden oder auf den Gerüsten herumturnenden Kinder zuging. Wenn spielbereite und kontaktfreudige Kinder da waren, brauchten die Eltern viel Zeit und Geduld, bis Roman, zufrieden zurück kam und bereit war, weiter mitzugehen. Gelegentlich aber kam es zu Differenzen mit anderen Kindern. Seinen Frust beendete Roman, in dem er zu den Eltern lief und offensichtlich froh war, weggehen zu können. Beim nächsten Besuch in der Stadt aber war der Spielplatz erneut sein Ziel. Freude und Frustration, Lachen und Weinen können also dicht beieinander liegen. Wichtig aber ist es, dass unsere Kinder beides erfahren und frühzeitig ihre sozialen Erfahrungen machen. Ob das mit einer Sandschaufel auf einem Spielplatz ist oder noch mit Windeln am Po, im Kinderzimmer. Das Bedürfnis nach Verständnis Verständnis - in diesem Begriff ist "Verstehen" enthalten. Und das "Verstehen" spielt in unserem Leben eine ganz zentrale Rolle, wie wir es alle täglich am eigenen Leibe erleben. "mit meinen Eltern (meinen Geschwistern, Freunden …) verstehe ich mich gut" "Du verstehst mich nicht", "Du willst mich einfach nicht verstehen" "Niemand versteht mich…", "ich wünsche mir einen Menschen, der mich gut versteht" 35 in allen diesen immer wieder gebrauchten Redewendungen bringen wir die Bedeutung zum Ausdruck, die für uns Menschen ein gegenseitiges Verständnis hat. Welche Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung, um einen anderen Menschen beziehungsweise ein Kind - zu verstehen? Ganz vorne an steht die Erkenntnis, dass wir die Lebensäußerungen unserer Kinder umso besser verstehen, je mehr wir unsere eigenen verstehen. Vor allem, wenn es uns gelingt, uns an unsere eigenen Gefühle in unserer Kindheit und Jugend zu erinnern. Ich bemühe mich weiter, ein Kind zu verstehen, wenn ich ihm richtig zuhöre, mich ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwende und versuche, mich in es hineinzuversetzen. "Emotionale Intelligenz" überschreibt Daniel Goleman sein Buch (1996), in dem er sehr anschaulich und einprägsam über das Einfühlungsvermögen und dessen Bedeutung informiert. "Verständnis" also noch eine andere, sehr wichtige Grundlage: ich meine "Kenntnis", man kann auch "Wissen" sagen. Um Verständnis dafür zu haben, dass ein Kleinkind alles, was es in die Finger bekommt, zum Munde führt und daran herum lutscht oder darauf zu beißen versucht, ist es für Eltern gut zu wissen, dass der Mund - wie alle anderen Sinnesorgane des Kindes - an der Erkundung der Welt aktiv Anteil hat. Er stellt gleichsam so eine Art "Erkundungslabor" dar, das unter anderem prüft, wie etwas schmeckt, riecht, ob etwas mehr genießbar scheint oder weniger… Gewiss sind die Eltern in der Pflicht, darauf zu achten, dass Gegenstände, die bei diesem Prüfvorgang ein Kind verletzen könnten, nicht in einer für es erreichbaren Nähe sind. Ein generelles Verbot oder Verhindern "ba, das tut man nicht" nimmt einem Kind wichtige Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln. Doch um das Verhalten eines Kindes richtig zu deuten und es nicht unnötig zu bremsen, wenn es dabei ist, seine Umwelt zu erkunden und zu lernen, müssen Eltern einfach wissen, was ein Kind zu seinem Gedeihen braucht und warum es etwas tut oder lässt. Ähnliches gilt auch für die Lösungsphasen, also die Perioden, in denen Kinder uns in besonderer Weise zu erkennen geben, dass sie von uns "weg wachsen". Freuen wir uns über jedes unserer Kinder, das uns "vergisst", wenn es am Eingang zum Kindergarten losstürmt und sich über die anderen Kinder freut. Oder über den pubertierenden Heranwachsenden, der jede unserer Äußerungen kritisch prüft und nur noch selten bereit ist, kommentarlos zu "schlucken", was wir ihm sagen oder von ihm erwarten. Wer nicht weiß, dass Kinder, um zu reifen, Erwachsene brauchen, um sich an ihnen reiben zu können, wird eher verzweifeln über die Widerstände seiner Kinder und sie nicht als notwendig und natürlich begreifen. Auch in dieser Entwicklungsphase lauern vielfältige Gefahren auf unsere Tochter, 36 unseren Sohn. Und es braucht von unserer Seite viel Vertrauen in die guten Kräfte in unserem Kind, um auch jene Situationen, die wir als kritisch erleben, mit Gelassenheit und Zuversicht zu leben. Ein Elternpaar mit vier Söhnen, deren Ältester in die Abschlussklasse der Hauptschule kam, war über dessen Trägheit und Wurschtigkeit ganz verzweifelt. "Zu nichts hat er Lust… er hängt nur rum… lässt sich volldröhnen (mit lauter Musik)… zu den Hauaufgaben muss man ihn zwingen… es ist zum Verzweifeln" Zum "Verzweifeln" war aber auch, dass die Mutter ständig und der Vater nach Feierabend dem Sohn ihren Kummer vorhielten und immer wieder prophezeiten: "mach nur so weiter: so wird nie was aus dir!" Es konnten die Eltern davon überzeugt werden, dass diese Phasen vorüber gehen würden und sie ganz fest darauf vertrauen sollten, dass der Junge - und auch die drei jüngeren, von denen eines noch im Kindergartenalter war, ihren Weg schon machen würde. Sie sollten nur fest zu ihnen halten, ihnen, trotz aller Schwierigkeiten die sie haben und bereiten, zur Seite stehen und ihnen behutsam helfen (zum Beispiel dem Ältesten eine Lehrstelle zu finden, eine Perspektive anzubieten…). Während die Mutter sogleich bereit war, ihre verbalen Attacken einzustellen, zu schweigen, wo sie vorher vorwurfsvoll "gepredigt" hatte, anzuerkennen und zu ermuntern, was sie vorher selbstverständlich nahm, blieb der Vater noch skeptisch. Immerhin bremste er sich und verzichtete auf Moralpredigten. Heute, zehn Jahre später, alle drei Jungen sind in ihren Berufen erfolgreich tätig, bestätigten sie, dass ihnen das Wissen um die natürlichen Krisen in der Entwicklung und die aus diesen Kenntnissen erwachsende Zuversicht geholfen habe. Die Konflikte mit den Söhnen verringerten sich und verloren an Schärfe. Stattdessen lernten - nach der Bilanz der Eltern - auch die Kinder, sich und ihre Möglichkeiten günstiger einzuschätzen. Die Mutter hatte sogar den Mut als Elternvertreterin im Kindergarten und dann in der Schule, diese Einsichten dort offen zu vertreten und andere Eltern zu bewegen, mehr Vertrauen in ihre Kinder und mehr Verständnis für sie zu haben. Das Bedürfnis nach Frieden Eigentlich versteht es sich von selbst, dass jedermann in einer friedlichen Welt leben möchte. Es sieht auch so aus, als gelänge es der Staatengemeinschaft zumindest für die Region Westeuropa - den Frieden für die jetzt lebenden Generationen zu sichern. Dieser Frieden ist für die Entwicklung von Kindern der Rahmen, der zu unseren allen allgemeinen Lebensbedingungen gehört, so wie auch der Schutz und die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt. Sind diese gefährdet wie in Kriegen oder durch den unverantwortlichen Umgang mit unseren 37 natürlichen Lebensgrundlagen, werden die elementaren Menschenrechte aller Menschen, besonders aber der Kinder missachtet. Für jedes einzelne Kind von unmittelbarer Bedeutung ist der Frieden in seiner sozialen Umwelt, also der friedvolle Umgang der Familienmitglieder untereinander, der Umgang mit Nachbarn oder mit der Erzieherin im Kindergarten und dem Lehrer oder der Lehrerin. Das Schrecklichste was einem Kind angetan werden kann, sind sich streitende Eltern. Einwände wie: "Kinder müssen frühzeitig lernen, Konflikte auszuhalten und auszutragen" oder: "Streitigkeiten kommen in den besten Familien vor" sind unakzeptable Ausreden, die in dem hier gemeinten Zusammenhang nicht gelten auch wenn sie für sich genommen stimmen. Es gibt unter Erwachsenen beziehungsweise Mutter und Vater verschiedene Meinungen, Auffassungen oder Absichten, die zu Differenzen führen. Das ist ebenso natürlich, wie es Stunden oder Tage gibt, wo man mal nicht so gut beieinander und darum schlecht gelaunt oder besonders reizbar ist. Dies aber sind alles keine stichhaltigen Gründe dafür, eine Familienatmosphäre durch entsprechende Verhaltensweisen zu vergiften. Kinder wissen im Allgemeinen recht gut zu unterscheiden, zwischen einem vorübergehenden Donnerwetter und einer über Stunden und Tage andauernden unfriedlichen Atmosphäre. Wenn Eltern einen an und für sich geringfügigen Anlass("wer hat denn da wieder die Tür aufgelassen, es zieht ja wie Hechtsuppe") dazu benutzen, sich zu zanken und es im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen immer lauter und im Ton aggressiver wird, ja sogar beleidigende, Persönlichkeitsverletzende Äußerungen fallen oder es, was noch schlimmer ist, zu Tätlichkeiten kommt, dann haben wir es hier nicht mit einer empfehlenswerten Strategie zu tun, Konflikte zu bewältigen. Auch Formen des "ich rede nicht mehr mit Dir", des über längere Zeiten andauernden "eisigen Schweigens" oder des sich "Aus-dem-Wege-gehens" (möglicherweise in die nächste Kneipe oder zur guten Freundin) reinigen die Atmosphäre in der Regel nicht, sondern vergiften sie. Wie bereits in früheren Jahren Kinder unter den sich streitenden Eltern litten, zeigen uns die Lebenserinnerungen eines deutschen Erzählers. Ernst Wiechert erinnert sich in seiner Autobiographie „Wälder und Menschen“ (1936, S. 49) an die Ehekrisen im Elternhaus um 1890 und er schreibt: „… aber die tiefste Verdüsterung meines kindlichen Lebens habe ich in jenen zahllosen und endlosen Stunden erfahren, in denen ich vor der geschlossenen Tür oder am Fenster des Schlafzimmers gelauscht habe, ob meine Mutter weine. Und noch schrecklicher als diese sichtbaren Schmerzen waren die Tage kalten Schweigens, die sich an solche Stunden schlossen. Dann war es, als sei alles Leben in unserem Hause gelähmt, als werde die Sonne nie wieder scheinen, als wäre es am besten zu sterben und von der Not der Menschen nie mehr etwas zu wissen…“ 38 Jeder von uns, der Zank und Streit der eigenen Eltern miterlebte, kann das gut nachvollziehen. Eine Mutter erzählte aus ihrer Kindheit: „Wenn sich meine Eltern vor uns Kindern stritten und laut anschrien, dann haben mein Bruder und ich mit geschrien – doch nicht aus Zorn, sondern in heller Panik. Und wissen Sie, wie meine Eltern dann reagierten? Sie schlugen beide auf uns ein… ich werde das nie vergessen“. Wie aber auch immer die Konfliktstrategien in den Familien aussehen: die Kinder stehen zwischen ihren Eltern und leiden. Der Streit zwischen Menschen, zu denen Kinder einen guten Bezug haben oder haben möchten, macht Kinder kaputt. Eine interdisziplinäre Fachtagung, die im November 2006 in Freiburg stattfand und sich dem Thema häuslicher Gewalt und ihrer Folgen in Deutschland befasste, wies an Hand dramatischer Zahlen und Schicksalen nach, dass Kinder Gewalt in der Familie als existentielle Bedrohung empfinden. Oft ist nicht die Scheidung von Eltern der Grund von erheblichen seelischen Erkrankungen von Kindern, sondern die Zeiten, die der Trennung vorausgingen. Ein ganz besonders dramatisches Kapitel in der Geschichte von unfriedlichen Familien ist die Gewalt, die gegeneinander ausgeübt wird. Das kann die Gewalt gegen Kinder sein oder die der Erwachsenen untereinander. Kinder gedeihen nur in einer im Prinzip friedfertigen Umgebung. Und die kann, entsprechende Persönlichkeiten und Einsichten vorausgesetzt, in jeder Familie und, auf eine Gruppe oder Klasse bezogen, auch dort geschaffen werden. Nun wird mich jede/jeder, die/der die Realitäten in unserer Gesellschaft kennt, zu denken ist da zum Beispiel an die Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern, einen weltfernen Träumer nennen. Doch wie für alle genannten Bedürfnisse gilt gerade in Beziehung auf den Umgang von Eltern miteinander und mit ihren Kindern, dass Friedfertigkeit Kindern hilft und Unfriede und Aggressivität Kinder massiv verstört. Um die Auswirkungen auf "Kinder in Gewaltbeziehungen" machte Beate Hinrichs im September 2004 in einer gleichnamigen Radiosendung eindrucksvoll aufmerksam10. In einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken gewalttätige Computerspiele die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder in der Familie und / oder die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu sein, sind nicht selten die Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung zu der als ein Beispiel - die Flucht in die Gewalt (z.B. Gewaltverherrlichenden Filme und Spiele) gehört. Hier ist zum Beispiel weiter an eine weit verbreitete Art und Weise, Gewalt auszuüben und aggressiv zu sein zu denken: an die Zuschauer von Fußballspielen. In den Niederlanden war im November 2012 ein Schiedsrichter-Assistent von Zuschauern tot geprügelt worden. Bei uns in Deutschland sieht es nicht viel besser 39 aus. „Was sich Schiedsrichter von Trainern, Eltern und Spielern, vor allem bei dem Nachwuchs, anhören müssen ist unterste Schublade“11. Über das friedliche Miteinander in den Familien hinausgehend, muss hier auch auf die hohe Bedeutung eines friedfertigen Umgangs zwischen den Erwachsenen aus der Herkunftsfamilie und allen anderen an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten hingewiesen werden. Unter anderem hat die Kooperationsforschung zu Tage gefördert, welch ein Förderungspotential in einem guten Zusammenwirken zum Beispiel zwischen Elternhaus und Kindertagesstätte oder Schule enthalten ist und welche Schädigungen für ein Kind folgen können, wenn Eltern und Erzieher nicht gut miteinander auskommen. Doch selbst in der friedfertigsten Familie bleiben Eltern und Kinder nicht von Zank und Streitereien verschont. Unfrieden aber löst Ängste aus, vor allem bei unseren Kindern. Wenn Geschwister sich in die Haare kriegen, werden Mutter oder Vater als Vermittler gerufen. Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Problematik im Familienalltag ist darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter Geschwistern, genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das Einzelkind tritt unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden Geschwisterchens. Das Bedürfnis nach Sinn "Den Sinn des Lebens anzunehmen, als den konkreten Inhalt dieses konkreten einmaligen Lebens, macht aus, mit meinem Eigentlichen identisch zu sein". (Monika Maron 1981, S. 99) Während für uns Erwachsene die Frage nach dem Sinn unseres Lebens von existentieller Bedeutung ist, wachsen unsere Kleinen zunächst noch heran, ohne über sich nachzudenken. Unsere Kinder sind im Kreise von Eltern und Geschwistern geborgen und wenn sie auf die Frage nach dem Sinn ihres Daseins antworten könnten, dann würden sie vermutlich sagen: "Mein Leben hat den Sinn, dass ich da bin". Tatsächlich fließt unseren Kindern, vor allem zunächst im Kleinkindalter, der Lebenssinn durch uns Erwachsene zu: Wenn wir uns darüber freuen können, dass dieses Menschlein auf der Welt ist und wächst und gedeiht, darüber, dass es lächelt, laufen lernt und zu sprechen beginnt, dann teilt sich dem 40 Kind diese Freude mit. Auf diese Weise lernt das Kind, sich seines Daseins zu freuen, sich positiv zu erleben. Diese Grunderfahrung ist die Voraussetzung dafür, dass unser Kind, je älter es wird umso mehr, ein gutes Bild von sich selbst aufbauen und einen Sinn in seiner Existenz sehen kann. Auch ein Kind, das durch Krankheit und Behinderung früh gezeichnet ist, lernt, sein Dasein anzunehmen, in erster Linie durch die positive, fürsorgende Zuwendung, die Freude an seiner Existenz, die die Eltern dem Kind zeigen. Es sind gerade die belastenden, die seelischen Kräfte von Eltern und Kindern besonders herausfordernden Lebenssituationen, aus denen allen Beteiligten Lebenssinn zuwächst. Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor Frankl, der die Bedeutung der Sinnfrage im menschlichen Leben in den Vordergrund seiner Arbeit stellte, sagt unter anderem, dass jeder Mensch selbst die Antworten auf die Fragen nach dem Sinn seines Lebens finden kann. Er findet sie mit Hilfe seines Gewissens, das ihm sagt, auf welche Weise er auf die Lebenssituation, in der er sich befindet, antwortet, sie verantwortet. Mit dieser Erkenntnis wird uns die Bedeutung des Gewissens vor Augen geführt, das uns in allen kleinen und großen Entscheidungen unseres Lebens berät. Also ist die Frage nach dem Sinn eng mit der Herausbildung eines Gewissens verknüpft. Unser Gewissen entwickelt sich gleichsam im Dialog mit unseren Eltern und den anderen Menschen und in den Situationen, die wir erleben. Es sagt uns in allen Lebenslagen, was gut ist und was schlecht. Armin Krenz (2008) verbindet darum auch die Frage nach dem Sinn ganz eng mit der nach der Heranbildung unserer Werte. Im Grunde bilden die hier vorgetragenen Grundbedürfnisse zugleich eine Werteskala ab, wie in der Einführung bereits angedeutet. In dem Ausmaß, in dem ein Kind die mit ihr verbundenen Haltungen bzw. Verhaltensweisen durch alle ihm wichtigen Bezugspersonen erfährt, kann sich sein Gewissen ausbilden und das Kind Sinn erfahren. Als Kläre mit fünf Jahren an einer fieberhaften und ansteckenden Krankheit litt, musste sie in ein Kinderkrankenhaus. Es war das erste Mal, dass sie sich unter diesen für Eltern und Kind gleichermaßen belastenden Umständen von der Familie trennen sollte. Die Konzeption des Krankenhauses aber ermöglichte es, dass jeweils ein Elternteil das Krankenzimmer mit dem Kind teilen konnte. Es war darum für Mutter und Vater selbstverständlich, dass sie, obwohl beide in ihren Berufen sehr gefordert waren, abwechselnd über Nacht bei der Tochter schliefen. Sie konnten ihr die Hand halten, die Beine wickeln und jene Pflege und Fürsorge angedeihen lassen, die das Kind rasch wieder gesund werden ließ. „Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit in Beziehungen zu den Eltern erleben“ signalisiert einem Kind, gerade wenn es die Eltern in besonderer Weise fordert, dass es wichtig ist in dieser Welt, dass seine Eltern es „brauchen“. Selbst wenn es so nicht ausgedrückt wird, so wächst mit dem Sinn, den Eltern mit der 41 Existenz ihres Kindes für sich selbst verbinden, auch dem Kind Lebenssinn zu. Und dieser Sinn bleibt, solange die Eltern leben. Und jedes Kind darf sich glücklich schätzen, wenn es die eigene Sinnerfahrung als Erwachsene in eine neue Beziehung, in die eigene Partnerschaft mit einbringen kann und nun – gleichsam in der nächsten Generation – Sinn und Wert in einer Partnerbeziehung neu gestaltet. Es ist weiter anzuknüpfen an das Bedürfnis des Kindes nach "klärenden Antworten" wie sie oben erwähnt wurden. Diese Antworten durch uns Eltern, durch Erzieherinnen / Erzieher und Lehrerinnen / Lehrer sind es, die maßgeblich das Gewissen formen. Aber auch die Erfahrungen von Sicherheit, Liebe, Anerkennung, Vertrauen, Geduld, Förderung oder Frieden beeinflussen unsere Maßstäbe und damit unser Gewissen. Halten wir uns auch vor Augen, dass eigene Leistungen und der Verzicht unsere Gewissensbildung beeinflussen. Denken wir zum Beispiel an die "Erziehung zur Sauberkeit": Unser Kind lernt durch unsere Ermunterung und Freude, seine Ausscheidungen "herzugeben" und zugleich seine Darm- und Blasenfunktionen zu "beherrschen". In ähnlicher Weise werden wir von ihm später Verzicht und Leistung erwarten, wenn es darum geht, eine Tätigkeit zu unterbrechen und zum Essen zu kommen oder uns hier und dort ein wenig zur Hand zu gehen oder, was wohl sehr häufig geschehen wird, seine spontanen Wünsche, die wir ihm nicht erfüllen ("Mutti ich will ...," "Mutti, kauf mir..."), zu verarbeiten. In dem Ausmaß, in dem es uns im Großen und Ganzen gelingt, aus Leistung und Verzicht gleichsam einen seelischen Erfolg werden zu lassen, helfen wir am Aufbau eines Gewissens und damit zum Fundament späterer Sinnerfüllung. Denn nach solchen Situationen hat ein Kind in seinem Innern ein gutes Gefühl, weil es seine eigene Trägheit oder seine momentane Begehrlichkeit überwand. Voraussetzung unserer Bemühungen freilich ist, und dies gilt gerade im Zusammenhang mit der Erziehung zu Sinn und Wert eines Lebens, dass Eltern selbst Sinn und Werte vorleben. Und noch ein Beispiel: Sinnerfüllung findet der Mensch in der Hingabe an eine Aufgabe. In Bezug auf Kinder sagen wir gerne, dass sie selbstvergessen spielen. Unseren Kindern diese Erfahrung zu ermöglichen, dass sie sich einem Spiel beziehungsweise einer Tätigkeit voll "hingeben" können, lehrt sie, dass aus dieser Hingabe Sinn wächst. In den späteren Jahren, im Jugend- und Erwachsenenalter, empfinden wir den Mangel oder das völlige Fehlen einer Aufgabe (wir sagen dann: "für die es sich zu leben lohnt") als existentielle Frustration. „Schön ist, was Sinn macht, eine Arbeit, eine Lust, ein Schmerz, ein Gedanke – all das, was besonders bejaht und somit zur Quelle des Lebens wird…“ sagte Wilhelm Schmid (SWR 2, in der Sendung „Aula“ am 1. 1. 2007, Manuskript S. 7). In dem Maße, in dem jeder von uns seinen Sinn findet und lebt, verwirklicht er sich selbst. Ein Leben, das überwiegend vom Streben nach Berufserfolg, materiellem Reichtum, Lustgewinn oder Kick so oft wie möglich und koste es was 42 es wolle (bzw. auf wessen Kosten auch immer) bestimmt wird, ist also mit "Selbstverwirklichung" nicht gemeint! Unser Gewissen sagt uns stattdessen, dass wir uns in dem Ausmaß (als Menschen) verwirklichen, in dem wir uns "selbstvergessen" einer Aufgabe, einer Pflicht widmen, die von uns den vollen Einsatz unserer Persönlichkeit fordert. Was für jeden von uns "Sinn" bedeutet, hat in seinen Schriften besonders Viktor E. Frankl vorgetragen (z. B.: Der Mensch auf der Suche nach Sinn". Freiburg o. J.). Bereits Wilhelm von Humboldt hielt in seiner Schrift „Theorie der Bildung des Menschen“ von 1793 fest, dass der menschliche Geist nach Selbstvervollkommnung strebt und die auf dem humanistischen Denkmodell fußenden Lebensphilosophien stellen den Menschen in Bezug auf seine Entscheidungen in die eigene Verantwortung. Wir brauchen, um dieser Eigenverantwortung für den Sinn unseres Lebens gerecht werden zu können, ein hohes Maß an Selbständigkeit, Selbstkontrolle und Wertebewusstsein. Für die Heranwachsenden, die sich dieser Verantwortung für den Sinn ihres Lebens gewachsen fühlen sollen, aber bleibt - gerade in diesem hier nur angedeuteten existentiell ebenso bedeutsamen wie sensiblen Bereich - das gute Vorbild aller, die für sie Bedeutung haben. Eltern und Berufserzieher werden sich die Frage stellen, was sie - über das eigene Vorbild hinaus - dafür tun können, dass bei ihren Kindern die mit einer sinnerfüllten Existenz verbundene seelische Gesundheit ermöglicht wird. Ich sehe diesen Weg nicht als gar zu schwierig an. Gewiss wäre es müßig, über die Sinnfrage mit Kindern vor den pubertären Phasen diskutieren zu wollen. Statt dessen vertrauen wir auf das jedem Menschen innewohnende Bestreben, seine in ihm vorhandenen Möglichkeiten (Begabungen, Neigungen, Charaktereigenschaften u. ä.) zur Entfaltung zu bringen, sein Leben selbst zu verantworten und weitgehend unabhängig zu sein - also mehr oder weniger bewusst und gezielt sein "Selbst" verwirklichen zu wollen. Diese, nach Carl Rogers (1994, S. 99 f) von Natur aus vorhandenen guten Strebungen bedürfen im Alltag Zielvorgaben. Der zweijährige Fabian, der von seiner Mutter in eine Kleinkindergruppe gebracht wurde und dort auf andere Kinder traf, "vergaß" nach kurzer Zeit die Mama. Die anderen Kinder waren ihm wichtig und selbstvergessen nahm er die vielen Gelegenheiten zu sozialen Kontakten im gemeinsamen Spiel wahr. Das Streben, sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben, die nicht die eigene Familie ist, dort angenommen und wahrgenommen zu werden, zieht alle Kinder - genau wie Fabian - zu anderen Kindern. In vergleichbaren Altersphasen erleben alle Eltern, dass ihre Kinder gern auf die Spielplätze gehen, auch in fremden Städten und in anderen Ländern. Diese sozialen Kontakte vermittelten schon sehr früh das bewusste Streben nach Zielen. Wenn ein Kind erlebt, dass ein anderes Kind etwas kann beziehungsweise tut, was ihm noch fremd ist aber reizvoll erscheint, wird es das ebenfalls tun wollen. Einen Drachen steigen lassen, ein Modellflugzeug bauen: das Leben eines Kindes ist überreich an Anregungen, die ihm aus der sozialen Umwelt zuwachsen und die ihm Ziele vorgeben. Wir Erziehenden greifen lenkend und fördernd ein 43 und achten darauf, dass nicht das "Haben" das Grundmotiv ist (oder gar bleibt), sondern das bewusste Streben nach einem Ziel. Nicht also der Besitz eines Konstruktionsspielzeugs zum Beispiel, wie es ein Modellflugzeug sein kann, sondern der Bau und die Flugfähigkeit - also das "Tun" steht im Vordergrund. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es nicht wenig Geduld, Geschick, Lernbereitschaft und Ausdauer. Aber auch Verzicht wird geübt, wenn stattdessen andere, vielleicht leichtere und bequemere Spielalternativen zurückgestellt werden müssen. Fabian ist inzwischen drei Jahre alt und beginnt, sich für Spielzeug zu interessieren, das vergleichbare Anforderungen stellt, wie das Beispiel vom Modellflugzeug. Die Angehörigen und die Berufserzieher in der Tagesstätte haben diese Interessen im Auge und stimmen ihre Angebote darauf ab. So wie bei ihm tun das in einer guten Einrichtung alle Berufspädagogen in Bezug auf alle Kinder und achten darauf, welche Angebote welche Kompetenzen zu fördern vermögen und den betreffenden Kindern Erfolgserlebnisse vermitteln. Diese Schritte: Angebot / Anregung - Ziel (das will ich können / erreichen) Durchführung (Leistung) - und Erfolg (Produkt) erleben ein Kind und seine Eltern und Erzieher als Freude (Stolz). Nehmen wir die Erkenntnis von der Bedeutung einer sinnhaften Existenz in den Blick, dann wissen wir jetzt, dass diese scheinbar winzig kleinen Schritte einem Heranwachsenden ermöglichen, seinem Leben Ziele und damit Sinn zu geben. Ohne Sinn kann der Mensch nicht leben“ sagt Viktor Frankl und beschreibt „Wege zum Sinn“ (Alfried Längle, 1985). Bereits Antoine de Saint Exupery hat hierin die Bestimmung des Menschen gesehen und mit seinem eigenen Leben vorbildhaft verwirklicht. Sein Gebot „Dem Leben einen Sinn geben“ (1952) steht als bewusster oder unbewusster Auftrag vor jedem Einzelnen und macht, sobald er seinen Lebenssinn gefunden hat, einen guten Teil seiner seelischen Gesundheit aus. Am Anfang individueller Entwicklungen aber stehen die Kindheitsphasen und in ihnen alle Erwachsenen, die für ein Kind Vorbilder sind. Zum Schluss In einem Brief schrieb eine Erzieherin sinngemäß, dass alles das, was hier als Grundbedürfnisse aufgelistet und erörtert worden ist, für jeden Menschen gilt. So ist es in der Tat! Und wenn in diesem Beitrag auf Kinder abgehoben wird, dann ist dieser Akzent den Adressaten, den pädagogischen Fachkräften geschuldet. Jede Leserin und jeder Leser kann leicht nachvollziehen, dass für sie und ihn jedes der genannten Bedürfnisse hohe Bedeutung besitzt. Vielleicht in bestimmten Lebensphasen oder Situationen mal das eine mehr als das andere. Doch sind Erwachsene in anderer Weise betroffen. Ganz allgemein und stark vereinfachend ließe sich das geflügelte Wort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ins Feld führen und sagen, dass Erwachsene in der Lage sind, selbst dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen. Und fragt man danach, ob sie noch andere, 44 als die genannten Grundbedürfnisse haben, werden sie noch viele andere nennen, an die hier gar nicht gedacht worden ist. Bei Kindern verhält es sich ganz anders. Sie wachsen erst heran, sie „entwickeln“ sich – und wissen noch nichts von ihren „Grundbedürfnissen“. Sie leben, und leben gern und voller Frohsinn und Lust, mit wahrhaft unbekümmerter Freude über jeden neuen Tag, wenn sie sich geliebt und geborgen fühlen. Für ihre Entwicklung tragen die Eltern und Berufspädagogen gemeinsam mit dem ganzen sozialen Umfeld und in unterschiedlicher Weise die Verantwortung. Darum hat jeder erwachsene Mensch, der mit Kindern umgeht, die hier genannten Bedürfnisse – gleichsam als eine Norm – zu beachten, um die Entwicklung eines Kindes von der Zeugung bis zu der ihm möglichen Selbständigkeit in positiver Weise zu fördern, sein „Wohl“ zu sichern. Kinder, bei denen in unserer Gesellschaft die in diesem Buch vorgetragenen Grundbedürfnisse nicht oder unvollständig befriedigt werden, brauchen Hilfe. Einen Hilfebedarf gibt ein Kind durch sein Verhalten in Kindergruppen, wie zum Beispiel in Kindergärten oder in der Schule, deutlich und unübersehbar zu erkennen. Auf diesen Hilferuf hin vergewissern sich Berufspädagogen bei den betreffenden Kindern und ihren Eltern, ob und welche Gründe ihn auslösten. Jede Erzieherin, jeder Erzieher in einer Kindertagesstätte und jede Lehrerin, jeder Lehrer in den Schulen weiß, dass allen Kindern und ihren Eltern von unserem Grundgesetz her Unterstützung zugesichert ist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz sind die Hilfsmöglichkeiten festgeschrieben. Sie können sowohl innerhalb von Familien geleistet werden, als auch die Familienerziehung flankieren oder ergänzen, wie Kindertagesstätten: Es gibt darüber hinaus Hilfsangebote, die vorübergehend oder für längere Zeit an die Stelle der leiblichen Eltern treten, wie Pflegestellen oder Heime. Es ist zu unterstreichen, dass alle diese Hilfeformen einander gleichwertig sind. Sie rechtfertigen sich in jedem Einzelfalle vor dem Hintergrund einer aktuellen und sorgsam nachgewiesenen Bedürfnislage. Es sind die Sozialen Dienste der Jugendämter und der Wohlfahrtsverbände, die allen sorgeberechtigten Müttern und Vätern zur Seite stehen, sie auf deren Wunsch hin beraten und ihnen und ihren Kindern die jeweils geeigneten Hilfen anbieten. In dieses Netz von Familie, Pädagogischer Einrichtung und sozialen Diensten, deren Aufgaben darin bestehen, für das Wohl aller Kinder Sorge zu tragen, sind auch die Gemeinden bzw. Stadtbezirke, Kinder- und Jugendorganisationen wie z. B. Sportverbände, die Familiengerichte und die Gesundheitsämter eingebunden. Es sollte allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Organisationen genauso wie den Angehörigen einer Familie das Wohl der Kinder, und das heißt konkret: die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse, ein hohes und unverzichtbares Gut sein. Sie basieren, wie hier geschildert, auf den Erkenntnissen der verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaften, zu denen auch das Konzept des lebensbezogenen Ansatzes in der Pädagogik gehört. Unter dieser Bezeichnung finden wir den „bisher einzigen didaktischen Ansatz, der direkt auf dem Grundbedürfnisansatz beruht“ (Jutta Mägdefrau 2007, S. 84. Norbert Huppertz 2008 1/3). Die Aufgabe, in Konzeption und Praxis von den Grundbedürfnissen auszugehen, stellt sich auch all jenen, die sich darum bemühen, den Personen und 45 Personengruppen gerecht zu werden, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus, zu uns nach Deutschland gekommen sind. Gerade, wenn es sich um Eltern und ihre Kinder handelt, die einem anderen Kulturkreis angehörten, ist die in diesen Texten vertretene Einsicht, dass alle Menschen die gleichen Grundbedürfnisse haben, sehr wichtig. Zu denken ist da zum Beispiel an gesellschaftliche Gruppen wie Religionsgemeinschaften, deren Wertvorstellungen von jenen abweichen, wie sie in unseren westlichen Demokratien, angefangen von der Erklärung der Menschenrechte bis hin zu Verfassung und Recht, die bei uns gelten, selbstverständlich sind. Denken wir nur an die Ausführungen von Jesper Juul über die Anerkennung der kindlichen Persönlichkeit, ihrer Würde und Unantastbarkeit und daran, dass diese Normen für Mädchen und Jungen, für Frauen und Männer gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung oder Krankheit sind in allen Personen die gleichen Bedürfnisse vorhanden und haben einen Anspruch darauf, von den sozialen Gemeinschaften beachtet zu werden. In Familien, Kindergruppen, Schulen oder an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen begegnen wir uns in diesem Verständnis. Und wenn „Integration“ als Konzept inzwischen von allen diesen sozialen Gemeinschaften gefordert wird, dann wird sie umso eher gelingen, je überzeugender Grundbedürfnisse, wie zum Beispiel die nach Anerkennung, Förderung oder Freude erlebt und vorgelebt werden. In unserem Alltagsleben – und ich greife eine Forderung von Bernhard und Helma Hassenstein (7/1978, S. 56) auf – kommt es darauf an, dass wir uns vorbildhaft verhalten und durch gemeinsames Tun zu Leitbildern für unsere Kinder werden. Kinder sind für sich selber da und nicht für uns Erwachsenen. Diese schlichte Erkenntnis wird in dem Ausmaß verwirklicht, in dem wir unserer Verantwortung gerecht werden, für die Beachtung der Grundbedürfnisse eines Kindes zu sorgen. Von dieser Fürsorge – wenn sie denn im hier dargestellten Verständnis verwirklicht wird – emanzipiert sich unser Kind vor allem ab der Pubertät mehr und mehr. Und ist eines Tages das Ziel all unserer Fürsorge erreicht und unser Kind tritt uns als selbständige, eigenverantwortlich handelnde Persönlichkeit gegenüber, dann ist das bis zu diesem Zeitpunkt von uns und dem Kind so erlebte „Gefälle“ zwischen uns ausgeglichen. Tochter oder Sohn werden uns in ihr „eigenes Leben“ verlassen, aus dem wir uns strikt herauszuhalten haben. Helfen, Beistehen, Raten werden wir uns sicher in differenzierter Weise gegenseitig, wenn es denn von uns oder unseren Kindern gewünscht wird oder eine Notlage gebietet. Die Eltern – Kind – Beziehung wird bei verständnisvoller, und das heißt die Grundbedürfnisse beachtender Haltung eine neue und beide Teile beglückende Dimension erreicht haben. Unschwer lässt sich erkennen, dass alle die hier besprochenen Bedürfnisse von Kindern nicht nur innerhalb einer Familie beachtet werden sollten, sondern in Kindergarten und Schule und darüber hinaus in unserem ganzen Leben eine gleichrangige Bedeutung haben. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf Pestalozzi verwiesen. Er war es, der dem Menschen die Aufgabe stellte, „Werk seiner selbst“ zu werden. Wir können das, was Pestalozzi meinte, mit den von Maslow genannten Bedürfnissen vergleichen und sagen: nach der Befriedigung der physischen und Sicherheits- Bedürfnisse, sowie dem Wunsch nach 46 Anerkennung und Akzeptanz von den Eltern und in den gesellschaftlichen Gruppen, erfüllt sich ein Menschenleben, wenn es dem Einzelnen gelingt, seinen eigenen unverwechselbaren Weg zu finden. Es haben gewiss viele Mütter, Väter und Erzieherinnen und Erzieher in der eigenen Kindheit manches von dem entbehren müssen, was hier alles genannt worden ist. Und sie werden sagen: „trotzdem ist aus mir etwas geworden“. Damit bringen sie zum Ausdruck, dass wir im Erwachsenenalter ein „Werk unser selbst“ wurden. Der Pädagoge Armin Krenz überträgt gleichsam das Pestalozziwort in unsere Zeit, wenn er schreibt (Freiburg 1999, S. 53): „Ich bin der, der ich bin, und kann mich jederzeit ändern, wenn ich es will.“ Auf unserem Willen also kommt es an und auf die Kraft, gegenüber uns selbst unseren Willen durchzusetzen, wenn wir etwas ändern möchten. Und auf diese Weise überwanden wir auch die negativen Erfahrungen unserer Kindheit und Jugend. Ob wir unseren Kindern diese Erfahrungen ersparen wollen und ihnen das geben, was sie für ihr Gedeihen brauchen, das liegt in unserer Verantwortung. Dass damit nur einige Grundbedingungen gegeben sein werden und im Übrigen noch viel in Erziehung und Bildung zu tun bleibt, das zeigen uns die nächsten Kapitel, in denen einige Themen aus dem pädagogischen Alltag in Familien besprochen werden. Stets aber denken wir an das zurück, was Kinder brauchen, denn hier finden wir die meisten Antworten zum Beispiel auf die Fragen nach dem „Wie“: was kann ich tun oder was muss ich lassen, um zu erreichen, dass mein Kind selbständig wird und sein Leben meistert. 2. Teil Was Eltern und Berufspädagogen bewegt 2. Übereinstimmungen in der Erziehung Einführung Eigentlich versteht es sich von selbst, dass Eltern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder wenigstens soweit übereinstimmend handeln, dass Kindern 47 entwicklungsschädigende Diskrepanzerfahrungen erspart bleiben. Nicht immer aber besteht eine derartige Übereinstimmung. Dieser Mangel kann zu erheblichen Konflikten führen, die den Familienfrieden empfindlich stören. Hier ein Beispiel: In einer Familie gibt es erheblichen Ärger wegen des Fernsehens. Die Eltern sind der Überzeugung, dass zu viel und unkontrollierter Fernsehkonsum ihrer fünfjährigen Tochter schadet. Mutter und Vater sind sich einig und haben den Fernseher aus dem Wohnzimmer verbannt. Aber Opa, der mit der Oma in der unteren Wohnung des Zweifamilienhauses lebt, Rentner ist und viel Zeit vor dem Fernseher verbringt, findet nichts dabei, wenn sein Enkelkind ihm beim Fernsehen Gesellschaft leistet. Also geht die Tochter einfach die Treppe hinunter und schaut beim Opa mit. Wenn immer ein Kind zwischen derartige unterschiedliche Auffassungen gerät, sucht es sich, wie das Fernsehbeispiel andeutet, die für sich bequemste oder günstigste/ angenehmste Alternative aus. Es gibt aber noch andere Reaktionsmöglichkeiten von Kindern. Denken wir nur an unsere Erfahrung, dass Kinder Vater und Mutter, Eltern und Großeltern, Elternhaus und Schule in derartigen Situationen gegeneinander ausspielen können. Suchen wir Antworten auf folgende Fragen: Was heißt „entwicklungsschädigende“ Unstimmigkeiten? Welche Erfahrungen haben wir in Situationen, in denen wir nicht an einem Strang zogen, mit unseren Kindern und mit uns gemacht? Welche Vorteile hat es, wenn wir -Eltern/Erzieher- übereinstimmen im Handeln oder sogar im Denken und Fühlen? Was können wir tun, um diese Übereinstimmung herzustellen und zu sichern? Am Anfang sollen einige Informationen gegeben werden, die uns darauf aufmerksam machen, dass unsere Erziehungsbemühungen Teil eines recht komplizierten Beziehungsgefüges sind. Dies hier dargestellte Bild, beziehungsweise „System“ einer Familie halten wir uns immer vor Augen, wenn wir über Erziehungsfragen nachdenken. Es gilt also auch für alle anderen Kapitel. Und immer wieder auch werden wir feststellen, vor allem, wenn wir an die Ausführungen über die Grundbedürfnisse denken, dass bereits Vertrautes aufschimmert, es Bekräftigungen aber auch Ergänzungen gibt. Die Familie als interaktives Geflecht Halten wir uns die Heranbildung einer Familie kurz vor Augen: Eine Frau und ein Mann lernen sich kennen und lieben; sie beschließen, zusammenzuziehen und beieinander zu bleiben. Häufig heiraten sie auch. Bereits in dieser Zweierkonstellation - einer Dyade - gibt es eine Fülle wechselseitiger Beziehungen, mit einer eigenen Dynamik. Ohne an dieser Stelle eine ausführlichere Analyse vorzunehmen, sollen fünf Elemente dieser Beziehung erwähnt und erläutert werden: 48 Die Erwartungen: Jeder der beiden Partner trägt an sich selbst und an den Anderen Erwartungen heran. Hierzu ein Beispiel: Untersuchungen ergaben, dass junge Frauen und Männer an ihre künftigen Partner sehr unterschiedliche Erwartungen herantragen, was die Mithilfe im Haushalt betrifft. Während die befragten weiblichen Jugendlichen es als selbstverständlich betrachteten, dass ihr Mann später seinen Anteil an der Hausarbeit übernimmt, sehen das 2/3 der befragten männlichen Jugendlichen ganz anders. Sie erwarten, dass sie keine Arbeitsleistungen im Bereich des Haushalts zu erbringen haben, weil das eine Sache der Frau sein soll. Leider wird über die gegenseitigen Erwartungen zu wenig miteinander gesprochen oder während der Phase des Honey-Moon als nicht so wichtig angesehen. Es lässt sich voraussagen, dass jeweils unterschiedliche Erwartungen zu erheblichen Konflikten führen werden -„wenn ich das vorher gewusst hätte ...“-. Hier sind zu einem hohen Anteil Ursachen zu suchen, die später zu Trennung und Scheidung führen. Die Wahrnehmungen: Auch die Wahrnehmungen sind subjektiv. Sowohl das Selbstbild - so sehe ich mich - als auch das Fremdbild - so werde ich gesehenkönnen differieren. Der Volksmund verwendet das geflügelte Wort von der „Liebe, die blind macht“. Zu dem Bereich der Wahrnehmungen gehört nicht nur das Sehen. Auch das richtige Deuten von Aussagen der Partnerin/des Partners und die die Sprache begleitende Gestik, Mimik, der Ton sind sehr schwierig und bergen die Gefahr vieler Missverständnisse. Die Gefühle: Sie sind es, die über die „Einfärbung“ von Erwartungen und Wahrnehmungen entscheiden. Sie stehen in einem ständigen Austausch untereinander und fragen sich gleichsam in jedem Menschen ständig: Stimmen meine Gefühle wie Liebe oder Zuneigung noch mit dem überein, was ich am Anderen wahrnehme, wie sie/er meine Erwartungen erfüllt? Können sie das ausgleichen, was ich lieber anders hätte? Gefühle können sich allmählich verändern. Günstigstenfalls wird aus Liebe verständnisvolle Zuneigung, in ungünstig verlaufenden Beziehungen sprechen wir von Gewöhnung und/oder Gleichgültigkeit. Gelegentlich kommen Eheleute so weit, dass sie der Partnerin/dem Partner absichtlich „zu Leid“ leben. Die Kommunikation: In der Begegnung mit anderen Menschen kommunizieren wir mit ihnen. Wir sprechen miteinander, drücken unsere Erwartungen, Wahrnehmungen und Gefühle in Sprache, Mimik und Gestik aus. Die Kommunikationsforschung hat uns hier ebenso verständliche wie überzeugende Informationen anzubieten (Watzlawick 1989 und Hofstätter Stuttgart 1966). Die gemeinsamen Tätigkeiten: Vielleicht wird gerade dieses Beziehungselement von Frauen und Männern, die lange allein lebten, als besonders gravierend erfahren. Partnerschaft ist dadurch charakterisiert, dass man nicht mehr alles 49 allein tun muss. Gemeinsam wird gegessen, spazieren gegangen, ein Kino oder eine Gaststätte aufgesucht, Sport miteinander getrieben, in die Ferien gefahren und vieles andere mehr gemeinsam unternommen. Sogar vor dem Fernseher sitzen die Eheleute nun häufig zu zweit. Voraussetzung von Harmonie in einer derartig gemeinsam gelebten Partnerschaft ist freilich, dass nicht allein eine Person der anderen etwas aufzwingt. Noch einmal sei darauf hingewiesen: Das sind nicht alle Beziehungselemente! Zwischen den Partnern kommen noch die Sexualität hinzu, solidarische Verhaltensweisen - einer unterstützt/hilft/verteidigt den anderen, gemeinsame Vorlieben und Steckenpferde, wie Reisen, Musizieren, Tanzen, bestimmte musikalische Richtungen... u. a. m. Eine Partnerschaft ist also ein ebenso kompliziertes wie vielseitiges und empfindliches Beziehungsgefüge dessen Charakteristika die Gegenseitigkeit und die Veränderbarkeit sind. Urie Bronfenbrenner fasst diese Dynamik von Dyaden in den Satz: „Wenn sich bei einem Beteiligten an der Dyade etwas verändert / eine Entwicklungsveränderung eintritt, verändert sich auch beim anderen etwas“ (Stuttgart 1983, S. 74). In der soziologischen Literatur wird die Familie als soziales System definiert. Die Wechselseitigkeit -Fachbegriff: Reziprozität- und gegenseitige Abhängigkeit – Interdependenz - des zwischenmenschlichen aufeinander bezogenen Handelns – Interaktion - sind Eigenschaften eines sozialen Systems. Und nun kommt der Tag, da tritt in dieses Beziehungsgefüge eine weitere Person ein: das erste Kind. Dieses Kind verwandelt die Zweierbeziehung in eine Dreierbeziehung, die es von Anfang an sehr aktiv beeinflusst. Für das Kind ist - nicht nur in unserem Kulturkreis - zunächst die Mutter die wichtigste Person. In den vorgeburtlichen Phasen und nach der Geburt immer stärker werdend, beeinflussen die physischen und psychischen Kontakte zur Mutter die Entwicklung des Kindes. Aber auch in der Mutter-Kind-Beziehung wirkt das Prinzip der Wechselseitigkeit und es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Kind auf seine Mutter einen größeren Einfluss ausübt, als das umgekehrt der Fall ist. Von Anfang an braucht ein Kind, wie im Kapitel über die Grundbedürfnisse ausführlich beschrieben, Anerkennung, Sicherheit, Vertrauen, Förderung, Verlässlichkeit, Verständnis und Zuneigung um gedeihen zu können. Ängstlichkeit, Besorgtheit und Verzärtelung sind ungeeignete Formen der Zuwendung. Der Vater steht trotz dieser Beziehungspriorität zwischen Mutter und Kind keineswegs draußen. Seine Rolle in dem „System“ dieser Familie verändert sich aber ebenso, wie die der Mutter. Für das Kind wird er allmählich die gleiche Bedeutung erhalten wie die Mutter und muss seinen Platz finden und ausfüllen. Kommen ein oder mehrere Kinder hinzu, verändert sich jedes Mal das Beziehungsgefüge erneut. Die Eltern stehen wegen ihres Entwicklungsvorsprungs gemessen an ihren Kindern - in besonderer Verantwortung, weil sie maßgeblich die Beziehungen in allen ihren Elementen beeinflussen. Erwartungen, 50 Wahrnehmungen und Gefühle werden von Kindern übernommen, verarbeitet und beantwortet. Veränderungen - vor allem mit negativem Charakter - werden empfindsam registriert, ganz gleich, von welcher Person in diesem Gefüge -in diesem „System“- die Veränderungen ausgehen. Dieses Wechselspiel gegenseitiger Beziehungen wird in der folgenden Darstellung angedeutet: Mutter Vater Kind Kind In dieser Darstellung wird von einer Familie mit vier Personen ausgegangen. Jede hinzutretende Person, das können weitere Kinder sein aber auch andere Familienangehörige - Großeltern zum Beispiel - vervielfältigen die wechselseitigen Beziehungen mit ihren Elementen Erwartungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Kommunikationen oder gemeinsame Aktivitäten. Über das, was Eltern tun und lassen sollten, um die Entwicklung ihrer Kinder optimal zu unterstützen, gibt es, denken wir allein an die Grundbedürfnisse - in diesem Buch eine Fülle an Aussagen. Die Eltern selbst fragen in jeder Generation aufs Neue danach, wie sie denn „richtig“ erziehen sollten. In Gesprächen mit Eltern taucht immer wieder die zweifelnde und meist unnötige Frage auf: „Was hätte ich anders machen sollen?“ Nicht selten lohnt sich dann ein Blick auf die eigene Erziehungspraxis innerhalb einer Familie. Dann auch zeigt es sich, wie sehr es dem Familienfrieden gut tut, wenn Kinder ein übereinstimmendes Erzieherverhalten erleben, so wie es in dem Eingangsbeispiel geschildert wurde. Um nicht missverstanden zu werden: übereinstimmend handeln bedeutet nicht, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird, dass sich jeder dem Kind gegenüber gleich verhält. In der Erziehung an einem Strang ziehen 51 Knüpfen wir an das Beispiel vom Fernsehen an und schauen auf die beteiligten erwachsenen Personen: Mutter und Vater, Oma und Opa gehören in die Familie. Tragen wir sie in das Bild ein, dann werden wir für Oma und Opa einen Platz außerhalb der Kernfamilie - so nennen wir die vier Personen in dem Viereck zeichnen müssen, zu denen gleichwohl Verbindungslinien - also wechselseitige Beziehungen - einzutragen sind. Oma und Opa aber sind nicht nur „draußen“ außerhalb der Kernfamilie -, sie sind auch älter, sind anders eingerichtet, haben einen anderen Tagesablauf, sie sprechen anders, bevorzugen andere Speisen und vieles andere mehr. Die fünfjährige Tochter z. B. ist sehr gut in der Lage und alt und klug genug, um diese Unterschiede zu den eigenen Eltern beziehungsweise zur Kernfamilie zu erkennen. Wenn ein Kind aber Unterschiede zwischen „signifikanten“ anderen Personen (damit sind alle die gemeint, die für ein Kind eine wichtige Bedeutung haben, und das sind nicht allein Mutter und Vater) wahrnimmt, dann kann es auch mit den unterschiedlichen Wert- und Normvorstellungen umgehen. Probleme wird es erst dann geben, wenn die Bezugsgruppen Elternpaar und Großelternpaar mit dem, was die jeweils anderen tun, nicht einverstanden sind. Und noch schlimmer wird es, wenn sie ihre Meinungen in Gegenwart des Kindes laut und deutlich, in Sprache, Mimik und Gestik, zum Ausdruck bringen. Die eigenen Erinnerungen von jedem von uns bestätigen diese Erfahrung: Wenn sich unsere Eltern negativ über die von uns geliebten Großeltern ausließen, dann kamen wir in einen „Loyalitätskonflikt“. Wem sollten wir Recht geben, wem durften wir glauben? Noch schlimmer wird die Situation eines Kindes, wenn auch die Großeltern ihrerseits über die Eltern oder über einen Elternteil „herziehen“. Der Gipfel eines derartigen Loyalitätskonfliktes wird für ein Kind dann erreicht und es in eine schier ausweglose Lage gebracht, wenn es von den beteiligten Eltern weggeschickt wird mit der Aufforderung: „Geh doch zum Opa! Hast ihn ja eh’ lieber...“. Konflikte dieser Art aber, die das seelische Gleichgewicht eines Kindes empfindlich durcheinander bringen und die Beziehungen zu den anderen Bezugspersonen negativ einfärben, führen unweigerlich zu, zum Teil erheblichen, Erziehungsschwierigkeiten. Das, was in diesem Beispiel über die Bedeutung übereinstimmenden bzw. gemeinsam verabredeten Verhaltens einem Kind gegenüber gesagt wird, gilt selbstverständlich genauso in Bezug auf die anderen für ein Kind wichtigen Bezugspersonen wie z. B. pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätte und Schule. Die Lösung beziehungsweise entsprechende Vorbeugung ist eigentlich denkbar einfach: In dem Ausmaß, in dem die beteiligten Erwachsenen ihre Verschiedenheiten akzeptieren - zumindest aber tolerieren - , können Kinder mit den aus diesen Verschiedenheiten herrührenden unterschiedlichen Erziehungsverhalten wie z. B. Geboten oder Verboten leben. 52 Akzeptanz und Toleranz bedeuten also keineswegs in allen Fällen zugleich Übereinstimmung im Handeln! Je unterschiedlicher die Lebenserfahrungen und Ansichten der Menschen sind, umso geringer ist die Aussicht, in allen Punkten der Erziehung und Bildung auf einen Nenner zu kommen. Das ist auch gar nicht notwendig. Wenn nur, so ließe sich allgemein sagen, die gegenseitigen Beziehungen „stimmen“. In derartigen Fällen bezieht sich die Übereinstimmung nicht auf ein bestimmtes erzieherisches Handeln und die dahinter stehenden Überzeugungen, sondern darin, dass die Erziehungsbeteiligten sich darin einig sind, sich gegenseitig zu tolerieren. Sind die Beziehungen aber gestört und stimmen wir nicht in unserem Toleranzverhalten überein, dann müssen wir damit rechnen, dass die Störungen über das Kind ausgetragen werden und es Schaden nimmt. Ganz besonders vertraut ist uns diese Erkenntnis aus Trennungssituationen. Und damit sind wir erneut bei der Kernfamilie. Alles was für die Verbindung zwischen Eltern und Großeltern gilt, trifft natürlich auch für die Eltern selbst zu. Als je besser ein Kind die Beziehungen zwischen seinen Eltern erlebt, umso eher kann es Unterschiede in den jeweiligen Erziehungsverhalten verkraften. Verändern sich aber die guten Beziehungen zwischen Mutter und Vater zum Negativen hin, sei es, dass sie sich nicht achten, andere Frauen/Männer attraktiver finden oder sich einfach nicht mehr riechen können, dann wächst die Gefahr, dass derartige Beziehungsstörungen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. „Geh zu deinem Vater... zu Deiner Mutter“ heißt es dann und nicht mehr: „Geh zu Papa ... Mama“. Ist dann eines Tages tatsächlich die Trennung/Scheidung eine beschlossene Sache, ist in Bezug auf eine positive Entwicklung von Kindern schon viel Porzellan zerschlagen worden. Wir Eltern sind in derartigen Phasen so mit uns selbst und unserem Leid beschäftigt, dass wir übersehen können, dass sich das Selbstwertgefühl eines Kindes oder Jugendlichen aus der Liebe, der Akzeptanz und der Zuverlässigkeit der Beziehungen, im Grunde sogar aus dem ganzen Beziehungsgeflecht speist. Gehen die Beziehungen zu Bruch, leidet das Selbstbild eines jungen Menschen. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Ein Kind fühlt sich schuldig und ist beschädigt, wenn Eltern sich trennen oder wenn es in einer Familie zu Brüchen z. B. zwischen nahen Verwandten kommt. Nun liegen zwischen der zeitweiligen völligen Übereinstimmung in Fragen der Erziehung und Bildung und Gegensätzen, die unauflösbar sind, weil die Beziehungen nicht mehr stimmen, eine ganze Palette von „Hü- und HottSituationen“, die unseren Familienalltag bestimmen. Wo die Grenze des Erträglichen für ein Kind liegt, kann nur vom Kind selbst beantwortet werden. Es erscheint als unmöglich, eine für alle Kinder gleichermaßen gültige Toleranzgrenze zu bestimmen, ab der sich unterschiedliche Erziehungsverhalten von Eltern oder Beziehungsprobleme zwischen ihnen schädlich auf die Entwicklung auswirken. 53 Wir wissen aber, dass gute Beziehungen zwischen Eltern die gute Chance bergen, dass unterschiedliche Auffassungen von allen Beteiligten gut verkraftet werden. Wann immer wir bereit sind, den anderen Elternteil, eine Erzieherin oder Lehrerin in ihren Eigenartigkeiten und Einzigartigkeiten anzunehmen und zu akzeptieren, fällt es auch einem Kind nicht schwer, mit unterschiedlichen Reaktionen zurechtzukommen. Kinder bauen ihre Erfahrungen gern in ihr Verhaltensrepertoire ein. Sie gehen vielleicht zuerst zu der/dem, wo sie damit rechnen können, ihren Wunsch erfüllt zu bekommen. Das ist kein Beinbruch, vorausgesetzt, dass sich niemand deswegen gegen den anderen ausgespielt fühlt. Wenn es uns aber zu viel wird oder wir verunsichert sind, weil derartige Diskrepanzen zu häufig auftreten und wir den Eindruck haben, dass unser Kind Schaden nimmt, und wir z. B. sagen müssen: „Du verwöhnst das Kind. Wenn Du so weitermachst, lässt es sich von mir nichts mehr sagen ...“, dann ist es Zeit, sich zusammenzusetzen und miteinander darüber zu sprechen. Wir müssen deswegen keine allwöchentlichen Familienkonferenzen einrichten. Dennoch sind die entsprechenden Empfehlungen von Thomas Gordon in seinem Buch „Familienkonferenz“ - noch immer gültig. Es ist immer besser, miteinander zu reden, als es darauf ankommen zu lassen, uns wegen unterschiedlicher Auffassungen und Entscheidungen in die zu Wolle kriegen. Die Bereitschaft zum Gespräch, zur Offenheit und zum einander zuhören ist Ausdruck unserer Beziehungen. In einem solchen gemeinsamen Gespräch können wir unsere Kinder selbst fragen, was sie an unserem Erziehungsverhalten stört. Wir sollten keine Angst haben, dass Familienkonferenzen zu diesem Thema unsere Autorität beeinträchtigen. Autorität begründet sich unter anderem mit Offenheit und mit unserer Fähigkeit und Bereitschaft, miteinander zu sprechen und das vorzuleben, was wir von unserem Kind und seinen „signifikanten Anderen“, zu denen nicht zuletzt die pädagogischen Fachkräfte in Kindertagesstätten und Schulen gehören, erwarten. Eltern erziehen nicht allein Sobald ein Kind einen Teil seines Tages außerhalb der Kernfamilie verbringt, sei es in einer pädagogischen Einrichtung wie z. B. Kinderhort oder Schule oder aber in einer Tagespflege, erziehen wir Eltern nicht mehr allein. Es sind jeweils zwei bis drei Träger von Erziehung und Bildung, die sich, ein jeder auf seine Weise und in eigener Verantwortung, um das gleiche Kind bemühen. Nehmen wir noch hinzu, dass in der Familie, in der ein Kind heranwächst, mehrere Erwachsene - zum Beispiel Mutter und Vater, vielleicht noch die Großeltern, wie oben beschrieben auf das Kind einwirken, dann können wir uns vorstellen, wie wichtig es ist, dass alle an einem Strick ziehen und übereinstimmend bzw. aufeinander abgestimmt und einander ergänzend handeln. Der guten Kooperation aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten, kommt also ein hoher Stellenwert zu! 54 Hier ist vor allem an die Kindergärten und Schulen zu denken, die durch unsere Kinder mit der Familie verbunden sind. Nicht selten kann es zu Unstimmigkeiten zwischen den Eltern einerseits und den pädagogischen Fachkräften in Kindergarten und Schule andererseits kommen. Zur Erziehung gehören nicht nur bestimmte Ziele, die wir vor Augen haben, oder Erziehungsmittel, wie zum Beispiel Ermutigung/Lob oder Drohung/Strafe, sondern auch bestimmte Normen und Wertvorstellungen. Da kann es Eltern geben, denen Ordnung und Genauigkeit - zum Beispiel bei der Heftführung oder den Hausaufgaben - nicht so wichtig sind wie der Lehrerin/dem Lehrer oder umgekehrt. Dann wird es unverzichtbar sein, sich zu verständigen. Halten wir uns die Bedeutung dieser Verflechtung der Lebensbereiche Familie einerseits und Schule beziehungsweise Kindergarten andererseits mit Hilfe der folgenden kurz skizzierten Erkenntnisse vor Augen: 1. Erkenntnis: Alle menschliche Entwicklung vollzieht sich in Interaktion mit verschiedenen Umwelten. Urie Bronfenbrenner (1981, S. 199 ff) sieht die Entwicklung des einzelnen Menschen im Kontext seiner sozialen Umwelten und bezieht die komplexen Beziehungen verschiedener sozialer Umwelten beziehungsweise Lebensbereiche, in denen eine Person gleichzeitig heranwächst, in seine Entwicklungspsychologie mit ein. Stellen wir uns diese Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen mit Hilfe eines Modells vor Augen: Mesosystem Familie Kind Schule Exosystem Makrosystem Die durch ein Kind bestehende Verbindung von Lebensbereichen, wie die Familie und z. B. die Schule, bezeichnet Bronfenbrenner als „Mesosystem“. Ich führte bereits aus, dass der Charakter der Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen die Situation eines Kindes beeinflusst. Haben ErzieherInnen/ Lehrerinnen und Lehrer eine gute Beziehung zum Elternhaus -und umgekehrt-, wirkt sich das auf die seelische Befindlichkeit des Kindes aus. 55 Die von außen auf das Mesosystem einwirkenden Systeme - z. B. Richtlinien, Verordnungen aber auch alle anderen von den einzelnen Lebensbereichen nicht beeinflussbaren Faktoren, die aber auf sie einwirken, wie z. B. Massenmedien, Verkehr u. a. - bezeichnet Bronfenbrenner als „Exosysteme“. Das kulturelle Gesamt einer Gesellschaft bis hin zu den ökonomischen und politischen Verhältnissen in der Welt bezeichnet er als „Makrosysteme“. Eltern richten ihr Augenmerk vor allem auf die Phänomene innerhalb des Mesosytems, also zum Beispiel der durch ihr Kind konstituierten Verbindung mit der Schule. 2. Erkenntnis: Alle Beteiligten stimmen sich ab. Man könnte statt „Abstimmung“ auch Kooperation sagen. Zu einem Team oder einer kooperierenden Gruppe gehören alle an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten. Wir wissen genau, dass das so ist. Nicht nur in der Phase des Handelns sollten wir übereinstimmend vorgehen, sondern bereits in der Analyse des Einzelfalls. Wenn zum Beispiel Eltern wissen, dass ihr Kind in bestimmten Situationen „zumacht“ und für sie vorübergehend nicht mehr erreichbar ist, wäre es hilfreich - kooperationsbereite Pädagogen vorausgesetzt -, sich mit der Erzieherin/der Lehrerin/dem Lehrer darüber auszutauschen, wenn mit ähnlichen Reaktionen in Kindergarten oder Schule gerechnet werden muss. Es könnten sich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, alle in einer Familie, in einem Team oder Eltern mit den anderen Erziehern über ihre Reaktionen auf das Verhalten des Kindes verständigen und dann gemeinsam nach Strategien Ausschau halten, einmal, wie die Ursachen vermieden werden könnten, zum anderen, wie dem Kind aus seiner Verweigerungshaltung herausgeholfen werden kann. Alle die in einem Boot sitzen, müssen auch in die gleiche Richtung paddeln und sich gleichermaßen anstrengen. Wie bei Mannschaftssportarten gehören auch bei unterschiedlichen Erziehungsträgern kooperative Arbeitsweisen zur Grundlage jedes Erfolges. Sie sind sozusagen die Mindestleistungen, die erbracht werden müssen. Ist hier bereits Sand im Getriebe, müssen z. B. ein Kindergartenteam und die Eltern gemeinsam erst einmal diesen Sand entfernen, wenn sie Problemsituationen mit Aussicht auf Erfolg bearbeiten wollen. 3. Erkenntnis: Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten übereinstimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird. Ausgehend von dieser Erfahrung, ist den Eltern eine möglichst enge Zusammenarbeit mit den Berufserziehern selbstverständlich. Wenn wir Eltern oder Kindergarten und Schule Erziehungsprobleme haben und/oder wir uns einer Kooperation verschließen, ist im Interesse eines Kindes eine Änderung unserer Zurückhaltung dringend geboten. Alles muss getan werden, was zu gegenseitigem Vertrauen und Verständnis führt und alles ist zu vermeiden, was Vertrauen und 56 Verständnis beeinträchtigt. Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden, Vorurteile und Misstrauen verringern. Zum Schluss dieses Abschnitts fassen wir noch einmal zusammen: Wenn zwischen verschiedenen Lebensbereichen Verbindungen bestehen, die gegenseitiges Vertrauen, positive Orientierung und Zielübereinstimmung fördern, dann wirken sie sich auf die Entwicklung eines Kindes günstig aus. Wenn diese Verbindungen möglichst mühelos und ohne großen Aufwand hergestellt werden können, dann sind sie besonders effektiv. Hierbei ist von großer Bedeutung, dass stets die Familie in das kommunikative Netz eingebunden ist. Dies ist eine Bedingung, die vor allem in der Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule bedeutungsvoll ist (Norbert Huppertz / Joachim Rumpf 1983, S.149). Je persönlicher die Kommunikation zwischen den verschiedenen Lebensbereichen ist, umso mehr fördert sie die Entwicklung eines Kindes. 2. Drohen, strafen, Grenzen setzen Einführung Eine ganz allgemeine Erfahrung sei diesem Kapitel vorangestellt: Obwohl in der überwältigenden Mehrzahl der Familien Schimpfen, Drohungen und Strafen im erzieherischen Umgang mit Kindern selbstverständlich sind, ist das Interesse an Elternabenden sehr groß, wenn es um die Antworten auf die Frage geht: „Wie man sich Schimpfen und Strafen sparen kann“. Offenbar leben wir Eltern, aber auch Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen und Lehrer in einem gewissen Zwiespalt: Einerseits bestrafen wir fleißig, andererseits aber wollen wir das gar nicht tun. Wenn wir strafen, plagt die meisten von uns ein schlechtes Gewissen. Wir beruhigen es, in dem wir sagen: es geht ja nicht anders. Kürzlich erklärte eine Journalistin aus der Schweiz, die selbst ein kleines Kind hat: „Man kann doch nicht ohne Strafen erziehen und eine hinter die Ohren ist von Zeit zu Zeit nötig“. Die „strafende Hand“ ist also nicht allein ein Problem der Deutschen. Denn Ohrfeigen zählen in Deutschland zu den häufigsten erzieherischen Strafen. In mehr als 80 Prozent aller Familien wird Gewalt angewendet. Allein im Jahre 2006 wurden 72.000 Fälle von Kindesmisshandlung angezeigt. Es halten aber nach einer Studie aus dem Jahre 2005, und das lässt dann doch eine optimistische Perspektive zu, „95 % aller Eltern … eine gewaltfreie Erziehung für erstrebenswert und sind davon überzeugt, dass körperliche Strafen Kindern eher schaden als nützen12. Was sind Strafen? 57 Ganz allgemein und sehr weit gefasst ließe sich sagen, dass wir jedes zwischenmenschliche Verhalten, das wir als Strafe auffassen (wir fühlen uns bestraft oder wir wollen bestrafen) damit meinen. In unserem Rechtssystem zum Beispiel füllen Straftheorien, Strafpraxis oder Gesetze, Urteile und Kommentare zu Strafproblem ganze Bibliotheken. Wir sprechen in unserem Zusammenhang aber nur von der „pädagogischen Strafe“ also von einer Handlung im Zusammenhang mit einer erzieherischen Absicht. Erzieherinnen und Eltern formulierten in einem gemeinsamen Gespräch: „Strafe ist jedes Verhalten, das einen anderen verletzt“ „Strafe findet ihren Ausdruck in Zwängen, Demütigungen, Kränkungen, in Gewalt (Schläge), die nicht Notwehr ist“ „Strafen sind auch Zuschreibungen wie: du bist schlecht, dumm, böse... aus dir wird ja eh nichts; oder Beschimpfungen wie: Dummkopf, dumme Pute, Taugenichts, frecher Kerl“ Diese Beispiele zeigen uns, was Strafe nicht ist: Sie ist keine gleichsam natürliche Konsequenz, die sich aus einem Verhalten ergibt. Es wäre für uns zu schön, weil so bequem, hätten Strafen den objektiven Charakter von Naturgesetzen: wenn die Puppe auf den Boden fällt, geht sie entzwei. Dieser Vorgang besitzt auch dann keinen Strafcharakter, wenn das Kind zuvor von den Eltern auf die „logische Folge“ seiner Handlung aufmerksam gemacht wird. Das Kind wäre zwar betrübt, weil die Puppe zerbrochen ist, kann sich aber nicht bestraft fühlen, weil die Eltern diesen Vorgang nicht herbeigeführt haben. Erst wenn die Eltern anschließend schimpfen: „Du bist doch ein ungezogenes Kind... wir haben es dir ja gleich gesagt ..., das hast du nun davon ..., jetzt setzt es was ...“ beginnt die Bestrafung. Wir sehen an diesem Beispiel: Zur Strafe gehört die Strafabsicht des Erziehenden. Das reicht aber nicht aus, da sich ein Kind durchaus nicht immer bestraft fühlen muss, wenn wir strafen. Die Wirksamkeit einer Strafe hängt von den Beziehungen ab, die zwischen Kind und Erwachsenem bestehen. Der Charakter der Beziehungen zwischen beiden kann dazu führen, dass sich ein Kind weder durch Strafen noch durch Belohnungen angesprochen fühlt. Mit einem mangelhaften oder fehlenden Echo bei einem Kind oder Jugendlichen müssen wir dann rechnen, wenn die gegenseitigen Beziehungen auf Gleichgültigkeit beruhen. Eine negative Reaktion (ein Kind setzt zur Gegenwehr an, wird seinerseits traurig, zornig, aggressiv) dagegen zeigt uns, dass es emotional betroffen ist. Gelegentlich erwächst aus diesen gefühlsmäßig aufgeladenen Situationen die Chance zu Einsicht, Verständigung und Versöhnung. Besser wäre es freilich, es käme gar nicht erst zu diesen Straffolgen. Schwierig wird es auch, wenn ein Kind die Strafwürdigkeit seines Verhaltens gar nicht erkennen kann. Unverständnis aber führt zu Unsicherheit und Angst und macht alles nur noch schlimmer, weil das Kind gleichsam „nun erst recht“ sein Verhalten fortsetzt. Hierzu kann es kommen, wenn zum Beispiel die Vorstellungen 58 was gut ist und richtig in einer Familie auf der einen Seite, im Kindergarten oder Schule auf der anderen Seite weit auseinander liegen. In Bernds Familie ist es zum Beispiel üblich, dass die Eltern grob und unhöflich miteinander und mit Bernd und seinen Geschwistern umgehen. Bernd übernimmt die für ihn vorbildlichen Verhaltensweisen und trägt sie in die Kindergartengruppe und fällt dort damit unangenehm auf. Vor allem aber gerät er mit seinen (beziehungsweise den elterlichen Verhaltensweisen) in deutlichen Widerspruch zu den Erziehungsvorstellungen und sozialen Verhaltensnormen der Erzieherinnen. Wenn diese sich nun gezwungen sehen, andere Kinder vor Bernd in Schutz zu nehmen, ja ihn sogar zu bestrafen, könnte der Junge die Gründe gar nicht begreifen. Er würde sich ungerecht behandelt fühlen und noch aggressiver werden. Mit Hilfe von Strafen lassen sich zwar in derartigen Fällen vorübergehend insofern Erfolge erzielen, als Kinder erfahren, dass sie sich in einem anderen sozialen Feld anders verhalten müssen. In einigen Fällen ist sogar eine Anpassung nicht jedoch eine tiefreichende Verhaltensänderung zu erwarten. Noch am gleichen Tage wird die Erzieherin bei Bernd erneut eingreifen müssen und so wird es jeden Tag - mal mehr mal weniger für alle Beteiligten erträglich - zugehen. Dieses Beispiel lässt sich auf viele Unterschiede zwischen den Lebensbereichen Elternhaus, Kindergarten und Schule übertragen und betont noch einmal, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit in Fragen der Erziehung und Bildung unserer Kinder ist. Straffolgen Mit einem Beispiel soll zunächst auf mögliche Folgen der Strafpraxis aufmerksam gemacht werden. Als Michael in die Hortgruppe eintrat, war er in der gleichen Kindertagesstätte schon seit seinem vierten Lebensjahr als unbekümmerter fröhlicher Springinsfeld bekannt und geschätzt. Der Junge hatte einen recht „eigenen“ Kopf, der manchmal recht „dick“ sein konnte. Gleichzeitig mit Michael begann im Hort eine neue Erzieherin mit ihrer Arbeit. Es war eine ruhige, freundliche und recht bestimmt auftretende Kollegin. Eines Tages bekam sie mit Michael Streit, als sie ihm erklärte, dass er sein Sachkundeheft ordentlicher führen müsse. Beide waren nicht so gut drauf und blieben stur. Die Erzieherin sagte: „so machst du das jetzt!“ und Michael reagierte genau so bestimmt: „nein, das müssen wir nicht so machen“. Im Verlaufe der immer lauter werdenden Auseinandersetzungen fuhr ihn die Erzieherin heftig an, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Nur ein wenig - aber es reichte im doppelten Sinne: Michael war daraufhin still und fügte sich. 59 Michael zog sich zurück, wenn immer die Erzieherin in seiner Nähe war; er tat zwar, was sie gebot; aber sie konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Es war in einem späteren Gespräch mit der Erzieherin nicht mehr aufzuklären, ob die Erzieherin ihn unsanft anfuhr beziehungsweise bestrafte, weil sie zeigen wollte, dass sie nichts durchgehen lassen wird, oder ob sie an diesem Tage mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden war. Für den Effekt ist das auch von untergeordneter Bedeutung: Michael blieb ihr gegenüber reserviert. Er war weiterhin ein fröhliches und dynamisches Kind. Nur zwischen den beiden war das Vertrauensverhältnis dahin. Die Beziehungen blieben gestört. Dieses Beispiel aus einer Horteinrichtung bestätigt uns, was wir, bei entsprechender Empfindsamkeit der Beteiligten im Leben immer wieder erfahren: Ein böses Wort, eine (sogar missverstandene) Äußerung oder Geste können genügen, zwischenmenschliche Beziehungen wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder gar Liebe zu beeinträchtigen. Es wäre so schön, wenn wir die Beziehungen innerhalb einer Familie nicht mit derartigen Störungsursachen belasten würden! Schauen wir weiter auf Straffolgen. Hier sind die Ergebnisse einer Befragung von Erzieherinnen und Erziehern13 und die von Eltern interessant. Die Frage lautete: „Was haben bei Ihnen nach Ihrer Erfahrung Strafen durch Eltern bewirkt?“ Als Antworten waren möglich: 1. 2. 3. Ich habe mein Verhalten in der von den Eltern gewünschten Weise geändert. Ich habe mein Verhalten nicht geändert bzw. nun genau das Gegenteil von dem getan, was die Eltern bei mir durch die Strafe erreichen wollten. Nur zu einem Drittel bewirkten Strafen eine Verhaltensänderung in dem von den strafenden Eltern gewünschtem Sinne. Zu zwei Dritteln erfüllten die Strafen ihren Zweck nicht. Ein Teil von diesen gab an, nun erst recht das Gegenteil von dem getan zu haben, was die Eltern wollten. Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch vom betreffenden Kind so erlebt wurden, erreichen nur selten den gewünschten Effekt. Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: das war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen, ist kaum zu erwarten. Schauen wir aber noch ein bisschen genauer hin, was wir mit Schimpfen und Strafen anrichten können: Heinz war im zweiten Schuljahr, als er im Rechenunterricht aufgerufen wurde. Weil er nicht aufgepasst hatte, ging der Lehrer zu ihm und tat, was er üblicherweise zu tun pflegte: Er gab Heinz eine schallende Ohrfeige. 60 Daheim, wo Schläge nicht üblich waren, verschwieg Heinz den Vorfall. Er wusste aus Erfahrung, denn die ältere Schwester ging bereits ins vierte Schuljahr, dass die Eltern nichts unternommen hätten. „Pass halt das nächste Mal auf“ wäre das Einzige gewesen, was die Mutter gesagt hätte. Am nächsten Morgen klagte der Junge über Bauchschmerzen. Die besorgte Mutter behielt ihn daheim. Der Arzt konnte aber keine Erkrankung feststellen. Heinz ging am übernächsten Tag, wenn auch angstvoll, in die Schule. Im Rechenunterricht verhielt er sich mucksmäuschenstill und zeigte sich als „braver“ Junge. Nur mit dem Rechnen wollte es nicht mehr klappen. Es war, als hätte der bis dahin schulisch unauffällige Junge eine Blockade im Kopf. Einige Monate nach diesem Ereignis wurde der Mathematiklehrer versetzt. Heinz hat ihn nie wieder gesehen. Der Junge war zwar froh darüber, dass er diesen „strengen“ Lehrer los war. Doch mit dem Rechnen wollte es nie mehr recht klappen und das Kind hinkte während seiner ganzen Schulzeit in diesem Fach den anderen hinterher. Die Eltern erklärten die „Rechenschwäche“ mit Vererbung: „Ich war im Rechnen auch keine gute Schülerin“, sagte die Mutter. Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind keine guten Begleiter auf dem Weg in eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die auf Bestrafungen in der Kindheit zurückzuführen sind und die sie gelegentlich völlig lähmen. Brauchen Kinder Strafe? Gelegentlich wird strafendes Erzieherverhalten damit gerechtfertigt, dass Kinder Strafe brauchen. Kinder fordern Strafe heraus. Rudolf Dreikurs gab einem seiner Bücher den Titel: „Kinder fordern uns heraus ...“ (Stuttgart 1983). Legen wir die Betonung auf „uns“ und schauen, was damit gemeint sein kann: Nach dem Aufstehen zanken sich die vierjährige Anita und der achtjährige Klaus. Die sehr geduldigen Eltern, die sich den Sonntagmorgen nicht verderben lassen wollen, halten sich heraus. Der Streit versickert. Übellaunig kommt Anita, die vermutlich bei der geschwisterlichen Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen hat, an den Frühstückstisch. Dort stellt sie ihren Trinkbecher mit der Behauptung „der Kakao ist kalt“ ruckartig beiseite und bekleckert das frische Tischtuch. Die hier geschilderte herausfordernde Haltung den Erziehern gegenüber begegnet uns in Familie, Kindergarten, Schule oder Hort nicht selten. Eine Herausforderung muss so beantwortet werden, wie die Kinder es erwarten: Zeige mir meine Grenzen! Kinder brauchen also keine Strafen, sondern Eltern und Erzieher, die ihnen zeigen, 61 wo die Grenzen sind, die man beachten muss, wenn man in dieser unserer Gesellschaft und Kultur in sozial anerkannter Weise leben will. Noch einmal sei auf die Einleitung zum Abschnitt „Führung“ im ersten Kapitel über die „Bedürfnisse“ von Kindern verwiesen: Führung, Grenzen setzen, Orientierungshilfen geben ... alles das sind Elemente von „Erziehung“ und elementare Notwendigkeiten, um unseren Heranwachsenden zu einem Gewissen zu verhelfen, das ihnen sagen kann, was gut und richtig ist14. Jede Mutter, jeder Vater oder jede/r Berufserzieher/in wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in diesem Prozess kein Leid angetan wird. Das heißt, dass wir auf körperliche Züchtigung ebenso verzichten, denn „Die gesunde Ohrfeige macht krank“15, wie auf die Würde des Kindes verletzende Äußerungen. Gerade in kritischen Situationen wird es sich zeigen, ob wir die Ruhe und Souveränität besitzen, die Geduld und das Verständnis, die Festigkeit unserer Überzeugung über das, was unserem Kind nützt oder schadet. Erziehung, das heißt zum Beispiel gebieten, verbieten, meinem Kind ermöglichen, aus den Folgen seines Verhaltens zu lernen, unter Umständen belohnen und ermutigen. Außerdem muss ich fordern oder verzichten, beharrlich bleiben oder nachgeben. Nicht allen Kindern ist das freilich nicht immer gleich selbstverständlich einsichtig. Auf eine recht allgemeine Formel gebracht ließe sich sagen: Während sie sich ständig an uns reiben, reifen sie heran. Sozialisation, also das Hineinwachsen in unsere Kultur und Gesellschaft lässt, sich durchaus auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Im kindlichen Trotz wird das besonders deutlich. Ein Vater erzählte einmal, dass er seinen wenige Monate alten Sohn baden und bei dieser Verrichtung die Mutter vertreten sollte. Der Vater, der immer zugesehen hatte, wenn die Mutter den Jungen badete, abtrocknete und frisch windelte, übernahm diese Aufgabe gern. Doch während der ganzen Badeprozedur schrie das Kind wie am Spieß. Der Vater wurde so nervös und innerlich aggressiv, dass er froh war, als der Junge endlich wohl verwahrt in seinem Bettchen lag und Ruhe gab. Dem Vater war klar, dass in den früheren Entwicklungsphasen das Bewusstsein des Kindes an dem Vorgang noch nicht beteiligt war. Dennoch erlebte der Vater dies ihm zunächst unverständliche Verhalten des Kindes als ein gegen ihn gerichteter Protest, als eine gleichsam kritische Äußerung. Das hatte dann auch entsprechende Folgen: er fasste den Sohn anders, vielleicht unmerklich zaghafter an, als er ihn in die Wanne hielt. Das Kind beruhigte sich dann auch. Dem eigenen Willen und dem Reibungsbedürfnis unserer Kinder lässt sich also in einer für seine Entwicklung positive Weise begegnen. Wenn wir da sehr weit neben den Bedürfnissen unserer Kinder agieren, dann kann es erheblichen Schaden davontragen, wie das folgende Schicksal zeigt: 62 Die Mutter verließ Herrn Zet bald nach der Geburt des zweiten gemeinsamen Kindes. Die dreijährige Tochter kam zur Großeltern, der anderthalbjährige Peter blieb beim Vater und dessen Freundin und spätere Frau. Der Vater wollte von Anfang an keine Fehlentwicklung riskieren, nichts durchgehen lassen und den Jungen zu einem ordentlichen Menschen erziehen. Doch auf die natürlichen eigenwilligen Verhaltensweisen des Kindes und dessen Widerstände, auf die Wünsche nach „Klärenden Antworten“ beantwortete der Vater mit großer Härte. In hilfloser Wut schlug er auf den Jungen ein, wenn er sich provoziert fühlte. Einmal, so ist überliefert, hielt er den damals Vierjährigen sogar zu einem Fenster der in der zweiten Etage eines Mietshauses liegenden Wohnung hinaus mit der Drohung: Wenn du jetzt nicht folgst, lasse ich dich fallen!“ Selbst wenn der Vater hinterher seine „unbeherrschten“ Reaktionen bedauerte: an den Folgen änderte das nichts. Denn Peter antwortete auf die brutalen Erziehungsmethoden seines Vaters mit Zerstörungen. Er bohrte Löcher in die Wände seines Kinderzimmers, zerkratzte die Türen und - sich selbst. Das Martyrium beider (auch der Vater war am Ende mit seinen Nerven) wurde öffentlich, als der Junge eingeschult werden sollte. Da zeigte es sich, dass das Kind in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben war. In der Vorschulfördereinrichtung war Peter, der sich nichts zutraute und allen Anforderungen verweigerte auch nicht zu helfen. Der Vater brachte seinen ältesten Sohn, inzwischen waren drei weitere geboren worden, in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung unter. Wenn auch das Kind dort allmählich lernte, dass er etwas leisten kann, so vermochte sich ein gesundes Selbstwertgefühl in der Kindheit und Jugend nur schwer herauszubilden. Kinder lernen aus Folgen Das ist ja schrecklich und so darf Erziehung auch nicht aussehen, werden Sie, liebe Eltern zu Recht sagen. Gibt es aber einen gangbaren Weg zwischen Drohungen und Strafen und gar nichts tun? Gewiss, und wir kennen diese Wege gut, weil wir sie selbst erlebten. Mein erstes Beispiel kommt aus dem schulischen Bereich. Ein Kind, das eine schlechte Leistungsbeurteilung erhält, fühlt sich so, als wenn es bestraft worden wäre. Es kann aber bereits in der ersten Klasse sehr gut verstehen, dass es für eine mäßige Leistung nicht gelobt werden kann. Vor allem dann geht das nicht, wenn wir Erwachsenen genau wissen, dass hier nicht Unvermögen sondern Faulheit im Spiele war. Das Kind weiß das auch. Darum braucht ein Schulkind nicht zur schlechten Bewertung obendrein noch abfällige Bemerkungen des Lehrers oder gar eine Strafe durch die Eltern. Gerade dieses Beispiel, von dem wir im Handumdrehen viele Variationen aus allen Lebensphasen zusammentragen könnten, weist auf eine Tatsache, deren Wirkung Eltern und Berufserzieher unterschätzen: Gemeint sind die Folgen, die ein 63 Fehlverhalten für ein Kind selbst - und ganz ohne unsere zusätzlichen Kommentare hat. Kein Kind kommt auf die Welt mit der Absicht, seine Eltern „bis aufs Blut“ zu peinigen. Im Kapitel über Trotz und Aggressivität wird erörtert, mit welchem Erkundungsverhalten bei Kindern gerechnet werden muss. Außerdem gibt es zahlreiche Normvorstellungen von Eltern (das darfst Du - das darfst Du nicht), die ein Kind erst lernen muss und nicht automatisch und nur darum, weil wir es lieb haben oder so gut mit ihm meinen, übernimmt. Mit Geduld, Ruhe und Festigkeit erbitten oder fordern wir, dass es etwas tut oder lässt. Dabei lassen wir uns auf keinen Machtkampf ein, sondern verhalten uns entsprechend, wie die Beispiele bei kindlichem Trotz oder Geschwisterstreit zeigen. Gründe, die ein Kind zu Verhaltensweisen führt, die Drohungen oder Strafen heraufbeschwören können, sind zu bedenken. Ein Beispiel: Wer auf Fehlverhaltensweisen seines Kindes mit Drohung und Strafe reagiert, verstärkt dessen Verhalten, wenn das Kind eben dies beabsichtigt. Reagieren Eltern und Erzieher aber so, dass das Kind die Folgen seines Verhaltens selbst zu spüren bekommt - und keine besondere soziale Beachtung erfährt, - dann wird es von selbst sein Fehlverhalten unterlassen. Das Buch der Psychologen Rudolf Dreikurs und Loren Frey ist voll von überzeugenden Beispielen. „Die logische Folge ist logisch mit dem Fehlverhalten verknüpft, die Strafe ist es selten“ überschreiben sie die folgende Geschichte (Freiburg 11/1994, S. 58): „Es gab Schwierigkeiten mit einer dreizehnjährigen Tochter, weil sie die Kleider nicht aufhängen wollte. Sie ließ sie nicht nur liegen, wo sie sich gerade ausgezogen hatte, sondern schien auch noch Spaß daran zu haben, sie zu zerknittern. Früher war sie verhältnismäßig gut mit ihren Sachen umgegangen, und die Mutter verstand die Veränderung nicht. Nachdem sie es mit Überredung, Drohung und Schimpfen versucht hatte, sagte sie ihrer Tochter schließlich, sie könne so weitermachen und ihre Sachen hinwerfen, fügte aber hinzu, dass sie selbst sie dann nicht aufheben oder bügeln würde. Die Tochter beklagte sich, dass sie nicht genug anzuziehen hätte, aber die Mutter weigerte sich, das zu ändern, bis das Mädchen sich um das, was es an Kleidung besaß, besser kümmerte. Es trug ein paarmal schmutzige und zerknitterte Kleider in der Schule, bis es begann, sorgfältiger zu werden. Es dauerte nicht lange, bis es seine Kleider aufhängte.“ Natürlich änderte sich das Verhalten des Kindes nicht von heute auf morgen. Als es aber merkte, dass es der Mutter ernst war und sie selbst die Verantwortung für den Zustand ihrer Kleider mit allen Konsequenzen übertragen bekommen hatte, änderte es sich allmählich. Mit Hinweisen auf die Strategie „Ermutigung“ sei dieses Kapitel abgeschlossen. 64 Kinder ermutigen Wenn ein Kind im Alter von vier oder fünf Jahren nicht mit seinem Schuhbändel zurechtkommt, lernt es nicht, selbständig zu werden, wenn die Mama sich hinunter beugt und ihm den Schuh zumacht, denn das Kind fühlt sich schnell unzulänglich und entmutigt. Stattdessen sprechen wir dem Kind Mut zu: lass dir nur Zeit, du wirst es schon schaffen. Dieses Prinzip der Ermutigung und unsere Bemühungen, alles zu vermeiden, was ein Kind mutlos machen könnte, ist eine der Grundhaltungen, die uns Dreikurs/Grey empfehlen. Ermutigung ist ein wichtiger Schlüssel in der Erziehung zu Selbständigkeit und Leistungsbereitschaft. Voraussetzung aber ist, dass wir selbst zutiefst davon überzeugt sind, dass unser Kind „es“ schafft. Das Gegenteil von ermutigen ist entmutigen. An Beispielen von Entmutigung wird unmissverständlicher klar, dass ermutigende Signale von Seiten der Eltern und anderer Erwachsener für die Entwicklung eines Kindes besser sind. Als Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf den neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe, den Stift richtig zu halten und bei den ersten Versuchen auf dem Papier seine „Wellen“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen gerade oder gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen. Andreas hatte, wie die meisten seiner Altersgefährten also Schwierigkeiten mit dem „Schreiben“. Was Andreas von den anderen Kindern unterschied, das waren Eltern, die damit nicht umgehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit gehabt zum Elternabend zu gehen, als Funktionen und Bedeutung der ersten Übungen erklärt wurden, vielleicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört oder verstanden: sie mäkelten an den Versuchen ihres Jungen herum. „So macht man das doch nicht ... Nun gib dir endlich mal Mühe... stell dich bloß nicht so an... das ist doch kinderleicht... wenn das so weitergeht, wirst du nie schreiben lernen...jetzt machst du das alles noch einmal, aber ordentlich...“ so tönte es unentwegt aus dem Mund der Mutter und wenn der Vater kam, dann gab auch der noch seine Kommentare dazu ab. Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit dir nicht zufrieden! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur weiter, das schaffst du schon“ oder, falls die Lehrerin/der Lehrer nicht zufrieden waren: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“ Das Beispiel von Andreas lässt sich in viele alltägliche Zusammenhänge übertragen. Man kann sagen, dass alles, was in unserem Verhalten dazu geeignet ist, ein Kind zu entmutigen, seine Erfolgsaussichten einschränkt. Im Zusammenhang mit dem Thema „Wie Kinder lernen“ ist ebenfalls davon die Rede. Wer seinem Kind zu verstehen gibt: Ich halte dich für einen Versager, für einen Menschen mit „zwei linken Händen“, für ungeschickt, dumm oder faul, der darf sich nicht wundern, wenn das Kind so wird oder bleibt, wenn Mutter oder Vater 65 das so sagen. Eine ermutigende Erzieherhaltung aber ist besser geeignet, Fehlentwicklungen zu vermeiden oder zu beheben. Eine der entscheidendsten Voraussetzungen für eine derartige Erziehungshaltung ist das Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten beziehungsweise ein gewisses Ausmaß an eigenem Selbstwertgefühl. Es fällt uns leichter, Kinder zu ermutigen, wenn wir in unserem eigenen Leben Ermutigung erfahren haben. Wenn ein Mann seine Frau durch sein Verhalten demütigt oder gar schlägt und beschimpft oder eine Frau ihrem Mann immer wieder unter die Nase reibt, dass er ein Versager sei, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn beide zu den Fähigkeiten ihres Kindes kein Zutrauen haben. Lassen wir dieses Kapitel aber nicht ohne einen Blick auf eine andere Realität ausklingen, an die wir denken, wenn wir Eltern auf unsere eigene Kindheit und die Folgen von Frustrationen bei uns selbst zurückdenken. Sobald wir mit anderen Eltern darüber sprechen, werden wir feststellen, dass sich viele der uns zugefügten seelischen Wunden geschlossen haben. Wir sagen dann gern, dass wir das Leben trotz alledem gemeistert haben. Einige meinen dann gelegentlich sogar, dass ihnen die Schläge, die sie bekamen, nicht geschadet hätten. Nun, mit derartigen Verklärungen unserer Kindheitserinnerungen sollten wir schon darum vorsichtig sein, wenn sie zur Rechtfertigung unserer eigenen Strafpraxis herhalten müssen. Wenn auch darüber keine verallgemeinerbaren Untersuchungsergebnisse vorliegen, so lässt sich sagen, dass die meisten von uns sich tatsächlich ihren negativen Erfahrungen stellen, sie bewusst bearbeiten und auf diese Weise die Beschädigungen an ihrem Selbstwertgefühl überwinden. Ob es Erzieher, Lehrer oder die eigenen Eltern waren, die uns mehr oder weniger bewusst seelisch verletzten: wenn wir uns als Erwachsene damit auseinander setzen, können uns die entsprechenden Auswirkungen nicht mehr beeinträchtigen. Nun sind wir selber Eltern geworden. Da wir wissen, was Drohungen und Strafen anrichten können, halten wir uns zurück. Wenn uns aber mal der Zorn übermannt und die Gefühle mit uns durchgehen, dann – so werden die meisten Eltern, die mit ihren Kindern hinterher darüber sprechen, feststellen können, - werden unsere Kinder für uns sehr viel Verständnis haben und der Schaden bleibt gering. 3. Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen Einführung Aggressionen, damit sind Gefühlszustände und ihnen entsprechende Verhaltensweisen gemeint, die wir alle zwar gleich benennen, die jeder von uns aber verschieden erlebt. Körperlich betrachtet, geht in allen Menschen das gleiche vor: Jede Erregung unserer Gefühle (Emotionen) werden von einem erhöhten Adrenalinausstoß begleitet, die wir dann als ein aggressives Gefühl erleben, wenn 66 die Ursachen aggressionsauslösend sind. Angeborene Anlagen - Temperamente z.B. - aber auch situative Einflüsse, wie z.B. Anlässe, Umgebungen oder subjektive Befindlichkeiten, entscheiden darüber, wann bei einem Menschen dieser Prozess beginnt. Mit Gewalt bzw. gewalttätigem Verhalten meinen wir umgangssprachlich jene, die sich gegen Sachen und Lebewesen (gegen Tiere, andere Menschen und sich selbst) richten. Nicht alle Gewalthandlungen müssen mit aggressiven Empfindungen verbunden sein. Ein Bomberpilot zum Beispiel hat in der Regel keine aggressiven Gefühle, wenn er im Auftrag seiner Vorgesetzten Städte bombardiert und Menschen tötet. In zwischenmenschlichen Begegnungen sind Gewaltakte nicht selten mit Aggressionen verbunden, die unter anderem durch Gefühle wie Zorn, Hilflosigkeit oder Hass ausgelöst wird. Hier ist zum Beispiel zu denken an Gewalttätigkeiten in der Familie, die in unserer Gesellschaft zwar häufig unter der Decke gehalten wird, aber viel öfter vorkommt, als bekannt ist (Philip Zimbardo 1995, S. 425). Neben den direkten zwischenmenschlichen Gewalttätigkeiten stehen noch andere Gewaltformen. Wenn wir an unsere eigene Gewalterfahrungen denken, dann empfinden wir vielleicht alles, was wir gegen unseren eignen Willen oder unsere eigene Überzeugung akzeptieren müssen, wozu wir uns „gezwungen“ fühlen, als eine „Vergewaltigung“. Wir sagen dann vielleicht auch: „Da wurde mir Gewalt angetan“ oder: „Ich musste mir Gewalt antun“. Da Menschen diese Gewalterfahrungen auch in Institutionen wie Betrieben, Vereinen oder in und durch staatliche Organe (denken wir nur an das „Gewaltmonopol des Staates“) machen können, diese Gewalt aber keine gleichsam personale ist, spricht man auch von „struktureller Gewalt“ (Alexander Mitscherlich, Zürch o. J.). Aggressionen und gewalttätige Verhaltensweisen beobachten wir aber am häufigsten in unseren Familien selbst. Zwei Themen sind es, die uns Eltern da besonders zu schaffen machten: unsere streitenden Kinder, die sogar mit Fäusten aufeinander losgehen und sich „bis aufs Blut“ peinigen, können uns „bis zur Weißglut“ reizen. Oder danken wir an den Trotz, mit dem uns unsere Kleinen herausfordern. Wir werden darum auch diesen beiden Erscheinungen, der Geschwisterrivalität und dem Trotz in diesem Kapitel noch einmal unsere Aufmerksamkeit widmen. Die menschlichen Aggressionen Aggressionen sind Bestandteile der menschlichen Entwicklung und gehören genauso zu uns, wie zum Beispiel Hunger und Durst, Geborgenheits- und Geltungsbedürfnis; oder Sympathie und Antipathie. Aggressionen und die mit ihnen unter Umständen verbundenen gewalttätigen Verhaltensweisen, sind also ganz natürlich. Wir Menschen waren aggressiv und gewalttätig zu allen Zeiten und sind es noch; und zwar in allen Kulturen. Irinäus Eibl-Eibesfeld filmte neun spielende Buschmannskinder 191 Minuten lang. Bei der Filmauswertung zählte er 67 166 aggressive Akte und zwar: Schlagen mit der Faust, Werfen mit Gegenständen, Bespucken, Beißen, Zunge zeigen, Anrempeln, mit den Füßen treten und sich gegeneinander Anstarren. Eibl Eibesfeld (1972) hatte diese spezielle Buschmannkultur gewählt, weil dort Friedfertigkeit und harmonisches Zusammenleben ein tatsächliches im Alltag erreichtes Ideal ist (beziehungsweise vor etwa vierzig Jahren war). Es fehlte den Kindern also das aggressive Vorbild der Erwachsenenwelt. William.W. Lampert (1979, S. 19) untersuchte Konflikte in 6 Kulturen (in Nordindien, Neuengland, Mextecan-Indianer in Mexiko, Kenia, Okinawa und auf den Philippinen) bei 3 bis 10 Jahre alten Kindern. Er fand, dass sofortiges Zurückschlagen mit physischem Schlagen und verbalem Angreifen, in allen sechs Kulturen universell ist. Und das, obwohl diese Aggressionen und Gegenaggressionen kulturell sanktioniert, also von den Erwachsenen unerwünscht sind und bestraft werden. Die Anzahl der Vergeltungsschläge ist im Vergleich zu den Angriffen bei allen Individuen und Kulturen konstant. Jungen schlagen in 30% der Fälle sofort zurück, Mädchen nur in 15 % aller Fälle. Die Gesamtmenge gezeigter Aggressivität variiert auch nicht mit dem Alter: Es ist kein quantitativer Sozialisationseffekt nachweisbar (Karl Grammer Darmstadt 1988). Mit der Feststellung, dass jeder Mensch aggressive Impulse haben kann, ist nichts darüber gesagt, wie diese Impulse zu bewerten sind. Um Missverständnisse zu vermeiden lässt sich darum von vorn herein erklären, dass es zu den Zielen aller pädagogischen Bemühungen gehört, Heranwachsende zu einer prinzipiell friedfertigen Haltung zu führen und auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung verzichten zu können. Bei unseren Kindern beobachten wir schon früh aggressive Verhaltensweisen. Die Reaktionen auf Versagenserlebnisse zum Beispiel, wir sagen auch „Frust“ dazu, verraten eigentlich schon recht früh, wie groß die entsprechenden Verhaltensdispositionen sind. Fragen wir uns zum Beispiel: Wie zornig wird unser Kind, wenn wir es gegen seinen Willen festhalten? Wird es aggressiv, wenn es sich zu wenig beachtet fühlt? Wie reagiert es, wenn eine spielende Aktion nicht oder nicht gleich zum Erfolg führt? Wie verhält es sich anderen (gleichaltrigen, jüngeren, älteren) Kindern gegenüber? Die hier angedeuteten Erscheinungsweisen menschlicher Aggression, die von Erich Fromm als „eine phylogenetisch programmierte Reaktion auf die Bedrohung vitaler Interessen“ gedeutet wird, nennt er darum die lebensnotwendigen oder „gutartigen“ Aggressionen16. Darüber hinaus aber gibt es Ausprägungen unserer Aggressivität, die dann Beachtung verdienen und bearbeitet werden müssen, wenn sie uns selbst oder andere Menschen stören, wenn sie uns direkt oder indirekt schaden. Dazu gehören: Beschädigen und Zerstören von Gegenständen, verbale und/oder tätliche Angriffe gegen andere Menschen, selbstzerstörerische Aktionen... Diese 68 destruktiven, oder wie Erich Fromm sagt, „bösartigen“ Formen aggressiven Verhaltens haben überwiegend soziale Ursachen. Umgangssprachlich meinen wir meistens diese destruktiven Formen, wenn wir von Aggressionen sprechen. Wir setzen darum gern zur besseren Kennzeichnung den Gewaltbegriff hinzu. Die Übergänge sind fließend. Destruktive lassen sich von „normalen“ Aggressionen gelegentlich nur im Zusammenhang mit ihren Ausprägungen, Häufigkeiten, Befindlichkeiten des Betreffenden (Schuldgefühle z.B.), und den jeweiligen Ursachen erkennen. Darum lässt sich im Grunde keine wirksame Strategie gegen ein gewalttätiges Verhalten von Kindern einschließlich einer aggressiven Ausdrucksweise anwenden, ehe nicht nach den Ursachen und/oder Auslösern der uns störenden Verhaltensweisen gefragt wird. Was nun diese Ursachen betrifft, gibt es mehrere Erklärungen aus unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen mit jeweils verschiedenen Ausgangspositionen. Es können hier nur einige Andeutungen gemacht werden: Ein religiöser Mensch, der die Welt ausschließlich als Gottes Werk sieht, wird Aggressivität und Gewalt aus dem göttlichen Willen heraus erklären und auf die Erbsünde verweisen, auf die dunklen Seiten menschlicher Existenz, auf Kain und Abel vielleicht oder auf Engel (Himmel) und Teufel (Hölle). Es gibt mehrere psychologische Schulen, die über die Ursachen von und die Einflussmöglichkeiten auf menschliche Aggression nachgedacht und geforscht haben. Ein analytisch orientierter Psychologe, der zum Beispiel aus der Schule von Siegmund Freud kommt, untersucht die Individualentwicklung und hier besonders die unbewussten Erfahrungen - vergessene oder verdrängte - aus den Kindheitsphasen. Die Schüler Alfred Adlers wiederum fragen stärker danach, ob und in welcher Weise einer Persönlichkeit in seinem Leben Anerkennung versagt blieb und das natürliche Streben nach Geltung und Einfluss behindert wurde. Ein Vertreter der Humanistischen Psychologie setzt bei den Bedürfnissen der Menschen an und sieht Ursachen von Aggressionen in bestimmten Mangelerscheinungen oder Strebungen nach Befriedigung unzureichend erfüllter Bedürfnisse. Ein Soziologe sieht Ursachen und Erscheinungen von Aggression und Gewalt eher in gesellschaftlichen Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit oder Gefühle von Ohnmacht und Wut gegen gesellschaftlich, wirtschaftlich oder politisch begründbare Benachteiligungen. Aber auch die Einflüsse aus der Freundesgruppe, in der sich ein Kind oder Jugendlicher bewegt, können, wenn in der Gruppe Aggressionen und Gewalt selbstverständlich sind, als Vorbild wirken. Verhaltensforscher (Ethologen) suchten und fanden, wie oben ausgeführt, unter anderem Antworten auf Fragen wie: sind Aggressionen in allen Kulturen gleichsam „natürlich“ zu beobachten? Verfügte der Mensch in seiner Entwicklung schon immer über die Disposition zu aggressivem Verhalten? Welche Funktionen hatten diese Dispositionen und gelten diese auch unter den gegenwärtigen (veränderten) Lebensbedingungen?17 Welche dieser Erklärungen ein Mensch für sich als wahrscheinlich richtig übernimmt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie ein Erklärungsansatz mit 69 seinen eigenen Lebenserfahrungen und Lebensanschauungen übereinstimmt beziehungsweise wie „plausibel“ ihm ein Erklärungsansatz erscheint. Allerdings lassen sich in der Praxis kaum eindeutige Zuordnungen ermöglichen. Fragen wir nach Ursachen von aggressiven Verhaltensweisen oder Gewalt bei einem Menschen, spielen nicht selten mehrere Faktoren eine Rolle. Es dürfte bei der Suche nach den Gründen für das Verhalten eines Kindes nützlich sein, wenn Eltern und Berufserzieher verschiedene Erklärungsmuster beziehungsweise theoretische Ansätze kennen und in ihre Praxis integrieren können. Es erleichtert uns die Deutung und Bewertung eines Verhaltens und hilft uns bei der Suche nach einer geeigneten pädagogischen Strategie oder psychotherapeutischen Behandlung. Einige Ursachen aggressiven Verhaltens Jede der nachfolgend genannten Ursachen müssen nicht zwingend zu aggressiven, gewalttätigen Verhaltensweisen führen. Wenn wir aber destruktive Aggressivität beobachten, dann sind diese Ursachen beteiligt, sei es, dass sie vorhandene Dispositionen verstärken, sei es, dass sich durch sie aggressive Verhaltensweisen erst herausbilden. Allgemein können wir außerdem die Erkenntnis vorausschicken, dass immer dann, wenn Grundbedürfnisse, wie wir sie im ersten Kapitel unseres Buches aufzählten, unzureichend oder überhaupt nicht befriedigt wurden, die Gefahr besteht, dass ein Mensch zu aggressiven und gewalttätigem Verhalten neigt. Insofern lassen sich die hier genannten Ursachen zugleich als Konkretisierungen von Mangelerscheinungen erkennen. 1. Gestörte Familienbeziehungen Beziehungen zwischen Menschen verändern sich. Auch die zwischen Eltern unterliegen einem fortwährenden Wandel. So kann es in einigen Ehen dazu kommen, dass die Gefühle und Erlebnisse, die zwei Menschen zusammenführten, verkümmern, sich verlieren oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Aus Liebe wird Hass. Nichts braucht ein Kind zu seiner harmonischen Entwicklung mehr, als die Gewissheit, angenommen und geliebt zu sein, wie oben im Zusammenhang mit den Grundbedürfnissen bereits beschrieben. Andererseits bindet sich jedes Kind mit all seinem Sein an seine Eltern. Je jünger es ist, umso vorbehaltloser ist diese Bindung. Und ein Kind liebt beide Eltern und möchte sie im Grunde immer bei sich haben, bei ihnen geborgen wissen. Ein Kind wird zutiefst verstört, wenn sich seine Eltern streiten und nicht wenige Kinder tragen diese Verstörungen als aggressive Verhaltensweisen in die Kindergruppen hinein. 2. Gewalterfahrungen in der Familie – zwei Beispiele: Peter ist alkoholkrank. Wenn er betrunken ist, dann stört ihn die Fliege an der Wand und – die Frau an seiner Seite. Max sucht mit ihr Streit und nach Gründen, sie zu schlagen. Wenigstens einmal wöchentlich flüchtet sich die 70 achtjährige Tochter Karola in ihr Zimmer, hält sich die Ohren zu und zittert vor Erregung. Weil Karola ein gut begabtes Kind ist und gern zur Schule geht, merkt die Klassenlehrerein lange nicht, dass das Kind in Not ist. Nur dass Karola ihre Fingernägel abbeißt und sich gelegentlich Haare rausreißt, deutet daraufhin, dass irgendetwas mit dem Kind nicht in Ordnung ist. Erst bei einem Schullandheimaufenthalt in der vierten Klasse, Karola war inzwischen fast zehn Jahre alt, erfuhr die Lehrerin, dass der Vater des Kindes seine Frau und inzwischen auch die Tochter schlägt. Sie war darauf gekommen, weil Karola nachts im Schlaf mit dem Kopf an die Wand schlug und viel jammerte, so dass die anderen Kinder nicht schlafen konnten. Die seelische Not Karolas aber trat nicht nach außen als Aggressionen gegen andere Kinder, sondern richteten sich gegen sich selbst. Diese Autoaggressionen sind keine Seltenheit. Doch wird diesen Kindern weniger geholfen und meistens recht spät, weil sie in ihren Gruppen weniger auffallen. Da verhält es sich mit Jochen ganz anders. Seine alleinerziehende Mutter, an der Jochen sehr hängt, ist immer wieder auf Partnersuche. Wenn sie dann einen Freund gefunden hat und ihn mit in die Wohnung bringt, freut sich Jochen jedes Mal. Vielleicht ist dieser Mann ein neuer Papa, auf den er so sehr wartet. Die Mama von Jochen aber scheint nur bei gewalttätigen Männern „Glück“ zu haben. Immer wieder erlebte der Junge über kurz oder lang, dass seine Mutter misshandelt wurde. Als er miterleben musste, wie einer der Freunde die Mutter vergewaltigte, rastete Jochen, der zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt war, aus und schlug einen Schulkameraden aus geringstem Anlass auf dem Schulweg zusammen. Da Jochen bereits in der vorangegangenen Zeit durch gewalttätige Verhaltensweisen aufgefallen und die Sozialarbeiterin des Jugendamtes von der Schule eingeschaltet worden war, musste ein Ausweg für alle Betroffenen gefunden werden. Die Mutter konnte niemand zwingen, sich helfen zu lassen. Sie wollte auch nicht herausfinden, wo eventuell ihre eigenen Anteile an der Misere liegen könnten. Sie sah die Ursachen für die Gewaltbereitschaft ihres Sohnes allein in ihm selbst. „So war schon dessen Vater...“, das war ihre Erklärung. Sie beantragte Erziehungshilfe für ihr Kind, die dann auch gewährt und in einem Heim durchgeführt wurde. Während seiner ganzen Schulzeit fiel Jochen mit seinem aggressiven Verhalten auf. Aus geringstem Anlass ging er auf Mitschüler und jene Lehrer los, die er als „schwach“ einstufte. Erst nach der Pubertät, Jochen hatte mit Erfolg eine Handwerkslehre beendet, wurde er ruhiger. Er zog weit weg von der Mutter und baute sich in einer großen Stadt sein eigenes Leben auf. 3. Versagenserlebnisse in der Schule und bei anderen Anforderungen Niemand will ein Versager sein. Eine schlechte Klassenarbeit verletzt ein Kind. Es fühlt sich gekränkt oder sogar zurückgestoßen. Einige Kinder „kompensieren“ 71 schulische Versagenserlebnisse in dem sie andere Kinder, die gute Arbeiten schrieben, als „Streber“ beschimpfen. Aus Furcht, nicht mehr dazu zu gehören, grenzen sie andere Kinder aus. Doch reichen diese Strategien nicht aus, um das beschädigte Selbstwertgefühl wieder herzustellen. Nun sucht das betreffende Kind andere Möglichkeiten, die ihm helfen, Beachtung zu finden. Und mit negativem Verhalten fällt ein Mensch mehr auf, als mit positivem. Nicht die braven Kinder machen von sich reden, sondern die, vor denen andere Angst haben. Das haben wir am Beispiel von Jochen gesehen. Wer sich gemessen an den jeweiligen Bezugsnormen (Schulklasse, Erwartungen von Lehrern, Eltern, Ausbildern u.a.) als Versager erlebt, kann kein positives Selbstbild aufbauen. Auf diese Weise lernt ein Mensch, sich selbst zu hassen. Treten zu diesen Erfahrungen entsprechende Dispositionen hinzu, hilft er sich selbst, in dem er seinerseits die Anderen hasst. Dieser Hass als Folge einer Reihe von Frustrationen richtet sich erfahrungsgemäß gegen Schwächere. Dann wird draufgeschlagen auf alle, die als schwächer erlebt werden (auf die kleinen Kinder im Bus, auf die, die bereits am Boden liegen, auf Frauen oder auf die Ausländer ...). Auf diese Weise hat der Aggressor für einen Moment ein Gefühl von Macht und Überlegenheit. Der Volksmund sagt dazu dann: "den Sack schlägt man - den Esel meint man". Es lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass die zum Teil dramatischen Zwischenfälle in den Schulbussen im Regelfalle mittags nach der Schule auftreten. Hat ein junger Mensch mit seinen aggressiven Handlungen Erfolg, vielleicht weil ihm die anderen Kinder aus dem Wege gehen oder Angst vor ihm haben u. ä., wird sein Verhalten „verstärkt“. Selbst Bestrafungen wird er, seiner Grundeinstellung folgend, nur als Bestätigung dafür erleben, dass ihn niemand anerkennt und mag. Und bei diesem Bezugsfeld scheint eine andere, nicht minder starke Ursache für Aggressionen auf: die Angst. Während wir die Ursachen bzw. Auslöser von Frustrationen bei genauem Hinschauen unschwer erkennen können (Leistungsversagen, Straferfahrungen u. ä.) ist das bei Ängsten sehr viel schwerer möglich. Wenn wir also von einem Menschen sagen, dass er aggressiv und gewalttätig sei, dann können wir auch davon ausgehen, dass Ängste und/oder Frustrationen diese Verhaltensweisen und Einstellungen verursacht haben. 4. Diskriminierungserfahrungen Besonders in der Schule treffen wir diskriminierende, die Persönlichkeit von Kindern zutiefst verletzende Verhaltensweisen an, wenn zum Beispiel Lehrer Leistungsbewertungen mit herabsetzenden, spöttischen oder beleidigenden Bemerkungen „würzen“. Aber auch in Familien oder in Sportvereinen (zu denken ist besonders an Fußball) sind diskriminierende Prozesse keine Ausnahme. Wie oft müssen die betreffenden Kinder den eigenen Zorn, die stille Wut oder den tiefen Hass gegen die Peiniger in sich „reinfressen“. Das Gebot von einem Menschenwürdigenden Umgang sollte uns Erwachsene in der Begegnung mit Kindern leiten und das heißt, ihre Persönlichkeit zu achten, zu akzeptieren und anzuerkennen. Und was hier in Bezug auf unsere Kinder gesagt wird, das gilt auch für uns Erwachsene. Immer wenn wir unseren Zorn, unsere Aggressionen bei erfahrener Diskriminierung „wegdrücken“, spüren wir diesen Druck auf uns selbst 72 körperlich. Nicht wenige Magen- und Herz- und Kreislauferkrankungen haben hier ihre Ursachen. 5. Überforderungen Auch hierzu ein Beispiel: Kemal ist der einzige Sohn seiner Eltern. Drei Schwestern, alle älter als Kemal, leben noch in der Familie. Bereits im Kindergarten reagierte Kemal sehr heftig, als ihn ein Kind „Türke“ nannte und nicht mit dem Namen ansprach. Es gab noch mehr Türken und andere ausländische Kinder in der Gruppe. Nur Kemal schimpfte und schlug andere Kinder, sobald er „Türke“ gerufen wurde. Kinder streiten sich gern wie wir wissen. Und wenn sie erfahren haben, worüber sich ein anderes Kind besonders ärgert, dann provozieren sie es auch häufig. So geriet Kemal recht bald in eine Außenseiterrolle und niemand wollte mehr mit ihm spielen. Die Eltern, nur der Vater konnte sich mit den Erzieherinnen etwas verständigen, sahen allein die Schuld für die Aggressionen des Jungen im Kindergarten. Kemal kam dann nur noch selten in den Kindergarten. Niemand aber konnte herausbringen, warum Kemal auf die Bezeichnung „Türke“ so heftig reagiert hatte. Als er in der Schule war, konnte er auf ein anderes Kind losgehen, nur wenn er meinte, es hätte ihn „Türke“ genannt. „Ich habe ihn doch nur angeschaut“ verteidigte sich in einer derartigen Situation der völlig überraschte Mitschüler. Seine Schwestern, die die gleiche Schule mit gutem Erfolg besucht hatten, unterschieden sich in ihrem Verhalten nicht von den anderen Kindern. Nach vielen Bemühungen um den Jungen in der ersten Klasse wurde eine geistige Behinderung erkannt. Wenig später änderte sich sein Verhalten. In der Schule für behinderte Kinder wurden die Lernanforderungen seinen Möglichkeiten angepasst. Nun konnte er auf seine Aggressionen verzichten, die seine Antwort auf die für ihn unverständlichen Anforderungen in Kindergarten und Grundschule waren. Seine Eltern, so stellte es sich dann heraus, hatten die Not des Jungen durch ihre Erwartungen verstärkt. Sie verglichen ihn mit den Schwestern und konnten selbst nicht verstehen, warum bei Kemal nichts gelingen wollte, was den Mädchen so leicht gefallen war. 6. Gruppennormenen Kinder und wir Erwachsenen haben das Bedürfnis, einer sozialen Gruppe anzugehören. Ist es in den Kinderjahren zunächst die eigene Familie, kommen später Kinder hinzu, mit denen man spielt. Eine Freundin zu haben oder einen Freund ist wichtig und es wird einiges dafür getan, um die Freundschaft am Leben zu erhalten. Da werden schon mal Normen verletzt und die Gebote Erwachsener übertreten. Denken wir nur an die Geschichten, die uns Mark Twain über Tom 73 Sawyer erzählte. Einfühlsam und mit viel Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern erfahren wir, dass die Freunde die Gruppen sind, innerhalb derer eigene Normen ausprobiert werden können. Diese Freundesgruppen sind aber zugleich der soziale Raum, der tröstet und Alternativen anbietet, wenn man der Überzeugung ist, dass man von niemandem mehr geliebt wird. Mark Twain erzählt in seinem Buch über Tom Sawyer: Tom „hatte versucht, das Rechte zu tun und gut zu sein, aber sie ließen’s ja nicht zu. Jetzt wollte er das Leben eines Verbrechers führen, es blieb ihm keine andere Wahl...“ Und Tom tat sich zusammen mit seinen Freunden Joe Harper und Huckleberry Finn und alle drei suchten eine Insel im Mississippi auf, die unweit ihres Heimatortes lag und wurden „Seeräuber“. Wir können unschwer diese Geschichte in unsere Realitäten übertragen. Nur sehen die Begleitumstände und die Folgen oft nicht so harmlos aus. Unsere Kinder und Jugendlichen, die sich daheim „unverstanden“ fühlen, geraten unter Umständen in Gruppen in denen Aggression und Gewalt als Gruppennormen gelten. Für eigene Frustrationserlebnisse werden andere Menschen verantwortlich gemacht. Rasch sind Feindbilder konstruiert: der Ausländer, der Asylant, der Stadtstreicher, die Neger oder auch nur: die Jungen aus dem Nachbardorf, die Anhänger der gegnerischen Mannschaft. Und wer in der Gruppe nicht als Feigling gelten will, der muss sich beweisen. Da werden schon mal jugendliche Fußballanhänger für Anhänger anderer Mannschaften gefährlich. Aggressivität in unserem Alltag Jede/r von uns geriet irgendwann und irgendwo einmal in einen Stau. Nehmen wir an wegen einer Baustelle war die Autobahn nur noch auf der rechten Spur befahrbar. Während wir brav auf der rechten Seite immer langsamer wurden, fuhren andere Autofahrer links an uns vorbei und drängten sich vor uns hinein. Da bekamen wir eine große Wut in den Bauch. Wir fluchten und schimpften laut vor uns hin und schlugen wohl auch auf das Lenkrad. Bleiben wir noch bei diesem Beispiel: Die Situation verliert ihren relativ harmlosen Charakter, wenn wir die Familie im Auto haben. Vielleicht fahren wir gerade in die Ferien an den Genfer See oder ins Wallis. Auf der N 1 kommen wir bei Bern nicht mehr weiter und quälen uns im „Stop and Go“ langsam vorwärts. Dazu kommt die Hitze an diesem Tag. Es scheint auch wieder mal alles schief zu laufen. Und schon beginnt der Konflikt unter den Erwachsenen: „Ich habe ja gleich gesagt, wir hätten gestern Abend losfahren sollen ...“. Und während auf den Vordersitzen der Streit zwischen den Eltern zu eskalieren beginnt, werden die Kinder auf den Rücksitzen immer unruhiger. Nichts ist für sie schlimmer als Krach zwischen Mutter und Vater. „Seid endlich ruhig!“ fordern wir die Kinder auf. Weil sie sich aber nun nicht mehr kontrollieren können, zu lange saßen sie schon im Auto still und zu groß ist die Angst davor, dass die Eltern sich weiter streiten, werden sie immer lauter, quengeln, weinen und hauen sich. Nun fahren wir, Mutter oder Vater, dazwischen und schimpfen und drohen. 74 Verständlich ist für uns diese Situation und unschwer nachvollziehbar. Die meisten von uns haben in Belastungssituationen - also unter Stress - vergleichbar reagiert. Mit einem Fuß aber stehen wir mit derartigen Reaktionsweisen bereits im Bereich der Destruktivität, also in Bereichen aggressiven Verhaltens, mit denen wir anderen Schaden zufügen oder, wie Erich Fromm sie nennt: der bösartigen Aggression. Lassen Sie uns noch einmal auf die Familie im Auto zurückkommen. Ohne jede Beschönigung müssen wir festhalten: Die Eheleute waren untereinander aggressiv und gegen die Kinder gewalttätig. Vielleicht gab es sogar eine Ohrfeige. Die Kinder mögen hinterher ganz schön auf die Eltern wütend gewesen sein. Und in ihren Gedanken kamen Gewaltphantasien hoch: „soll der Alte doch gleich gegen den Vordermann fahren“ oder „ich wünschte, ich wäre jetzt tot; dann würden die aber weinen; aber dann wäre es zu spät...“ Kinder aber wollen geliebt, geborgen und beschützt sein. Auch die Kinder in dem Auto haben in ihrem Alltag vielfältige Beweise der Fürsorge ihrer Eltern erfahren. In kranken und gesunden Tagen, bei Kummer in Kindergarten und Schule, stets konnten sie sich auf Mutter und Vater verlassen. Darum auch trocknen die Tränen bald wieder, die Gewaltphantasien machen freundlicheren Gedanken Platz und - am Ferienort angekommen - ist alles wieder vergessen. Vergessen? Nun ja, nicht ganz: Mutter und Vater verständigten sich kurz, dazu brauchte es nicht viele Worte, und gingen mit den Kindern noch ein Eis essen. Als Wiedergutmachung sozusagen. Obwohl niemand mehr ein Wörtchen über die Situation im Auto verlor. In jeder Familie und, je nach Kinderzahl und/oder Belastbarkeit und Temperament der Eltern, mal mehr mal weniger gibt es derartige Stresssituationen. Denken wir nur daran, dass Erziehen auch heißt, „nein“ sagen zu können. Kinder kommen damit ganz gut zurecht, wenn sie wissen oder fühlen, dass es um ihr Wohl geht und sie sich in der liebenden Fürsorge ihrer Eltern geborgen wissen. Aggression und Gewalt als pädagogische Herausforderungen. Gewalterfahrungen in der Kindheit gehen ein in unsere Erinnerungen und wirken sich auf unsere Persönlichkeit aus (vgl. dazu den Abschnitt über das Grundbedürfnis nach Liebe!). Nicht immer müssen wir selbst gewalttätig werden. Wohl aber tragen wir nicht leicht an den Schlägen und seelischen Verletzungen, die wir in der Kindheit erfahren haben. Auch dann nicht, wenn wir sie aus unserem Gedächtnis verbannten. Eine Oma erzählte, dass sie „es“ als junges Mädchen (etwa im Ersten Weltkrieg) noch mit der Klopfpeitsche des Vaters bekommen hatte, wenn sie zu spät nach Hause kam. Sie verzichtete darum darauf, ihre Kinder mit einem Stock zu züchtigen. Die bekamen „nur“ noch Schläge mit der Hand. 75 Dieses Beispiel muss so, wie ich es hier darstelle nicht repräsentativ sein. Es sollte uns aber zu denken geben! Denn aggressive Eltern, Eltern also, die ihre Kinder schlagen oder demütigen, können bei dem einen Kind zwar erreichen, dass es sich duckt und „brav“ wird, weil es Angst vor den elterlichen Strafen bekommt. Nicht selten aber werden derartige Strafen wenig bewirken und können sogar Kinder aggressiver machen, als sie es ohne die Gegenaggression der Eltern wären. Die Kinder machen nach, was sie erleben. Mutter oder Vater sind zu aggressionsfördernden Vorbildern geworden. Das muss nicht so bleiben. Wir kennen alle Erwachsene, vielleicht gehören wir selbst zu ihnen, die sich schworen, ihre eigenen Kinder nicht mehr zu schlagen. Die Schläge aus der Kindheit „brennen“ noch so sehr, dass wir den eigenen Kindern diese Erfahrungen ersparen möchten. Unsere eigene Erinnerung ist im Grunde unser bester Lehrmeister. Dieser Lehrmeister verhilft manchen Eltern zu der Kraft, in ihrem Bemühen durchzuhalten und es anders zu machen als die eigenen Eltern. Es ist sicher nicht immer einfach, die Aggressionen unserer Kinder auszuhalten und auf Gegenaggression zu verzichten. Aggressionen aber sind bei unseren Kindern notwendig, wie wir gesehen haben. Vor unsere Reaktionen sollten wir also die Frage stellen, warum sich unser Kind aggressiv verhält, welche Motive es bewegt. Wenn wir an die bisher genannten Motive aggressiven Verhaltens denken, dann ließe sich sagen: die sind ja alle verständlich. Streit unter Kindern, „Kämpfle“, die sie miteinander austragen, Trotz, Frust, Verteidigung oder Nachahmung, das alles lässt sich leicht nachvollziehen und sollte Eltern und Erzieher nicht beunruhigen. Es sind dies allenfalls uns störende oder ärgernde Verhaltensweisen aber keine, die uns signalisieren, dass ein Kind Hilfe braucht. Sogar jene Kinder, die gleichsam von Natur aus lebhafter sind und stärker nach außen agieren und hierbei aggressiver oder draufgängerischer sein können als andere Kinder, bewegen sich in einem Bereich, den wir - sofern wir durch unsere Erziehung dieses Verhalten nicht verstärken - akzeptieren müssen. Grenzen sind deutlich dort und dann zu ziehen, wenn aggressive Verhaltensweisen, ob mit Worten, Gesten oder verletzenden und zerstörerischen Akten „Feindlichkeit“ erkennbar wird. Erich Fromms Unterscheidung zwischen gutartiger und bösartiger Aggression deutet zugleich auf die unterschiedlichen Ursachenbereiche und damit auf die verschiedenen erzieherischen Interventionen. Wenn wir uns davon überzeugt haben, dass die aggressiven Akte eines Kindes in einer Art „feindlicher“, gegen seine Umwelt oder gar gegen sich selbst gerichteten Einstellung ihre Ursache haben, dann braucht dieses Kind - oder ein Erwachsener - Hilfe. Eine „feindliche“ Haltung anderen Menschen gegenüber beziehungsweise „bösartige“ Aggressionen bilden sich eher unter bestimmten belasteten Lebenssituationen heraus und können oft nur in diesem Ursachenzusammenhang erkannt werden. Zu derartigen Situationen gehört vielleicht eine ungenügende Beachtung kindlicher Grundbedürfnisse, wie wir sie im ersten Kapitel kennengelernt haben. In einer jüngst veröffentlichten Studie aus Zürich ist nachgewiesen worden, dass Kinder, die an verkehrsreichen 76 Straßen und in beengten Wohnverhältnissen heranwachsen, aggressiver sind als jene, die sich draußen in der Nähe ihrer Wohnungen austoben können. „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen, wie mit einer Axt“ hat Heinrich Zille, der Maler und Zeichner des Berliner Milieus zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einmal gesagt. Eine als feindlich und zerstörerisch erlebte Umwelt ebnet den Weg in aggressive Grundhaltungen genauso wie materielle Not, Arbeitslosigkeit oder Beziehungsstörungen. Persönliche Dispositionen oder Lebensbedingungen, die destruktive Aggressionen hervorbringen oder verstärken, sind mit Hilfe erzieherischer Reaktionen allein nur begrenzt beeinflussbar. Da brauchte es heilpädagogischer oder sogar psychotherapeutischer Unterstützung und eine Veränderung der agrressionsauslösenden Lebensbedingungen. Kindergarten oder Schule zum Beispiel, wo Aggressionen einzelner Kinder das soziale Umfeld besonders belasten, können allein die Probleme nicht lösen und dem Kind oder gar dessen Eltern helfen. Die Einrichtungen der Jugendhilfe, vertreten durch das Jugendamt oder soziale Dienste freier Träger, können im Bedarfsfalle Hilfen vermitteln. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Kindergarten, Schule, Elternhaus und Jugendhilfe wird überall dort unverzichtbar sein, wo uns Kinder durch den Charakter ihres aggressiven Verhaltens zeigen, dass sie in seelischer Not sind. Handlungsempfehlungen für den Familienalltag, in denen einige der bereits dargelegten Erkenntnisse noch einmal betont werden, sollen dies Kapitel abschließen: 1. Aggressionen nicht mit Gegenaggressionen beantworten. Zunächst kommt es darauf an, das eigene Verhalten zu überprüfen. Aggressive Verhaltensweisen von Eltern, Lehrern und Erziehern, sei es untereinander oder Kindern gegenüber, wirken vorbildhaft und tragen eher zur Verstärkung aggressiven Verhaltens bei entsprechend disponierten Kindern bei. Es empfiehlt sich, statt mit Gegenangriffen mit Betroffenheit zu reagieren und nach Motiven und dem Sinn kindlicher Aggressivität zu fragen. In Bezug auf das eigene Verhalten in einer aggressionsgeladenen Situation sind professionelle Fähigkeiten gefordert, die nicht immer vorausgesetzt werden können. Alle Eltern, Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer müssen lernen, mit derartigen Situationen umzugehen. Sie sollten zum Beispiel die Möglichkeiten von Eltern- und Fortbildungsseminaren nutzen, und dort ihr eigenes Verhalten aus der Distanz heraus bedenken und geeignete Strategien zu üben. Diese Empfehlung gilt für alle, die noch keine wirksame Strategie im Umgang mit Aggressionen entwickelt haben. Interessante Varianten erfolgversprechenden Verhaltens in Konfliktsituationen bieten zum Beispiel Alex Molnar und Barbara Lindquist (Verhaltensprobleme in der Schule. Lösungsstrategien für die Praxis. Dortmund 1990) an mit vielen Beispielen aus Kindergarten und Schule. Es genügt nicht, mit dem Hinweis auf Extremsituationen - Gewalttätigkeiten gegen Erzieher oder Lehrer - alle Strategievorschläge als untauglich zurückzuweisen, bevor sie erprobt wurden. Hier 77 befindet sich allerdings ein weites Feld über den Austausch von Eltern untereinander oder für Beratung und Fortbildung: Sich selbst offen zu halten für neue Erkenntnisse und neue Wege in der Erziehungspraxis ist eine Herausforderung für jede/n von uns! 2. Mit dem aggressiven Kind sprechen - und nicht über es. Diese Handlungsempfehlung ist vertraut. Bereits Andreas Mehringer hat 1987 in seiner "Kleinen Heilpädagogik" davon gesprochen, dass es unverzichtbar ist, mit den jeweils Betroffenen und nicht über sie eingehend zu sprechen. Sobald die Emotionen abgeklungen sind, sollten wir Eltern uns Zeit nehmen und - vielleicht am Abend - Gelegenheit schaffen, das Vorgefallene mit dem Kind zu besprechen. Dann kann man gemeinsam, je nach Vorfall, auch mit den anderen Familienmitgliedern, nach neuen Wegen Ausschau halten. Feste Absprachen gleichsam Verträge - mit den Kindern zu vereinbaren, ist aber nur sinnvoll, wenn man Termine setzt, an denen man deren Einhaltung überprüft (Thomas Gordon, München 1972). 3. Im Rollenspiel soziales Verhalten probieren. So kann es durchaus Bestandteil eines Gesprächs zwischen den Beteiligten und/oder in der Familie sein, das aggressive Verhalten im Rollenspiel nachzuvollziehen. Wenn ein Kind auf diese Weise die Gelegenheit erhält, selbst zu erleben, was in den anderen vor sich geht, in dem es ihre Rollen im Spiel übernimmt, dann sind Auswirkungen auf Verhaltensweisen eher zu erwarten, als wenn es nur beim Miteinanderreden bleibt. Die Verwendung von Puppen oder Stofftieren bietet sich hier als eine sehr geeignete Form an auch sprachlich gehemmtere Kinder zum Mitmachen zu bewegen. Einige von uns wissen aus eigenem Erleben, dass uns Geschichten, die wir lasen oder die uns vorgelesen wurden so stark berührten, dass wir sie lange nicht vergaßen. Im Spiel erlebten wir nach, was wir in Bilderbüchern sahen, wir spielten unsere Helden und verarbeiteten so, was uns besonders bewegte. Dass diese Verarbeitungsweise auch bei indirekten Gewalterfahrungen über Fernsehfilme oder Computerspiele üblich ist, können wir bei unseren Kindern beobachten. Wir dürfen diese Spiele also nicht in jedem Falle als Training für gewalttätige Verhaltensweisen betrachteten. Kinder wollen die sie bedrückenden Filmszenen wieder loswerden und verarbeiten sie im Spiel. 4. Wiedergutmachen statt strafen. Gerade wenn mit aggressiven Akten Schädigungen verbunden sind, sei es, dass ein anderes Kind verletzt wird oder Arbeits- oder Spielmaterialien kaputt gehen, ist es allemal pädagogisch sinnvoller, mit dem betreffenden Kind/den Kindern einen Beitrag zur Wiedergutmachung zu vereinbaren, als sie zu bestrafen. Wiedergutmachung heißt keinesfalls Geld zu bezahlen sondern sollte in Aktivitäten bestehen, die einen möglichst engen Bezug zu dem Schaden haben, der angerichtet worden ist. Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass ein Kind, das im Zorn daheim etwas zerstört, daran beteiligt wird, diesen Gegenstand zu reparieren 78 oder wieder zu beschaffen. Ist die Wiedergutmachung eine Folge aus Gesprächen und/oder Rollenspiel, also mit Hilfe der Selbsteinsicht des Kindes zustande gekommen und nicht von Mutter oder Vater aufgezwungen worden, wird sie die Einsichtsfähigkeit des Kindes stärken. 5. Etwas schaffen, worauf man stolz sein kann. Diese Empfehlung spricht den Bereich der Vorbeugung an. Folgt man den Erkenntnissen von Erich Fromm, dann sind Aggressionen nicht zuletzt eine Folge unbefriedigender Lebensumstände. Zu den Elementen eines menschenwürdigen Daseins also den existenziellen Bedürfnissen gehört "Wirkmächtigkeit". Wir sprechen von "Kreativität", "schöpferischem Wirken" u. ä. Nicht zuletzt haben fremdbestimmte Aktivitäten erheblich frustrierende und damit nicht selten aggressionsauslösende Wirkungen. Die Folge dieser Erkenntnis liegt auf der Hand: wir haben unseren Kindern reichlich Möglichkeiten zu "Wirkmächtigkeit" zu geben. In der Praxis ist das eigentlich gar kein Problem: Bereits kleine Kinder schaffen gern. Wir haben in den Kapiteln über die Bedürfnisse unter den Stichworten „Anerkennung“ und „Förderung“ oder denen über das Lernen bestätigt gefunden, dass Schöpferkraft und Einsatzfreude davon abhängen, wie weit wir Eltern bereit und in der Lage sind, unsere Kinder entsprechend zu ermuntern. Je jünger sie sind, umso wichtiger ist es ihnen, dass wir mit ihnen spielen, basteln, etwas gemeinsam unternehmen. Von herausragender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang alle sportlichen und musischen Aktivitäten. Selbstvertrauen und Selbstwertgefühle wachsen in dem Ausmaß, in dem Kinder ihre Fähigkeiten bzw. Talente in diesen Bereichen einsetzen können und gefördert werden. 6. Über die eigene pädagogische Praxis nachdenken. Denken wir an das Schema zurück, in dem die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Familie dargestellt und damit die Bedeutung übereinstimmender Verhaltensweisen von Eltern verdeutlicht wurde. Die Entwicklung unserer Kinder ist ein wechselseitiger Vorgang. Darum haben wir uns stets zuerst selbst zu prüfen, wo unsere eigenen Anteile an Aggressivität fördernden Bedingungen liegen könnten. Alle Veränderungen beginnen zweckmäßiger Weise bei uns selbst. Schauen wir also in den Spiegel und fragen uns, wieweit wir Ursache oder Auslöser aggressiver Verhaltensweisen unserer Kinder sein könnten. Wir müssen Grenzen setzen, so haben wir es in anderen Zusammenhängen kennengelernt. Gegen Grenzen rennen unsere Kinder an. Das ist sozusagen ganz natürlich. Und wenn die Kinder gegen uns anrennen, dann erleben wir das als Aggression. Vielleicht schmeißt unser zorniges Kind, von dem wir gerade verlangt haben, dass es sein Zimmer aufräumen soll, einen Gegenstand so heftig gegen die Wand, dass er zerbricht. Diese natürlichen Aggressionen, deren Ursachen nicht selten auch außerhalb der Familie gefunden werden können, lassen sich nicht immer vermeiden. Sie sind, je nach Temperament eines Kindes, mal mehr mal weniger heftig und häufig. Unsere Kinder brauchen dieses Ventil - 79 und wir antworten angemessen. Eine hochwirksame Antwort ist es, die Kinder die Folgen ihrer Verhaltensweisen selbst erleben zu lassen. Reagieren wir aber unsererseits auf die hier gemeinten natürlichen aggressiven Verhaltensweisen unserer Kinder mit Aggression oder gar Gewalt, dann ändern wir nichts, sondern verschärfen die Situation für alle Beteiligten. Wir werden uns sogleich am Beispiel von Zank und Streit unter Kindern damit noch einmal etwas näher damit befassen. Zank und Streit unter Kindern Der achtjährige Klaus kommt weinend aus der Schule nach Hause. „Mama, der Karl hat mich gehauen...“ Mama beugt sich zu ihm: „Zeig mal, wo hat er dich denn gehauen“ und sie tröstet ihren Jungen, indem sie ihn in den Arm nimmt. Eigentlich reicht das in den meisten Fällen. Vor allem dann, wenn wir Eltern wissen, dass der Klassenkamerad und Nachbar ein von Klaus gern gesehener Spielgefährte ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Klaus wieder einmal ruft: „Nie mehr spiele ich mit ihm! Nie, nie mehr!“ Seitdem wir Nachbarn sind, geht das nun schon so. Meistens spielen sie schön zusammen und vertragen sich auch gut. Manchmal gibt es Streit. Und weil sich beide Eltern aus dem Streit ihrer Kinder heraushalten und wissen, dass wir die Ursachen eines Konflikts nachträglich ohnehin nicht mehr herausfinden können und sowieso beide ihren Teil dazu beigetragen haben, ist es müßig, sich aufzuregen, möglicherweise der Sache auf den Grund gehen zu wollen und sogar selbst noch zu schimpfen und zu klagen. Zunächst also gilt in derartigen Situationen: trösten, ruhig bleiben und abwarten. Kinder können ihre Zwistigkeiten ganz gut selbst beheben. Etwas anders sieht es aus, wenn Karl kein Freund von Klaus ist. Vielleicht ist der Junge noch gar nicht lange in unsere Straße gezogen oder in das Haus, in dem wir wohnen. Wir Eltern wissen also noch wenig von dem Jungen. In derartigen Fällen verhalten wir uns zunächst ähnlich, wie im ersten Beispiel beschrieben. Zugleich versuchen wir bei unserem Kind etwas mehr von Klaus zu erfahren: in welche Klasse geht er denn; ist er größer und stärker; vor allem aber wird es uns darum gehen, herauszufinden, ob unser Klaus Angst hat vor dem anderen Jungen. Selbst wenn unser Junge es nicht zugeben möchte: manchmal erfahren wir von seinen Ängsten, weil er von nun an zu vermeiden sucht, mit dem gefürchteten Buben zusammenzutreffen. Wenn unser Kind aber tatsächlich Angst hat, dann müssen wir etwas tun. Aber was? Da ist guter Rat teuer. 80 Grundsätzlich gilt: alles, was meinem Kind hilft, aus seiner Angst herauszukommen und auch dem anderen Kind keine Angst macht, ist nützlich. Wie ging die Geschichte nun weiter? Die Mutter von Klaus hielt es für das Beste, die Familie von Karl zu besuchen. Mit ihrem Klaus klingelte sie an der Wohnungstür, nachdem sie sich vorher vergewissert hatte, dass auch die Mutter von Karl daheim war. „Guten Tag, sagte sie, „ich bin die Mutter von Klaus. Bitte entschuldigen sie die Störung! Ich möchte gern sie und Karl kennen lernen, weil unser Klaus Angst hat vor Karl und das finde ich schade.“ Freundlich-sachlich und ohne vorwurfsvollen Ton wurden mit diesen wenigen Worten Anliegen und eigene Position vorgetragen. Die Mutter von Karl spürte zuerst etwas wie Abwehr (hier will jemand mein Kind angreifen / ihm etwas am Zeuge flicken). Aber sie bat die beiden herein und rief nach Karl, der gerade an seinen Hausaufgaben saß. Etwas erstaunt, verwirrt und ein bisschen verlegen wurde er, als er die beiden Besucher sah. Auch Klaus hat die Situation zunächst nicht behagt. Bevor Karls Mutter ihren Sohn befragen konnte, hatte die Mutter von Klaus die Situation insofern entspannt, als sie Karl freundlich begrüßte und ihm das gleiche sagte: „Ich finde es schade, dass ihr euch auf dem Schulweg gestritten habt. Ich wollte dich gern kennen lernen.“ Beide Buben wussten nicht, was sie nun sagen, wie sie sich verhalten sollten. Karls Mutter bat Ihre Gäste, sich zu setzen und hielt sich mit Bemerkungen zurück. Weder suchte sie, ihren Sohn zu verteidigen noch forderte sie von ihm Rechenschaft. Da die Besucherin das ganze Thema offensichtlich fallen ließ und das Gespräch mit der Frage eröffnete, woher sie denn zugezogen seien, konnten die beiden Frauen zunächst einmal über ein neutrales Thema miteinander reden. Nach wenigen Sätzen, die Buben hatten verlegen aneinander vorbeigesehen und sich nur verstohlen den einen oder anderen Blick zugeworfen, forderte die Mutter von Karl ihren Jungen auf, Klaus sein neues Spielzeug zu zeigen. Tatsächlich gingen beide Jungen aus dem Zimmer. Keiner brauchte Angst zu haben, dass die Mütter über sie zu Gericht sitzen würden. Was die Buben taten und sprachen, wissen wir nicht. Die Mütter aber redeten noch ein bisschen miteinander über Wohnung und Teuerung. Natürlich sprachen sie auch über ihre Kinder - aber eher allgemein: „es ist nicht einfach mit den Buben... es hat gar keinen Zweck, nach Gründen für Streitigkeiten zu fragen oder sich einzumischen ... ja, meine beiden (es gab also Geschwister) streiten sich immer wieder, weil sie Angst haben, sie kämen zu kurz ...“. Nach einer halben Stunde verabschiedete sich die Mutter von Klaus wieder, bedankte sich dafür, dass sie angehört worden ist und bat abschließend darum, Karl nun keine Vorwürfe zu machen. Ihr Anliegen war es, ihre und ihres Kindes Sorgen mitzuteilen in der Hoffnung, dass, wenn sich alle Beteiligten erst kennen gelernt haben, derartige Konflikte nachlassen. Die Buben wurden gerufen. Klaus und seine Mutter verabschiedeten sich, ohne den Anlass ihres Besuches noch einmal zu erwähnen und gingen. 81 Klaus hatte seitdem keine Angst mehr vor Karl und Karl gab ihm auch gar keinen Grund mehr dazu. Ein interessantes Beispiel, das uns Mut macht - wenn wir den Mut haben und so handeln, wie die Mutter von Klaus. Auch die Mutter von Karl blieb gelassen und wusste sehr gut, dass Vorwürfe oder gar Schimpfen oder Strafen gar nichts verändern. Im Gegenteil: hätte sie Karl für sein Fehlverhalten bestraft, hätte dieser einen Grund gehabt, sich an Klaus für diese Demütigung zu „rächen“. So erhielten sie die Chance, ohne Gesichtsverlust, einander näher zu kommen. Erfolgversprechend sind derartige Verhaltensweisen dann, wenn es den Müttern und Vätern der verängstigten Kinder gelingt, ohne Zorn und in freundlicher Gelassenheit auf die Eltern jenes Kindes zuzugehen, das durch sein Verhalten, die Angst verursachte. Da wir nicht wissen können, ob das Kind überhaupt gemerkt hat, was es mit seinen Attacken angerichtet hat, ist es auch sinnlos, mit Vorwürfen zu kommen. Es ist eine alte Erfahrung, dass es Menschen schwerer fällt gegeneinander loszugehen, die sich näher kennen gelernt haben und davon überzeugt sind, dass die anderen einem nichts tun wollen. Darum war die Entscheidung von der Mutter von Klaus richtig, bevor sie sich beschwert, erst einmal das Kind und die Familie kennen zu lernen. Bekanntheit schafft Nähe und Nähe kann hilfreich sein. Geschwister streiten gern miteinander Geschwister streiten besonders häufig. Der Grund liegt auf der Hand und ist für alle, die selbst Geschwister haben, leicht nachvollziehbar: Die Geschwistereifersucht, auf deren Normalität u. a. Wolfgang Endres (Weinheim 4/1994, S. 106) hingewiesen hat, ist allgemein verbreitet. Allerdings finden wir die darauf zurückzuführenden Symptome nicht nur bei Geschwistern. Auch Kinder in Kindergruppen in Kindergarten, Schule oder Heim neigen dazu, eifersüchtig darüber zu wachen, dass alle das „gleiche“ bekommen, niemand sich bei gemeinsamen Mahlzeiten ein größeres Stück nimmt, als man selbst es hat. Ich denke da zum Beispiel an den Nachtisch am Familientisch. In der Küche wurden die Portionen abgefüllt. Kommt dann das Tablett mit den Schüsselchen auf den Tisch, misst jedes Kind - zumindest mit den Augen - ob auch überall gleich viel drin ist. Unsere Geschwister daheim halten sogar Schokoladenriegel nebeneinander und prüfen, ob auch wirklich jeder ein gleich langes Stück bekommen hat. Sogar bei Erwachsenen kann man derartige, im Grunde ichbezogene Verhaltensweisen beobachten. Bei Familie Ypsilon war es der Vater, der für sich das größte oder das beste Stück Fleisch, Kuchen u.a.m. beanspruchte. Er hatte es so von seinem Vater gelernt. Und außerdem war er der jüngste von drei Geschwistern. In der Entwicklungspsychologie spricht zum Beispiel Anton Busemann vom Entwicklungsimpuls „Rivalität“, das ist für Luitgard Brem Gräser „der Kampf um das Oben sein“ 18. 82 Die natürliche soziale Umwelt des Kindes ist zunächst die Familie, vor allem die Geschwisterschar. In ihr muss das Kind seinen Platz verteidigen, der ihm durch die Altersrangfolge zugeschrieben ist. Dies ist die Vorschule aller späteren Selbstbehauptung in der sozialen Ebene, sie prägt den sozialen Charakter meist bis ans Lebensende. Ob man mit jener Selbstverständlichkeit Geltung beansprucht, an die man sich als Ältester in der Geschwisterschar gewöhnte, ob man ewig selbstunsicher und auf kämpferische Durchsetzung bedacht bleibt, weil man ein mittleres Kind war, oder ob man immer fremde Hilfe und ein Gegängelt-werden erwartet, weil man Letztkind war, das lässt sich oft noch am Erwachsenen eindeutig ablesen. Der Platz in der Geschwisterreihe wirkt sich also aus. Jedes Kind fühlt sich durch ein nachfolgendes Geschwisterchen aus seinen Rechten verdrängt und reagiert darauf mit Eifersucht beziehungsweise mit Ängsten (vgl. weiter dazu unten, S. 95 f.) die sich jedoch nicht immer in Aggressionen gegen den Eindringling äußern muss. Es gibt Kinder, die fallen in bereits überwundene frühkindliche Verhaltensweisen zurück, wenn sie wieder am Daumen lutschen, einnässen oder unruhiger und widersetzlicher werden. Wenn dann noch die Eltern die Situation missverstehen und das Kind bestrafen, dann fühlt es sich bestätigt in seiner Vermutung, dass das neue Kind ihm die Liebe von den Eltern weggenommen hat. Wenn ein Kind befürchtet, die Liebe und die Beachtung seiner Eltern zu verlieren, dann wird es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln um elterliche Zuwendung kämpfen. Und wenn das nicht durch Wohlverhalten geht, dann eben im Bösen. Aggressivität und Zerstörungswut haben nicht selten darin ihre Ursachen. Und wenn die Mutter hundertmal sagt: „Ich habe dich genau so lieb, wie deine Schwester, deinen Bruder...“, reden nützt nicht viel. Beweise braucht das Kind. Erstgeborene sind im Allgemeinen eifersüchtiger als Zweitgeborene und in einer Familie mit zwei Kindern kann die Situation in dieser Beziehung zeitweise ungünstiger sein, als in einer mit drei oder mehr Kindern. Das mittlere von drei Kindern freilich kann durchaus Mühe haben, ebenso viel Beachtung zu finden, wie das älteste oder das jüngste Kind. Im Umgang mit Geschwistern, hier bezogen auf die Situation nach der Geburt eines Geschwisterchens, sind Eltern besonders gefordert. In dieser Phase können wir recht wirkungsvoll die Beziehungen zwischen den Geschwistern positiv beeinflussen, wenn wir einige Hinweise beachten: 1. Auf Vergleiche verzichten: „Sieh mal, wie brav der Kleine ist; nehme dir daran ein Beispiel“ „Selbst das Baby isst/trinkt alles auf/aus; das wirst Du doch auch können“ Wenn wir uns darum bemühen, das ältere Kind und eventuell später die älteren Kinder, mit dem jüngeren nicht zu vergleichen, kommen die älteren besser mit dem Jüngsten zurecht. 2. Bei Bestrafungen doppelt zurückhaltend sein! 83 Alle Kinder empfinden Bestrafungen als Liebesentzug oder ein Signal dafür: „Die Eltern mögen mich nicht“. Bestrafungen in kritischen Phasen, zu denen zweifellos die Konkurrenzsituation durch Neugeborene zählt, bestärken die Vorstellung älterer Kinder, weniger geliebt zu sein als die jüngeren. Wenn sie sich dann gegen die Eltern nicht wehren können, kriegen es „die Kleinen“ ab. Dieser Zank und Streit ruft die Eltern wieder auf den Plan: „Lass den Kleinen in Ruhe, sonst...!“ Diesen Konfliktkreis können nur die Erwachsenen durchbrechen, in dem sie in solchen Situationen zum Beispiel ihre (n) „Großen“ in den Arm nehmen.. 3. Die direkte Beschäftigung mit dem Baby fördern! Eifersucht wird geschürt, wenn wir das ältere Kind vom Baby oder von dem jüngeren Kind fernhalten. Ermahnungen oder Gebote wie: „Nicht anfassen! Jetzt nicht stören! Nun lass doch endlich das Kind in Ruhe!“ eignen sich nicht dazu, beide Kinder aneinander zu gewöhnen. Nicht mit Anna zum Beispiel über Stefan reden, sondern Anna ermuntern selbst mit Stefan zu reden. Wir tun das ja auch, obwohl wir wissen, dass der Säugling noch nicht antworten kann. 4. Der Vater wird besonders wichtig. Ist ein zweites Kind geboren, kann der Vater sich stärker dem Erstgeborenen widmen und auf diese Weise den Zuwendungsverlust durch die Mutter etwas ausgleichen. Der Vater braucht sich gar nicht sehr um seine Älteste/seinen Ältesten zu bemühen. Sie/er kommt von ganz alleine und stellt seine Ansprüche. Darauf sollten die Väter vorbereitet sein und sich einlassen wollen. 5. Wir wollen uns um relative Gleichbehandlung bemühen! Natürlich können wir Eltern von älteren Kindern mehr erwarten als von Jüngeren. Wandeln sich unsere Erwartungen aber in Forderungen um, die bei Nichtbefolgen bestraft werden, dann müssen wir uns auf erhebliche Auseinandersetzungen einstellen. Das geht schon los mit dem „Trocken-sein“. Fällt nach der Geburt des Jüngsten ein älteres Kind zurück in Baby-Gewohnheiten, dann ist das ein ganz verständliches Signal - aber kein Trotz. Es will uns nicht ärgern, sondern appelliert an uns: behaltet mich lieb, kümmert Euch um mich! Bekommt es deswegen Ärger, wird von uns ausgelacht oder sonst wie herabgesetzt, fühlt es sich ungerecht behandelt. Später will es vielleicht das Geschirr nicht abtrocknen oder sauber machen helfen, weil ja das Geschwisterchen das auch nicht tun braucht. Eine hohe Sensibilität ist also von uns gefordert. Dennoch lassen sich viele in der Geschwisterrivalität begründete Konflikte, nicht vermeiden. Wir müssen uns damit abfinden und sie aushalten. Nur wenn wir die Nerven behalten, ruhig und bestimmt die Unterschiede leben und vertreten, die nun einmal 84 entwicklungsbedingt vorhanden sind, lernen die Geschwister mit den Jahren, dies auch zu akzeptieren. Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Problematik im Familienalltag ist also zunächst noch einmal darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter Geschwistern, genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das Einzelkind tritt unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden Geschwisterchens. Eltern, die wissen, dass Eifersucht mit all ihren Folgen normal ist, stellen sich darauf ein und betrachten eventuell auftretende Verhaltensänderungen ihres älteren Kindes nicht als gegen sich gerichtet. Außerdem gilt auch hier alles, was für den Umgang mit Aggressivität und Gewalt gültig ist: Ruhe, Gelassenheit und Neutralität sind immer noch besser, als sich bei jeder Gelegenheit einzumischen. Auch eine gemeinsame Festlegung von Regeln und Pflichten des Zusammenlebens unter Beachtung der unterschiedlichen Alter hat sich bewährt. Sobald wir Erwachsene uns am Geschwisterstreit beteiligen, wird es Sieger und Verlierer unter den Geschwistern geben. Und dies wäre keine Lösung, sondern nur die Wurzel neuer Konflikte. Vertrauen wir unseren Kindern, dass sie ihre Probleme, die sie miteinander haben auch selber lösen können19. Es ist zwar leichter gesagt als getan: „Behalte immer die Nerven!“ Nur, wenn wir sie verlieren und dazwischenfahren, schimpfen, drohen oder gar schlagen, dann ist das unser Problem. Verwechseln wir also nicht Ursache und Wirkung. Wenn Kinder sich streiten, so lautet unsere Erkenntnis, dann ist das normal. Wenn wir uns darüber aufregen, dann ist das eine Angelegenheit unserer eigenen nervlichen Belastbarkeit in dieser Situation. Im Vorschulalter macht uns der kindliche Trotz zu schaffen Auch dieser Abschnitt soll mit einem Erlebnis begonnen werden, über das ein Elternpaar berichtete. An einem verkaufsoffenen Samstagnachmittag im August überquerte Familie Müller, so berichteten sie, mit ihrer zweieinhalbjährigen Eva im Zentrum der Stadt die Kaiserstraße am Bertholdsbrunnen, als sie sich plötzlich weigerte, weiterzugehen. „Den Grund haben wir vergessen, nicht aber das laute Geschrei des Kindes, die teils empörten, teils belustigten Blicke der Passanten, die zu dieser Zeit in großer Zahl auf der Straße waren. Natürlich bemühten wir uns zunächst, unser Kind zu bewegen, mit uns mitzukommen. Je mehr wir uns aber um sie bemühten, umso lauter schrie sie. Ihr Kopf und unsere Köpfe wurden immer röter. Evas Gesicht aber färbte der Trotz - unsere Gesichter ein Gefühlsgemisch von Peinlichkeit, Scham, Hilflosigkeit und aufkommender Wut. Was tun? Ohne darüber erst groß zu diskutieren, einigten die beiden Eltern Müller sich kurz, einfach weiterzugehen und das schreiende Kind stehen zu lassen. Sie erklärten ihr in das brüllende Gesicht hinein, wenn sie gern schreien und 85 stehen bleiben wolle, dann möge sie hier am Brunnen warten. Nicht ganz freiwillig ließ sie die Hand los, an der sie ihren Vater festzuhalten suchte und die Eltern strebten eilig hinüber unter die Arkaden. Dort, wo Herr K. von seinem Rollstuhl aus jahraus jahrein Heftle verkauft, blieben sie hinter einer Säule stehen, schauten zurück und beobachteten sie. Das Kind war nicht stehen geblieben, sondern ihnen langsam nachgekommen. Sehen konnte sie uns nicht mehr, wegen der Säule und der vielen Menschen, die vorbeiströmten. Das Schreien war in Weinen übergegangen und Tränen liefen ihr die Backen herunter. Was hat den Eltern in diesem Moment ihr Kind leidgetan! Sie aber hielten sich noch zurück und gingen ihr nicht entgegen. Stattdessen traten sie hinter der Säule hervor, so dass sie die Eltern sehen konnte und warteten. Als sie sie erblickte - seit ihrem Entschluss einfach weiterzugehen waren inzwischen keine drei Minuten vergangen - lief sie rasch die paar Schritte zu ihnen hin und verbarg ihr Gesicht im Kleid der Mutter und schluchzte erbärmlich. Die drei gingen gemeinsam weiter und verloren über den Zwischenfall kein Wort mehr; weder an diesem Tag noch an einem anderen. Eine solche Szene hat sich dann auch nicht wiederholt. Jedenfalls nicht auf offener Straße. Bevor wir uns der Überlegung zuwenden, ob denn das immer so klappt, wie bei diesem Beispiel und wir es verantworten können, ein Kind einfach stehen zu lassen mitten im Großstadtgewühl, schauen wir erst einmal auf die Lebenssituation eines Kindes in diesem Alter. Die Kenntnis von Lebenssituationen - also die Antwort auf die Frage, was für ein Kind in diesem Alter entwicklungstypisch ist - ist eine wichtige Voraussetzung für unser erzieherisches Verhalten. Eva reagierte, das konnte jeder Ohren- und Augenzeuge unschwer feststellen, trotzig. Mit Trotz bezeichneten bereits unsere Großeltern und deren Großeltern jenes Verhalten ihrer Kinder, bei dem die Kinder nicht das tun wollten, was die Eltern erwarteten und ihre Weigerung durch schreien, schimpfen, mit den Füßen auf den Boden stampfen, das Spielzeug an die Wand werfen oder gar an den eigenen und den Kleidern der Eltern herumreißen, unterstrichen. Heinz Remplein, ein Psychologe, beschrieb den Trotz als die Sperre eines Kindes gegen fremden Willen (1965, S. 247). „Es sperrt sich“, sagen auch wir, wenn unser Kind nicht so will, wie wir wollen oder etwas unbedingt haben oder erreichen will – ertrotzen -, was wir ihm verwehren. Woher kommt aber nun plötzlich dieser Trotz? Unser Kind war doch bisher relativ pflegeleicht und machte uns mehr Freude als Kummer? Nun, einiges hat sich schon verändert. Ein Kind wird größer, entwickelt sich weiter und ist längst kein Baby mehr. Mit zweieinhalb Jahren ist die Sprache häufig soweit herausgebildet, dass sich unser Kind gut verständlich machen kann. Doch noch sagte zum Beispiel Eva „Eva“, wenn sie von sich sprach. Eines Tages aber und das lag vor dem Auftritt in Freiburg gar nicht solange zurück - da sagte sie nicht mehr: „Mama, Eva möchte auch trinken“. Stattdessen sagte sie: „Ich möchte trinken!“ Eva hat zum ersten Mal „ich“ gesagt. Eigentlich gehört dieser Moment 86 festgehalten. Wir müssten ihn rot im Kalender eintragen. Es ist das für uns erkennbare Zeichen, dass sich unser Kind als eine eigenständige Persönlichkeit entdeckt hat! Doch meistens merken wir Eltern das gar nicht. Unauffällig gleitet für uns das Kind von der dritten Person in die erste; von „Eva will, hat, kann...“ zu „ich will, habe, kann...“. Auffällig und nicht mehr zu übersehen aber wird dieser Prozess dann, wenn wir spüren, dass mit der Entdeckung des „Ich“ zugleich der eigene Wille entsteht. Die Entwicklung des Ich - Bewusstseins bedeutet eine Trennung des Kindes von der Mutter. Es erlebte sich bis zu dieser Zeit sozusagen als Teil der anderen Menschen um sich herum, insbesondere der Mutter. Unschwer ist das an der Tatsache nachzuweisen, dass es sich ja genauso ansprach, wie die anderen es taten: mit dem Namen. Obwohl unser Kind das Wort „ich“ längst kannte, weil wir Erwachsenen ja auch nicht ständig zu dem Kind sagen: „Gib Mama das...“ sondern „Gib mir das...“, war es erst in der Lage, dieses Wort auf sich selbst anzuwenden, als es begriff, dass es „selbst-ich“ war. Nun erst kann sich unser Kind als Zentrum eigenen Erlebens begreifen: mir tut etwas weh, ich freue mich, ich bin traurig aber auch: ich will etwas... Der Psychoanalytiker Siegmund Freud ging von der Annahme aus, dass diese Erkenntnis, die ein Kind gleichsam von der Mutter löst, recht schmerzlich für ein Kind sei und es darum besonders empfindlich reagiert. Diese Empfindlichkeit wäre aber umso geringer, je mehr das Kind in seinem Leben bisher erfahren hat, dass die Mutter es liebe und berge und immer da war, wenn es sie brauchte, so dass das Kind keine Verlassenheitsängste entwickelte. Und noch eine Einsicht gehört hierher. Rudolf Dreikurs (z. B.: Freiburg 11/1994, S. 17), hat in seinen Forschungen nachgewiesen und wie das bereits erwähnt wurde, dass jeder Mensch danach strebt, in einer sozialen Gruppe, also zum Beispiel in der Familie, geborgen zu sein, angenommen zu sein, etwas zu gelten, Macht und Einfluss zu haben. Mit diesem Streben nach Geltung, Einfluss und Macht lassen sich recht gut die uns provozierenden, gleichsam einen „Machtkampf“ herausfordernden Verhaltensweisen unseres Kindes deuten. Ulrich Diekmeyer (Hamburg 1992, S. 108 ff) hat eine weitere Erklärung gefunden. Er schreibt, dass unser Kind eigentlich schon immer trotzig war und zum Beispiel bereits als Säugling krebsrot wurde und aus Leibeskräften schrie, wenn es sich unbehaglich fühlte. Nur war – und das deuteten ja bereits das Beispiel oben (S. 63) bereits an in den früheren Entwicklungsphasen das Bewusstsein noch nicht beteiligt und wir Eltern haben dieses Verhalten noch nicht als Trotz empfunden. Erst in dem Maße, in dem wir selbst auf die Wünsche des Kindes achteten, ihm zuhörten, wenn es uns sagte, was es will oder was es nicht will, lernte unser Kind zu versuchen, uns gegenüber seinen Willen durchzusetzen. In dieser Zeit, in der sich in unseren Kindern dieser Wandel vollzieht, beginnt die Herausbildung des Gewissens: Nun erst wird unser Kind begreifen lernen, was Gut und Böse ist, wenn es über die Begegnung mit den Eltern und anderen Menschen 87 erfährt, wann es mit seinem Tun und Lassen auf Anerkennung oder Ablehnung stößt. Es ist dem Kind so nicht bewusst, aber es erkundet seine Grenzen und fragt uns gleichsam durch sein Verhalten: „Wieweit kann ich gehen? Was darf ich? Was darf ich nicht?“ Und unser Kind will und braucht auf alle seine Fragen, die es über sein Verhalten an uns richtet, eine klärende normsetzende Antwort! Eine andere Erfahrung illustriert, wie derartige Antworten aussehen und was sich hinter unserem Elternverhalten für Motive verbergen können. Hans, ein stolzer Vater einer fast dreijährigen Tochter, bekam kürzlich beinahe Streit mit seiner Frau. Er hatte mit der Tochter auf der Terrasse gespielt. 17,30 Uhr aber - so ist es in dieser Familie an arbeitsfreien Tagen üblich - bereiten sich alle aufs Abendessen vor. Bisher hat das auch stets geklappt und Karla ist brav mit ins Bad gegangen, um sich die Hände zu waschen und ist dann auf ihr Stühlchen am Esstisch geklettert. Doch an diesem Abend wollte Karla nicht mit hinein. Sie weigerte sich, wollte weiterspielen und auf alles Zureden antwortete sie mit zornigem und immer lauter werdendem Gebrüll. Hans, der an Karla herumzerrte und sie reinziehen wollte, hätte seiner Tochter eine kräftige Ohrfeige gegeben, wenn seine Frau nicht hinzugekommen wäre: „So geht das nicht“, sagte sie. „Lass das Kind dort stehen und komme rein! Wir essen.“ Und so geschah es auch. Nachdem die Mutter dem Kind in aller Ruhe und Gelassenheit und ohne jede Ironie in der Stimme erklärt hatte, dass es nur draußen bleiben und weiterschreien solle, hörte das Gebrüll rasch auf als Karla tatsächlich draußen auf der Terrasse alleine stand und durchs Fenster sah, wie die Eltern ohne sie anfingen, zu essen. Bald darauf kam das Kind, ging sich die Hände waschen und kletterte auf sein Stühlchen und alles war vorbei. Auf dem Gesicht des Kindes schien wieder die Sonne. Eine Antwort haben sowohl Eva als auch Karla erhalten, als sie erfuhren, dass der von ihnen lauthals demonstrierte Durchsetzungswille nicht die erwünschten Folgen hatte. Beide Kinder vermochten es nicht, den Eltern ihren Willen aufzuzwingen. Hans erklärte in einem anschließenden Gespräch, dass er dem Kind einen „Klaps“ gegeben hätte, weil es doch nicht sein dürfe, dass ein Kind seinem Vater vorschreibe, was er tun oder lassen solle oder gar, dass es selbst machen könne, was es wolle. „Das wird ja total verzogen, wenn man es nicht frühzeitig spüren lässt, dass es so nicht geht. Und außerdem, setzte er hinzu, wäre es ja noch schöner, wenn das Kind dem Vater seinen Willen aufzwänge. Und genau mit dieser Bemerkung zeigt der Vater sein wahres Gesicht. Es ging unserem Vater Hans nicht allein um die Sorge, dass sein Kind verzogen werden könnte. Ihm ging es auch um die „Machtfrage“. Ohne dass er es in dem Moment so gedacht hatte, wollte er seinem Kind seinen Willen aufzwingen. Es ging ihm dabei gar nicht allein, vielleicht nicht einmal in erster Linie, um sein Kind, sondern um seine Rolle als Vater und Hausherr. Der hat zu bestimmen, wo es lang geht - allein darum, weil er zu bestimmen hat und allein weiß, was gut und richtig ist. Das Kind wollte erfahren, was es darf und was nicht. Wenn die Antwort aber heißt, 88 du darfst keinen eigenen Willen haben – nur ich entscheide, weil ich dein Vater / deine Mutter bin! Und wenn du dich nicht fügst, dann werde ich dich zwingen!“ dann wird die kleine Karla sich am Ende fügen, weil und solange sie tatsächlich kleiner und schwächer ist. Sie wird aber nicht verstehen und schon gar nicht einsehen können, dass es um sie selbst und darum geht, ihr zu helfen, frühzeitig zu lernen, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Und ein Gefühl der Niederlage, der Ohnmacht wird sich in das Kind einschleichen. Wenn die Eltern sich stets in dieser Art und Weise durchsetzen, wird es sich anpassen - weil es Angst hat vor Strafe, Gewalt und Liebesentzug - sich aber als Persönlichkeit abgelehnt fühlen. Und immer wieder aufs Neue wird das Kind eine derartige Situation, in der es um Sieg oder Niederlage geht, heraufbeschwören und die Liebe seiner Eltern auf die Probe stellen. Im schlimmsten Falle kommt am Ende ein Duckmäuser oder ein Gewalttäter dabei heraus. So wie dem Vater in unserem Beispiel ging es, folgen wir Dreikurs, auch der kleinen Karla um ihren Einfluss, ihre Macht. Wenn sich aber Mütter und Väter auf diesen Machtkampf einlassen, müssen sie nicht immer - um den Preis der Gefahr einer Fehlentwicklung des Kindes - einen Sieg erringen. Wenn ein Kind erlebt hat, dass es mit Hilfe seines Trotzes oder anderer, die elterliche Aufmerksamkeit herausfordernder Verhaltensweisen Beachtung und Zuwendung erfährt, wird es diese seine „Macht“ über die Eltern, immer wieder einsetzen. Es geht aber dem Kind nicht darum, sich seine Eltern zum Feinde zu machen. „Eltern und Kinder - Freunde oder Feinde?“ fragen Rudolf Dreikurs und Erik Blumenthal im Titel eines Buches (Stuttgart 1973) ; denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass Kinder ihre Eltern lieb behalten. Wenn Eltern den eigenen Willen ihres Kindes brechen wollen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn sich Aggressivität und Gewalt ihrer Kinder am Ende gegen sie selber richtet. Das aber will das Kind gerade nicht! Es will - und hat einen Anspruch darauf, so hieß es bereits oben, von seinen Eltern eine Antwort zu erhalten auf die Fragen: Wieweit darf/kann ich gehen? Was darf/kann ich den anderen zumuten? Wo sind meine Grenzen? Es kommt also darauf an, unserem Kind in einer derartig kritischen Situation in der richtigen Art und Weise zu antworten. Was aber ist richtig? Schieben wir vor die Antwort auf diese Frage noch einige Informationen: Wenn wir das von uns als trotzig empfundene Verhalten unseres Kindes gleichsam als „Auskunftsverhalten“ auffassen müssen, dann ist damit bereits geklärt, dass uns unser Kind nicht ärgern will. Es verweigert sich also nicht oder versucht seinen Willen durchzusetzen, damit wir dann zornig werden. Auf diesen Gedanken kommt unser Kind zunächst gar nicht! Natürlich - und dieser Impuls ist unserem Kind ebenso wenig bewusst, wie jener, den wir als „Wunsch nach einer klärenden Antwort“ kennen gelernt haben - ist 89 dem Kind in dieser Phase zeitweilig sehr unbequem, sich den Wünschen und Vorstellungen der Erwachsenen oder der älteren Geschwister fügen zu müssen. Es hat ja begonnen, sich von der Mutter zu lösen. Also möchte es sich auch gern aus jeder „Fremdbestimmung“ lösen. Wenn wir das, was in dem Kind vorgeht, in unsere Erwachsenensprache übersetzen, dann müssten wir sagen: das Kind lehnt sich auf gegen jeden fremden Willen; es möchte selbst über sich bestimmen. Insofern lebt es also in einem Widerspruch: Einerseits braucht es Gewissheiten darüber, was es in unserer Kultur tun und lassen soll. Andererseits strebt es nach völliger Unabhängigkeit aus fremder Bevormundung. Und schließlich möchte sich das Kind Einfluss sichern und beachtet werden. Wie jeder von uns möchte es „jemand“ sein und in seiner Gruppe etwas gelten. Dies aber kann es noch nicht denken. Wir Erwachsenen können das und tun das auch. Leiden wir zum Beispiel nicht darunter, dass uns bestimmte Vorgesetzte herumkommandieren? Möchten nicht auch wir lieber selbst an unserem Arbeitsplatz entscheiden, was gut und richtig ist und reagieren wir nicht mit Abwehr und Trotz, wenn andauernd jemand kommt, der über uns bestimmen will? Leiden nicht auch wir darunter, wenn wir das Gefühl haben, dass unser Wort, unsere Meinungen und Erfahrungen in unserer Gruppe, sei es in Familie, Verein oder am Arbeitsplatz, nichts gelten und wir den Eindruck haben, nicht so beachtet zu werden, wie wir meinen, dass wir es wert sind? Während wir in derartigen Situationen genau wissen, woher unsere „schlechte Laune“ kommt, kann sich unser Kind noch keine Rechenschaft darüber ablegen, warum es jetzt trotzig wird. Und damit zugleich die zweite wichtige Information, die eigentlich überflüssig ist, aber dennoch erwähnt werden soll: unser Kind denkt noch nicht rückblickend oder vorausschauend in den Ursache-WirkungsZusammenhängen wie wir. Es plant also sein Verhalten nicht und überlegt sich nicht zum Beispiel: heute fahren wir in die Stadt; dort werde ich meine Eltern tüchtig plagen und ihnen meinen Willen aufzwingen. Mal sehen, wer hier der Stärkere ist . So etwas können wir Erwachsenen uns vorstellen und vornehmen. Keineswegs aber ein dreijähriges Kind. „So ein Unsinn“, werden Sie sagen, liebe Leserin, lieber Leser, „das versteht sich doch von selbst. Ein Kind handelt vielfach spontan aus einer plötzlichen Eingebung, einer Laune, einem Gefühl heraus“. Richtig! Wir Eltern aber tun in derartigen Situationen so, als richte sich das Verhalten des Kindes gegen uns und nicht als Frage an uns. Und an noch etwas ebenso Selbstverständliches sollten wir uns erinnern: Unser dreijähriges Kind hat noch keine Ausdauer. So rasch, wie ein Gedanke, ein Wunsch aufleuchtet, so rasch erlischt er wieder. Wir gehen mit dem Kind zum Einkaufen, weil wir daheim gesehen haben, dass das Brot zur Neige geht. Unser Kind wird im Regelfalle aber erst dann etwas haben wollen, wenn es das sieht. Werbepsychologen haben darum auch das Süßigkeiten Angebot an die Kasse und auf Augen- und Greifhöhe von Kindern stellen lassen. Vor einhundert Jahren schon stand genau aus diesem Grund das Glas mit den Bonbons auf der Theke des Lebensmittelladens. Und es lässt sich hinzufügen „aus den Augen, aus dem Sinn“. 90 Denn wenn es uns gelingt, unser Kind an dieser Verführung vorbeizulotsen und es abzulenken, wird es bald aufhören zu quengeln und uns zu drängen, das zu kaufen, was wir nicht kaufen wollten. Oder denken wir an eine andere Erfahrung mit unserem kleinen Kind: Soeben noch weint es zum Gotterbarmen, weil es hingefallen ist. Doch rasch lässt es sich trösten und kann bald wieder lächeln, auch wenn der Schmerz noch nicht vorüber ist. An uns Eltern und Erzieher richtet sich in den Lebensphasen eines Kindes ab drei Jahren geradezu die Aufforderung, unser Kind allmählich zu Ausdauer und Konzentration zu führen, weil es beide Eigenschaften erst erwerben muss. Folglich wird es sich auch schnell aus seiner Verstrickung lösen, in die es durch den plötzlichen Trotz hineingetrieben worden ist, wenn wir Eltern es nicht noch tiefer hineintreiben. Auch hierzu ein Beispiel: Frau Richter erzählt von ihrem David, der sie in dieser Entwicklungsphase in einer Bäckerei in Verlegenheit gebracht hatte. Weil er nicht bekam, was er wollte: „Mama, ich will diesen Kuchen!“, verließ er den Laden nicht, sondern setzte sich unmittelbar hinter die Eingangstür mitten auf den Fußboden. Da die Tür mit einer automatischen Öffnung versehen war, ging sie nicht mehr zu. In dieser offenen Tür hockte das Kind und schrie aus Leibeskräften. Je nach der persönlichen Einstellung zu Kindern und Kindererziehung lachten oder murrten die Kunden, die ein- und ausgingen. „Ganz gleich, was ich gemacht hätte, die anderen hätten was auszusetzen gehabt“, meinte Frau Richter. „Hätte ich David mit Gewalt von der Türe weggeholt oder gar geschlagen, hätten sich die einen empört. Wenn ich ihm seinen Wunsch erfüllt hätte, hätte ich mir auch kritische Bemerkungen anhören müssen. Also machte ich gar nichts. Ich stand draußen vor dem Schaufenster und wartete. Es dauerte keine fünf Minuten und mein David hörte auf zu schreien, stand auf und kam zu mir. Wir gingen weiter und David zeigte mir einen Traktor, der dahinten um die Ecke fuhr.“ Unser Kind will also weder trotzig noch „böse“ sein. Jedes Kind muss einfach seine Einflussmöglichkeiten ausloten, erproben, was es wie erreichen kann. Denn es gehört zur natürlichen Entwicklung von Menschenkindern nun einmal immer und überall dazu, dass sie in dieser Phase ihr Ich durchzusetzen suchen, dass sie etwas gelten wollen, dass sie etwas haben und besitzen wollen, als mein Eigentum, das nur mir gehört, dass ihr Bedürfnis nach Macht und Einfluss geboren wird. Das sind wichtige innerseelische Antriebe in dieser Zeit und keine bewusst eingesetzten Strategien, um etwas zu erreichen oder gar um uns zu tyrannisieren. Die Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen sind eigentlich recht einfach: Wenn wir Trotz und Eigenwillen erleben, dann freuen wir uns ganz im Stillen über das um seine Selbstbehauptung ringende Kind. Je stärker der „Eigensinn“ in dieser Zeit, umso ausgeprägter können wünschenswerte Tugenden im Jugendund Erwachsenenalter sein, wie Selbstbehauptungswillen, Überzeugung von den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten u.a.m. Wir stehen ihm bei und führen es in unsere Kultur ein, in der jedermann lernen musste, dass nicht alles nach seinem 91 Kopf geht. Wenn wir einerseits ruhig und gelassen bleiben, aber andererseits dem Kind die Erfahrung vermitteln, die es braucht, um zu lernen, dass es nicht alles haben oder nicht alles durchsetzen kann. Oder anders gesagt: wir geben die klärenden Antworten, wenn wir dem Kind die entsprechenden Erfahrungen ermöglichen. An zwei Beispielen ist das bereits veranschaulicht worden: Wir sagen dem Kind laut und deutlich und ohne Aggression in der Stimme: „Nein“. Bei diesem, gelegentlich etwas erläuterten „Nein“ - „nein, das darfst du nicht tun, weil du dir weh tun wirst ...“- bleibt es. Dann folgt unsere handelnde Reaktion. Das ist wichtig! Es gibt Eltern, die meinen in dieser Konfliktsituation mit ihrem Kinde diskutieren zu müssen. Vielleicht denken die Eltern dann an Demokratie und Mitbestimmung oder etwas Ähnliches. Mit dem Kind zu reden und gemeinsam zu Verabredungen zu kommen oder auf diesem Wege Einsichten vermitteln zu wollen, ist sicher sehr notwendig und haben ehrenwerte pädagogische Motive. In einer durch trotzigen Eigenwillen bestimmten gefühlsbetonten Situation aber führt langes Hin- und Herreden nicht weiter. Hier hilft nur kurz entschlossenes und aggressionsloses Handeln des Erwachsenen. Wohlgemerkt: des Erwachsenen, denn unser Kind ist in seiner Erregung handlungsunfähig. Weil es in seinen Gefühlen von einem trotzig-aggressiven „Ich-Impuls“ überschwemmt wird, reagieren wir mit aller uns möglichen Gelassenheit und Festigkeit situationsentsprechend. Situationen kann es viele verschiedene geben. Sie lassen sich nicht voraussehen und planen. Wir können aber nichts verderben, wenn es uns gelingt, ruhig und konsequent zu bleiben und aus der Erkenntnis heraus handeln, dass unser Kind klärende Antworten braucht und keine erbosten Eltern. Eva Madelung schildert in ihrem Buch über den Trotz (München 1989) etliche Situationen, die uns sehr anschaulich die Folgen unseres Verhaltens den Kindern gegenüber vor Augen führen. Wir sollten im Grunde immer das Kind seine selbst verursachte Misere spüren lassen aus der es dann ganz schnell wieder herauskommen will. Und zwar allein: „Wenn Du nicht weitergehen willst, weil Du Dir das Schaufenster noch anschauen möchtest, erklären in diesem Büchlein Eltern ihrem trotzigen Kind, dann bleibe hier. Wir müssen weitergehen und holen Dich später wieder ab...“ Natürlich bleibt das Kind nicht stehen. Wenn es den Eltern wirklich ernst ist und sie tatsächlich weitergehen, wie die Eltern von Eva in unserem ersten Beispiel, dann erkennt das Kind von alleine, das es zu weit gegangen ist. Und weil Eltern, die konsequent genug sind, wissen, dass sich ihr Kind aus dieser Erfahrung einen „Witz gekauft“ hat, brauchen sie hinterher gar nicht mehr darüber zu reden. Das Kind wird sich, wenn der Trotz abgeklungen ist, wieder an uns schmiegen - und alles ist wieder gut. Bis zum nächsten Mal. Bei einigen Kindern aber gibt es gar kein nächstes Mal. Da reicht eine Erfahrung aus und sie trotzen nicht mehr. Bei anderen dauert es noch lange und gelegentlich 92 haben wir dann den Eindruck, dass der Eigensinn unseres Kindes unendlich groß ist. Tatsächlich erleben wir das gleiche in verschärfter Form in der zweiten Lösungsphase, in der Pubertät, wieder. Sie beginnt bei Mädchen um das zehnte, bei Jungen um das zwölfte Lebensjahr. Nur in dieser Phase können unsere Mädchen und Jungen denken; da ist ihnen - zumindest nach einem trotzigen Willensimpuls - sehr klar, um was es geht. Nun geht es nicht mehr allein um die elterlichen Reaktionen allein. Nun geht es auch um überzeugende Begründungen. Jetzt sind nicht überwiegend die Gefühle im Spiel. Nun kommt auch der Kopf hinzu: Wissen und Denken, Planen und vorausschauendes Handeln. Hier sind wir Eltern in besonderer Weise gefordert. Uns fallen aber die erzieherischen Aufgaben in dieser Entwicklungsphase leichter und die zu erwartenden Konflikte werden keine so tiefen Wunden in die Beziehungen zwischen uns und unsere Kinder schlagen, wenn sie in der ersten Lösungsphase erfahren haben, dass es uns nicht um Macht und Herrschaft über unser Kind geht und dass wir die Persönlichkeit unseres Kindes stets respektiert und geachtet haben auch dann - und gerade dann - wenn es uns am meisten nervte. 4 Über die Ängste von Kindern Einführung Angst gehört zum Wesen des Menschen und begleitet unser ganzes Leben. Von den vielen Ängsten, die uns mal mehr mal weniger zu schaffen machen, sind die, die mit der kindlichen Entwicklung verbunden sind, die prägendsten. Die analytische Psychologie, denken wir an Siegmund Freud, C. G. Jung oder Alfred Adler, hat sich mit dieser Erscheinung ebenso befasst wie andere Richtungen in den Humanwissenschaften. Darum wissen wir auch, dass Angst eigentlich etwas ganz Normales ist. Sie dient uns mit ihren körperlichen Erscheinungen wie Herzklopfen, feuchte Hände, weiche Knie, Zittern oder Magenbeschwerden und warnt uns vor Gefahren. Sofern wir in entsprechenden Situationen nicht vor Angst „wie gelähmt sind“, tragen Angsterregungen dazu bei, uns vor Gefährdungen zu schützen, realen Gefahren zu begegnen. Bei einer Wanderung in den Bergen zum Beispiel kann es uns durchaus passieren, dass wir, weil der Weg an einem Abgrund vorbeiführt, nicht mehr weitergehen können. Wir müssen dann selbst wissen, ob und wie wir in dieser Situation die Angst überwinden und sicher weitergehen können oder aber umkehren müssen. Im Leben haben wir uns immer wieder derartigen angstauslösenden Situationen zu stellen. Denkbare Beispiele können weiter sein: uns bellt ein fremder Hund an, wir befinden uns in einer fremden Stadt oder in einer Tiefgarage20. Es gibt aber auch Ängste, die sich nicht auf derartige konkrete Objekte oder Situationen beziehen, sondern eher grundsätzlicher Natur sind. Sie haben ihre 93 Ursachen in der Bedrohung von Grundlagen unserer Existenz wie Krankheit und Tod oder Krieg und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Endlich kennen wir eine Gruppe von Ängsten, die nicht weniger elementar sind und sich eher auf das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen beziehen beziehungsweise auf die sozialen Dimensionen unserer Existenz. Zu denken ist an Verlassenheits- und Trennungsängste, Ängste, von den anderen Menschen abgelehnt zu werden, sich nicht behaupten zu können oder zu versagen. Wenn wir diese Angstformen prüfen, dann erkennen wir den Zusammenhang mit den Bedürfnissen, die wir im ersten Kapitel erwähnten: Je mehr wir das Gefühl haben, dass Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, umso größer die jeweiligen Ängste. Die Verlassenheitsangst Kindern allerdings sind diese Zusammenhänge keineswegs bewusst. Sie erleben ihre Ängste und können deren Ursachen, soweit sie nicht auf konkrete Objekte und Situationen zurückgeführt werden können, nicht immer benennen. Einige typische Ängste, die in Entwicklung und Erziehung von Kindern eine wichtige Rolle spielen, sollen hier unter die Lupe genommen werden. Am Anfang der kindlichen Entwicklung lässt sich die Angst vor dem Verlassen werden erkennen. Allein aus der Tatsache, dass ein Kind, um sich dereinst lösen und selbständig werden zu können, sich in der ersten Lebensmonaten an seine Mutter oder eine andere Bezugsperson „binden“ können muss, ist diese Urangst erklärlich. Ein Kind, das in der Sicherheit und Verlässlichkeit elterlicher Zuwendung heranwächst, wird sich unbefangen und wenig ängstlich seine Umwelt aneignen. Hierzu ist geforscht worden. Sie können das folgende harmlose Experiment daheim ausprobieren. Wenn sie ihrem sieben oder acht Monate alten Kind Gesellschaft leisten, während es unbekümmert - vielleicht im Wohnzimmer auf einer Decke sitzend - spielt, dann dürfen sie sich mit etwas anderem beschäftigen ohne dass sich das Kind in seinem Spiel stören lässt. Vielleicht will es gelegentlich der Mutter etwas zeigen und macht auf sich aufmerksam. Wenn die Mutter aber den Raum verlässt, wird es nicht lange dauern und das Kind spielt nicht mehr weiter. Wenn die Mutter nicht wiederkommt, wird es über kurz oder lang anfangen zu weinen. Dann ist es höchste Zeit, wieder zum Kind zurückzugehen. Ein Kind ist in dieser Lebensphase also nur in dem Ausmaß frei und aktiv, in dem es sich beschützt und geborgen weiß. Wird es in solchen Situationen und in diesem Alter allein gelassen, wird es vor Angst "wie gelähmt" sein und sein Spiel- und Erkundungsverhalten einstellen. Einige solcher Erfahrungen genügen und das Kind geht der Mutter nicht mehr vom Rockzipfel. Je mehr wir es dann wegschieben wollen: nun spiel endlich mal allein! umso mehr wird in ihm die Vorstellung genährt, wir wollten es nicht mehr haben. Darum nehmen wir diese Ängste ernst und tun sie nicht als „kindisch“ beiseite. Ob das Weinen des kleinen Kindes, das noch nicht laufen kann und in seinem Bettchen liegt ein Zeichen dafür ist, dass es Hunger und Durst hat, oder eine 94 Unmutsäußerung darüber, dass die Mutter nicht mehr da ist oder Verlassenheitsangst, das hört die Mutter an der Art des Weinens. Besonders wichtig ist dieses Signal nachts oder abends. Oft fragen wir uns "Soll/darf man ein Kind allein lassen?". Die Antwort lautet: "Ja, aber nur wenn wir dann auch wieder da sind, wenn das Kind uns braucht". Da wir aber bei einem Säugling zum Beispiel vorher nicht genau wissen können, wann wir gebraucht werden, bleiben wir besser daheim, wenn niemand zur Verfügung steht, den das Kind kennt und dem es ebenfalls vertraut. Wie es sonst nachts gehalten wird, ob Eltern ihr Kind zu sich ins Zimmer nehmen oder später, wenn es laufen kann, zu sich ins Bett kommen lassen, das müssen Eltern für sich selbst entscheiden. Wenn immer aber ein Kind in der Nacht Angst bekommt und nach uns ruft, dann darf es nicht sich selbst und seinen Ängsten überlassen bleiben. Dies ist die Zuwendung, die unser Kind braucht, um sich geborgen und sicher zu fühlen. Die Ängste von Kindern sind andere Ängste als unsere. Wir Erwachsenen können uns selbst Angst machen, wenn wir uns zum Beispiel ausmalen: „was wäre, wenn ...“. Die Ursachen der Ängste von Kindern sind uns vielfach verborgen und auch die Kinder selbst können sie kaum benennen. Verlieren können sie die Ängste aber nur mit unserer Hilfe. Wir lassen darum ein Kind erst dann bei Tag und Nacht und nur so lange allein, wenn und wie lange es das Alleinsein von seiner Entwicklung her auch wirklich gut verkraftet. Von der Angst, nicht beachtet zu werden Eng verwandt mit der Angst, verlassen zu werden, ist die Angst, übersehen zu werden. Unsere Phantasie reicht sicher aus, uns vorzustellen, wie groß unsere Panik wäre, wenn uns kein Mensch in unserer Umgebung mehr wahrnähme. Nichtbeachtung widerspricht dem natürlichen Streben nach Geltung, also danach; anerkannt, gemocht oder gar geliebt zu werden. Das Geltungsstreben, so sieht es Alfred Adler (Frankfurt/M 1981, S. 170) ist die Kraft in uns, die in ständigem Kampf mit unserem Minderwertigkeitsgefühl liegt. In dem Ausmaß, in dem das Minderwertigkeitsgefühl die Oberhand gewinnt, nimmt unsere Ängstlichkeit zu. Darum auch birgt zum Beispiel die Strategie, einen anderen Menschen oder gar ein Kind mit Nichtbeachtung (nicht mehr mit ihm sprechen, wegschauen u. ä.) bestrafen zu wollen, die Gefahr seelischer Beschädigung des Betreffenden, die umso größer ist, je geringer sein Selbstwertgefühl ist. Und weil sich bei unseren Kindern das Selbstwertgefühl erst allmählich entwickelt, will es durch uns gehegt und gepflegt werden. Nichtbeachtung oder die Haltung, du bist ja nur ein Kind werde erst mal erwachsen, dann kannst du mitreden, beschädigt die Herausbildung eines gesunden Selbstwertgefühls. Eine derartige Nichtbeachtung oder Missachtung führt zu Minderwertigkeitsgefühlen und den sie begleitenden Unterlegenheitsängsten. Das was hier angesprochen ist, erleben wir zum Beispiel auch im Verhältnis von Geschwistern zu ihren Eltern. Hinter den Aggressionen oder Machtkämpfen, die zum Beispiel ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisterchens früher oder später mit der Mutter beginnen können, verbirgt sich die Angst, für die Mutter nichts mehr, oder weniger als vorher, zu bedeuten beziehungsweise zu gelten. Im Extremfall lässt 95 das Kind auch mal die Äußerung fallen: „Du hast mich nicht mehr lieb“ und lüftet damit ein Stück den Mantel hinter dem sich seine Ängste verbergen. Mit der Bemerkung, dass das Kind Unsinn daher schwätzt oder mit der Beteuerung, dass man alle seine Kinder gleich lieb habe, ist das Problem nicht vom Tisch. Wir sollten die Ängste unseres Kindes ernst nehmen und nach Ausgleich suchen und alles vermeiden, was die Rivalität der Kinder untereinander verstärken könnte (vgl. dazu auch oben die Ausführungen über den Streit unter Geschwistern!). Die Ängste aber werden sich erst verlieren, wir sagen: wenn sein Selbstwertgefühl entwickelt ist. Wenn das Kind aus sich heraus und für sich selbst seinen „Wert“ erkennt. Der Weg dahin ist mit viele Provokationen gepflastert, die unsere Liebesfähigkeit, unsere Geduld und unsere Nerven auf die Probe stellen. Die Versagens- oder Leistungsangst Am Beispiel unserer Ängste lässt sich recht gut erkennen, wie alle Elemente unserer Existenz miteinander verwoben sind und einander beeinflussen. Ein Kind, in dem große Verlassenheitsängste lebendig sind, wird Probleme mit seinem Selbstwertgefühl haben und damit wiederum gekoppelt kann die Angst sein, den Anforderungen, die von außen kommen, nicht gewachsen zu sein. Oder wie wir zu sagen pflegen: Die Angst zu versagen. Es kränkt uns zutiefst - und ist von unserem Nächsten auch so gemeint - wenn sie/er zu uns sagt: „Du bist ein Versager.“ Eine derartige Feststellung löst bei uns Erwachsenen Angst und - je nach Temperament oder Charakter - Depressionen oder Aggressionen aus. Bei unseren Kindern wirken sich Versagenserlebnisse ähnlich aus. Knüpfen wir zum Beispiel an die Empfehlung an, sich für die Arbeitsergebnisse unserer Kinder zu interessieren, wie es im Kapitel über die Bedürfnisse erläutert wurde. Kinder, die nicht erleben, dass Ihre „Leistungen“ - und dazu gehört zuerst und vor allem das Bemühen! - auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden, strengen sich nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen. Und wenn dann etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „Das kann ich nicht“. Die Anerkennung und das Interesse an kindlichem Leistungsstreben durch jene Personen, die für ein Kind wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der Leistungsmotivation, die in Schule und Beruf gebraucht wird. Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner Anstrengungen vorweist oder schimpfen und strafen sogar, wird es am Ende resignieren und in seinem Verhalten zeigen, dass ja „alles keinen Zweck“ hat. Angst und Resignation sind Geschwister und wer sich über Leistungen die Anerkennung und Geltung nicht verschaffen kann, die doch zum Leben gehören, sucht nach Ausgleich. Verweigerungen, Aggressionen gegen andere Menschen oder Sachen und am Ende Aggressionen gegen sich selbst vom Einstieg in die Sucht bis zum Selbstmord können dann die Folgen sein. Auch Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder Lehrerinnen und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch so vom 96 betreffenden Kind erlebt wurden, erreichen nur selten den beabsichtigten Effekt. Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: „das war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen“, ist kaum zu erwarten. Vor allem angstauslösende Erlebnisse im Zusammenhang mit Leistungserwartungen, die an uns herangetragen werden, können zu ausweichenden Verhaltensweisen führen. Friedhelm besucht die Vorschule. Obwohl er das einzige Kind seiner sehr um ihn besorgten Eltern ist, war er zum Zeitpunkt der Einschulung noch nicht schulreif. Ihm mangelte es an der Fähigkeit, sich in einer Gruppe sozial angemessen zu verhalten. Im Kindergarten befand er sich stets in Rivalitätskonflikten, die er mit Gewalt zu lösen suchte. Nun sollte er in der Vorschule noch etwas Zeit erhalten. Vielleicht verlieren sich die Aggressionen, hofften Eltern und Lehrer. Auf dem täglichen Weg zur Vorschule hin aber begegneten Friedhelm andere Schulkinder. Einige von diesen, die nun schon in der ersten Klasse waren, hänselten ihn. Da diese Kinder stärker und außerdem in der Überzahl waren, vermied Friedhelm es, ihnen zu begegnen. Er machte einen Umweg. Dort auch traf ihn seine Mutter eines Tages und fand heraus, warum er diesen, von ihr verbotenen Weg entlang einer verkehrsreichen Straße bevorzugte. Nun hatte sie auch eine Erklärung dafür, dass seine aggressiven Ausbrüche daheim und in der Vorschule eher zu- als abgenommen hatten. Denn die Angst und Wut auslösenden Begegnungen mit den anderen Kindern musste Friedhelm irgendwie verarbeiten. Ihm stand zur Verarbeitung nur seine ihm vertraute Strategie, selbst gewalttätig zu sein, zur Verfügung. Damit wiederum löste er strafende Erzieherreaktionen aus. Es vergrößerten sich Frust und Angst und verbanden sich in der Seele des Kindes eng mit den Erwartungen der Erwachsenen an ihn, Leistung zu zeigen und sich angepasst zu verhalten... Diesen Teufelskreis können allein die Erwachsenen durchbrechen. Ein Kind findet schon darum nicht heraus, weil ihm Ursache und Wirkung nicht bewusst werden. Nicht einmal die Tatsache, dass Friedhelm selbst die Hänselei seiner ehemaligen Kindergartengefährten durch sein aggressives Verhalten verursacht hatte, die sich nun, Monate später, dafür „rächen“, könnte er erkennen. Und Bemerkungen von Seiten der Eltern wie, „siehst du nun, was du davon hast“ oder „bist selbst schuld“ würden die Ängste des Jungen nur vergrößern. Stattdessen wäre Verständnis, guter Zuspruch und viel Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit eher geeignet, Friedhelm aus seinen Verstrickungen herauszuhelfen. Das erfordert von den Eltern viel Kraft und Geduld. Insofern, und das war in unserem Beispiel auch der Fall, brauchten die Eltern und die Lehrerin Hilfen für sich, um dieser Aufgabe, Friedhelm aus seinen Ängsten herauszuhelfen, über einen längeren Zeitraum hinweg gewachsen zu sein. Die Angst auch künftig zu versagen, die Angst die Zuneigung der Eltern zu verlieren und die reale Angst vor anderen Kindern, kamen in unserem Beispiel zusammen. 97 Dass Leistungsschwächen weniger ein Zeichen mangelnder Fähigkeiten als vielmehr die Folgen von Entmutigungen und Ängsten sind, ist vielfach belegt worden. Jeder, der schon einmal vor einer Prüfung gestanden hat, wird nun entgegenhalten, dass Angst nicht immer zu Versagen führt. Prüfungs- und Leistungsängste begleiten unser Leben zwangsläufig ebenso, wie alle anderen Formen der Angst. Doch nur im Ausnahmefalle sind Prüfungskandidaten in entsprechenden Situationen „vor Angst wie gelähmt“ und bringen kein Wort heraus. In den meisten Fällen „vergessen“ die Prüflinge ihre Angst sehr rasch, die Erregung klingt ab und sie sind wieder voll handlungsfähig. Wer freilich unter diesen Prüfungsängsten besonders gelitten hat und sich für seine Ängste sozusagen „vor sich selber schämt“ oder gar Angst kriegt vor der Angst, wird derartige Situationen zu vermeiden suchen und Prüfungen, wann immer es geht, aus dem Wege gehen. Die Ängste aber bleiben. Stärke und Auswirkungen derartiger Prüfungsängste sind nicht zuletzt abhängig von den bisherigen Lebenserfahrungen. Auch hierzu ein Beispiel: Ernst war in der Schule ein guter Schüler. Er blieb auch in seiner Berufsausbildung vor allem in den theoretischen Fächern ein Musterschüler. Seine Abschlussprüfungen bestand er mit sehr gutem Erfolg. Vor den Prüfungen hatte er zwar „Lampenfieber“, aber keine Angst zu versagen. Im gleichen Lebensabschnitt, in den die Berufsabschlussprüfungen fielen, besuchte er eine Fahrschule. Ernst aber war daheim überbehütet herangewachsen. Seine Mutter hatte ihm zum Beispiel nicht erlaubt, mit anderen Kindern ins Schwimmbad zu gehen; er konnte also nicht schwimmen. Wenn immer er Fahrrad fahren wollte, waren es die Eltern, die Panik machten und ihm einredeten, dass er zu unsicher sei und im Verkehr gefährdet. „Der Junge ist ja so unpraktisch“ erzählten sie jedem und redeten das auch ihrem Sohn ein. Als er sich bei der Fahrschule anmeldete, rieten ihm die Eltern ab: „das schaffst du sowieso nicht“. Je näher der Prüfungstag heranrückte, umso höher stieg die Angst in Ernst hoch. Am Vorabend der Prüfung bekam er Fieber. Die Prüfung wurde ausgesetzt. Beim nächsten Termin erging es ihm nicht viel besser. Immerhin trat er an, schaffte die theoretische Prüfung locker und fiel in der praktischen Prüfung durch. Auch die Wiederholungsprüfung verpatzte er. Da gab er auf. Erst zehn Jahre später, längst stand er auf eigenen Füßen und kannte sich und seine Möglichkeiten und Grenzen besser und konnte vor allem mit seinen Ängsten umgehen, versuchte er es noch einmal. Da bestand er die Führerscheinprüfung sofort und nach relativ wenigen Fahrstunden. Die Geschichte von Ernst bestätigt, dass Versagensängste gleichsam anerzogen beziehungsweise erlernt werden können. Sie weist aber auch daraufhin, dass wir nicht unser ganzes Leben mit einer solchen Hypothek herumlaufen müssen. Ernst war unter anderem über berufliche Erfolge und einer guten Partnerbeziehung genug Selbstvertrauen zugewachsen. Er erkannte die Ursachen seiner Ängstlichkeit und überwand sie. 98 Vom Umgang mit Ängsten Gerade weil Urängste wie die Verlassenheitsangst, die Angst nichts zu gelten oder zu versagen, so stark sein können, sollten wir Erwachsenen unseren Kindern nicht noch wie im Falle von Ernst künstlich Ängste vermitteln. Mit Sprüchen wie "sei doch kein Angsthase", "nun stell dich nicht so an", "du bist doch kein Baby mehr" oder gar "Feigling" bringt man kein Kind ins Wasser, das am Ufer steht und schreit, weil seine Mutter ihm davon schwimmt. Ängste lassen sich durch derartige Bemerkungen nicht beeinflussen. Im Gegenteil: versuche ich ein Kind zu zwingen seine Angst zu überwinden indem ich seine Abwehr mit Gewalt zu brechen suche, kann ich es dauerhaft schädigen. Auch Drohungen können Angst machen: "Wenn du nicht aufisst, dann ist Mama traurig", "wenn du nicht lieb bist, werde ich krank", sind Äußerungen, die Schuldängste entwickeln können, die wiederum in extreme Scheu vor sozialen Kontakten, aber auch in hemmungslose Aggressivität einmünden können. Angst kann aber auch eine lustvolle Komponente haben. Denken wir an das Spiel: "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" "Niemand“ antworten alle Kinder. Und dann kommt er/sie herangestürmt und versucht ein Kind zu fangen. Alle kreischen vor Vergnügen laut auf und rennen davon. Bei dieser Art von Spielen gruselt es einem so schön. Nicht selten sind unsere Entdeckungsreisen in unbekannte Bereiche wie der Keller eines Hauses im Rohbau oder der Straßenzug nebenan von einer Mischung zwischen Angst und Spannung und Erregung verknüpft. So befähigt diese Lust an der Angst, die wir aber auch gern als „sich gruseln“ bezeichnen, Kinder, sich die Welt anzueignen, und Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstständigkeit zu gewinnen. Auch beim Lesen kann ein Kind gut mit- und nacherleben, wie Ängste verarbeitet werden und sich auflösen. Gelegentlich kommt man ihnen mit Humor und einem befreienden Lachen gut bei. Hier erinnern wir uns unwillkürlich an das Märchen bei den Gebrüdern Grimm: „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Dieses Märchen verrät uns zugleich, dass sich auch unsere Vorfahren immer wieder mit ihren Ängsten herumschlugen und nach Wegen suchten, mit ihnen umzugehen. Aber diese Prozesse spielen in fremder Umgebung oder das Lesen gruseliger Geschichten werden vom Kind selbst in Gang gesetzt. Es steuert sich selbst und muss sich in kritischen Situationen selbst überwinden oder es später noch einmal probieren oder aufgeben. Doch wehe, einem Kind wird mit dem schwarzen Mann gedroht, der in der Nacht um die Häuser schleicht und die unartigen Kinder holt. Gerade wenn Kinder sich im Vorschulalter, also in der „magischen Phase“ befinden, in denen Märchen und Wirklichkeit ineinander fließen, können Eltern und Großeltern mit derartigen Drohungen Ängste entfachen, die ein Leben lang erhalten bleiben und nicht selten seelische Störungen begründen. Prüfe sich jeder von uns selbst sorgsam daraufhin, ob nicht ihre/seine Ängste und Unsicherheiten auf derartige reale Erlebnisse aus der Kindheit zurückgeführt werden müssen. Die Ursachen zu erkennen ist der erste 99 Schritt zur Überwindung. Gewiss gibt es noch andere denkbare Auslöser von Ängsten. Nicht immer stehen Drohungen oder Bestrafungen am Anfang. Doch sind Diskriminierungserfahrungen, also solche, bei denen ein Kind sich in seiner menschlichen Würde verletzt fühlt, häufig beteiligt. Ängste lassen sich beeinflussen beziehungsweise entwicklungsfördernd verarbeiten, wenn wir sie im Spiel erfahren oder über das Märchen miterleben. Gerade in den Grimm’schen Märchen werden Ängste gestaltet, von denen das Kind ohnehin - oft unbewusst - umgetrieben wird. Die Ängste werden überwunden, aufgelöst, besiegt, die Geschichte zu einem guten Ende geführt. In der Geborgenheit der vertrauten Umgebung, eng an die Mutter/den Vater gedrückt, können Angst und Spannung verarbeitet und mit Hänsel und Gretel getanzt und gesungen werden. Allein dieses Beispiel weist aber auf die Gefahren, die von Medienangeboten wie Fernsehen oder Video-Filmen ausgehen können, die Eltern nicht ausgewählt haben und die sie nicht begleiten. Einige Hinweise zum Schluss „...das Gefühl der Angst ist eigentlich die Erscheinung der gesamten IchEntwicklung“ schreibt Michaela Glöckler (1992, S. 147). Die Ängste beginnen mit Formen der Trennungsangst bis hin zur Angst vor Krankheit und Tod. Insofern gehören Ängste zur menschlichen Existenz. Können diese Ängste überwunden werden? Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich selber finden. Michaela Glöckler weist in ihrem Buch auf die christliche Botschaft: „In der Welt habt Ihr Angst, aber seid getrost, Ich aber habe die Welt überwunden“ (Evangelium des Johannes). In unserer Eigenschaft als Erziehende sind zunächst wir es, an die sich unsere ängstlichen Kinder, Trost und Hilfe suchend, anlehnen. Sind wir selbst so genannte „ängstliche Naturen“ wird unser Kind möglicherweise wenig Hilfe erwarten dürfen oder gar erst von uns einige Ängste erlernen. Unser Vorbild wirkt auch hier. Das kann im Einzelfall heißen, dass erst einmal Mutter und Vater die eigenen Ängste „in den Griff“ bekommen müssen, um ihren Kindern bei der Angstbewältigung zur Seite stehen zu können. Die existentiellen Ängste aber werden wir ihnen auf die Dauer nicht nehmen können. Wir können ihnen jedoch die Fähigkeit mitgeben, so mit ihren Ängsten zu leben, dass sie von ihnen nicht zerstört werden. Diese Fähigkeit erwerben sie am ehesten, wenn wir unsererseits die Ängste unserer Kinder nicht vergrößern oder gar mit Angstmachen erziehen. Eva Leupold gibt Eltern und Erzieherinnen/Erziehern in der Zeitschrift „kindergarten heute“ (Dezember 1994, S. 12) folgende Hinweise, die die bisherigen Ausführungen in einigen Punkten zusammenfassen: „Angst hat, wie wir sahen, oft etwas mit neuen und unbekannten Situationen zu tun. Derartige Ängste klingen von allein ab, wenn sich ein Kind an diese bisher unbekannten Situationen gewöhnt hat. 100 Wenn nicht auch die Eltern zu viel Angst haben oder Ängste zeigen, dann wird auch ein Kind weniger ängstlich sein. Das Vorbild von den für ein Kind wichtigen Bezugspersonen, das können natürlich auch andere Kinder sein, spielt eine wichtige Rolle. Darum dürfen wir unser Verhalten nicht unterschätzen. An unserem Beispiel erlebt unser Kind, wie wir mit angstauslösenden Situationen umgehen. Lernen durch Beobachtung und Nachahmung ist ein wichtiger Motor der kindlichen Entwicklung. Das haben wir bei allen Themen bestätigt gefunden. Wenn wir Ängste bei unseren Kindern oder uns in bestimmten Situationen feststellen, dann sollten wir uns ihr auch stellen. Wenn wir angstauslösende Situationen meiden, dann haben wir vielleicht eine augenblickliche Erleichterung, die Angst kann aber langfristig größer werden. Haben wir also den Mut und stellen uns der Situation immer wieder, dann werden unsere Ängste abnehmen und mit der Zeit verschwinden.“ 5. Sexualität und Erziehung Einführung Heute ist es selbstverständlich, dass Sexualität oder Geschlechtlichkeit öffentlich diskutiert werden. Prostituierte treten öffentlich auf und immer weniger Menschen machen davon Aufhebens. Über Bildschirmmedien werden Transvestiten-Shows ebenso in unsere Wohnstuben gesendet, wie - mal mehr mal weniger deutlich sexuelle Kontakte beziehungsweise Pornographie selbst. Insofern kommt der Gag in einer "Ketchup"-Sendung der Realität sehr nahe, wenn darin der Vater den Sohn über die Fortpflanzung aufklären soll und hierbei auf die gemeinsamen Erlebnisse in einem Pariser Bordell verweist. Im Grunde will uns dieser Gag darauf hinweisen, dass unsere Heranwachsenden der Aufklärung durch uns nicht mehr bedürfen und dass sie früher und mehr über Sexualität wissen, als wir annehmen. Die Frage ist lediglich, ob wir Eltern uns auch noch die Sexualerziehung aus der Hand nehmen lassen wollen oder dürfen. Nach dem von Eltern selbst mit großem Engagement vertretenem Verständnis von erzieherischer Verantwortung muss diese Frage eindeutig verneint werden. Darum ist vorab festzuhalten: Die Erziehung zu Liebe und Sexualität ist wichtiges Element einer Entwicklung hin zu einer erfüllten menschlichen Existenz. 101 Es war die schwedische Pädagogin Ellen Key, die bereits in ihrer wegweisenden Schrift „Das Jahrhundert des Kindes“ (Berlin 2/1902, S. 46 f) forderte, auf falsche Prüderie und Verlogenheit in der Geschlechter- und Geschlechtserziehung zu verzichten. Sie schrieb im Sprachstil ihrer Zeit: „Nur dadurch, dass jeder von frühester Kindheit an auf jede seiner Fragen über diesen Gegenstand ehrliche, dem betreffenden Stadium seiner Entwicklung angepasste Antworten erhält und so volle Klarheit über seine eigene Art als Geschlechtswesen empfängt, sowie ein tiefes Verantwortlichkeitsgefühl in Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe als solches , eine Gewöhnung an ernstes Denken und ernstes Sprechen über diesen Gegenstand, nur dadurch kann ein vornehmeres Geschlecht mit höherer Sittlichkeit hervortreten.“ Es sollte aber noch mehr als eine Generation darüber hinweggehen, bis nach 1970 auch in der Pädagogik – nun unter der Überschrift „Sexualerziehung“ – diese Thematik in der Familienbildung und in den Ausbildungsstätten für Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer einen angemessenen Platz erhielt. In drei Schritten wollen wir uns in gebotener Kürze mit diesem Problem befassen. Zunächst werden einige Informationen über die sexuelle Entwicklung gegeben. Dann werden drei Positionen zur Geschlechtserziehung vorgestellt, aus der die praktischen Konsequenzen zu ziehen sind. Sexualität ist natürlich Sexualität ist ebenso natürlich, wie die anderen existentiell notwendigen Bedürfnisse. Denken wir zum Beispiel an Essen, Trinken, Schlafen, oder Bewegung. Der Geschlechtstrieb freilich dient nicht in erster Linie beziehungsweise ausschließlich der Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses. Von der Natur her hat er den Zweck, für die Fortpflanzung zu sorgen. Und dazu gehört jeweils ein andersgeschlechtlicher Partner. Insofern ist Sexualität sozusagen von Natur aus ein Element sozialer Beziehungen und hier wieder in erster Linie zwischen Frau und Mann. In der Lebenspraxis freilich, so der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau, nimmt Sexualität keine herausragende Stellung ein. Es wollten zum Beispiel siebzig21 Prozent aller Jugendlichen, die dazu befragt wurden, lieber ihr Smartphone als ihre Partnerin oder den Partner. Die Phase zwischengeschlechtlicher Sexualität, die mit der Zeugungs- und Gebärfähigkeit beginnt, bezeichnen wir als Pubertät oder Geschlechtsreife. Weil wir über Generationen hinweg so taten, als wäre mit Beginn dieser Phase Sexualität überhaupt erst ein Thema in unserer Persönlichkeitsentwicklung, ist für unser pädagogisches Anliegen die Erkenntnis wichtig, dass sie unser ganzes Leben begleitet von der Geburt bis zum Tod. Niemand käme zum Beispiel auf die Idee zu behaupten, dass mit der Zeugungs- und Gebärfähigkeit die Sexualität erlischt. Mehr als alle anderen natürlichen Erscheinungen ist dieses Element unserer Existenz kulturell überformt. Allein der Gedanke an die Schöpfungsgeschichte deutet an, was 102 gemeint ist. Und schauen wir in unseren Alltag oder in den unserer Vorfahren, so ließe sich etwas schablonenhaft darauf verweisen, dass alles seine Zeit hatte: Schlafen, Mahlzeiten, Arbeit und Erholung - aber auch die Sexualität. Und selbst in Zeiten großer Freizügigkeiten, wie wir sie jetzt erleben, kommt der sexuellen Beziehung zwischen Frau und Mann und ihrer ethischen Dimension eine besondere Bedeutung zu. Die Scheidungszahlen steigen. Zu den häufigen Gründen gehört die Untreue. Und in noch mehr Fällen, als es die Scheidungsstatistik verrät, bildet der Ehebruch den Grund für schwere Beziehungsstörungen zwischen Frau und Mann. Das war in vergangenen Generationen so und blieb es bis heute. Es ist gerade diese Erkenntnis, die auf die Notwendigkeit verweist, Sexualerziehung als einen wichtigen Teil der Sozialerziehung zu verstehen, also der Erziehung auf den richtigen zwischenmenschlichen Umgang hin. Wie sollte das praktisch geschehen? Sexualität als soziales Verhalten Menschliche Sexualität ist nicht nur triebgesteuert. Der Mensch kann sich, und darin unterscheidet er sich vom Tier, von seinen Trieben distanzieren, sie bewusst wahrnehmen und steuern. Menschliche Sexualität ist weiter soziokulturell bedingt. Das heißt zum Beispiel, dass menschliches Sexualverhalten davon abhängt, in welcher Zeit und Kultur welche ethischen Normen gelten und als Angehöriger welchen Volkes ein Mensch heranwächst. Für die Pädagogik ist hierbei die Erkenntnis bedeutsam, dass das Sexualverhalten vor allem von der sozialen Umwelt anerzogen wird. Als Sexualverhalten sind hier alle der Sexualität dienenden beziehungsweise bewusst auf sie hinsteuernden verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen der einzelnen Person in der Begegnung mit anderen gemeint. Sexualverhalten ist also Teil des sozialen Verhaltens, Sexualerziehung ein Teil der Sozialerziehung. Martin Buber unterscheidet in der zwischenmenschlichen Begegnung zwei Grundhaltungen: Die eine ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person eine andere vorwiegend als "Es", als Objekt betrachtet. Im Alltag heißt das zum Beispiel, dass bei einer solchen Einstellung ein anderer Mensch an seinem Nutzen gemessen wird, etwa an der Frage: was bringt es mir, wenn ich mich dem anderen zuwende? Für das Sexualverhalten eines Menschen mit dieser Haltung würde das heißen, dass sein Sexualpartner ein Objekt seiner Triebbefriedigung wäre. Die andere Grundhaltung ist die, nach der eine Person die andere als "Du" anerkennt, nicht also als Objekt, sondern als ein personal-agierendes Subjekt. Im beruflichen und außerberuflichen Alltag heißt das nichts anderes, als dass einer den anderen in seiner Persönlichkeit wahrnimmt und akzeptiert und dass die Beziehungen zwischen den Menschen auf gegenseitiger Achtung und auf Anerkennung der Menschenwürde beruhen. Auf das Sexualverhalten 103 übertragen kann eine "Du-orientierte" Haltung als die Fähigkeit beschrieben werden, die emotionale, soziale und motivationale Situation des Partners wahrnehmen, akzeptieren und sich entsprechend verhalten zu können. Beide der hier angedeuteten Grundhaltungen können in ein und derselben Person zeitweilig oder dauerhaft vorhanden sein. Jede dieser Grundhaltungen kann sich aber auch zu einer überwiegenden Eigenschaft verfestigen, das heißt, jede dieser Haltungen hat die Möglichkeit sich in einer Person als die bestimmende durchzusetzen. Ob ein Mensch eher ein triebhaft-objektorientiertes oder eher ein kulturell überformtes subjektorientiertes Sexualverhalten realisiert, liegt in der Verantwortung der ihn erziehenden und bildenden Kräfte: also seiner Eltern, seiner Erzieher und Lehrer, den Freundeskreisen oder Kameraden innerhalb und außerhalb von Vereinen, aber auch den "geheimen Miterziehern", wie zum Beispiel den Massenmedien. Sexualität und Entwicklung Ulrich Diekmeyer spricht in seinem dritten Elternbuch (1992, S. 113) von der "ersten kritischen Phase", wenn unser Kind im dritten Lebensjahr deutlich wahrnehmbare sexuelle Neugierde zeigt. Kritisch ist diese Phase unsertwegen: Es kommt darauf an, wie wir auf kindliche Interessen oder Äußerungen reagieren. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, dass ein Kind im dritten Lebensjahr eines Tages entdeckt, dass Menschen verschieden sind. Lebte unsere Tochter/unser Sohn während der ersten beiden Lebensjahre noch ohne Bewusstsein der eigenen spezifischen Geschlechtlichkeit, so bemerkt unser Kind, dass das andersgeschlechtliche Geschwisterkind oder Elternteil im Genitalbereich anders aussieht. Und prompt können sich entsprechende Fragen einstellen: "Mama, bekomme ich auch ein Glied?" wird das kleine Mädchen fragen. Vorausgesetzt natürlich, es sind zuvor von den Eltern die begrifflich zutreffenden und völlig neutralen naturkundlichen Bezeichnungen verwendet worden. Mädchen haben eine Scheide, Buben ein Glied. Diese Benennung ist korrekt und sollte stets und ohne Scheu und Untertöne so verwendet werden. Es gibt keine Legitimation, außer unserer eigenen Unzulänglichkeit im Umgang mit Sexualität, Körperteilen und Körperfunktionen andere Bezeichnungen oder Gehalte zuzuordnen als eben die natürlichen. Was natürlich ist und selbstverständlich, wird auch nicht mit Geheimnissen umgeben. Wir können davon ausgehen, dass überall dort, wo auf die Kinderfragen und kindliche Verhaltensweisen im hier vorgetragenen Sinne reagiert wird, sexueller Missbrauch erschwert ist. Kinder - zumindest die, die älter sind als drei Jahre und 104 über die entsprechende Ausdrucksfähigkeit verfügen, können sich leichter mitteilen, wenn ihnen die Benennungen vertraut sind und sie wissen, dass sie darüber sprechen können ohne dass ihre Umgebung abweisend reagiert. Unser Kind beginnt ab dem dritten Lebensjahr sich für seine Geschlechtsorgane zu interessieren. Wir sprechen von einer "Schau- und Zeigelust". Wir können beobachten, wie unsere Kinder feststellen, dass sich Bube und Mädchen beim Urinieren anders verhalten und entdecken zum Beispiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst den kleinen Unterschied. Das löst wiederum Fragen aus "Mami, kriege ich auch noch so ein Glied?" fragt die Schwester. Aber auch Vater und Mutter werden nun mit etwas anderen Augen angeschaut. Sogar die ersten Doktorspiele mit den Untersuchungen am anderen Kind, dem gegenseitigen Betasten und Betrachten nehmen in dieser Phase ihren Anfang. Alle diese Verhaltensweisen gehören zur normalen Entwicklung unserer Kinder. Und je selbstverständlicher wir Erwachsenen damit umgehen und je weniger wir eine Staatsaktion aus unseren Beobachtungen machen, umso eher geht unser Kind zur Tagesordnung über. Sexualität und Erziehung Es lassen sich drei Formen von Sexualerziehung unterscheiden: 1 Die tabuisierende Sexualerziehung. Von tabuisierender Sexualerziehung wird gesprochen, wenn Eltern und Erzieher Probleme des sexuellen Verhaltens aus ihrem Erziehungsalltag ausklammern. Etwa nach dem Motto: "Darüber spricht man nicht". Das Thema ist in den betreffenden Lebensbereichen "tabu". In derartigen Fällen bleiben die Heranwachsenden mit ihren Triebempfindungen sich selbst überlassen und damit auf die indirekten Erziehungseinflüsse aus der näheren und weiteren sozialen Umwelt her angewiesen. 2 Die animierende Sexualerziehung. Die animierende Sexualerziehung wird überall dort praktiziert, wo aus einem entsprechenden Menschenbild heraus der Sexualität eine dominierende Funktion in der Entwicklung des Menschen eingeräumt und die kulturelle Überformung des Sexualtriebes als Triebunterdrückung, ja als Unterdrückung des Menschen überhaupt betrachtet wird. Nach diesem Konzept ist ein Mensch frühzeitig an Sexualität und entsprechende Haltungen und Verhaltensweisen heranzuführen. Kindliche Sexualität wird von Eltern und Erziehern gefördert. Und aus Gründen von Gewinnstreben ist die Sexualisierung heute bis in die Bereiche Kindermoden und Kinderspielzeugeingedrungen. 105 3 Die akzeptierende Sexualerziehung. Hierunter lässt sich verstehen, dass Eltern und Erzieher um die Triebbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen wissen, jedoch deren mögliche Erscheinungsformen in den verschiedenen Entwicklungsphasen nicht fördern oder gar erst "animieren", sondern sie, sofern sie auftreten, verantwortlich (das heißt zum Beispiel: gesprächsbereit und offen) begleiten. Menschliche Sexualität wird akzeptiert und pädagogisch verantwortlich begleitet, nicht verdrängt, verboten, stimuliert oder gar gefordert. Von herausragender Bedeutung in der Erziehung zu einem guten Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit und in Bezug auf die Vorbereitung zur zwischenmenschlichen Sexualität als Teil sozialer Kontakte ist wiederum das Vorbild der Älteren beziehungsweise der Eltern. Je mehr die Eltern die eigene Sexualität in all ihren Erscheinungen positiv leben oder erlebt haben, umso eher sind sie in der Lage, jene natürliche Haltung ihren Kindern gegenüber zu wahren, von der hier die Rede ist. Wer in dieser Beziehung mit sich selbst nicht zurechtkommt, Hemmungen hat oder eine Scheu, sich diesen Themen offen und unbefangen zu stellen, dem wird es schwerer fallen oder gar unmöglich sein, den Kindern gegenüber jene akzeptierende Haltung einzunehmen, die für die kindliche Entwicklung förderlich wäre. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Sexualerziehung zugleich Sozialerziehung ist. In unserer Kultur ist Sexualität ein Teil der Partnerschaft und in unserer Vorstellung Ausdruck der Liebe zwischen zwei Menschen. Diese Liebe sollten unsere Kinder miterleben. Am Beispiel der alltäglich gelebten liebevollen Beziehung zwischen Mutter und Vater beziehungsweise zwischen Frau und Mann, verinnerlichen unsere Kinder jene Haltung und Verhaltensweisen, die ihnen später in der eigenen Partnerbeziehung Orientierung geben. "Liebe" in einem humanistischen Verständnis drückt sich aus in der Achtung mit der wir unserem Partner begegnen, in der Beachtung seiner Würde und eigenen Bedürfnisse. Zu einem liebevollen Umgang gehören auch Zärtlichkeit und Zeit, wie im Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis nach Liebe bereits ausgeführt (vgl. oben, S. 19 f.). Eltern zeigen ihren Kindern, dass sie sich mögen, wenn sie sich küssen, bei den Händen halten oder sich gelegentlich gegenseitig eine Freude bereiten. Zu einer geglückten beziehungsweise beglückenden und das Leben erfüllenden Partnerschaft und Sexualität gehören sowohl die Abwehr negativer Einflüsse wie das Vorleben guter, auf Achtung, Akzeptanz und Zuneigung beruhender Beziehungen zwischen Mutter und Vater. Eine Frau oder ein Mann sind nicht "Objekte" unserer eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Begierden, sondern Persönlichkeiten, mit denen wir in besonderer Weise verbunden fühlen. Um das Gemeinte deutlicher zu machen: Eine Vergewaltigung, also Sexualität gegen den Willen eines Partners, oder andere Formen unwürdigen Verhaltens (flegelhaftes Verhalten, Schlagen oder Beschimpfen) sind nicht Ausdruck zwischenmenschlicher Liebe, sondern Ausdruck von Gewalt, Brutalität oder 106 Missachtung menschlicher Würde. Wir Erwachsenen können nicht so tun, als hätten die menschlichen Grundrechte innerhalb unserer vier Wände keine Gültigkeit. Wer seinen Partner schon nicht lieben kann, der sollte wenigstens seine Persönlichkeit achten. Das Verfassungsgebot „die Würde des Menschen ist unantastbar..." füllen wir mit Leben, wenn wir die Würde unserer Nächsten nicht verletzen. Für Kinder, die Zeugen der Verletzung der Menschenwürde in der eigenen Familie werden, sind die Folgen katastrophal. Zu den schwierigsten, verstörtesten und aggressivsten Kindern, mit denen Sozialarbeiter und Therapeuten zu tun haben, gehören jene, die eine Vergewaltigung ihrer Mutter durch deren Partner miterlebten. Sei es, dass sie Augenzeugen oder Ohrenzeugen (draußen vor der verschlossenen Schlafzimmertür) waren. Und ein Mann, der seine Frau missbraucht, schlägt und beschimpft sie auch. In den meisten Kulturen vollzieht sich der Zeugungsakt von alters her in einer von Dritten abgetrennten Sphäre, die wir heute zur Intimsphäre von Ehepaaren beziehungsweise Liebespaaren zählen. Im Gegensatz hierzu kennen wir die Pornographie, die inzwischen über Internet, Video- und Fernsehfilme auch in Wohnungen - also in die Intimsphäre von Familien Einzug gehalten hat. In der Sprache unserer Kinder, vor allem jener, die selbst derartige Filme sahen, hören wir Worte, wie sie bisher überwiegend in Kneipen, an Arbeitsplätzen, beim Militär oder im Zuhälter-Milieu als Zeichen von Männlichkeit oder als subkultureller Sprachcode gebraucht wurden. Auch während der Pubertät ist der Gebrauch ebenso anrüchiger wie kräftiger Begriffe und Flüche durchaus nichts Ungewöhnliches. Wir sagen darum auch gelegentlich, dass ein Erwachsener, der sich gern dieser Sprache bedient, „nicht aus der Pubertät herausgekommen ist“. Noch einmal sei daran erinnert, dass dies nicht erst eine heute auftretende Zeiterscheinung ist! Neu - und darum bemerkenswert bis störend - kommt uns der Gebrauch durch Kindermund vor. Und Eltern wie Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer klagen über diese Erscheinung und fragen danach, wie sie zu verändern wäre. Überall dort, wo sich Eltern und Erzieher Sorgen über diese Entwicklung machen, wäre zunächst eine Verständigung darüber zu erreichen, welche Sprache wir als Umgangssprache zwischen Menschen akzeptieren wollen und welche nicht. Am Anfang stünde also eine Wertentscheidung. Haben wir uns entschieden, dass wir keine Wörter aus der „Gossensprache“ akzeptieren wollen, dann haben wir die Konsequenzen zu leben. Das heißt, wie in anderen pädagogischen Feldern auch, mit gutem Beispiel voranzugehen. Erst dann ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, mit welchen Strategien wir den sprachlichen Entgleisungen unserer Kinder begegnen. Im Grunde gelten hier die gleichen Verhaltensempfehlungen wie sie unter den Stichworten „Grenzen setzen“, „Drohung und Strafe“ oder „Aggression und Gewalt“ in dieser Schrift zu finden sind. 107 6. Kinder werden selbständig Einführung Vom Tage der Geburt an, „wachsen die Kinder von uns weg“. So waren Elternseminare überschrieben, in denen es um die Phasen der Verselbständigung unserer Kinder ging und darum, wie wir sie auf diesem Wege begleiten können. "Hilf mir, es selbst zu tun!" Diese Bitte legte einst Maria Montessori den Kindern in den Mund und forderte alle Eltern und Erzieher auf, die Kinder in ihrem Bestreben nach Selbsttätigkeit und im Streben nach Eigenständigkeit zu unterstützen. Im Kindergarten bereits lässt sich beobachten, welches Kind längst daran gewöhnt ist, sich selbst an- und auszuziehen und welches auf die Hilfe Erwachsener oder anderer Kinder wartet. Nicht immer sind es Entwicklungsunterschiede, die Kinder mehr oder weniger selbständig handeln lassen. Unschwer finden sich Beispiele dafür, dass Eltern ihren Kindern nicht viel zutrauen oder gar Angst haben, dass ihr Kind sie gar nicht braucht. Wenn unsere Kinder von uns wegstreben, sich nichts mehr sagen lassen wollen, es überall schöner finden, nur nicht bei uns, dann werden wir unsicher. Andere Kinder oder andere Erwachsene scheinen dann mehr Bedeutung für unser Kind zu haben als wir. Und eines Tages sind die Kinder groß und gehen von uns weg. "Früh übt sich, wer ein Meister werden will". Was aber sollte wie früh geübt werden? Eigentlich alles, so ließe sich pauschal antworten, was einem Kind in der jeweiligen Entwicklungsphase zugemutet werden kann. Dabei berücksichtigen wir Eltern selbstverständlich die alte Erfahrung, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln und zum Beispiel nicht alle Kinder einer Familie exakt im gleichen Lebensabschnitt gleiche Formen selbständigen Verhaltens praktizieren. Wie werden wir Eltern mit der wachsenden Selbständigkeit und Autonomie unserer Kinder fertig? Sind wir bereit, diesen Prozess zu akzeptieren? Haben wir den Kindern die Wege geebnet? Können wir darauf verzichten, sie zu bevormunden? Finden wir eine neue Form der Beziehung? Diesen und anderen Fragen kommt umso mehr Bedeutung zu, als sie nicht nur in Bezug auf unsere Kinder beantwortet werden müssen. Auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen haben sie ihre Berechtigung. Und noch eine weitere verallgemeinerbare Erfahrung ist zu berücksichtigen: Beim ersten Kind sind Eltern gelegentlich noch unsicher in Bezug auf Entscheidungen darüber, was sie dem Kind zumuten dürfen und was nicht. Mit der Anzahl der Kinder wird die Sicherheit größer und Eltern lassen eher Selbständigkeit zu. Obwohl es sich von selbst versteht, soll noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die mit einer erfolgreichen und entwicklungsangemessenen Selbständigkeit, die Eltern ermöglichen beziehungsweise zu der Eltern ermuntern, jene Voraussetzungen gehören, die zu Beginn als „Bedürfnisse“ unserer Kinder betrachtet worden sind. Bei einem Kind beispielsweise, das in jungen Jahren hat 108 mehrfach Trennungserfahrungen machen müssen, ist eher damit zu rechnen, dass es sich von seiner Mutter oder von seinem Vater nicht lösen will und ihm darum alle Verhaltensweisen schwerer fallen, die in die Selbständigkeit führen. Es wird sich länger „bemuttern“ lassen wollen als jenes, das sich der fürsorglichen Zuwendung seiner Eltern jederzeit sicher war. Es ließen sich auch alle anderen Bedürfnisse gleichsam als Prüfsteine verwenden, wenn wir uns bei dem einen oder anderen Kind fragen, warum es ihm so schwer fällt, für sich selbst und seine Handlungen die Verantwortung zu übernehmen. Die Verselbständigungsphase „Pubertät“ „Sie scheinen ... das Wohlleben zu lieben, haben schlechte Manieren und verachten die Autorität, sind Erwachsenen gegenüber respektlos und verbringen ihre Zeit damit, herumzulungern und miteinander zu plaudern. Sie widersprechen ihren Eltern, nehmen Gespräch und Gesellschaft für sich allein in Anspruch, essen gierig und tyrannisieren ihre Lehrer“. Dies wusste Sokrates22 über die Jugend seiner Zeit zu berichten. Zu jeder Jugendgeneration gehörte eine/einer von uns Eltern, genauso, wie unsere Heranwachsenden heute zu ihrer Generation gehören. Und damit haben wir ein erstes Merkmal, das für unsere jetzigen und die nachwachsenden Mädchen und Jungen zutrifft: sie gehören alle den kulturellen, den sozialen, den politischen und wirtschaftlichen Situationen beziehungsweise Strömungen ihrer Zeit an. Elemente dieser Strömungen tragen sie in unsere Familie mit hinein und konfrontieren uns mit ihnen auch und gerade dann, wenn wir Älteren nicht gerade davon begeistert sind. Hier einige Informationen zu diesen Pubertätsphasen: Als „Pubertät“ wird ein von physiologischen Entwicklungsgesetzen zwingend vorgegebener Prozess der Reifung bezeichnet. Biologisch angeregt wird dieser Wachstumsschub von Geschlechtshormonen die der Körper zu produzieren beginnt. Männliche Geschlechtshormone (Androgene) und weibliche Geschlechtshormone (Östrogene) werden massenhaft ausgeschüttet und bewirken erhebliche Veränderungen in Körper und Seele. Körperlich zeigen sich derartige Veränderungen in einem disharmonischen Erscheinungsbild wie zum Beispiel relativ große Füße, lange dünne Gliedmaßen, picklige Haut. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste und erste Regelblutungen treten auf u. a. m. In Bezug auf die seelische Entwicklung erleben wir eine ganze Abfolge von Veränderungen, die nicht selten krisenhaften Charakter annehmen. Gebräuchlich ist der Begriff „Adoleszenz“ für die seelische und soziale Entwicklung im Jugendalter (von adoleszent - heranwachsend). Es wird unterschieden nach Frühadoleszenz, mittlere Adoleszenz, späte Adoleszenz, ca. 11 bis 14 ca. 14 bis 17 ab 17 bis ... Jahre Jahre Jahren 109 Die Frühadoleszenz, sie tritt vor allem bei Mädchen in unserer Zeit (seit etwa dem Beginn des 21. Jahrhunderts) immer häufiger früher ein, ist eine Zeit der Trauer, in der sich das Verhältnis zu Körper, Sexualität, zu sich selbst, den Gleichaltrigen und den Eltern zu wandeln beginnt. Verwirrt und orientierungslos will der Heranwachsende die Eltern behalten und sich doch von ihnen lösen. Einerseits gibt er sich erwachsen, stark und klotzig, andererseits trennt er sich noch nicht von seinem Schmusetier. Gedanken an Selbstvernichtung können auftreten, wenn der junge Mensch keinen Sinn an diesen Widersprüchen erkennt und sich von allen verlassen fühlt. Darum ist es in dieser Phase besonders wichtig, in Gruppen Gleichaltriger eingebunden zu sein und sich dort gebraucht zu wissen. Bereits im vorangegangenen Abschnitt wurde darüber berichtet, dass sich gerade Heranwachsende in dieser Phase durch ein betontes Engagement auszeichnen – wenn sie auch noch nicht auf die Anleitung und Unterstützung durch Erwachsene verzichten können. Zu denken ist da zum Beispiel an die Trainer in Sportgruppen, die Jugendleiter in Jugend- und Kindergruppen, die Dirigenten von Kinderchören u. a. In der mittleren Adoleszenz fühlt sich ein junger Mensch zeitweilig total überfordert. Dieses Gefühl hat gute Gründe, wenn wir daran denken, dass er ja nicht nur mit seinem Körper und seiner erwachten Sexualität zurechtkommen muss. Es ist die gleiche Zeit, in der Weichen für die Zukunft gestellt werden, wenn es um Berufswahlentscheidungen, Schulabschlüsse und Praktika geht, in denen sie/er sich bewähren sollen. Viele eigene Wünsche und eigene Vorstellungen bauen sich auf, die von den Erwachsenen nicht geteilt oder verstanden werden, da sie nicht selten keine Realisierungsmöglichkeit haben. Der Drang, frei zu sein, keine Einschränkungen (er)dulden zu müssen, kann übermächtig werden. Konflikte, die sich zu richtigen Machtkämpfen ausweiten, können an der Tagesordnung sein. Marianne Arlt beschreibt die entsprechenden Erfahrungen mit ihrem Sohn recht anschaulich (Freiburg 1992). Die Heranwachsenden ziehen sich in sich selbst zurück. Wunschgebilde, Träume und Phantasien bestimmen die Innenwelt. Die Flucht aus der Wirklichkeit führt gelegentlich zu Drogen wie Alkohol, Zigaretten oder gar „harte Drogen“. Begleitet wird diese Phase von Bemühungen um Abgrenzung einerseits und Anpassung andererseits. „Zu sein wie kein anderer - zu sein wie alle anderen“, so bezeichnet Erikson die Suche nach Identität als Aufgabe der Pubertät. Wie kein anderer - das heißt vor allem, nicht so sein, wie die als spießig erlebten Eltern oder Erwachsenen überhaupt. Zu sein, wie alle anderen, das heißt vor allem „cool“ sein und „trendy“. Da werden Sänger und Musiker, Sportler oder andere in der jeweiligen Szene gültigen Vorbilder für die Heranwachsenden wichtig. Sie wollen dazu gehören und sich dadurch von der Erwachsenenwelt unterscheiden. Je problematischer im Erleben des Heranwachsenden und seiner Eltern diese Phase verläuft, umso größer die Gefahr der Regression: Schule schwänzen, weglaufen, aber auch dissoziale Verhaltensweisen als Probierverhalten und/oder Protest, sind Anzeichen krisenhaft verlaufender Lösungsprozesse. Neben Unfällen und bösartigen Tumoren sind Selbstmorde die häufigste Todesursache in dieser 110 Altersgruppe. Nicht selten verlassen sie die Schulen oder Ausbildungsstätten, Jugendgruppen oder Vereine, in denen sie sich bisher engagierten und suchen nach neuen Orientierungen in anderen, vor allem eher informellen Gruppen. Von den vielen biografischen Zeugnissen, die uns über diese kritische Phase vorliegen und die uns zeigen, dass es auch in früheren Generationen nicht anders war als heute, sei das von Hermann Hesse ausgewählt. Ohnehin ein Junge, der seinen Eltern und Erziehern viel zu schaffen machte, erreichten die Konflikte mit den Eltern 1892 einen Höhepunkt, als der damals fünfzehnjährige Hermann an seinen Vater schrieb und ihn bezeichnender Weise sogar mir „Sie“ ansprach: „Sehr geehrter Herr! Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie vielleicht um 7 M oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch zu entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren sollen...“ (Nina Hesse, Frankfurt a. M. 1966, S. 268) Späte Adoleszenz Nach und nach treten im Regelfalle die als krisenhaft erlebten Erscheinungen zurück und öffnen einen Weg in ruhigere Gefilde. Die Kämpfe zwischen den Generationen lassen an Heftigkeit nach, die Eltern werden wieder mehr und mehr geduldet und zunehmend wieder geachtet. Statt Resignation kommt Aufbruchsstimmung auf, die Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten wächst und Lebenspläne nehmen eine realistischere Gestalt an. Hilfreich sind in dieser Phase Kontakte mit Gruppen junger Menschen, die einen eigenen Stil, eine eigene Kultur entwickeln und in der sich unsere Heranwachsenden angenommen und geborgen fühlen können. Was zunächst bleibt, ist der Widerspruch zwischen innerer Unabhängigkeit und äußerer wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Eltern. In einer Zeit, in der immer mehr junge Menschen immer später in das Erwerbsleben treten, ist das ein Thema. Bedauerlicher Weise treten auch immer mehr junge Menschen in gar kein Erwerbsleben ein, das ihnen ein angemessene wirtschaftliche Selbständigkeit durch eigene Leistung ermöglicht. Die Folgen einer derartigen Entwicklung sind noch nicht abzusehen. Sie deuten sich aber an in zunehmender Gewaltbereitschaft und Kriminalität. Ob die jungen Menschen noch mehr oder weniger von den Einkünften der Eltern abhängen oder nicht: nach Abschluss der Adoleszenz, gehören sie „entlassen“. Eltern, so meinen wir das, halten sie nicht fest, wenn die jungen Frauen und Männer ausziehen bzw. an einem anderen Ort ihre Ausbildung abschließen wollen. Da jeder Heranwachsende in diesen Phasen die gleichen krisenhaften Erscheinungen durchlebt, wenn sie auch individuell unterschiedlich als „Störung“ nach außen treten, haben wir Eltern sie als ganz normal einzuordnen. Die zentrale seelische Konfliktursache ist im Grunde, wie bereits in der ersten Lösungsphase, die Erkenntnis, sich nun „allein“ auf den Weg ins Leben machen und den Schutz und die Geborgenheit des Elternhauses entbehren zu müssen. Verstärkt werden diese zumeist unbewussten Ängste - durch eine Fülle an Erwartungen, vor die sich der 111 junge Mensch gestellt sieht (oder auch nur gestellt meint). Erfolge in Schule und Beruf, in sozialen Gruppen, in Bezug auf seine Geschlechtsrolle oder auf seine Selbständigkeit und Eigenverantwortung bringen ihn immer wieder in Stresssituationen. Diese Zeit also durchleben alle mit all ihren Höhen und Tiefen, mit Momenten der Verzweiflung aber auch Momenten herrlicher Unbekümmertheit und Zuversicht in die eigene Zukunft. Wenn wir Eltern diese gleichsam gesetzmäßig verlaufenden Lebensphasen akzeptieren können, und wenn wir die gelegentlichen Kämpfe mit uns und gegen uns nicht als gegen uns als Person gerichtet, sondern als Ausdruck des Ringens um Lösung von uns betrachten, dann können wir etwas gelassener mit den uns daraus erwachsenden Problemen umgehen. Selbständigkeit als Erziehungsaufgabe Zu den von Eltern meistgenannten Erziehungszielen gehören Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Selbständig ist in unser aller Verständnis ein Mensch dann, wenn er unabhängig von seiner Herkunftsfamilie seinen beruflichen und außerberuflichen Alltag gestalten und bewältigen kann, wenn er, wie der Volksmund sagt, "auf eigenen Füßen steht". Wir Eltern dürfen uns glücklich schätzen und zufrieden sein, wenn unsere heranwachsenden oder herangewachsenen Töchter und Söhne bereit und in der Lage sind, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen und all ihr Tun und Lassen in die eigenen Hände nehmen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Mädchen und Jungen zu der hier angedeuteten Selbständigkeit und Verantwortungsbereitschaft zu befähigen. Hierzu zwei Beispiele. Als Anita in den Kindergarten kam, wusste sie schon ganz genau, welches Kleidungsstück sie an diesem Tag tragen wollte und welches nicht. Darf denn aber ein dreijähriges Kind schon selbständig darüber bestimmen, was es anziehen will? Die Eltern von Karl (9 Jahre alt) halfen ihm nur dann bei den Schulaufgaben, wenn dieser um Hilfe bat, weil er etwas nicht verstanden hatte. Im Übrigen aber vertraten die Eltern des Jungen die Auffassung, dass die schulischen Arbeiten eine Angelegenheit Karls seien. Er sei selbst verantwortlich für seine schulischen Erfolge oder sein Versagen. Dieses Beispiel aus dem Familienalltag weisen darauf hin, dass die Erziehung zur Selbständigkeit eine Aufgabe ist, die uns unsere Kinder ständig abverlangen. Mut brauchen wir und vor allem Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder, dass sie das, was wir ihnen zutrauen, auch schaffen, dass sie „Verantwortung“ 112 übernehmen können. Aber was dürfen wir und in welchem Alter von unseren Kindern erwarten? Welche Gefahren sind möglicher Weise mit einer verfrühten, welche mit einer völlig ungenügenden Bereitschaft von Eltern verbunden, Eigenständigkeit zuzulassen? Wie können wir unserem Kind denn in einer verantwortbaren Weise helfen, alles das selbst zu tun, was es kann oder was es lernen soll? Das können Fragen sein, die unsere Überlegungen bei dem Gedanken an die Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung begleiten. Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen Angelegenheiten gar nicht kümmern kann, dann zeigt es gleichsam „automatisch“, dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu sorgen (vgl. auch dazu oben, S. 26). Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von einem Dreijährigen zwar nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie zubereitet. Wohl aber wird er sich an- und ausziehen und seine Schuhe binden, allein auf die Toilette gehen oder sich allein waschen können. Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in Haushalt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend wegen Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel, wird die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß darum bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung pflegen oder einkaufen gehen. Oder denken wir an eine weitere Bedingung selbständigen Handelns, die wir Eltern selbst ständig zu schaffen haben, wenn unser Kind lernen soll, eigenständig und eigenverantwortlich zu handeln: an unsere Bereitschaft, Selbständigkeit zuzulassen! Auch hierfür ein Beispiel: Die neunjährige Elisabeth hat ein neues Fahrrad bekommen. Anlässe gab es zwei: das Kind hatte Geburtstag und gerade in der Schule ihren „Fahrradführerschein“ erworben und damit bewiesen, dass sie die Verkehrsregeln kennt und sich im öffentlichen Straßenverkehr zurechtfindet. Am Samstag der gleichen Woche erklärte sich Elisabeth bereit, Brötchen und Brot zum Frühstück zu holen und bat darum, mit dem neuen Fahrrad fahren zu dürfen. Die Eltern hatten das Kind bis dahin noch nie allein mit dem Fahrrad ins Städtchen gelassen, da verkehrsreiche Straßen auf dem Wege lagen. Mutter und Vater standen vor einer schweren Entscheidung. Sollten sie das Risiko eingehen und Elisabeth fahren lassen? Wird das Kind zurechtkommen? Beide verständigten sich, wie stets in derartigen kniffligen Situationen, mit den Blicken. Hier war es der Vater, der seiner Frau beruhigend zublinzelte. Die Mutter sagte dann: „Ist gut. Du wirst schon zurechtkommen. Hast ja jetzt den Fahrradführerschein.“ 113 Glückstrahlend und stolz holte Elisabeth ihr Fahrrad und kam - während die Eltern nicht ohne Bangen gewartet hatten - heil wieder nach Hause. Eltern stehen häufig vor derartigen und ähnlichen Situationen. Dann geht es darum, die eigenen Befürchtungen zu überwinden und sie sich nicht anmerken zu lassen und zugleich dem Kind zu signalisieren, dass man ihm zutraut, die gestellte Aufgabe zu lösen. Kaum hat ein Kind laufen gelernt, will es klettern und kennt doch die Gefahren nicht. Hier haben wir in jeder einzelnen Situation abzuwägen: Lassen wir Eltern zu, dass ein Kind selbst Erfahrungen sammelt - auch wenn einmal etwas schief gehen kann? Verbieten oder verhindern wir ein Verhalten, bei dem wir Risiken sehen? Geht es uns dann in erster Linie um das Kind? Oder geht es uns darum, den „Stress zu vermeiden, der zu den zu erwartenden Tränen eines von sich selbst enttäuschten Kindes gehört? Und wie ist das mit dem Risiko? Haben wir als Eltern nicht die Verantwortung und die Pflicht dafür zu sorgen, dass unsere Kinder nicht in Gefahr geraten? Hier besteht in der Tat ein Spannungsfeld, dem wir uns nun zuwenden. Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung "Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern ...... und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht", so steht es in unserer Verfassung. Legen wir die Betonung auf die Worte "ihnen" und "Pflicht", dann wird ganz deutlich, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes von der ganz natürlich erscheinenden Selbstverständlichkeit ausgingen, dass es in erster Linie die Eltern sind, die für ihr Kind Verantwortung tragen. "Verantwortung" das heißt hier sowohl Rechte zu haben als auch Pflichten. Folgen wir dem Wortlaut des Verfassungsartikels und halten uns vor Augen, was mit den "Rechten" zu Pflege und Erziehung von Kindern gemeint ist. Wir gehen dabei von einer Erfahrung aus, die alle Eltern kennen, deren Kinder bereits die Grundschule verlassen haben. Gegen Ende des vierten Grundschuljahres wurden einst von den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern in den staatlichen Schulen die "Grundschulempfehlungen" ausgesprochen. Die Eltern und ihre Kinder erfuhren auf diese Weise, für welche weiterführende Schule die Lehrer ein Kind für geeignet halten: für die Hauptschule, die Realschule oder das Gymnasium. Kein Elternteil aber musste sich an diese Empfehlung halten. Nicht selten gehen bedeutend weniger Kinder zum Beispiel auf ein Gymnasium, als empfohlen worden sind. In einer vierten Klasse waren es nur zwei Buben, obwohl vier Buben und fünf Mädchen von den insgesamt 114 achtundzwanzig Kindern hätten gehen können. Alle Eltern der betroffenen Mädchen, hatten sich also gegen das Gymnasium entschieden. Es ist das "natürliche Recht" der Eltern, derartige Entscheidungen zu treffen und sie brauchen über ihre Gründe niemanden darüber Rechenschaft abzulegen. Die Eltern haben also das Recht, darüber zu entscheiden, welche Schule ihr Kind besuchen soll. Wenn allerdings Eltern der Auffassung sind, ihr Kind müsse aufs Gymnasium, obwohl es keine entsprechende Empfehlung erhalten hat, dann wird es schwierig. Dann zeigt sich nämlich, dass noch andere Träger von Erziehung und Bildung - hier die Schule etwas zu sagen haben. Eltern bestimmen also vom Tag der Geburt an über ihre Kinder. Rein formalrechtlich bleibt dieses Elternrecht erhalten bis zur Volljährigkeit eines Kindes. Wann sind unsere Kinder erwachsen? Nun, volljährig sind sie mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres. Bis dahin galten sie als Jugendliche und bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres als Kinder. Als Kinder sind sie überhaupt nicht und als Jugendliche sind sie beschränkt strafmündig. Mit achtzehn Jahren dürfen sie z.B. wählen, den Führerschein erwerben, ohne Zustimmung der Vormünder heiraten u. v. a. m. Lediglich strafrechtlich genießen sie noch einen gewissen Schutz bis zum 21. Geburtstag. Solange gelten sie als „Heranwachsende“. Je nach Reife in der geistigen und seelischen Entwicklung werden sie in der Regel noch nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt. Außer diesen rechtlichen Gesichtspunkten gibt es kaum klare Abgrenzungen zwischen Heranwachsenden und dem Erwachsenenalter. Allein unser gelegentlicher Eindruck, dass wir uns genau so verhalten, wie Pubertierende, zeigt uns, dass wir alle diese Zeiten in uns tragen und bei uns selbst die entsprechenden Einstellungen ab und zu herausschauen. Dann sagte man früher über eine Frau zum Beispiel, dass sie sich wie ein „Backfisch“ verhalte oder über einem Mann, dass er noch immer ein „Lausbub“ sei. Wenn wir das Erwachsenenalter und damit das Ende der Jugend bestimmen als den Beginn der Lebenszeit, in der wir uns aus dem Elternhaus gelöst haben und in jeder Beziehung relativ selbständig leben, dann sind unsere Kinder gelegentlich zwar noch jung, aber eben, weil sie Verantwortung für sich und eventuell eine eigene Familie übernommen haben, erwachsen. Und schauen wir auf die Zahl der Lebensjahre, so kann die/der eine schon mit achtzehn Jahren so weit sein, ein/e andere/r zehn Jahre später noch immer nicht. Bei diesen Betrachtungen denken wir an körperlich, seelisch und geistig gesunde Menschen, die nicht auf Hilfe angewiesen sind. Was die nach Alter gestaffelte Mündigkeit für Auswirkungen haben kann, zeigt uns ein Beispiel: Eine Sechzehnjährige möchte ausgehen. Die Eltern sagen: "Aber um zehn Uhr bist Du wieder daheim". "Ich geh doch aber nur zu Katharina zum Geburtstag und nicht in die Disco." "Ist uns egal. Um zehn bist du zuhause und damit basta." Die Tochter muss um zehn Uhr abends daheim sein. Die Eltern haben dies zu bestimmen. Ob sie ihr Gebot auch durchsetzen können und wie sie das tun, das steht auf einem anderen Blatt. Oder nehmen wir an, das gleiche Mädchen möchte am Samstagabend in die Diskothek zum Tanzen. Die Eltern haben nichts dagegen. Was aber die Ausgangs- 115 dauer angeht, haben nun nicht mehr allein die Eltern zu entscheiden. Das Jugendschutzgesetz verbietet Minderjährigen unter 14 Jahren den Aufenthalt in öffentlichen Lokalen generell. Wenn sie älter sind aber noch nicht volljährig, mit Einschränkungen. Diese Bestimmungen zum Schutze der Jugend haben ihre guten Gründe. Und jetzt erweist sich die Bedeutung des anderen Teils des Grundrechts: es ist zuvörderst die Pflicht der Eltern dafür zu sorgen, dass Gesetze, die auch zum Schutzes ihres Kindes verkündet worden sind, einzuhalten. Es ist also nicht in erster Linie Aufgabe des Veranstalters oder der Polizei darüber zu wachen, ob die Jugendschutzbestimmungen eingehalten werden. Vielmehr ist es die "zuvörderst" den Eltern obliegende Pflicht dafür zu sorgen, dass ihren Kindern nichts passiert. Natürlich kann ein Gastwirt zur Verantwortung gezogen werden, der an Minderjährige Alkohol ausschenkt. Dass aber die Eltern eigentlich die Verantwortung dafür tragen, dass ihre minderjährigen Kinder vor Schaden, zum Beispiel vor dem Weg in die Alkoholsucht, bewahrt werden, ist ebenso einsichtig wie logisch. Eltern stehen in Bezug auf das Tun und Lassen ihrer Kinder in der Verantwortung. Natürlich wird auch die Selbstverantwortung der Heranwachsenden zu berücksichtigen sein. Die ist umso größer, je älter sie sind. Und sie wird in vielen Fällen umso geringer sein können, je jünger ein Kind ist. Nicht selten gibt es wegen dieses Grundsatzes der eingeschränkten Selbständigkeit und Selbstbestimmung Konflikte zwischen den Kindern und ihren Eltern. Nur die wenigsten Töchter und Söhne werden widerspruchslos die Einschränkungen hinnehmen, die wir ihnen auferlegen, wenn wir auf die Jugendschutzbestimmungen oder unsere Einsichten verweisen. Wir untersagen ihnen zum Beispiel, später als Mitternacht daheim zu sein oder, um auf eine Gefährdung vor allem kleinerer Kinder hinzuweisen, wir erlauben nicht, dass sie auf dem Beifahrersitz im Auto mitfahren. Dass dies Kindern unter zwölf Jahren laut Straßenverkehrsordnung verboten ist, das hat seine guten Gründe; sind doch Beifahrer bei Unfällen am ehesten gefährdet. Es ist darum sehr wichtig, dass Kindern - sobald sie es verstehen können - stets vermittelt wird, dass Einschränkungen ihrer Wünsche um ihrer selbst willen erfolgen und nicht aus Lust oder Laune der Erwachsenen. Der noch heute übliche Satz: "solange Du Deine Füße unter meinen Tisch setzt, hast Du zu tun, was ich sage" ist freilich denkbar ungeeignet, Heranwachsende zum Verständnis unserer Sorgen um sie zu bringen. Hier muss auch deutlich unterschieden werden: Einem Elternteil, der dieses Argument bringt, dem geht es nicht um sein Kind sondern um seine Macht über das Kind. Er will bestimmen, Macht ausüben, allein das Sagen haben. Ein Elternteil, dem es in erster Linie um das Kind und dessen Wohlergehen geht, der wird einen derartigen Konflikt anders lösen. Bestehen zwischen Eltern und Kindern gute Beziehungen und werden ihnen zum Beispiel frühzeitig all jene Selbständigkeiten eingeräumt, die sie bewältigen können, dann warten unsere Mädchen und Jungen auch bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endlich mündig sind. Wir sehen also, dass es in derartigen Situationen immer auch um die Frage geht: Geht es mir um meine Macht, meine Autorität, mein Selbstbild, meine Eitelkeit, meine Interessen, oder geht es mir um mein Kind? 116 Natürlich können wir unsere Kinder nicht überall und zu jeder Zeit vor Gefahren schützen oder vor Schaden bewahren. Auch wir Erwachsenen können - trotz aller Vorsicht - im Garten von der Leiter fallen oder in der Wohnung über den Teppich stolpern und uns dabei jeweils den Arm brechen. Mit dem Hinweis darauf, dass wir im Leben stets von ungezählten Risiken und Unwägbarkeiten umgeben sind, können wir uns aber nicht davonstehlen, wenn es darum geht, durch uns beeinflussbare Gefährdungen zu vermeiden. Der Alltag ist voll von Geboten und Versagungen unseren Kindern gegenüber, die in erster Linie mit unserer Sorge um die körperliche und seelische Gesundheit unserer Kinder begründet werden können. Und derartige Begründungen kann ein Kind sehr gut verstehen. Auch wenn es zunächst mault und voller Zorn die Tür zuknallt. Wenn wir ihm aber etwas verwehren, was es selbst tun könnte, weil wir es ihm nicht zutrauen oder weil uns das zu erwartende Ergebnis seiner Bemühungen nicht gut genug wäre, dann hätte es recht mit seinem Zorn. Günstige Bedingungen auf dem Weg zur Selbständigkeit Der zwölfjährige Anton war bereit, dem Vater im Garten zu helfen und wollte den Rasen mähen. „Lass besser die Finger davon“, versuchte der Vater den Eifer des Sohnes zu bremsen. „Lerne stattdessen Deine Vokabeln, damit Du nicht wieder eine fünf schreibst!“ Doch Anton bettelte und versprach, hinterher zu lernen. „Also gut“ willigte der Vater ohne Überzeugung ein. „Aber achte darauf, dass ...“ und es folgten eine Reihe von Ermahnungen. Als Anton fertig war, stellte er den Rasenmäher in den Schuppen und ging ins Haus. Der Vater schaute nach und stellte fest, dass da und dort das Gras noch hoch stand und auch der Rasenmäher war nicht gesäubert worden. Er holte seinen Sohn und hielt ihm eine Strafpredigt: „Ich habe es ja gleich gewusst ... nie machst Du eine Aufgabe ordentlich ... es ist besser, wenn ich alles selbst mache ... so habe ich nur noch mehr Arbeit ... es ist ja kein Wunder, dass es auch in der Schule nicht läuft...“ Beide waren nun verärgert. Anton zog sich zornig in sein Zimmer zurück und dachte vielleicht: nichts kann man dem Alten recht machen, und statt zu lernen pah, wenn dem sowieso nichts recht ist - stellte er den Fernseher an. Was hätte der Vater tun können? Am Abend zum Beispiel sagen: „Der Rasenmäher muss noch gesäubert werden. Das Gras wird jetzt trocken sein und sich leichter entfernen lassen“. Mit dem ersten Satz sagt der Vater dem Sohn, was noch zu tun ist. Mit dem zweiten öffnet er dem Sohn mit dem Hinweis auf das getrocknete Gras eine Möglichkeit „sein Gesicht zu wahren“. Und bei der nächsten Gelegenheit wird der Vater nicht zögern und zaudern und wird auf alle Ermahnungen verzichten, sondern stattdessen klare Bedingungen aushandeln: Rasen mähen - selbstverständlich. Und vergiss nicht, heute Abend das Gerät zu reinigen! 117 Wenn es dann wieder nicht klappt, dann kann das nur heißen, dass Anton erst im nächsten Jahr wieder nachfragen darf. Vielleicht ist er dann reifer und eher in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Diese Geschichte weist uns auf eine sehr wichtige Bestrebung hin, von der in anderen Zusammenhängen (vgl. S. 24f) schon die Rede war: Kinder wollen aus eigenem Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur aus neugierig, probieren gern etwas aus und möchten gern alles selber machen. Gelegentlich ärgern wir Eltern uns darüber, dass unsere Kinder nur schwer dazu zu bringen sind, uns etwas zu helfen. Das Beispiel mit dem Rasenmäher deutet an, woran die Unlust oder der Unwillen der Kinder liegen kann. Je öfter wir Kinder daran hindern, etwas zu tun, wofür wir sie noch für zu klein, zu ungeschickt, zu dumm oder zu unzuverlässig halten, und ihnen das auch noch sagen (!), umso weniger werden sie bereit sein uns zu helfen, wenn wir das wünschen. Selbst wenn ein Kind das so nicht sagen kann, dann reagiert es nach dem Denkmuster: „Damals, als ich selbst tun wollte, habt ihr gesagt, dass ich die Finger davon lassen soll. Heute will ich nicht mehr!“ An viele Beispiele können wir in diesem Zusammenhang denken. Irgendwann wollte ein Kind zum ersten Mal den Staubsauger benutzen, selbst abwaschen, den Tisch decken oder einkaufen gehen. Wir aber haben zu viel Bedenken oder Einwände gehabt, und unser Kind gebremst. Dabei wollte es doch nur das Gleiche tun, wie wir und den Vorbildern Mutter oder Vater nacheifern. Verantwortung soll man nicht lehren sondern geben. Zeigt sich ein Kind der zugelassenen oder ihm übertragenen Verantwortung noch nicht gewachsen, dann versuchen wir es erneut. Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind eifrig, stolz und zufrieden. Wir Eltern erkennen sein Bemühen an - selbst wenn das Ergebnis nicht unseren Maßstäben entspricht. Es ist von unschätzbarem Wert für die Herausbildung eines echten Interesses, also: selbständig etwas leisten zu wollen, wenn unser Kind erfährt, dass wir seine Bemühungen anerkennen. Selbständigkeit wird gefördert wenn Eltern und Erzieher das „Selber-machen-wollen“ nicht blockieren, wenn Eltern und Erzieher Selbsttätigkeit anregen, wenn Eltern und Erzieher Kindern Gelegenheit geben, selbst die eigenen Möglichkeiten und Grenzen herauszufinden, wenn Eltern und Erzieher ein Kind ermutigen, wenn es nicht gleich alles so gut kann, wie es sich selbst das wünscht, wenn Eltern und Erzieher ihrem Kind und seinen Fähigkeiten vertrauen und damit den Grundbedürfnissen zu ihrem Recht verhelfen. Je älter ein Kind wird, umso mehr trauen wir ihm zu. Dass Kinder, vor allem in der Vorpubertät, also im Alter etwa zwischen zehn und vierzehn, gern und zuverlässig Aufgaben übernehmen wollen und können, das beweisen uns unsere Kinder, wie oben dargestellt, wenn wir Eltern abwesend sind. Sie kümmern sich mit großem Eifer um den Haushalt, versorgen kleiner Geschwister, die Pflanzen und die Katze 118 oder den Hund. Aber auch bei Ferienunternehmen, zum Beispiel auf einer Radtour, oder mit Booten auf einem Fluss: stets können die Erwachsenen auf die Kinder zählen. Und je mehr Eigenständigkeit ihnen überlassen bleibt, mit umso größerem Engagement tun sie mit. In unseren Jugendverbänden und den Kinderfreizeiten, die die örtliche Jugendpflege veranstaltet oder bei Schullandheimaufenthalten sind die Erfahrungen mit Kindern in Bezug auf deren Einsatzbereitschaft, und Zuverlässigkeit ebenso positiv wie in Sportgruppen oder in den Musikvereinen. Einen zusätzlichen Beleg dafür, dass Kinder zu bemerkenswerten Leistungen fähig sind, wenn die Erwachsenen ihnen diese Möglichkeiten geben, zeigt uns ein Bericht aus den ersten Nachkriegsjahren über Erfahrungen mit der Kinderorganisation der FDJ, den Jungen Pionieren. Ein ehemaliger Pionierleiter berichtet über seine Erfahrungen aus den Jahren 1949/50 an der Schule einer thüringischen Kleinstadt: „...Die Verlässlichkeit, der Eifer und die rückhaltlose Offenheit im Umgang miteinander waren weitere Eigenschaften der Mädchen und Jungen, die im Schulalltag, in den beiden örtlichen Ferienlageraktionen, und die in den Zeltlagern Mitverantwortung übernahmen. Wenn wir Erwachsenen Kindern Eigenständigkeit und Verantwortung überlassen, die sie bewältigen können, dann zeigen sie erstaunliche Leistungen. Ich denke, dass keines dieser Mädchen und Jungen aus einer Hauptschule, die damals zwischen zehn und vierzehn Jahren alt waren, einen Schaden in seiner Entwicklung nahm. Im Gegenteil: diese Zumutungen förderten Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen und bereiteten den Boden für Eigenschaften wie Verantwortungsbereitschaft, Teamgeist, Führungsfähigkeit und eine betont kritische Haltung sich selbst und anderen gegenüber, sowie den Mut, sich entsprechend zu äußern. Im Einzelnen beteiligten sich die Mädchen und Jungen der Klassen fünf bis acht an der Organisation von Lernaktiven, um allen Kindern gute Schulleistungen zu ermöglichen; Kinder halfen also anderen Kindern beim Lernen, der Vorbereitung von Festen und Feiern, der Leitung von Spiel- und Tanzgruppen, der Vertretung der Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder der ganzen Schule und hierbei waren die gewählten Führungskräfte - heute heißen sie „Klassensprecher“ oder „Schulsprecher“ - verantwortlich für eine gute Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und der Schulleitung. Besonders diese Aufgabe wurde sehr ernst und mit großem Selbstvertrauen wahr genommen...“ Wer sich lösen können soll, muss sich gebunden haben Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch in dieser Überschrift. Die große Bedeutung, die einer positiven Entwicklung eines Kindes in den ersten Lebensjahren zukommt, ist seit den Forschungsergebnissen von Selma und Bernhard Hassenstein (27/1978) erwiesen. Eine wichtige Funktion dieser ersten Lebensphasen haben jene 119 Beziehungselemente, die als die „Bindung“ eines Säuglings und kleinen Kindes an die Bezugspersonen bezeichnet werden. Und nur wenn ein Kind die Chance gehabt hat, sich zu binden, dann kann es sich auch lösen. Schutz, Bindungsmöglichkeit, Verlässlichkeit, diese Begriffe begegneten uns bereits bei den Grundbedürfnissen von Kindern. Nun geht es um das Selbständigkeitsstreben, um das Streben eines Kindes weg von Mutter und Vater. Zum Weiterdenken dazu folgende Ausführungen: Es ist für ein Kind, das sich bis dahin nur über die anderen wahrnahm, nicht leicht, sich „ausgesetzt“ zu fühlen und zu merken, dass es ja gar kein integrierter Bestandteil der Anderen ist. Solange ein Kleinkind seiner sich selbst nicht in dieser distanzierten Weise bewusst war, konnte es von sich selbst nur in der dritten Person sprechen. Doch nun hat es ein „Ich“ und kann „ich“ sagen! Darauf ist es stolz und erprobt diese neue Lebensqualität sofort und laut und deutlich vor allem, wenn es um Verweigerungen geht. Nun heißt es nicht mehr „Heinz will nicht“, sondern „ich will nicht“. Allerdings zeigt sich die von der Entwicklungspsychologie unterstellte Not eines Kindes an der Schwelle zum vierten Lebensjahr auch als Herausforderung an die Eltern. Es will sich mit diesem seinem Verhalten einmal dessen vergewissern wollen, ob Mutter und/oder Vater es noch lieb haben. Es fragt sogar immer wieder: „hast du mich noch lieb...?“ Andererseits aber wächst nun rasch seine Selbstständigkeit und es wird mehr und mehr fähig, sich auf andere Kinder einzulassen, sich in andere hin einzufühlen, kurz: soziale Verhaltensweisen entwickeln sich von nun an kräftig weiter. Darum auch kann es jetzt in den Kindergarten gehen und dort die vielen Kinder gut verkraften. Eine ganz entscheidender Gesichtspunkt ist - zunächst in den Kindheits- und Jugendphasen - er bleibt aber auch später, wenn auch nicht so prägend erhalten - wie uns unsere soziale Umwelt, also Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer, wahrnehmen. Der Mensch wird durch das „Du“ zum „Ich“ sagt Martin Buber. Unser Selbstbild, unser Selbstbewusstsein sind zunächst maßgeblich durch andere Menschen beeinflusst worden. Und wenn nun die nächste, die schwierige zweite Lösungsphase beginnt, die wir die Pubertät nennen, dann wird dieser Gesichtspunkt mit darüber entscheiden, ob und wieweit dieser Lösungsprozess schmerzlich ist. Ganz vereinfacht ließe sich sagen: Je positiver ein Heranwachsender sich sehen gelernt hat, umso stärker sind die Fundamente, auf die er seine Persönlichkeit nun beginnen kann selbst auszuformen. Und umso „schmerzfreier“ verlaufen für ihn und seine soziale Umwelt die Lösungsprozesse. Freilich wird und kann kein pubertierender Heranwachsender auf seine „Trotzreaktionen“, seine Herausforderungen verzichten. Er braucht sie, um sich der Zuneigung seiner Eltern zu vergewissern, die trotz aller Lösung für ihn wichtig bleibt. Er braucht widerständiges Verhalten aber auch, um im vertrauten Kreis seinen Frust loszuwerden, dessen Gründe draußen, in Schule oder Freundeskreis zu suchen sind oder aber, um seine Grenzen zu erproben. 120 Erfahrungen von Eltern Welche Bedingungen sollten geschaffen sein, die wir für die Heranwachsenden in diesen schwierigen Jahren als förderlich erlebten. Hierzu einige Erfahrungen, die Eltern mit folgenden Stichworten benannten: Wir müssen gute Vorbilder sein; Idole brauchen unsere Kinder und verlässliche Menschen. Liebe, Zuneigung und Vorleben sind wichtig. Freude zulassen; Vertrauen geben; in den Umgangsformen höflich bleiben, so mit den Kindern umgehen, wie wir das uns gegenüber erwarten; wir sollten den Mut haben, gegenüber unseren Mädchen und Jungen Fehler einzugestehen und uns entschuldigen; sie ernst nehmen. Wir selbst müssen uns an Regeln halten und Grenzen beachten. Zuhören können, sich Zeit nehmen; das Gefühl vermitteln, zu verstehen, Verstehen zu wollen; gute Beziehungen zu den Großeltern; gute Kontakte zu Freunden und den Freunden der Eltern fördern, auch zu Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern. Gemeinsame Aktivitäten mit Eltern; Freundschaften zulassen; gute Beziehungen zu Erziehern und Lehrern pflegen; Tiere als Freunde zulassen; offene Türen für Freunde sollten wir schaffen. Der Familienzusammenhalt bietet eine feste Stütze an. Es sind hier die Erfahrungen wiedergegeben, die von Eltern in Elternseminaren jeweils am häufigsten genannt wurde. Eine sehr große Rolle spielen Verhaltensweisen von Eltern ihren Heranwachsenden gegenüber. Und wenn „Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit“ im Kapitel über die Grundbedürfnisse als die drei „Z“ elterlicher Liebe benannt wurden, so fügen wir nun drei „V“ dazu: verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen, vorbildhaftes Verhalten und väterliches Mittun. Besonders dem Vater kommt, sofern er in der Familie mit lebt, in dieser Zeit ein hoher Stellenwert zu. Ein erwachsener Mann, der ohne Vater aufwuchs, erklärte einmal, dass es sein Großvater war, der ihm in diesen Jahren besonders wichtig wurde. Ohne dass aus dieser Einzelerfahrung eine notwendige Bedingung abgeleitet werden muss, so zeigt sie doch, dass man auf männliche Bezugspersonen bei Heranwachsenden nicht ohne Not verzichten sollte. Vor allem dort, wo es Väter gibt, sollten sie sich nicht ausklinken! Sie sind auch für die Töchter wichtig, deren Vaterbild einen erheblichen Einfluss auf die eigene Lebensgestaltung mit Partnern haben wird. Weitere günstige Rahmenbedingungen für die Phasen der Pubertät, wie Eltern sie selbst erfahren haben, sollen ergänzend genannt werden: Wir sehen mit Verständnis, dass sich unsere Heranwachsenden zurückziehen und zeitweilig in ihrer eigenen Welt leben wollen. Dazu 121 brauchen sie ihr eigenes Zimmer, ihr eigenes „Reich“ mit eigener Ordnung. Sie brauchen aber auch das Recht, frei über ihr Taschengeld und andere eigene Einnahmen verfügen zu können. Wichtig ist, dass wir nicht nur diese Eigenständigkeiten zulassen beziehungsweise akzeptieren, sondern auch ihre „Intimsphäre“ respektieren. Wir klopfen an, bevor wir in ihr Zimmer treten oder fragen sie um Erlaubnis. Das gegenseitige Respektieren eigener Bereiche, so wie es auch für Ehepartner selbstverständlich sein sollte, ist ein bedeutsames, die Eigenverantwortung stärkendes Signal an unsere Kinder. In den Gesprächen mit den Heranwachsenden erfahren wir immer wieder, dass ungefragter Rat nicht willkommen ist. Über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Weltanschauung sprechen wir darum, wenn wir nicht ausdrücklich gefragt werden, nur beiläufig. Uns gegenüber unseren Mädchen und Jungen mit missionarischem Eifer aufzuspielen und unsere Weisheiten oder Überzeugungen zu verkünden, erregt in ihren Augen, wenn sie nichts davon hören wollen, günstigenfalls nachsichtiges Kopfnicken oder Kopfschütteln. Gerade bei derartigen sehr sensiblen Themen bewähren sich das Prinzip vom „Vor-Leben“ und der Verzicht auf Einreden. Wir sollten die anderen Einstellungen, Neigungen und Vorlieben unserer Mädchen und Jungen auch dann akzeptieren, wenn sie nicht mit unseren eigenen übereinstimmen. Hier liegen nicht selten die Ursachen für erhebliche Differenzen zwischen jungen Menschen und ihren Eltern. Unsere Heranwachsenden fühlen sich ihrer Zeit verbunden und nicht selten auch mit jenen Jugendgruppen, in denen sie Anerkennung und Gemeinschaft finden. Wenn für derartige Gruppen Ideale oder Idole, gemeinsame Vorlieben und Bestrebungen kennzeichnend sind, dann können diese, die jeweilige Gruppe kennzeichnenden Besonderheiten unseren widersprechen. Ein Vater erzählte hierzu folgende Geschichte aus seinem Leben: „Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich durch Klassenkameraden in eine Gruppe, die sich zur deutschen Linken rechnete. Die damals, zu Beginn der siebziger Jahre, vertretenen Emanzipationsbestrebungen in dieser Gruppe, kamen meinem eigenen Streben nach Freiheit von Bevormundung durch meine Eltern entgegen. Meine Eltern waren aber in ihrer Kirchengemeinde eingebunden und vertraten eine religiöse Richtung, die ich nicht mehr gut heißen konnte. Es kam daheim zu sehr heftigen Auseinandersetzungen. Ich war knapp achtzehn Jahre alt, da versuchte der Vater sogar, mich zu schlagen. Ich war aber stärker und konnte ihn abwehren. Ich musste dann ausziehen und sehen, wo ich bleibe. Bei Freunden kam ich dann unter, beendete meine Ausbildung und blieb, auch wirtschaftlich, unabhängig. Mit meinen Eltern kam es zur Annäherung, als ich heiratete und selber Vater wurde. Meine Frau und ich wollen einen derartigen Konflikt später vermeiden und uns nicht mit Verboten und Geboten in das Leben unserer Kinder, wenn sie dann so weit sind, einmischen...“ 122 In Lebensgeschichten können wir nachlesen, dass es derartige Störungen der Beziehungen zwischen Eltern und ihren, im Jugendalter „unbotmäßig“ gewordenen Kindern immer wieder gab. Diese Störungen sind vor allem auf die mangelhafte Einsichtsfähigkeit der Älteren, auf deren Starrsinn, deren Rechthaberei – aber auch auf deren Ängste zurückzuführen. Nicht vom jungen Menschen dürfen wir in der Pubertät „Reife“ und Verständnis erwarten. Dies bleibt allein und zuerst unsere Aufgabe. Greifen wir die Anregungen der Eltern auf, die oben aufgezählt wurden, bleiben höflich, haben Vertrauen und sind konsequent freundlich-verstehend und tolerant. Genauso wichtig aber sind Zeit nehmen und Zuhören wollen und können. Verzichten wir auf jede „Geschwätzigkeitspädagogik“, mit der Mütter oder Väter einem Heranwachsenden das „Ohr abschwätzen“. Stattdessen dürfen wir auch mal still sein und zuzuhören. Dann kommt der Moment, wo auch er uns zuhören kann und wir ihm sagen, welche Sorgen wir uns um ihn machen. 7 Der Umgang mit Geld Einführung Vom Geld ist eigentlich in der Pädagogik selten die Rede. Davon spricht man nicht. Geld verdienen, Einkünfte haben, finanziell gesichert zu sein oder wie ein Mensch mit Geld umgehen können sollte, ohne sich zu übernehmen: alles das sind keine offiziellen Zielvorstellungen von Erziehung und Bildung. Was später in Beruf und Privatleben selbstverständlich ist, fällt in der pädagogischen Literatur und Ausbildung unter den Tisch. Dabei spielt das Geld in unseren, auf Geldwirtschaft beruhenden gesellschaftlichen Systemen, im Leben des Einzelnen, wie für die Gemeinschaft eine ganz zentrale, in nicht wenigen Fällen: die zentrale Rolle. Übrigens auch in jenen sozialen Feldern, in denen das Heil des Menschen nicht in materiellen Gütern, sondern in seiner Seele gesehen wird. Zu denken ist da zum Beispiel an die Religionsgemeinschaften, die von alters her das Ausmaß der Verbindung ihrer Glieder zur Kirche am Spendenaufkommen maßen. Kürzlich sagte unser Bürgermeister in der Gemeindeversammlung, dass vom Kirchensteueraufkommen auch unser Kindergarten mitfinanziert wird. Bei vielen 123 Gelegenheiten wird also an Geld gedacht und es ist ein allgemein anerkannter Wert, Geld zu verdienen, Geld zu haben oder gar vermögend zu sein. Reichtum (und Schönheit) sind gültige Ideale in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft. Diese Ideale sind so absolut, dass es in der Regel gleichgültig ist, auf welche Weise jemand zu seinem Reichtum kam, wenn er dabei nur nicht allzu offensichtlich geltendes Recht verletzte. In unserem Alltag verbringen wir viele Stunden damit, Geld zu verdienen und andere Stunden, um Geld auszugeben. Auf diese gesellschaftliche Wirklichkeit bereiten wir unsere Kinder selbstverständlich vor: sie erleben tagtäglich, welchen Wert Geld hat. Ohne Geld kann man nicht leben. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen schaffen wir uns, in dem wir einmal Geld herbeizuschaffen suchen und es so verwalten, dass wir keine Not leiden müssen. Kindern geht es in Bezug auf die Einkommensquelle ihrer Eltern sowie den Erwachsenen in Bezug auf die Reichen in der Gesellschaft: sie fragen nicht danach, auf welche Weise das Geld erworben wurde. Wohl aber interessiert es unsere Kinder bereits, wie viel Geld vorhanden ist. Bevor sie erfahren, auf welche Weise Mutter oder Vater Geld verdienen, erleben sie, dass man nicht beliebig viel Geld zur Verfügung hat, dass man haushalten oder gar sparen muss. Und es ist an dieser Stelle hinzuzufügen: hoffentlich erfahren das alle Kinder und so früh wie möglich. Denn die Aufgabe der Erziehung in diesem Punkt kann sich nicht mit der Vermittlung von Informationen darüber begnügen, dass jedermann Geld gegen Leistung erhält. In den Familien ist Geld immer ein Thema Wir müssen unsere Kinder dazu anhalten, mit Geld wirtschaften zu lernen, also mit einem bestimmten Betrag über eine bestimmte Zeit auszukommen. Wer den Umgang mit Geld nicht gelernt hat, wer also nicht "wirtschaften" kann, dem helfen keine Bildungsabschlüsse, nicht die Höhe seiner Einkünfte oder gar ererbte Vermögen auf Dauer aus den Schwierigkeiten heraus, die er sich einbrockt. Was heißt denn nun "wirtschaften lernen"? Das heißt, wie eben festgestellt, 1. mit einer bestimmten Geldmenge eine bestimmte Zeit auszukommen. Bei Gehalts- und bei Lohnempfängern beträgt diese Frist einen Monat. Das heißt zum anderen, 2. diese Geldmenge - also das Monatseinkommen - so aufzuteilen, dass es für alle lebensnotwendigen Aufwendungen in zumindest diesem Zeitabschnitt reicht. Wir alle kennen das und wissen, dass wir neben den Kosten für Lebensmittel, die für Kleidung, Miete und Mietnebenkosten, Telefon, Auto u.a. zu kalkulieren haben. Im Grunde braucht jedes Familienbudget seine eigene Ausgabenplanung und Kontrolle. Ausgaben für Kleider, Möbel oder andere größere Aufwendungen sind 124 aus ihrem Anteil in einem Monatseinkommen allein nicht finanzierbar. Das heißt also 3. hier müssen Anteile aus mehreren Monatseinkommen zusammenkommen also zurückgelegt beziehungsweise gespart werden, um sich diese Ausgaben leisten zu können. Diese drei Elemente der Haushaltführung vermitteln wir Kindern dann, wenn sie auf die gleiche Weise lernen, ihr Taschengeld zu verwalten. Sobald unser Kind in der Lage ist, eine Woche zu überblicken, gleichsam sieben Tage planen zu können und das ist im allgemeinen so im achten Lebensjahr der Fall - erhält es ein eigenes, das heißt frei verfügbares Budget. Wie viel Geld aber können wir den Kindern geben? In der Taschengeldhöhe können wir uns nach den Taschengeldsätzen richten, wie sie für Kinder in öffentlicher Erziehung gezahlt werden. Die Höhe ist wie Löhne und Gehälter auch, verschieden. Sie beträgt zum Beispiel monatlich 23: bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres bis zur Vollendung des 9. Lebensjahres bis zur Vollendung des 11. Lebensjahres bis zur Vollendung des 13. Lebensjahres bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und danach 2 EURO wöchentl. 8 EURO wöchentl. 8-10 EURO wöchentl. 13-16 EURO mtl. 18-22 EURO mtl. 25-30 EURO mtl. 35-45 EURO mtl. 70,00 EURO mtl. Dieses Taschengeld erhalten in genau dieser Höhe alle Kinder regelmäßig. Auf diese Weise erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihrerseits das Geld einzuteilen. Wenn sie älter werden, können wir ihnen ihr Geld auch monatlich zahlen beziehungsweise überweisen. Es hat sich im Rahmen der „Gelderziehung“ als durchaus zweckmäßig erwiesen, Kindern ein eigenes Girokonto einzurichten. So gewöhnen sie sich früh an den Umgang mit Banken oder Sparkassen und zum Beispiel daran, Kontoauszüge lesen zu können. Natürlich entscheiden die Kinder selbst, was sie mit ihrem Geld machen. Dies ist auch im Bürgerlichen Gesetzbuch so verankert: Bei Beträgen, die sich im Taschengeldrahmen bewegen, sind Minderjährige geschäftsfähig (vgl. § 110 BGB). Zur eigenen Verantwortung gehört aber auch, Konsequenzen aus seiner Haushaltsführung zu tragen. Das heißt unter anderem: wenn das Geld ausgegeben ist, dann hat ein Kind nichts mehr. Wir Eltern dürfen ohne Not keinen Zuschuss oder einen Vorschuss gewähren. Hier wird sich wieder einmal bewähren, wenn wir uns daran gewöhnt haben, konsequent Grenzen zu setzen. Als Druckmittel setzen wir Geld nicht ein. Das heißt, wir verzichten darauf, das Taschengeld zu sperren oder gar Geldstrafen zu verhängen. Dagegen kann es im Ausnahmefalle richtig sein, ein Kind dazu anzuhalten, sein Taschengeld oder Teile 125 davon zur Wiedergutmachung einzusetzen. Wenn es zum Beispiel einem anderen Kind absichtlich oder leichtfertig einen Vermögensschaden zugefügt hat, sollte es sich angemessen an der Wiedergutmachung beteiligen. Auch hierfür ein Beispiel: Unser Kind leiht sich ein Fahrrad beim Nachbarkind aus, obwohl es von uns immer wieder hörte, dass man nichts leihen oder verleihen sollte. Mit diesem Fahrrad stürzt es. Unser Kind hat sich dabei verletzt, was wir, trotz allem Schreck als hilfreiche Konsequenz ansehen dürfen. Das Fahrrad aber war ebenfalls beschädigt und musste repariert werden. Wir Eltern oder unsere Versicherung haben die Kosten zu übernehmen. Unser Kind aber wird daran beteiligt. Der zu entrichtende Betrag wird vom Alter und der Vermögenslage unseres Kindes abhängen. Einen Erstklässler werden wir vielleicht mit einer oder zwei Euro beteiligen. Einen Achtklässler entsprechend höher. Es hat sich für die Wirkung dieser Wiedergutmachung als wertvoll erwiesen, wenn unser Kind seinen Anteil persönlich überreicht. Es ist diesem Wiedergutmachungsprozess jede Anonymität zu nehmen! Nicht in allen Familien reicht das Einkommen aus, um den Kindern regelmäßig ein angemessenes Taschengeld zu bezahlen. Generell gilt, was schon in unseren Kindertagen üblich war: wir Eltern sollten unseren Kindern oder Jugendlichen bei der Suche nach kleinen Jobs behilflich sein. Gerade wenn Kinder wissen, dass die finanzielle Not im Elternhause groß ist, könnten sie ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie von ihren Eltern Geld bekommen. Vielleicht fühlen sie sich dann auch nicht frei genug, ihr Geld auch für sich auszugeben. Wenn sie aber ihr Geld durch Hilfen beim Nachbarn oder in Ferienjobs verdienten, dann sind sie zufrieden, weil sie ihre Eltern in Bezug auf das Taschengeld entlasten können. Diese Überlegung aber darf nicht falsch gedeutet werden, wie am folgenden Beispiel erläutert werden soll: Ernst freute sich auf seinen sechzehnten Geburtstag. Er wollte diesen Tag mit seinen beiden Eltern und mit der älteren Schwester verbringen, die ebenfalls, wie er, in einem Heim lebte und dort eine Ausbildung machte. Mutter und Vater, beide getrennt voneinander lebend und beide Sozialhilfeempfänger, kamen auch in die nahe gelegene Kreisstadt, um dort, für drei Stunden vereint mit ihren beiden Kindern, Ernsts Geburtstag zu begehen. Am Abend im Heim zurück, erzählte er, wie es war. Mutter und Vater führten die Kinder in eine Gaststätte. Als es ans Bezahlen ging, hatte, außer der neunzehnjährigen Tochter, niemand Geld dabei. Sie musste nun die Zeche von ihrem Taschengeld bezahlen, was sie auch gern und klaglos tat. Sie hatte auf Grund ihrer Erfahrungen mit Mutter und Vater schon damit gerechnet. Und den Eltern war das nicht ein bisschen peinlich. Dieses Geburtstagsereignis war im Frühling 2012, also keineswegs in längst vergangenen Zeiten. Möglicher Weise bedienen sich in unserer Gesellschaft auch andere Eltern und durchaus nicht um ihnen eine Freude zu machen, aus dem 126 Vermögen ihrer Kinder. Dort wo das so ist, fällt es Kindern schwer, richtig mit Geld umgehen zu lernen. In vielen Familien besteht unter Umständen die Gefahr, dass Kinder zu viel Geld zu ihrer freien Verfügung haben. Das kann eine Gefährdung für die Entwicklung von Kindern bedeuten, wenn wir Eltern uns zuvor nicht erst davon überzeugt haben, dass unsere Kinder mit Geld umgehen können und es ohne Schaden zu nehmen, verwenden. Natürlich sind die Maßstäbe verschieden. Während ein Elternpaar nichts dabei findet, wenn sich ein Achtjähriger einen Schokoriegel kauft, möchten andere Eltern lieber, dass er sein Geld für eine Banane ausgibt. Doch hierzu gibt es keine Regeln aus der Pädagogik, sondern allein das Gebot, dass Kinder selbst entscheiden können sollten, wofür sie ihr Geld ausgeben! Es muss in allen Fällen in diesem so wichtigen und für die Zukunft der Kinder so bedeutungsvollem Gebiet, das Prinzip der Eigenverantwortung konsequent angewendet werden, wenn sie lernen sollen, mit Geld angemessen umzugehen. Die Rahmenbedingungen sind auch in diesem Bereich unseres Familienlebens wichtig. Hierzu sind einige günstige Verhaltensweisen zu rechnen, die nachfolgend genannt und erläutert werden: Einige Rahmenbedingungen und Erfahrungen 1. Selbstverständlichkeit: Alle hier erwähnten Einstellungen und Verhaltensweisen werden selbstverständlich im Alltag umgesetzt. Das heißt, dass sie nicht besonders betont werden oder sonst wie aus dem üblichen Rahmen herausfallen. Wir geben ihnen den Charakter der Selbstverständlichkeit über das sich gesondert zu reden nur dann lohnt, wenn wirklich gravierende Ereignisse dazu auffordern: Solche Ereignisse können sein: eine besonders große Ausgabe, das erste Taschengeld, das erste selbstverdiente Geld. 2. Offenheit: Was Mutter und Vater verdienen ist zwischen ihnen kein Geheimnis. Wenn Kinder sich dafür interessieren, wenn sie also von sich aus nachfragen (ernst zu nehmen ist ein entsprechendes Interesse etwa ab der Pubertät), sollte offen darüber gesprochen werden. Jüngere Kinder geben sich zufrieden, wenn ihnen gesagt wird, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, da es immer genug zu essen geben wird und man über die Einkommenshöhe nicht sprechen möchte. Die Finanzsituation einer Familie gehört zu deren Intimsphäre; es müsste also sichergestellt sein, dass entsprechende Kenntnisse in der Familie bleiben und von den Mädchen und Jungen nicht nach außen getragen werden. Unsere Heranwachsenden haben, wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, hierfür auch Verständnis. 3. Gemeinsamkeit: 127 Gerade was Budgetverwaltung und Rücklagen für bestimmte Ausgaben (Miete, Ferien, neues Auto, oder eine andere größere Anschaffung) betrifft, stellen wir in Familien dann eine beiläufige Gemeinsamkeit her, wenn Vater und Mutter derartige Probleme und Entscheidungen in Gegenwart ihrer Kinder besprechen. Der beiläufige, selbstverständliche Charakter wird gewahrt, wenn solche Gespräche bei Tisch oder während gemeinsamer Autofahrten stattfinden, die Kinder also Zeugen dieser Gespräche werden, ohne daran teilnehmen zu müssen. Kinder können bei derartigen Gelegenheiten sich in der Art und Weise an Gesprächen beteiligen, die ihrem Reife- und Interessensstand entsprechen. Gesonderte Familienkonferenzen zu diesen Fragen sind nicht nötig. Sie gäben den entsprechenden Vorgängen und Entscheidungen eine Bedeutung, die sie normalerweise im kindlichen Erleben nicht haben. Wenn Eltern freilich daran denken, ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen, sind sie gut beraten, ihre Kinder in diese Vorbereitungen einzubeziehen und es lässt sich als Faustregel festhalten: je größer (einschneidender oder bedeutungsvoller) die Folgen von Ausgabenanlässen voraussichtlich für die Kinder sein werden, umso eher sollten die Kinder in Informations- und Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. 4. Konfliktfreiheit: Überall dort, wo um das Geld herum im Lebensbereich der Kinder gestritten wird, ist die Gefahr groß, dass Kinder bei dem Gedanken an Geld Ängste entwickeln. Der Umgang mit Geld wird dann nicht von der hierfür notwendigen Gelassenheit bestimmt, sondern von anderen Gefühlen begleitet. Es sind nicht zuletzt tief verwurzelte, weil in der Kindheit aus der Umgebung aufgesogene Ängste und Sorgen, die bei dem Einen später zu Raffgier bei einem anderen zu Geiz, bei wieder anderen Personen zum Streben nach Sicherheit um jeden Preis führen können. Sorgen um "das liebe Geld" kennen wir alle. Es wird wenige Lebensgeschichten geben, in denen in dieser Beziehung immer alles glatt gegangen ist. Mancher von uns kennt das bedrückende, in der Nähe panischer Angst angesiedelte Gefühl, das dann auftritt, wenn man plötzlich ohne Geld dasteht, wenn man, im Regelfalle selbstverschuldet, "pleite" ist. Doch wenn Erwachsene Probleme im Umgang mit Geld haben, ist das ihre Sache. Sobald Kinder davon betroffen sind, ändert sich das. Nirgendwo tritt die Elternverantwortung deutlicher zu Tage, als in diesem Bereich. Das heißt, wenn Kinder zu versorgen sind, muss mit Geld so umgegangen werden, dass es keine gravierenden Mangelsituationen und dass es deswegen keine Konflikte gibt. Wer hier Probleme hat, tut gut daran, sich schleunigst nach Hilfe umzutun. Alles ist erlernbar: auch eine richtige Haushaltführung. 6. Geldschwierigkeiten: In verschuldeten oder unverschuldeten Notsituationen - zum Beispiel hervorgerufen durch Überschuldung und/oder Arbeitslosigkeit - ist es dringend nötig, ebenfalls mit den Kindern offen die Verhältnisse darzulegen und sie nicht zu verschleiern. Kinder verstehen unsere Sparsamkeit besser, wenn sie deren Gründe kennen. Wenn sie nicht Bescheid wissen, kommen sie vielleicht auf die Idee, wir 128 würden ihnen ein neues Fahrrad darum nicht kaufen, weil wir sie nicht mögen oder weil uns etwas anderes wichtiger ist, als sie es sind. Das andere Extrem ist natürlich genauso schädlich: Wenn jemand nur wenig Geld hat und eigentlich kaum über die Runden kommt und dennoch ein besonders teures Fahrrad kauft und dabei Schulden machen muss, der handelt schlichtweg falsch. Vielleicht meinen diese Eltern „aber mein Kind darf das nicht merken/soll darunter nicht leiden“ und was es dieser Sprüche noch mehr geben mag. Unter Umständen geht es überhaupt nicht um das Kind sondern vielmehr um das Ansehen bei den Nachbarn: „die sollen nicht denken, dass wir uns das nicht leisten könnten!“ Wer sich um derartiger Äußerlichkeiten wegen in Schulden und damit nicht selten in große Not stürzt, der tut seinen Kindern keinen Gefallen. Kinder lieb haben, das heißt nicht Kinder „kaufen“ sondern ihnen gegenüber offen sein, ihnen vertrauen und mit ihnen Leid und Freud teilen. Natürlich können Kinder traurig sein oder gar zornig, wenn wir ihnen erklären, dass wir ihnen ihre Wünsche nicht erfüllen. Sind sie sich aber unserer Liebe gewiss, dann wird das unsere Beziehungen nicht trüben. Der Deutsche Caritasverband hat festgestellt, dass „Jugendliche immer häufiger pleite“ sind. Neben Arbeitslosigkeit, Scheidung und Krankheit spielen bei jungen Menschen Unerfahrenheit und übersteigerte Konsumansprüche eine große Rolle bei der Überschuldung. Wo aber haben die Betroffenen Schuldner den Umgang mit Geld und Bankgeschäften gelernt? Die Vermutung ist berechtigt, dass das Vorbild von uns Älteren wirkt. Denn in der gleichen Zeitung und im Juni 2001 war zu lesen, dass inzwischen sechs Millionen Haushalte zahlungsunfähig seien, so viel wie noch nie nach der Wiedervereinigung. Gerade weil Kreditinstitute und Kaufhäuser, Autohändler und Reiseunternehmer, um nur einige Branchen zu nennen, unkritischen Kunden den Mund wässerig machen, lassen sich immer mehr Frauen und Männer verführen. Geldgeschäfte kennen keine Moral sondern allein rechtliche Rahmenbedingungen. Die Pädagogik aber ist ohne Moral, ohne Werte und Normen, undenkbar. Immer geht es in der Erziehung auch um Zielfragen. Und wohin wollen wir unser Kind in Bezug auf den Umgang mit Geld führen? Zu einem Schuldenberg? Leichtfertig übernehmen nicht wenige Eltern die Maßstäbe, die von Bildschirmen und in aufwendigen Verkaufs- und Werbekatalogen in die Wohnstuben hereinkommen. Von einem bekannten Kreditinstitut war zu lesen, dass ihm es immer wieder gelingt, Menschen dazu zu verführen, viele Tausend Euro Schulden zu machen. Nicht selten mit dem Versprechen: Sie können sich heute alle Wünsche erfüllen wir helfen Ihnen dabei. Die Schuldnerberatungsstellen landauf landab wissen ein Lied vom Leid all jener Frauen und Männer zu singen, die nicht haben warten wollen, bis sie genügend Geld erspart hatten. Schulden kann nur jemand machen, der einen Gegenwert besitzt. Zum Beispiel ein sicheres Einkommen oder - im Falle einer Hypothek - ein Haus. Und die Höhe der 129 monatlichen Verpflichtungen darf das tägliche Brot und alles, was dazu gehört, wie das Taschengeld der Kinder, nicht gefährden. Wir sollten im Alltag vorleben, dass man ruhiger schläft und ausgeglichener sein kann, wenn man nicht mehr ausgibt, als man einnimmt. 7 Diebstahl: Was tun, wenn wir entdecken, dass unser Kind heimlich Geld an sich genommen hat? Zunächst einmal ist zu diesem Problem daran zu erinnern, dass es auch in unserem Leben Phasen gegeben haben mag, in denen wir lange Finger hatten oder mit dem Gedanken spielten, uns auf diese wenig akzeptierte Weise etwas anzueignen. Keine Sorge, liebe Eltern! Wenn Diebstahl nicht zu unserer Alltagsnorm gehört, dann übernehmen unsere Kinder genauso selbstverständlich unsere Vorstellungen von "Mein und Dein", wie sie die meisten unserer Wertvorstellungen bewahren. Abweichungen oder Krisen auf diesem Wege gehören zu unserem Leben. Wie wir damit umgehen können zeigt Ihnen das folgende Beispiel: Beim Bettenmachen entdeckt die Mutter bei ihrer achtjährigen Tochter einen Fünfzigeuroschein. Da das Kind über eine derartige Summe auf legale Weise nicht verfügen konnte, musste der Geldschein aus einem der Elterngeldbeutel, die stets offen in der Holzschale auf der Kommode liegen, stammen. Die Familie gehört zu jenen, in denen man nicht unbedingt den Verlust eines Fünfzigeuroscheins gleich bemerken muss, da einmal genügend Geld vorhanden ist und zum anderen Vater und Mutter je nach Bedarf und ohne vorherige Absprachen über das Haushaltsgeld verfügen. Wohl aber war den Eltern aufgefallen, dass das Mädchen in den letzten Tagen stiller und schlechter gelaunt war, als sonst üblich. Was tun? Zunächst ließ die Mutter den Geldschein im Versteck und die Eltern berieten miteinander über ihr weiteres Verhalten. Nur kein Drama daraus machen! Das war die erste Devise und die zweite: wir müssen dem Kind helfen, aus seiner schwierigen Situation wieder herauszukommen. Denn dass das Mädchen sich nicht wohlfühlt, zweifellos von Schuldgefühlen geplagt wird, ist wegen der schlechten Laune ja offensichtlich. Da die direkte Ansprache: „hör mal, ich habe da was bei Dir gefunden ..." wohl auch nicht der richtige Weg war, verständigten sich die Eltern darauf, dem Kind voll Vertrauen zu wollen. Das heißt, darauf zu vertrauen, dass es selbst den Weg aus dem selbstverschuldeten Dilemma findet. Die einzige konkrete Hilfe hierzu ist der bewusst hergestellte persönliche Kontakt. Da seit den frühen Kindertagen die Tochter gern vor dem Schlafengehen der Mutter ihre kleinen und großen Sorgen anvertraut oder ihre Tageserlebnisse berichtet hatte, blieb die Mutter am Abend etwas länger als sonst üblich zum Gute-Nacht-sagen in der Nähe des Bettes. Vier Tage mussten die Eltern warten. Noch immer lag der Geldschein in seinem Versteck. Am fünften war es dann soweit: die Tochter zog den Schein heraus, gab ihn der Mutter und erzählte ihr alles. 130 Die Mutter hörte die übliche Geschichte, die wir bei Kindern dieses Alters immer wieder erleben können. Das Mädchen wollte für das Geld Süßigkeiten und andere begehrenswerte Dinge kaufen und sie einem Nachbarskind schenken, das entsprechende Zuwendungen mehr oder weniger direkt zur Bedingung des Fortbestandes ihrer Freundschaft gemacht hatte. Etwa nach dem Motto: wenn du mir keine Schoko gibst, spiele ich nicht mehr mit dir. Und für die Wünsche der Spielgefährtin war das Taschengeld für die Tochter natürlich nicht berechnet. Die Mutter nahm ihr Kind in den Arm und tröstete es. Und damit war die Angelegenheit erledigt und wurde nie wieder erwähnt. Das Mädchen wuchs heran; im Umgang mit Geld war sie stets zuverlässig, ehrlich und sorgsam. 8. Soziale Einflüsse: Es war im Zusammenhang mit den Bedürfnissen unserer Kinder die Rede vom „Vertrauen“ und davon, dass wir ihnen etwas zutrauen müssten, wenn sie selbständig und souverän ihre Angelegenheiten meistern lernen sollen. Besonders in diesem Bereich - im Umgang mit dem Geld - haben diese Verhaltensregeln hohe Bedeutung. Sogar sparen lernen unsere Kinder, wenn wir nur das Vertrauen in sie setzen, dass sie verstehen, wenn wir nicht so viel Geld für sie ausgeben können, wie wir es gerne täten. Auf einem Elternabend klagte ein Großvater darüber, dass sein Enkelkind Schwierigkeiten in der Schule bei seinen Klassenkameraden habe, weil er nicht ebenfalls einen Schulranzen der Marke XY besäße. Die Ranzen der Marke XY seien aber erheblich teurer als andere und es sei nicht einzusehen, dass das soziale Umfeld ein derartiges „Diktat“ ausübe. Der Großvater hat Recht: es ist tatsächlich nicht einzusehen, dass irgendwer irgendeinen Druck auf mein Kind ausübt, nur weil ich nicht mehr Geld ausgeben will, als ich für richtig halte. Und dem Druck beziehungsweise der Diktatur von Marken und Trends beugen sich unsere Kinder umso eher, je mehr sie den Eindruck gewinnen, nur auf diese Weise anerkannt zu sein. Die Eltern in der betroffenen Klasse beschlossen, sich gemeinsam mit ihren Kindern und den Lehrern einmal zusammenzusetzen und sich darüber zu unterhalten. Wenn sich auf diese Weise auch nicht alle Eltern überzeugen lassen, sich weiterhin dem Druck von Werbung und der Begehrlichkeit ihrer Kinder nachgeben, so kommt doch ein Dialog darüber zu Stande. Wenn in Baden-Württemberg im Frühling 2001 darüber nachgedacht wird, ob man Kindern nicht eine Schuluniform verpassen solle, um dies leidige „Marken-Thema“ in den Griff zu bekommen, so träfe eine solche Regelung nicht den Kern. Bei den Familien und den Schülerinnen und Schülern selbst wäre anzusetzen. Der Wirtschaftsmacht „Werbung“ können wir nicht ausweichen. Sogar Schauspieler, Sportler oder Politiker reiten auf diesem Goldesel mit. Der einzelne Bürger kann sich dem allen nur dann entziehen, wenn er genug Selbstbewusstsein und Autonomie besitzt und außerdem die Kraft und den Mut hat, sich mit anderen, die ebenfalls diesem Einfluss widerstehen wollen, solidarisiert. Unsere Kinder aber sind dem hilflos ausgeliefert und meinen 131 tatsächlich, dass ein Produkt Kinder froh macht oder dass eine bestimmte JeansMarke oder der Schulranzen aus dem Hause XY ihnen Ansehen geben. Gegen derartige Tendenzen ist unüberhörbarer Widerstand geboten! Dabei bringt es nichts, über die Wirtschaftsunternehmen oder auf die Politik zu schimpfen. Hier sind Gegenmaßnahmen vor Ort geboten: In Kindergärten und Schulen, in denen derartige Unsitten um sich greifen, sind laut und unmissverständlich andere Signale zu setzen. Und das umso deutlicher, je mehr unsere Kinder oder einige von ihnen zu leiden beginnen. Sobald wir uns mit diesem Problem, das viele angeht, konfrontiert sehen, wird uns die Bedeutung ökologischen Denkens vor Augen geführt, wie wir es im Kapitel über die Übereinstimmung in der Erziehung kennen gelernt hatten. Gerade wenn es um Themen geht, die Eltern und Kindern gleichermaßen großen Kummer bereiten und Auslöser vieler Familienkonflikte sind, wäre eine angemessene Öffentlichkeit in den Exosystemen „alle Eltern und Kinder einer Klasse oder Schule“ und darüber hinaus „alle Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens“ herzustellen. Hier sollten wir ansetzen und nicht bei Regierungen, Parlamenten oder Verwaltungsbehörden. Diese Exosysteme haben vielmehr die Verantwortung dafür, derartige Bestrebungen vor Ort anzuregen und zu unterstützen. Bei Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrern laufen Eltern mit derartigen Anliegen offene Türen ein. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Kinder wegen Normen, die nicht von uns akzeptiert werden, in Not geraten. Oft aber steht eine einzelne Familie all diesen sozialen Zwängen hilflos gegenüber. Und aus Sorge, dass ihr Kind zum Außenseiter werden könnte, geben sie dem Drängen ihres Kindes nach. Diesmal aber geht es nicht um die Frage: können wir uns das leisten oder nicht? Es geht immer auch darum, ob wir diese Geldausgaben wollen oder nicht wollen. Als Maßstab dienen uns die Bedürfnisse unserer Kinder. Darum hilft in diesen Situationen, vor allem wenn sie sich zu Gefährdungen für unsere Kinder auswachsen können (z.B. weil sie die Maßstäbe verlieren ...) nur gemeinsames Handeln. Überall, wo es zweckmäßig erscheint, endlich etwas zu verändern, sind die folgenden Schritte zu gehen: 1. Kontaktaufnahme mit anderen Eltern/den Elternvertretern: geht es Ihnen genauso? 2. Kontaktaufnahme mit der Erzieherin/der Lehrerin/dem Lehrer: ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Ich/wir möchten das Problem in einem Elternabend ansprechen. 3. Elternabend zum Thema: Soziale Zwänge in dieser Gruppe/Klasse/Schule Auf dem Elternabend austauschen, überlegen und sich verständigen, welche Schritte eingeleitet werden. 132 Zum Beispiel: eindeutige Absprachen treffen über das, was alle wollen und was alle nicht wollen; mit Kindern sprechen; 4. in die Öffentlichkeit gehen (Gemeindeblatt); Elternbriefe verfassen; gemeinsam handeln und nach einer bestimmten Zeit in einem weiteren Elternabend schauen, was aus den Absprachen geworden ist. Nur wenn in einer Gemeinde beziehungsweise in dem Einzugsbereich eines Kindergartens oder einer Schulklasse/einer Schule über diese Probleme öffentlich gesprochen wird oder sogar Übereinstimmung in der Vorgehensweise zwischen allen Betroffenen erzielt wird, besteht Aussicht etwas zu verändern. Wir brauchen dieses Zusammenwirken, denn Eltern erziehen nicht allein! 8. Kinder spielen und lernen Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischem Lernen Einführung In diesem Kapitel geht es in der Hauptsache um das Lernen. In einer Zeit, in der das lebenslange Lernen als Voraussetzung für ein berufliches Überleben in unseren westlichen Industrienationen gilt, kommt dieser Thematik eine besondere Bedeutung zu. Gewiss meinen Unternehmer, Bildungspolitiker, Lehrer oder wir Eltern, wenn sie im Zusammenhang mit der Zukunft und dem beruflichen Erfolg unserer Kinder vom „Lernen“ sprechen, eher das gezielte, geplante und von Experten begleitete Lernen, wie es im Kindergarten beginnt und über Schule und Berufsausbildung bis hin zu Fort- und Weiterbildung immer wieder gefordert oder angeboten wird. Doch nicht dieses gleichsam instrumentalisierte Lernen steht im Vordergrund unserer Ausführungen. In den folgenden Abschnitten geht es vielmehr um eine Besinnung auf jene Voraussetzungen, die ein optimales Lernen in allen denkbaren Bereichen unseres Lebens ermöglichen. Selbstverständlich stehen unsere Kinder im Mittelpunkt. Dennoch lassen sich eine ganze Reihe der hier vorzutragenden Erfahrungen und Erkenntnisse auf alle unsere Lebensphasen übertragen. „Man lernt nie aus“ sagen wir gern, wenn wir wieder etwas Neues entdecken. Das sagten Eltern häufig, die an Veranstaltungen teilnehmen, in denen das Lernen, vor allem das Lernen für die Schule thematisiert wird. Doch wir können davon überzeugt sein, dass die meisten von uns, die diese Abschnitte lesen, meinen, dass sie das selbst gesagt haben könnten, weil wir unsere eigenen Erfahrungen wieder finden! Denn die Ansichten und Erfahrungen jener Eltern, die an diesen Texten durch ihre Beiträge mitgewirkt haben, entsprechen unseren allen Erfahrungen. Es gilt aber, daraus Schlussfolgerungen für den Alltag zu ziehen und alles das umzusetzen, was im Interesse optimaler Lernbedingungen für unsere 133 Kinder von uns für wichtig erkannt worden ist. Die folgenden Abschnitte werden dabei helfen. Zunächst wird das Lernen an sich dargestellt und danach gefragt, wie Kinder lernen. Dann steht das Spiel als der natürliche Einstieg in lernende Verhaltensweisen im Mittelpunkt. Im dritten Abschnitt werden einige Erfahrungen und Schlussfolgerungen für schulisches Lernen vorgetragen. Die kindliche Neugier Am Anfang allen Lernens steht ein uns Menschen angeborener und lebensnotwendiger Trieb: Wir wollen und müssen alles erkunden, was uns neu beziehungsweise fremd ist. Auf diese Weise erschließt sich uns unsere nähere und weitere Umgebung. Bei nicht wenigen von uns ist es dieser Trieb, wir sagen in Bezug auf uns Erwachsene auch gern: es ist unser Bestreben, möglichst viel von der Welt kennen zu lernen. Und zwar selbst und nicht allein durch Dritte - also nicht über Texte, Bilder, Erzählungen oder Filme. Die Reise- und Wanderlust hat in diesem Bestreben eine ihrer Ursachen. Ohne sie hätte Kolumbus nicht versucht, den Seeweg nach Indien zu finden und Amerika wäre damals unentdeckt geblieben. Die Ferienreiseagenturen unserer Tage gäbe es überhaupt nicht, wenn wir kein „Fernweh“ hätten. Aber auch daheim können wir unsere Wissbegierde manchmal nicht bremsen. Ausgesprochen interessiert schauen wir aus dem Fenster (vielleicht auch nur durch einen Spalt im Vorhang), wenn der Möbelwagen am Haus gegenüber vorfährt und ein neuer Nachbar einzieht. Selbst wenn wir nicht die Absicht haben dort gleich Kontakte zu knüpfen, möchten wir doch zu gerne wissen, wer denn da nun einzieht. Diese Neugierde ist also eine wichtige Triebfeder unseres Verhaltens. Die Neugier, oder, wie wir besser sagen können, die Wissbegierde bzw. das Erkundungsverhalten des Menschen, ist geradezu der zentrale Motor, der die Motivation antreibt. Der Reiz des Neuen ist sozusagen der Treibstoff unseres Motors. „Kinder erspielen sich die Welt“ hieß es in einem Rundfunkbeitrag über den Sinn des Spielens24. Hierzu die folgenden, den meisten von uns wohlbekannten Erfahrungen: Entdeckungsfreude können wir bei unserem Kind bereits im Kinderwagen beobachten, wenn der Säugling vor Vergnügen strampelt, wenn wir ihm etwa ein kleines Püppchen vor die Augen halten. Noch kann unser Kind nicht gezielt zugreifen. Doch die Finger gehen auf und zu und wenn wir das Püppchen hineinlegen, wird es festgehalten. In den Wohnräumen wird unser Kind versuchen an alles heranzukommen, was sein Interesse weckt. Vor allem vertrauten Gegenständen nähert es sich ohne Scheu. Zum Beispiel dem Küchenschrank. Die Küchenunterschränke kennt es gut, wenn die Mutter das Kind auf einem Teppich auf dem Küchenfußboden hat spielen lassen, als 134 es noch nicht krabbeln konnte. Der sieben Monate alte Heinz rollte sich über die linke oder die rechte Seite, um an einen begehrten Gegenstand heranzukommen. Noch scheiterten seine Bemühungen, vorwärts zu krabbeln. Er richtete sich zwar auf, fiel aber beim Versuch vorwärts zu kommen, stets auf sein Kinn. Eines Tages aber kann es sich auf allen Vieren fortbewegen und zu seinen ersten Zielen gehörten die Türen der Schränke. Sind die erst einmal geöffnet, dann muss auch nachgeschaut werden, was sich im Schrank befindet. Und so treffen wir unser Kind inmitten von Tüten und anderen Behältern an, deren Inhalte es genau untersucht. Wie schon vorher wird es seinen Mund als Prüflabor verwenden und auf diese Weise lernen, was schmeckt oder was nicht genießbar, was rund oder eckig, was weich oder hart, was heiß oder kalt ist. Wenn es sich aufrichten kann, wird es nach allem greifen, was in Reichweite ist und sogar in Schubladen steigen, um etwas höher hinauf gelangen zu können. Alle diese Verhaltensweisen sind ganz normal, ja ausgesprochen wichtig für eine gesunde - vor allem geistige und motivationale Entwicklung. Eltern, die ihrem Kind bei derartigen Gelegenheiten auf die Finger schlagen und ständig "ba" oder „pfui“ rufen: "das fasst man nicht an", „das darf man nicht“, „nicht in den Mund nehmen“, werden zwar erreichen, dass die infrage kommenden Gegenstände nicht mehr berührt werden. Da ein so kleines Kind aber noch nicht unterscheiden und die Gründe der Eltern durchschauen kann, wird es bald meinen, dass es nicht gut sei, überhaupt noch etwas zu erkunden - und wird es einschränken oder gar die Finger von allem lassen, was es nicht kennt. Damit aber hätten wir die natürliche Entwicklung der Motivation gebremst oder gar abgebrochen und unserem Kind unnötig Angst gemacht und eingeschüchtert. Eine besorgte Mutter mag einwenden: „Aber wenn ich erlaube, dass mein Kind alles in die Hand oder in den Mund nehmen darf, dann kommt es doch leicht zu Schaden!“ Gewiss - wenn wir schädliche Dinge in seiner Reichweite lassen. Das heißt also, dass wir alles das für ein Kind unerreichbar aufbewahren, was ihm schaden könnte. Nur dort, wo das nicht geht (zum Beispiel Bügeleisen oder Herdplatten und heiße Töpfe), da bringen wir dem Kind frühzeitig bei, dass hier Gefahr droht. Im Grunde aber lernen die wenigsten Kinder "theoretisch". Um zu erfahren, was "heiß" bedeutet, mussten wir uns wohl alle in unserem Leben erst "den Mund verbrennen". Ganz ohne Risiko wachsen unsere Kinder also nicht heran. Wir Eltern aber vermeiden Risiken und schränken sie ein, wenn wir das Tun und Lassen unseres Kindes im Auge haben und wenn wir das aus der Wohnung verbannen, was unserem neugierigen Kind schaden könnte. "Messer, Gabel, Schere, Licht - dürfen kleine Kinder nicht" - das war der Spruch, den unsere Großeltern stets im Munde führten. Dort, wo diese Regel heute noch gelebt wird und Kinder nicht frühzeitig an den Umgang auch mit gefährdenden Gegenständen gewöhnt werden, entwickeln sich Hemmungen, werden Lernchancen verpasst und Unselbständigkeit gefördert. Kinder brauchen andere Kinder 135 Ein hochbedeutsames Neugier Verhalten richtet sich auf andere Kinder. Bereits die Kleinsten krabbeln aufeinander zu, betasten sich, greifen zu, ziehen sich an den Haaren und Kleidungsstücken und werfen dabei stets einen Blick hinauf zur Mutter. Aus ihrer Nähe wächst ihnen gleichsam der Mut zu diesem „Kontaktsuchverhalten“ zu. Für Kinder sind andere Kinder so wichtig, dass sie sich auch zu den Grundbedürfnissen zählen ließen (vgl. dazu auch S. 34) Soziales Verhalten lernt zum Beispiel ein Kind am besten in einer Gruppe mit Kindern, die zunächst altersmäßig nicht gar so weit auseinander sind. Natürlich müssen sie nicht gleichaltrig sein, so wie das in den Klassen öffentlicher Schulen meistens der Fall ist. Worauf kommt es denn an? Kinder sollen erleben können, dass der Umgang mit ungefähr gleich alten, gleich starken und gleich schwachen, gleich geschickten und ungeschickten Kindern anders ist, als der mit den Eltern und Großeltern oder mit dem älteren oder jüngeren Geschwisterchen. Darum ist es für die soziale Entwicklung von Kindern so wertvoll, dass sie mit anderen Kindern spielen können, sei es drinnen in der Wohnung, wo einsichtige Eltern hierfür Raum geben und Kinder aus der Nachbarschaft zulassen. Draußen, in Garten und Hof oder im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder auf Spielstraßen begegnen unsere Kinder ebenfalls anderen Kindern.. Dort sammeln sie Erfahrungen - das heißt also: sie „lernen“ - die wir ihnen so gar nicht vermitteln können, wie zum Beispiel Wettbewerb wer ist am schnellsten, am mutigsten... Eigentum meine Puppe, deine Puppe... Teilen darf ich mal abbeißen? gibst du mir ein Stück ab? Zuneigung (und deren Wechselhaftigkeit) Peter/Petra mag ich am liebsten... Streit ich spiele nicht mehr mit dir, weil... Kampf ich bin genauso stark wie du! Hilfe machst du mir bitte hinten den Knopf zu? Noch einmal sei betont: Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Kind diese Erfahrungen im Umgang mit anderen Kindern seiner Entwicklungsstufe als im Umgang mit den von ihm als übermächtig erlebten Erwachsenen oder Jugendlichen macht. Wir Erwachsene können ein Kindergartenkind auch gegen seinen Willen hochheben und woanders hintragen, wenn wir das aus irgendeinem Grunde so wollen. Umgekehrt geht das nicht. Und steht unserem Kind ein anderes Kind im Weg, dann muss es sich mit ihm irgendwie verständigen, wenn es vorbei will: wegtragen kann es das andere Kind nicht. 136 Einige Informationen über das Lernen Schicken wir voraus, was eigentlich unter dem Stichwort „Erkundungsverhalten“ bzw. „Neugierde“ bereits ausgeführt worden ist: Kinder wollen von Natur aus gern lernen und etwas leisten. In diesen Ausführungen stehen die biologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und die Lernbedingungen im Vordergrund, so wie sie Frederic Vester (Stuttgart 15/1986 und Stuttgart 4/1986) und Jean Piaget (Stuttgart 1975) in ihren Schriften so anschaulich und einprägsam darstellen. Dass all unsere Denkvorgänge und hier vor allem die Aneignung neuer Erfahrungen eine materielle biologische Basis haben, ist jedermann geläufig. Über unsere Sinnesorgane, über die Ohren, die Augen, den Tastsinn nehmen wir Eindrücke wahr und in unserem Gehirn werden sie verarbeitet. Obwohl wir alle über die gleichen Eingangskanäle verfügen, über die wir unsere Umwelt wahrnehmen und neue Eindrücke aufnehmen, begreifen wir zum Beispiel einen Lerninhalt nicht alle gleichermaßen auf die gleiche Weise. Der eine versteht einen neuen Lerninhalt, wenn ihm der Gegenstand im Gespräch vermittelt wird (auditiv); ein anderer erfasst diesen Lerninhalt am ehesten durch Beobachtung und Experiment (visuell), einem dritten prägt sich dieser Lerninhalt am besten ein, wenn er ihn betasten oder fühlen kann (haptisch) ein vierter endlich erfasst den Lerngegenstand rein durch den Intellekt abstrakt-verbal. Diese, ebenfalls recht abstrakte und grobe Einteilung nach "Lerntypen", finden wir in Wirklichkeit nicht in absoluter Einseitigkeit wieder. Es ist vielmehr so, dass wir umso eher etwas verstehen und behalten, je mehr Kanäle bei der Aufnahme in Anspruch genommen werden. Ausgehend von dieser Erkenntnis müsste jeder neue Lerninhalt in unseren Schulen mit Hilfe verschiedener beziehungsweise multimedialer Methoden vermittelt werden. Das hätte einmal den Vorteil, dass alle Lerntypen, die in einer Schulklasse vertreten sind, angesprochen werden können. Das hätte zum anderen aber den unschätzbaren Effekt, dass bedeutend mehr Schüler als bisher üblich, den Wissensstoff begreifen und im Gedächtnis behalten. Hier soll zur Illustration auf den Anfangsunterricht in der Grundschule verwiesen werden. Wenn eine Lehrerin / ein Lehrer diese Erkenntnisse ernst nehmen, dann vermitteln sie die Schriftsprache (also Lesen und Schreiben) nicht allein über das Ohr und die Augen. Da werden im Unterricht Buchstaben gemalt und geknetet, aus Teig geformt, gebacken und dann gegessen. Silben werden zu Takt und Rhythmus, um Worte und Begriffe entstehen Geschichten und Spiele. Wenn in dieser Beziehung im Unterricht auch schon viel getan wird und es Lehrer gibt, die diese lernbiologischen Erkenntnisse umsetzen, so werden doch, vor allem in den weiteren Schuljahren mehr und mehr, alle Lerninhalte überwiegend akustisch und zunehmend abstrakt vermittelt und sprechen darum im wahrsten Wortsinne lediglich eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler an. 137 Nicht wenige reagieren auf abstrakt-verbale Vermittlungen mit völligem Unverständnis oder, wie wir umgangssprachlich zu sagen pflegen: „sie begreifen schwer oder überhaupt nicht, was der Lehrer erzählt“. Das Bruchrechnen zum Beispiel hat ein Kind erst als Jugendlicher in der Berufsausbildung begriffen, als ein Berufsschullehrer die Grundregeln dieser Rechenart über einfachste, vom Schüler selbst zu bastelnde Hilfsmittel vermittelte. Hier könnten jede Mutter und jeder Vater aus eigener Erfahrung einige Beispiele hinzufügen. Wichtig bleibt in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass ja auch unser eigenes Kind eigene Fähigkeiten des Lernens besitzt, die herauszufinden und zu berücksichtigen mit Hilfe einer/s kundigen Pädagogin / Pädagogen nicht allzu schwierig sein dürfte. Wann wissen wir denn, ob ein Kind etwas „gelernt“ hat? Nun, die Antwort auf diese Frage können wir wieder am eigenen Beispiel geben. Wir haben etwas gelernt, wenn wir das Neue wissen und wiedergeben und anwenden können. Autofahren zum Beispiel haben wir in der Fahrschule gelernt, unser Wissen und (Anfangs-) Können in der Fahrprüfung nachgewiesen und mit zunehmender Fahrpraxis gingen uns Theorie (Verkehrsregeln z.B.) und Praxis (Beachten der Verkehrsregeln) „in Fleisch und Blut“ über. Ein fünfzehnjähriger Junge, der vier Jahre Englisch gehabt hat, zeigt uns, dass er etwas gelernt hat (im Sinne von Wissen), wenn er mit einer guten Klassenarbeit nach Hause kommt. Sein Können aber zeigt er erst dann, wenn er seine Sprachkenntnisse auch anwendet; beim Schüleraustausch zum Beispiel. Und wie sieht es mit Lernprozessen durch Fernsehen aus? Darüber gibt es einige Informationen im Kapitel über den Umgang mit elektronischen Medien. Was das Lernen fördert oder behindert Bei den eben angedeuteten Beispielen kommen noch andere Gesichtspunkte in den Blick, die für das Lernen, das Behalten und Vergessen wenigstens ebenso wichtig sind, wie die Vermittlungs- und Aufnahmetechniken. Zu Recht werden Eltern vielleicht sagen: es ist ja ganz klar, dass der oben erwähnte Lehrling schon darum ganz anders an eine Sache herangeht, als ein Fünftklässler, weil er ja weiß worum es geht; er ist ja in ganz anderer Weise betroffen. Und dann spielt das Alter noch eine Rolle, so ließe sich weiter argumentieren aber auch die Atmosphäre und andere Begleiterscheinungen. Vielleicht mochte der erwähnte Fünftklässler seinen Rechenlehrer nicht; der Berufsschullehrer dagegen war ihm sympathisch. Um die Bedeutung von Gefühlen für Lernvorgänge noch einmal zu betonen, sei auf die Ängste verwiesen. Im Kapitel über die Kinderängste wurde an Beispielen 138 gezeigt, welche verheerenden Folgen Druck durch Drohungen und Bestrafungen im Zusammenhang mit kindlichen Lernbemühungen haben können. In dem Maß, in dem ein Kind bei seinen Lernversuchen entmutigt wird, wird es unsicher und ängstlich und verliert am Ende die Lust, etwas zu tun. Für die Richtigkeit dieser Feststellung brauchen wir nur unsere eigenen Erfahrungen zu befragen. Nichts ist mehr geeignet, das Lernen zu verlernen, als wenn wir einem Kind dauernd zu verstehen geben, dass es „noch zu klein“, „viel zu dumm“ oder gar zu „blöd“, zu „ungeschickt“, „tolpatschig“ oder „faul“ und „träge“ ist. Ein Junge, dem sein Vater stets versichert, dass er „zwei linke Hände“ habe, wird es zunächst sehr schwer haben, wenn er einen praktischen Beruf erlernen will. Da braucht es bei einem Heranwachsenden viel Mut und Kraft, das eigene negative Selbstbild „ich kann ja nichts“ zu überwinden. Dass ein Kind ein von den Angehörigen vermitteltes negatives Selbstbild in Bezug auf seine Lernfähigkeiten durchaus überwinden kann, zeigt uns folgendes Schicksal: Ein achtjähriges Mädchen wurde von seinen Eltern dem Leiter eines Kinderheimes mit den Worten übergeben: „Hier isch unser Dubele“ (hier ist unser Dummerle). Das „Dubele“, ein stilles, verschüchtert wirkendes Mädchen, hatte sich tatsächlich in den Monaten vor der Aufnahme in diesem Kinderheim in einer Einrichtung für geistig- und mehrfach behinderte Kinder und Erwachsene befunden. Dort war es zur Beobachtung hingebracht worden, weil alle Tests auf eine Schulunfähigkeit des Kindes deuteten und dennoch der „allgemeine Entwicklungsstand“ altersentsprechend war. In der Behinderteneinrichtung stellten die Fachleute rasch fest, dass die von den Eltern vermutete geistige Behinderung in Wirklichkeit gar nicht bestand. Sorgsame Recherchen ergaben endlich, dass dieses Mädchen von seinen Eltern und den sechs Geschwistern vom Kleinkindalter an für geistig behindert (dubelig) gehalten und entsprechend behandelt worden war. Nicht einmal einen Kindergartenbesuch wollte man dem „Dubele“ zumuten. Wie das alles begonnen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Warum alle Beteiligten nichts dabei fanden und niemand auf die Idee kam, die Richtigkeit der Unterstellung (wir haben ein geistig behindertes Kind) von Sachverständigen (zum Beispiel einem Kinderarzt oder Psychologen) überprüfen zu lassen, ist eine Geschichte für sich. Die Sonderschule für Lernbehinderte, die das Mädchen vom Heim aus zunächst besuchte, stellte bald eine normale Begabung fest. Diese normale Begabung war während der Jahre im Elternhaus dem Kind sozusagen ausgeredet worden. Niemand hatte ihr zugetraut, dass sie etwas würde lernen und leisten können. Als die Achtjährige in die erste Klasse einer Grundschule umgeschult wurde und sich die Anforderungen an sie innerhalb relativ kurzer Zeit normalisierte, unterschied sie - außer der Körpergröße - bald nichts mehr von den anderen 139 Kindern. Stets im oberen Leistungsdrittel ihrer Klassen und ohne Schwierigkeiten durchlief sie die Schulzeit, erwarb einen mittleren Bildungsabschluss, erlernte einen Beruf und hatte auch als Erwachsene, gemessen an Maßstäben unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft, Erfolg im Leben. Gewiss ist das ein extremes Beispiel und wird eine Ausnahmeerscheinung sein. Aus Pflegestellen und Heimen aber wissen wir, dass sich ein Wechsel der sozialen Umgebung auf die Entwicklung von Kindern dann günstig auswirken kann, wenn das alte Umfeld die Bedürfnisse von Kindern nach Förderung und Ermutigung sowie nach einem positiven Selbstbild grob vernachlässigte. Diese Geschichte belegt aber noch eine andere Bedingung von Lernprozessen: Anregung heißt zugleich auch Anforderung. Die Motivationspsychologie hat den Zusammenhang zwischen herausfordernden Anreizen aus der Umwelt und dem Interesse eines Menschen, diese Herausforderungen zu meistern, nachgewiesen (Heinz Heckhausen, Weinheim 1972 oder Josef Keller, München 1981). Denken wir an ein Kind, das sich darum bemüht Fahrrad fahren oder Schwimmen zu lernen. Stellen wir Eltern nicht gelegentlich erstaunt fest, wie „zäh und verbissen“ unser Kind übt, bis es endlich auf dem Fahrrad sein Gleichgewicht halten kann oder im Wasser nicht mehr untergeht sondern sogar vorwärts kommt. Manchmal beobachten wir, dass es auch ganz für sich allein um eine Fertigkeit ringt, etwas bastelt oder baut und dabei eine uns erstaunende Ausdauer und Geschicklichkeit entwickelt. Es sind also Gegenstände und Spielsituationen, die ein Kind herausfordern, etwas zu leisten und es sind wir Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, die dem Kind etwas abverlangen beziehungsweise ihm Anforderungen stellen. Es ist nicht einfach, hier ein für jedes Kind angemessenes Maß an Anforderung zu finden. „Ach, das ist ja babyleicht“ mögen wir Erwachsenen dann gar nicht gerne hören, wenn sich tatsächlich eine Unterforderung hinter der gestellten Aufgabe verbirgt. Manchmal freilich macht sich ein Kind mit diesem „Spruch“ nur Mut. Andererseits wissen wir auch, dass eine Überforderung, also eine Aufgabe, die ein bestimmtes Kind einfach noch nicht bewältigen kann, Resignation und Lernunlust fördern. In der Schulpraxis gibt es darum „Tests“ mit Hilfe derer eine Lehrerin oder ein Lehrer Wissen und Können eines jeden Kindes in einem bestimmten Fach mit ziemlicher Genauigkeit feststellen kann. Ob eine Information von unserem Gehirn so gespeichert wird, dass sie sich als Erinnerung fest verankert und in neuen (neu erlernten) Einstellungen und Verhaltensweisen niederschlägt, hängt, wie hier dargestellt, ganz wesentlich von den Begleitumständen und von allen während des Aufnahmevorgangs ablaufenden bewussten und unbewussten Wahrnehmungen, den sogenannten "Sekundärinformationen" ab. Sind uns zum Beispiel diese Begleitumstände rein gefühlsmäßig unangenehm (Beispiel: die Lehrerin/der Lehrer ist einem zuwider, weil sie/er uns abfällig behandelt), wird unser Aufnahmevermögen blockiert: Biochemische Prozesse verhindern die Weiterleitung der Information an das Langzeitgedächtnis. Es gibt noch weitere 140 „Pförtner“, die darüber entscheiden, ob eine Information in unser Langzeitgedächtnis weitergeleitet oder abgewiesen wird. Genannt werden sollen: der Grad der Aufmerksamkeit, die wiederum abhängt vom Ausmaß positiver Assoziationen; bereits vorhandenes Wissen zu diesem Gegenstand, mit dem sich die neue Information nun leichter verbindet, als wenn noch gar keine Verknüpfung möglich wäre; die Erfolgszuversicht, die wir aufgrund unserer Erfahrungen mit diesem Gegenstand verbinden. In der Familie und in der Schule kommt es also darauf an, alles zu vermeiden, was eine "negative Hormonlage" auslöst und damit den Zugang zum Langzeitgedächtnis versperrt. In besonders dramatischer Weise erleben wir die Folgen der Missachtung dieser biologisch begründeten und damit naturgesetzlich verankerten Einsicht bei den Kindern, die zwar eine gute Intelligenz besitzen, durch ungünstige äußere Umstände aber daran gehindert werden, diese Intelligenz in Lernerfolge umzumünzen. Auch zu dieser Aussage ein Beleg. Alexander erzählt seine Geschichte selbst. „Ich bin 1966 geboren, lebte zuerst bei meiner Mutter und deren Partner und ab meinem vierten Lebensjahr im Heim. Als ich schulpflichtig wurde, war ich gerade in einem Heim mit einer Sonderschule für Lernbehinderte. Also kam ich in diese Sonderschule. Als das Heim 1978 schloss, wurde ich von dem Sozialarbeiter Herrn D., der auch mein Vormund war, in ein anderes Heim gebracht. Von dort aus besuchte ich die Sonderschule in der Kreisstadt. Ich wurde der beste Schüler in der Klasse. Als ich die neunte Klasse der Sonderschule abgeschlossen hatte, empfahlen mir der Heimleiter und mein Klassenlehrer, die neunte Klasse an einer Hauptschule zu wiederholen und dort die Hauptschulabschlussprüfung zu machen. Die Frau vom Heimleiter, die Englischlehrerin ist, gab mir Nachhilfeunterricht in dieser Sprache, weil ich an der Sonderschule kein Englisch gehabt hatte. Die Hauptschulabschlussprüfung bestand ich und bekam sogar einen Preis für den besten Aufsatz. Ich wollte gern einen technischen Beruf lernen. Also ging ich zur Zweijährigen Berufsfachschule Metall und erwarb dort mit achtzehn Jahren die Mittlere Reife. Anschließend erlernte ich den Beruf eines Maschinenschlossers. In dieser Zeit verließ ich das Heim und nahm ein eigenes Zimmer, das mir mein Lehrmeister vermietete, der zugleich Fußballtrainer in meinem Verein war. Nach der Lehrzeit leistete ich den Wehrdienst bei der Bundeswehr und lernte dort Auto fahren. Nach der Bundeswehrzeit ging ich zunächst in den Ausbildungsbetrieb zurück. Wenig später zog ich nach S. und erwarb dort an einer Fachhochschule die Hochschulzugangsberechtigung. Ich studierte ein Jahr auf einen Ingenieurberuf hin, wechselte dann aber an eine Fachhochschule für Sozialwesen. Heute bin ich Diplomsozialpädagoge und habe in diesem 141 Berufsfeld eine anspruchsvolle Aufgabe gefunden. Vor sieben Jahren heirateten meine Freundin, eine Diplomsoziologin, und ich. Wir haben zwei prächtige Kinder...“ Schaffen wir also eine der kindlichen Entwicklung förderliche Umgebung und lassen uns nicht von anderen Personen und Institutionen ins Boxhorn jagen: Zwar wird nur im Ausnahmefalle ein zunächst als lernbehindert geltendes Kind später die Hochschulreife erwerben. Behinderungen in den ersten Schuljahren können aber durchaus auf eine Fehleinschätzung - und entsprechender Fehlplatzierung zurückzuführen sein. Es gibt noch andere Einflüsse, wie die sozialen, also über zwischenmenschliche Kontakte laufende Anregungen und die materialen, die natürlichen und gegenständlichen Umwelteinflüsse. Beide sind von erheblicher Bedeutung für alle Bereich der Entwicklung. Und zwar von dem Moment an, in dem das Kind "das Licht der Welt erblickt". Vor dreißig Jahren hörten wir von Eltern noch die Redewendung vom "dummen viertel Jahr". Gemeint war etwa der Zeitraum, in dem das neugeborene Vater oder Mutter noch nicht erkennbar deutlich anlächelt oder sonst einen Kontakt mit ihm aufzunehmen scheint. Diese Zeit aber ist, wie die Gehirnforschung unserer Tage nachgewiesen hat, für die Endphase der im Mutterleib begonnen Herausbildung grundlegender Hirnfunktionen von ganz entscheidender Bedeutung. Die verschiedenen Anregungsbedingungen der Umwelt sind für die ebenso verschiedenen "Anlagen" unserer geistigen Entwicklung verantwortlich zu machen. Die Fähigkeiten zum Sehen, Hören, Riechen, Sprechen, zum Denken erhalten in den ersten Lebenswochen eine elementare Grundlage, die nach dem dritten Lebensmonat ihre endgültige und nicht mehr beeinflussbare Gestalt angenommen hat. Zudem bringt jedes Kind seine eigenen, unverwechselbaren individuellen Anlagen mit. Sie beeinflussen zum Beispiel das jeweils unterschiedliche Erkundungsverhalten was darf/soll ich – was darf/soll ich nicht? Wie weit darf/kann ich gehen? Auf diese "Hardware" baut alle weitere Entwicklung auf. Diese Entwicklung ist nach wie vor in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht von der sozialen und der dinglichen Umwelt abhängig. Machen wir uns den Wert positiver sozialer Kontakte am Beispiel der Sprachentwicklung deutlich Ein Kleinkind wurde gebadet und liegt nun auf einer Decke im warmen Bad; Mutter oder Vater beugen sich über ihn und freuen sich an dem munteren zufriedenen Kind, dessen Augen alle Gegenstände abzutasten scheinen und das dabei laut und fröhlich vor sich hin lallt. Plötzlich formt es zum ersten Mal die beiden Silben, die ihm die Eltern so oft vorgesagt haben: "Mama". Die Reaktion der Eltern ist ganz natürlich: sie freuen sich und wiederholen ihrerseits das Wort. Das Kind weiß zu dieser Stunde noch nicht, was dieses Wort bedeutet. Aber es spürt mit allen seinen Sinnen das positive Echo, das es auslöst. Der Fachmann sagt dazu: das Kind wurde "sozial verstärkt". Je deutlicher und zuverlässiger das Kind im weiteren Verlauf seiner Sprachentwicklung derartige gute Erfahrungen macht: 142 es sagt etwas - Eltern, Geschwister, Großeltern (kurz: die soziale Umwelt) freuen sich und wiederholen bekräftigend das Gesagte, umso lieber und selbstverständlicher wird das Kind sprechen. Damit es von Anfang an richtig sprechen lernt, wiederholt die soziale Umwelt nicht etwa den vom Kind oft mühsam genug gesprochenen Begriff, so wie das Kind es vermag, sondern in seiner sprachlich korrekten Form. Also nicht "Lala", wenn das Kind "Schokolade" meint, aber das schwierige Wort noch nicht zu sprechen vermag, sondern wir sagen dann zum Beispiel: „Hier bekommst du die Schokolade“. Wir brauchen keine Sorge zu haben, dass wir das Kind damit überfordern. Wir erwarten ja nicht, dass es den Begriff richtig ausspricht, denn das wird es eines Tages von alleine tun. Wir korrigieren nur und das gleichsam nebenbei und wie selbstverständlich und ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Würden wir die kindliche Sprache dagegen nachahmen, in der falschen Annahme, dass das Kind uns sonst nicht versteht, verzögerten oder verhinderten wir, dass unser Kind seine Muttersprache korrekt sprechen lernt. Hüllen wir also unsere Kinder in Sprache und zwar von Anfang an in die, die wir selber sprechen. An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, welche Rolle das Vorbild spielt. Erziehung realisiert sich, wenn die „Menschen in der Umgebung des Kindes das vormachen, was es nachahmen soll“ (Rudolf Steiner 1983, S. 17). Ein Vorbild ist für ein Kind vor allen anderen jede Person, die für das Kind aus irgendeinem Grund eine besondere positive Bedeutung hat: Die Menschen, die das Kind lieb hat und von denen es sich geliebt weiß, stehen an erster Stelle. In der weiteren Entwicklung kommen Menschen hinzu, die es mag oder verehrt aus welchen Gründen auch immer. Kindergärtnerinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, ältere Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft, später sind es vielleicht Idole aus Film oder Musik und viele andere mehr. Von entscheidender Bedeutung, weil in den ersten Lebensjahren prägend, aber sind die Vorbilder in der unmittelbaren sozialen Umwelt des Heranwachsenden. Wie stark sich derartige Prägungen auf die Leistungsbereitschaft von Kindern auswirken, soll die folgende Geschichte veranschaulichen, die ein Lehrer erzählte: „Als ich vor vielen Jahren Schulanfänger unterrichtete, fiel mir in einer Klasse der Peter dadurch auf, dass nichts von dem, was ich vermittelte hängen blieb. Er kam weder in Deutsch noch in Rechnen richtig voran und gehörte bald zu den Schlusslichtern der Klasse. In jenen Jahren war es noch üblich gewesen, die Kinder vor der Einschulung auf ihre Schulreife hin zu untersuchen. Den Testunterlagen zufolge aber war das Kind normal entwickelt und voll schulreif. Bevor ich mich mit den Eltern über diese mir, bei diesem ansonsten lebhaften und aufgeschlossenen Jungen unverständliche Entwicklung Klarheit verschaffen konnte, lieferte Peter in einer Unterrichtsstunde selbst eine Erklärung. Bei einer passenden Gelegenheit meldete er sich zu Wort und verkündete laut und unbekümmert in seiner Muttersprache: "Mei Papa sagt immer: wer schafft isch e Dubel" (ins Hochdeutsche übersetzt: wer arbeitet ist dumm). Als ich dieser Äußerung nachging und mit der gebotenen Vorsicht in der Familie recherchierte, bestätigte es sich: der Papa hatte zwar ein 143 Handwerk gelernt, hielt aber nichts von regelmäßiger Arbeit, stattdessen mehr von Wirtshausbesuchen. Da er seine Lebensweise in der Familie und außerhalb als alleinseligmachende Tugend verkündete, blieb dem Jungen gar nichts anderes übrig, als seinem Vorbild zu folgen. Denn Vater und Sohn liebten sich; die Mutter hatte in dieser Familie nicht viel zu sagen.“ Doch auch in abgeschwächter Form können sich Vorbilder nachteilig auf das Interesse von Kindern an schulischer Arbeit auswirken. Da ist nur daran zu denken, dass alle Vorbilder in der Umgebung des Kindes, die unzufrieden sind mit ihrer Arbeit oder gar an ihr leiden, keineswegs das Interesse ihrer Kinder an Arbeit oder die für die Hausaufgaben notwendige Arbeitshaltung fördern. Im alltäglichen Zusammenleben fügen sich viele unbedachte Kleinigkeiten zu Grundhaltungen der Unlust und Verdrossenheit zusammen. Beispiele gibt es so viele, wie es alltäglich notwendige Tätigkeiten gibt. Die Kinder registrieren sehr genau, wer in der Familie mit welcher Haltung welche Arbeiten macht. Betten beziehen und sauber machen, abwaschen, aufräumen, Briefe schreiben, Rechnungen bezahlen, einkaufen gehen und vieles andere mehr begleitet unser Leben und wir können sagen: das ist unsere Privatsphäre; es geht niemanden etwas an, wie wir sie gestalten. Jeder fühlt sich auf seine Weise wohl. Und das ist sein gutes Recht. Doch niemand sollte vergessen, dass die Kinder von uns, von Eltern, älteren Geschwistern, Großeltern und den Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern lernen, ob sich die Mühen des Lernens lohnen. Über das Spiel und seine Bedeutung Alles wird dem gesunden Kind zum Spiel. Das Spiel ist die Existenzweise unserer Kinder, das „eigentliche Feld kindlicher Tätigkeit ... im Spiel vollziehen sich wesentliche Teile kindlichen Lernens und kindlicher Lebenserfahrung“ (Andreas Flitner, München 1972, S. 76), Kinder sind Meister des Konjunktivs“ schreibt Klaus A. Daigl (Freiburg 1988, S. 9) und bestätigt unsere eigenen Erfahrungen: „ich wäre jetzt die Mutter, du wärst das Kind, das wäre unser Haus, das wäre ein Teller...“. So verteilen unsere Kinder ihre Rollen untereinander, sie verwandeln 144 Menschen und Gegenstände und ihre Vorstellungskraft erlaubt ihnen, alle möglichen Lebenssituationen zu erproben. „Du tätst mich besuchen, du tätst mit dem Auto kommen, du tätst Kaffee machen ...“ Zeitdimensionen haben für Kinder ebenso eine andere Wirklichkeit, wie Räume und Zustände. Kinder spielen Blinde und Kranke, versetzen sich in Tag und Nacht, ihr Spielzimmer oder die Puppenecke im Kindergarten werden zu Straßenbahnen, Autos, Schulen oder Krankenhäusern. Jeder von uns hat an diese Periode seiner Kindheit eigene Erinnerungen. Da ist zu denken an die Schilderung eines Großvaters, der noch gern an das Gefühl der Geborgenheit und eigener Allmacht (Zauberkraft, Stärke) zurückdachte, wenn er zwischen den vier Beinen eines umgedrehten Tisches sitzend, manches Abenteuer erlebte. Dieser Zwischenraum wurde ihm zum Flugzeug, war Kinderzimmer (das er in den beengten Wohnverhältnissen nicht hatte), zum Auto, in dem auch seine Spielgefährten Platz fanden vor allem aber zu einem Rückzugsraum, wenn er - nach Ärger oder Enttäuschungen - seine Ruhe haben und allein sein wollte. Diese Kraft und Fähigkeit, Phantasie mit Erfahrungen zu mischen und daraus in einem in erster Linie gedanklich schöpferischen Akt etwas ganz Neues zu schaffen, fördert die Entwicklung von Kindern in hohem Maße. Erwachsenen muss diese Fähigkeit zur Phantasie nicht verloren gehen. Wir sagen dann gern: „Wir träumen“; zum Beispiel davon, was wir mit dem vielen Geld täten, wenn wir es denn gewinnen würden. Allerdings brauchen bereits viele von uns Hilfen, sozusagen Krücken, die uns beim Träumen Inhalte vorgeben. Früher sprach man sogar von Traumfabriken, und meinte damit die Filmstudios von Hollywood oder Babelsberg bei Berlin. Heute kommen die Traummuster über den Bildschirm in die Wohnungen. Und mehr und mehr auch nutzen Heranwachsende mit Hilfe von Programmen in I-pads, sich aus der jeweiligen Realität – wenigstens ein Stück weit – auszuklinken. Gelegentlich bringen sie auch Anregungen und den Kindern neue Spielfiguren, zusätzlich zum Teddybären, zum Stoffhund oder anderen Tieren. Und dies ist eine weitere typische Normalität im Kindesalter: die Vorliebe für Puppen und Stofftiere, die dann, wieder durch die Kraft kindlicher Vorstellung und Zuschreibung, zum Spielgefährten oder Tröster werden. Die Bedeutung des kindlichen Spiels kann nicht hoch genug angesetzt werden. Hans Zulliger (Frankfurt 1970) konnte nachweisen, dass im Spiel heilende Kräfte wirken, die das Seelenleben von Kindern günstig zu beeinflussen vermögen. Kinder können das, was ihnen auf der Seele lastet, herunterspielen. Und das, was sie im Alltag ständig tun, ermöglicht seelisch kranken Kindern ein Therapeut und hilft ihnen dabei, sich selbst zu heilen. Also gehört zu den Hauptaufgaben einer Erziehung im Elternhaus, den Kindern spielen zu ermöglichen, Spiele anzuregen und - nicht zuletzt - mit Kindern zu spielen. Gesellschaftsspiele zum Beispiel, die wir mit unseren Kindern spielen, schaffen Bindungen, lassen unsere Kinder sich in der Familie wohlfühlen, rücken die Eltern, vor allem den hier und da als übermächtig erlebten Vater, näher an die Kinder heran und beeinflussen und trainieren nicht zuletzt wichtige Eigenschaften, wie zum Beispiel Neugierde, etwas durchhalten und zu Ende spielen, 145 zusammenhalten aber auch Reaktionsvermögen oder Merkund Unterscheidungsfähigkeit. Eltern von Kindergartenkindern oder von Kindern in der Grundschuleingangsstufe, äußern gelegentlich die Sorge, dass ihre Kinder nicht genug „lernen“ und „zu viel spielen“. Spielen aber ist keine Spielerei! Alles, was ein Kind an seiner natürlichen Existenz- und Lernweise hindert und ihm die Möglichkeiten nimmt oder einschränkt, sich die Welt spielerisch anzueignen, schadet seiner Entwicklung. Das Spiel, so können wir ohne jede Übertreibung festhalten, ist der Schlüssel zu einem aktiven Leben und eine elementare Voraussetzung allen Lernens. Spielen muss möglich sein Das, was hierunter zu verstehen ist, lässt sich recht einfach beschreiben. Jedes Kind braucht Platz zum Spielen. Auch unter recht beengten Wohnverhältnissen, werden Kinder ein Eckchen für sich finden. Einsichtige Eltern helfen ihnen dabei und bieten Gestaltungsräume für die Kinder an. Urgroßmutter nahm die Tischdecken vom Wohnzimmertisch und das gelbe Wachstuch kam zum Vorschein. Darauf konnten die Kinder malen oder mit Holzbausteinen Häuser oder Burgen errichten. Oder der gleiche Tisch wird, wie oben Großvater erzählte, umgedreht. Zwischen den Tischbeinen entstand die eigentliche Kinderwelt. Wenn auch heute Hof und Straße Kindern nicht mehr überall zur Verfügung stehen, wie in früheren Generationen, so sind doch an deren Stelle Kinderspielplätze oder unbebaute Grundstücke getreten. In den großen Parkanlagen oder anderer, hierfür ausdrücklich ausgewiesener Grünflächen Münchens, Frankfurts, Düsseldorfs oder anderer Großstädte, können sich viele Kinder tummeln. In unseren Tagen reichen die zur Verfügung stehenden Kinderspielflächen aus, kommen meistens in ihrer Gestaltung den Bedürfnissen unserer Kinder entgegen und bieten ihnen Anregungen und neue Erfahrungen an. Nehmen wir noch hinzu, dass heute mehr als achtzig Prozent aller Haushalte über gesonderte Kinderzimmer verfügen, die, wenn auch nicht selten im Vergleich zu den anderen Räumen recht klein, den Kindern ungestörtes Spielen ermöglichen, dann sind die Rahmenbedingungen für viele Kinder in unserem Lande nicht schlecht. Auch die Ausstattung mit Spielzeug ist enorm. Selbst ein flüchtiger Blick in die Kindergärten und Kinderzimmer kann uns schwindlig werden lassen: so groß ist das Angebot an vielfältigen Spielzeugen. Schwierig ist es zu entscheiden, was gutes Spielzeug ist und was nichts taugt. Zur Illustration ein Erfahrungsbericht: Heinz bekam zum achten Geburtstag von seiner Tante einen großen Karton. Freudig erregt, machte er sich ans Auspacken. Die Familie schaute zu und auch die Tante saß strahlend dabei. Ihre Mimik verriet allen, dass sie stolz war auf ihre Auswahl und dessen sicher, mit ihrem Geschenk den Vogel abgeschossen zu haben. 146 Bald stand das Geschenk vor aller Augen: Ein bunt bemaltes Blechungeheuer eine Art „Außerirdischer“ stand im Raum. Groß wie ein Fußball mit vier Füßen und mehreren Greifarmen von denen einer eine menschliche Gestalt hielt. Diese Gestalt konnte Heinz aus der Greifhand lösen und in eine andere hineintun. Und noch etwas konnte Heinz mit dem Blechungeheuer machen: es mit Hilfe eines kleinen Schlüssels aufziehen. Dann lief drinnen ein Uhrwerk ab, dabei entstand natürlich ein blechernes Getöse und die Arme und Beine bewegten sich hin und her. Der Blechball drehte sich dabei ein wenig auf der Stelle. Heinz war ein sehr höflicher Junge. Er gab seiner Tante den erwarteten Kuss zum Dank, griff sich seine Blechmaschine und verschwand Richtung Kinderzimmer, wo seine Gäste warteten. Nun durfte jeder mal aufziehen und sich das Geräusch anhören und das Blechmännchen umstecken. Am Abend prüfte Heinz, was er denn noch mit diesem Spielzeug anfangen könnte. Und weil er ebenso geschickt wie erfinderisch war, zerlegte er den Blechmantel und baute den Aufziehmechanismus aus. Die Blechhülle verschwand im Müll und der Motor wurde auf ein Brettchen montiert, von wo aus er über die Antriebswelle irgendwelche Lego- Konstruktionen bewegte. Nur gut, dass dies die Tante nicht mehr sah! Wir können diesem Beispiel entnehmen, dass für die meisten Kinder ein Spielzeug dann gut ist, wenn mit ihm etwas angefangen werden kann und zwar im Sinne von Kreativität, Aktivität und Konstruktivität. Fehlen diese Elemente und nimmt die Gestalt oder Gestaltung des Spielgeräts auch noch die Möglichkeit, die eigene Phantasie spielen zu lassen, wird es für ein Kind rasch langweilig, es wird beiseitegelegt oder, wie in unserem Beispiel, zerstört bzw. „umgebaut“. Sogenanntes „wertloses Material“ wie zum Beispiel Papprollen, Kartons, Holzstücke, alte Kisten oder bunte Stoffreste können gelegentlich mehr Freude bereiten, als perfekte technische Spielzeuge. Gewiss träumen viele Mädchen und Jungen von Puppenhäusern oder Eisenbahnen. Es reicht aber den Kindern nicht, wenn sie das Puppenhaus nur anschauen und Püppchen nur hierhin oder dorthin setzen oder das Geschirr aus- und einräumen können. Es genügt bei der Eisenoder Autobahn auch nicht, wenn nur der Trafo bedient werden kann. Der Spaß, einen Zug im Kreis herumfahren zu lassen, muss durch Variationsmöglichkeiten ergänzt werden. Und wenn ein Kind nur den Zug entgleisen lassen darf! Die Ausdauer unserer Kinder ist altersbedingt verschieden. Insofern hat auch eine Eisenbahn, mit der, ist sie einmal aufgebaut oder gar fest auf einem Untergrund montiert, ein Kind eigentlich nicht mehr konstruktiv umgehen kann, nur einen zeitlich begrenzten Reiz. Dann wird sich ein Kind anderen interessanten Spielen zuwenden. Und wie sieht es mit den Kinderwünschen aus? „Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?“ wird ein Kind gefragt. Hier sind die Augen sehr groß und die Wünsche können in’s Unermessliche steigen. Gewöhnen wir unsere Kinder frühzeitig daran, dass sie nicht alles Spielzeug haben können. Lassen wir uns mit unseren Kindern Zeit, in den Spielwarenabteilungen herumzulaufen und sich all 147 die Herrlichkeiten zu betrachten. Dort haben wir die Gelegenheit ihnen nahezubringend, dass man nicht alles haben kann, sondern auswählen und sich entscheiden muss. Was dann auf den Gabentisch kommt, das freilich entscheiden wir. Wir auch können beurteilen, welches Spielzeug einem Kind in seiner Entwicklung schadet oder nützt. Und in unseren Entscheidungen lassen wir Eltern uns nicht von sozialem Druck oder gar Prestigevorstellungen leiten. Nicht weil es „andere auch“ haben, schaffen wir Spielzeug an, sondern, weil wir von dessen Wert für unser Kind überzeugt sind. Übrigens ein Tipp aus der elterlicher Trickkiste: wenn unser Kind sich mal gar zu sehr etwas wünscht, was wir Eltern für ebenso überflüssig wie kitschig halten (im Grunde aber die Entwicklung unseres Kindes nicht beeinträchtigt), dann können wir den Kinderwunsch an Oma und Opa herantragen. Wir bleiben zwar bei unserem „Nein“ und unseren Prioritäten; unser Kind aber wird seine Freude haben, ohne dass wir unser Gesicht verlieren. Einen besonderen Anstoß zum Spielen braucht kein Kind. Alles wird ihm zum Spiel. Eltern und Erzieher haben darum eigentlich mehr darauf zu achten, dass sie das Spiel des Kindes nicht unnötig einschränken. Eine unnötige Einschränkung wäre zum Beispiel die Behinderung des Kinderspiels in Wohnzimmer oder Küche, wenn kein Kinderzimmer zur Verfügung steht und Kinder nicht draußen spielen können. Die Älteren unter uns werden sich noch daran erinnern, dass es in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hier und da noch eine „gute Stube“ gab. Das war ein Raum, der nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet wurde. Selbst wenn Kinder keinen Raum für sich hatten: dort durften sie nicht hinein. Die gute Stube (der Salon) musste aufgeräumt und sauber bleiben. Die Zeiten haben sich geändert. Und trotzdem gibt es Wohnungen, in denen Kinder nicht ungeniert spielen können. Mal sind die Möbel zu teuer gewesen und könnten beschädigt werden, mal sind sie für Kinder gefährlich, wie Möbel aus Glas oder Metall. Oder es ist einfach nicht genügend Platz da. Und wenn Mutter und Vater abends nach Hause kommen, dann soll Ruhe sein. Der Fernseher wird dann zum Kompromiss. Er schafft die Ruhe, die die Eltern brauchen und „stellt die Kinder ab“. Auch in Wohnquartieren, die an verkehrsreichen Straßen liegen, weichen die Eltern auf den Fernseher aus. Dort ist es für Kinder viel zu gefährlich, draußen zu spielen. Kinder aus Wohngebieten mit starkem Autoverkehr verbringen darum deutlich mehr Zeit vor dem Bildschirm, als Kinder aus verkehrsberuhigten (vgl. die Studie von Mario Hüttenmoser, Zürich 1995). Spielen wir gern mit unseren Kindern? So verschieden wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind die Gründe, die wir haben, nicht zu spielen. Sobald wir, wie zum Beispiel in einer Gruppe oder beim Kindergeburtstag, sozusagen „gezwungen“ sind, zu spielen, macht es ja auch Spaß. 148 Es lässt sich immer wieder feststellen, dass viele von uns Erwachsenen bestimmte Spiele eigentlich recht gern spielen. Dennoch schaffen wir es oft nicht, aus dem Alltagstrott herauszukommen und mit den Kindern oder mit allen Familienmitgliedern zu spielen. Das Fernsehen frisst freilich viel Zeit überall dort, wo die Geräte nicht ausgeschaltet werden. Der Zusammenhang zwischen schädlichen Auswirkungen eines passiven Medienkonsums und der seelischen, geistigen und sozialen Entwicklung unserer Heranwachsenden ist uns allen, auch ohne genaues Detailwissen, klar. Abschalten ohne attraktive Alternativen ist aber vielfach nicht mehr möglich. Zu den besonders attraktiven Alternativen gehört für unsere Kinder, vor allem für die jüngeren Kinder, das Spiel mit den Eltern. Nun gibt es Familienmitglieder, die spielen bestimmte Spiele nicht, weil sie ungern verlieren. Häufig gehören unsere Kinder dazu. Es gibt aber Spiele oder es lassen sich Spielregeln erfinden, bei denen es keine Verlierer gibt. Es gibt auch Familienangehörige, die nie Zeit haben oder lieber etwas anderes machen. Denken wir an Vereine, an Sport oder das Lesen. Hier sorgt dann der Elternteil, der diese Hobbies nicht pflegt oder der die größere Einsicht hat, für den Ausgleich und spielt mit den Kindern. Gelegentlich erschweren zu große Altersunterschieden zwischen den Kindern das gemeinsame Spiel. Eine Lösung bietet sich an, für alle, die die Notwendigkeit gemeinsamen Spielens einsehen, aber denen die Spielideen ausgehen: sie können sich darüber informieren, welche Spiele es gibt! So, wie es Spiele gibt ohne Verlierer, gibt es Spiele, die sich für verschieden Altersstufen eignen und Spiele, die Bildungseffekte haben, also Wissen vermitteln. Es lässt sich sagen, dass es im Land der Spiele für jeden etwas gibt. Eine wertvolle Hilfe sind Spiele-Bücher, die, je anschaulicher in ihren Darstellungen, umso bereichernder in Ihren Anregungen sind. Sie sind nicht einmal sehr teuer und in Kaufhäusern ebenso zu finden, wie in Buchhandlungen oder bei Buchclubs. In jedem Falle aber empfiehlt es sich dringend, erst einmal hineinzuschauen und zu prüfen, ob man sich leicht und rasch in Bild und Wort orientieren kann. Zu den Hindernissen, in der Familie miteinander zu spielen, gehören aber auch Stimmungen oder unterschiedliche Arbeitszeiten. Manchmal mag es auch aufreibend gewesen sein, bis sich alle auf ein Spiel geeinigt hatten. Und weil dieser Entscheidungsprozess dann so „nervig“ ist, mag man es gar nicht mehr probieren. Auch hierzu eine Empfehlung: Wenn jemand in der Familie oder aus der Kindergruppe mit der Frage beginnt. „Was wollen wir (was wollt ihr) spielen?“, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn es oft keine Einigung gibt und am Ende möglicherweise alle im Streit auseinander gehen. Zwei können sich eher einigen. Dann beginnt zum Beispiel der Vater mit einem Kind oder mit der Mutter ein Würfelspiel. Und dann kommt das eine oder andere Familienmitglied und möchte auch mitspielen. Wer nicht will, muss ja nicht mitspielen. Das Spiel verliert seinen Charakter und seinen Wert, wenn es zur Pflicht wird. Auch in der Kindergruppe beim Kindergeburtstag zum Beispiel - werden von bestimmten Kindern oder von den teilnehmenden Erwachsenen einfach Spiele begonnen. Wer mitmachen will ist willkommen. Kinder, die dann beiseite stehen – „so ein Babykram, da mache ich nicht mit“ - sperren sich selber aus. Ruhig weiterspielen und neue Ideen umsetzen 149 - also nicht vorschlagen, sondern praktisch zu spielen beginnen, - ist der zweckmäßigste Weg, Kinder zum Mitspielen zu gewinnen. Eine ebenso gefährliche wie schlichtweg dumme Argumentation ist die, darum nicht zu spielen, weil das Spiel als nicht nützlich, als „Nichtstun“ oder als Zeitverschwendung betrachtet wird. Wir treffen Bürgerinnen und Bürger an, die darum die Arbeit von Erzieherinnen in Kindergärten nicht zu würdigen wissen, weil die ja „nur“ spielen. Die „Spieltanten“, so werden Erzieherinnen gelegentlich von Stammtischpolitikern abfällig bezeichnet, leisten nichts. Gerade in ihrer beruflichen Fähigkeit, Spiele entwicklungsfördernd auswählen und einsetzen zu können, liegt die besondere Kompetenz dieser Berufsgruppe. Erzieherinnen in Kindertagesstätten sind die „Expertinnen“ für das Kinderspiel in unserer Gesellschaft. Wir Eltern sollten ihr Expertenwissen nutzen und uns von ihnen bei Gelegenheit beraten lassen, wenn wir uns über den Wert eines Spiels nicht im Klaren sind. Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die vom Spiel nichts wissen wollen, dann offenbaren sich mit derartigen Argumenten sehr unglückliche Naturen. Ihnen wird das Lachen, vor allem das Lachen über sich selbst, das wir als Humor und damit als ein Kennzeichen menschlicher Reife einzuordnen haben, schwer fallen. In diesem Zusammenhang ist an die Bemerkung vom „Nicht-verlieren-können“ zu denken. Vielleicht ist ein Merkmal dafür, dass sich die betreffenden Persönlichkeiten für besonders wichtig nehmen? Heranwachsende erlangen frühestens mit der Pubertät jene Fähigkeit der Selbstdistanzierung, die sie erkennen lässt, dass sie nicht der Nabel der Welt sind25. Kindern freilich ist das noch nicht möglich und darum verstehen wir auch, dass sie so schlecht verlieren können und jedes Mal unseren Trost brauchen. Es ist sehr schwer, etwas gegen das Argument einzuwenden: „nach Feierabend sind wir einfach zu müde; dann haben wir keine Lust mehr, mit unseren Kindern zu spielen; wir wollen nur noch unsere Ruhe haben“. Eltern, die an einem Seminar über das Spiel teilnahmen, haben zu diesem Problem ein Gedicht verfasst, das wiedergegeben wird, weil es genau das trifft, was hierzu gesagt werden kann: „Nach des Tages Mühen, woll’n Eltern nicht mehr spielen! Sie wollen nur noch ihre Ruh’ und nicht „Mikado“ oder „Blinde Kuh“. Doch, liebe Eltern, seid nicht dumm, Kinderjahre geh’n schnell rum! Gebt Euren Kindern Eure Zeit, sie danken’s mit Anhänglichkeit!“ Formen des Spiels 150 Die Aufteilung der schier unerschöpflichen Fülle von Spielen ist nicht leicht. Es lassen sich zum Beispiel Brettspiele, Bewegungsspiele, Kartenspiele oder Konstruktionsspiele voneinander unterscheiden. Bei den Bewegungsspielen wiederum gibt es viele, die wir früher spielten und die unseren Kindern heute noch vertraut sind: da gibt es Kreisspiele, Hüpfspiele, Versteckspiele oder eine ganze Reihe von Ballspielen. Man kann die Spielformen auch nach der Anzahl der möglichen Spielteilnehmerinnen und Spielteilnehmer unterscheiden. Diese Systematik ist den tatsächlichen Spielsituationen bei Kindern und Erwachsenen nachempfunden und hat sich in Veranstaltungen mit Eltern, in denen es um die Spielpraxis ging, bewährt. Es können hier beileibe nicht alle Spielformen erwähnt werden, die sich in Spielkarteien und anderen Spiele-Sammlungen befinden. In Kinder- und Familienfreizeiten kann man Spiele einführen, die man zu zweit spielen kann und für die es keinerlei besonderer Vorbereitung braucht und nur geringfügiges Spielmaterial vorhanden sein muss: kariertes Papier und einen Bleistift. Wo zwei beieinander sind, ist das „Schiffe versenken“ ein spannendes und faszinierendes Spiel in dem sich ein bisschen Glück und viel Kombinationsgabe miteinander verbinden. Eltern, die an einem Spielseminar teilnahmen, meinten zu diesem Spiel: „Dieses Spiel schafft Ruhe, es lässt sich in jeder Situation verwenden, die Spielregeln lassen sich variieren und außerdem fördert es die Kontakte zwischen den Spielern. Dieses Spiel ist überall spielbar; sogar in der Schule „unter der Bank“. Ein weiteres Spiel, bei dem wir überhaupt keine Materialien brauchen, ist das Knobeln. Jenes Spiel mit den Händen, in dem die beiden Partner symbolisch Papier, Schere, Stein und Brunnen darstellen und das ebenfalls überall gespielt werden kann. Da in der Regel auf diese Weise etwas ausgeknobelt wird, hat dieses Spiel von diesem Ziel her seinen Sinn. Darüber hinaus gibt es ein reiches Angebot an Spielen, die ohne großen Aufwand daheim in der Familie, an Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen unter Kindern, Kindern gemeinsam mit Erwachsenen und unter Erwachsenen gespielt werden können. Da wird man bald nach Spielen Ausschau halten, an der auch mehrere Spielerinnen und Spieler teilnehmen können. Stadt - Land - Fluss oder Mikado sind ebenfalls ebenso einfach wie lehrreich. Unter den Tischspielen an denen zwei oder mehrere Spielerinnen und Spieler teilnehmen können, gibt es sehr viele, die von großen Spieleherstellern angeboten werden und weite Verbreitung gefunden haben. „Sagaland“, „Monopoly“, „Scotland Yard“, „Hase und Igel“, „Deutschland-Reise“ gehören dazu. In vielen Familien wird vor allem mit jüngeren Kindern gern ein Bilder-Lotto und Memory gespielt. Ständig kommen neue Spiele auf den Markt. Wichtig ist, dass wenigstens eine(r) die Spielregeln bereits gut kennt und rasch vermitteln kann. Irgendwann nehmen wir alle ein Spiel zum ersten Mal in die Hand. Und darum ist eine gute, verständlich geschriebene Anleitung unverzichtbar. Spielleidenschaft 151 Obwohl es manche Erwachsene gibt, die mit ihren Kindern nicht spielen wollen, haben sie aber selbst Freude an Spielen sowohl in passiver Weise, wie in aktiver. Zu den passiven Spielfreunden gehören zum Beispiel alle Zuschauer. Gäbe es sie nicht, wären Fußball und Tennis kein so gutes Geschäft für alle, die beteiligt sind. Damit lässt sich zugleich eine Wertung verbinden: wer nur zuschaut und wenig oder überhaupt nicht selbst spielt, befindet sich im Grunde in der gleichen Situation, wie ein Fernsehgucker. Er ist ein passiver Empfänger und kein aktiver Erkunder. Was dabei herauskommen kann, wenn sich beim Zuschauen nur die Gefühle beteiligen dürfen, die gelegentlich mit Alkohol noch etwas aufgewärmt werden, das zeigen uns die leidigen Fußballkrawalle im In- und Ausland. Neben dieser passiven Spiel(er)-Leidenschaft, die der eigenen Persönlichkeitsentwicklung umso mehr schadet, je weniger sie in eigenem aktiven Tun (Spiel) außerhalb der Zuschauerrolle ihre Ergänzung findet, gibt es aktive Formen bei Jugendlichen und Erwachsenen, die zur Leidenschaft werden und sogar in eine Sucht einmünden können. Schädlich - zumindest in ihren Auswirkungen auf das soziale Umfeld, wie Freunde, Eltern und Partner - sind alle Suchterscheinungen, die uns unfähig werden lassen, den „normalen“ Anforderungen unseres Lebens gerecht zu werden. Wir alle kennen Menschen, die sich und ihrer Umwelt wegen ihrer Süchte (Putzsucht, Fresssucht, Trunksucht, Videosucht, Internetsucht...) zur Last fallen. Aus dem Bereich des Spielens ein Beispiel: „Der früher so ehrgeizige, jetzt vierundzwanzigjährige Andreas, der Schule und Ausbildung problemlos durchlaufen hat und auch nahtlos in eine gute Position einsteigen konnte, steckt bis zum Hals in Schulden. Seine Firma hat sogar Pfändungsbescheide bekommen. Kündigungsgrund war dann aber schließlich, dass er mit ersten Unterschlagungen - 3000,-- in vier Monaten aufgeflogen ist. Und das alles, weil er die Finger nicht von den Automaten lassen kann. Angefangen hat die ganze Misere vor acht Jahren. Andreas ist mit seinen Klassenkameraden, auch mit Freunden aus dem Fußballclub, auf dem Heimweg schon mal in einen Spielsalon gegangen. Nur so zum Spaß. Bei den anderen ist es beim Spaß geblieben. Er aber ist nicht mehr losgekommen von den klingelnden Geräten: „Da hörst und siehst du nicht mehr, was um dich herum vorgeht, nimmst keine Menschen mehr wahr, bist nur noch high.“ Er hat bald täglich gespielt, meist gleichzeitig an mehreren Apparaten. Bald reichte sein Taschengeld nicht mehr. Und der große Gewinn ist auch nie aus den Automaten gefallen. So hat er Freunde angepumpt und schon mal ein paar Mark aus Mutters Portemonnaie geklaut. Weil Andreas aber eigentlich ein ehrgeiziger Mensch ist, hat er Schule und Ausbildung trotzdem durchgezogen. Endgültig gepackt hat ihn die Spielsucht dann aber, als er eine gut bezahlte Stelle und erstmals größere Summen in die Finger bekam.“ (aus: Südkurier, Konstanz, vom 21.08.1993) 152 Ob an Spielautomaten oder in Spielclubs und Spielcasinos: die dem Glücksspiel verfallenen Menschen sind seelisch krank und bedürfen der Hilfe. Die Ursachen lassen sich in den meisten Fällen - genauso wie bei allen anderen Suchterkrankungen - in Defiziten aus jenen Bereichen ausmachen, die wir als Grundbedürfnisse im ersten Kapitel kennen gelernt haben. Spielleidenschaft und Spielsucht auf der einen Seite und das Spiel um meiner Lust und Freude, zu meiner Entspannung und Erholung auf der anderen Seite, haben für gefährdete Menschen eine Brücke zueinander. Unser Beispiel wies darauf hin: Mit dem Spiel an Fußball- und Billardtischen sowie an einigen Automaten und in der Gesellschaft guter Freunde fängt es an. Doch bald stand Andreas einsam und allein gegen die Automaten spielend tagaus tagein in den Spielsalons. Mit diesen zerstörerischen Formen verwandt sind viele Spiele, die mit dem Gameboy oder am Computer gespielt werden können. Da sie aber in den eigenen vier Wänden, sozusagen in der Privatsphäre, ihren Platz haben, sind für deren Verbreitung und Gebrauch allein die zuständig, die die erzieherische Verantwortung tragen. Lassen wir dieses Kapitel aber nicht düster ausklingen und knüpfen an die Ausführungen vom Anfang an: Das Spiel ist eine Tätigkeit, auf die der Mensch nicht verzichten kann. Wenn wir zum Beispiel nach Frankreich in die Ferien fahren, dann sehen wir in jedem Dorf Männer an der Boule-Bahn stehen und gemächlich ihre Kugeln reiben und werfen. Oder denken wir an die vielen Minigolfanlagen, die sich bei uns zu Lande, meistens in der Nähe von Schwimmbädern oder Freizeitparks befinden und stets gut besucht sind. Und wenn wir wieder an unsere Kinder denken: sind nicht die Spielplätze stets bevölkert? Wenn Familie M. mit ihren drei Kindern am Samstagnachmittag in die Stadt fuhren, dann legten die drei Kinder im Alter von elf, sieben und vier Jahren gleichermaßen großen Wert darauf, die Spielplätze im Stadtpark oder am Museum zu besuchen. Die Kinder interessierten die Einkaufswünsche von Mutter und Vater kaum! Allein der Besuch der Spielplätze, wo andere Spielgeräte als daheim, andere Kinder und unbekannte Abenteuer auf sie warteten, war ihnen wichtig.. Bieten wir sie ihnen an und besuchen Spielplätze, wo sie der Abgeschlossenheit unserer Wohnungen und Einfamilienhäuser entrinnen können. Außerdem - nicht entweder - oder! - erlauben wir unseren Kindern, dass sie ihre Spielgefährtinnen mitbringen und schauen dabei nicht auf Herkunft oder Verdienst der Eltern. Kinder müssen ihre Erfahrungen für das Leben selber machen. Das können sie nur dann tun, wenn wir ihnen das ermöglichen; und zwar mit Hilfe des Spielens und mit Spielgefährten. „Vielleicht bräuchten Kinder auch weniger Bewegungs- und Sprachtherapeuten, wenn sie mehr Raum und Zeit zum Spielen hätt… Beim Spielen lernen wir, eigene Möglichkeiten und Grenzen einzuschätzen, mit Anstand zu verlieren und zu gewinnen, starre Gewohnheiten zu durchbrechen und unseren Geist fit zu halten. Bis ins hohe Alter“26. 153 9 Lernen und Schule Einführung Was wird von Familien und Schule in unserer Gesellschaft erwartet? Es sind tatsächlich nicht in erster Linie irgendwelche Abschlüsse und Prädikate, sondern vielmehr Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mögliche Schul- und Ausbildungsabschlüsse maßgeblich zu begleiten haben. Wir finden diese Erwartungen an Frauen und Männer dann, wenn wir die Stellenanzeigen durchsehen. Die folgenden Erwartungen waren die am meisten genannten in den Stellenangeboten einer einzigen Wochenendausgabe einer großen Wochenzeitung. Woche für Woche können wir uns alle überzeugen, dass diese Erwartungen nach wie vor gelten. Wer sich der Mühe unterziehen würde, über einen längeren Zeitraum hinweg die Stellenangebote auf derartige Erwartungen hin zu analysieren, würde vielleicht die eine oder andere Akzentverschiebung feststellen, nicht aber auffallend Neues. Auf der Grundlage von in Stellenanzeigen geäußerten Erwartungen können wir festhalten, dass sie in dieser Gesellschaft gelten. Hier sind sie genannt: Initiative, Verantwortungsbewusstsein, Selbständigkeit, Kooperationsbereitschaft, Offenheit und Neugier, Bereitschaft zum Lernen und sich neuen Aufgaben stellen zu können, Kommunikationsfähigkeit, Engagement und Kreativität, Einsatzbereitschaft, Flexibilität, Einfühlungsvermögen und Leistungswillen. Wer also im Berufsleben unserer Tage bestehen will, der braucht, neben einer abgeschlossenen Berufsausbildung, vor allem: Eine gute Motivation - zum Beispiel eine über die Berufsabschlüsse hinaus andauernde Lernbereitschaft (Stichwort: lebenslanges Lernen); Positive individuelle und soziale Eigenschaften - zum Beispiel Selbständigkeit und Einfühlungsvermögen oder Teamfähigkeit; Kognitive Fähigkeiten - zum Beispiel rasche Anpassung an neue Aufgaben und kreatives Denken27. In kaum einem anderen Bereich lässt sich die Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit, wie sie als Ziel dem Menschenbild unserer Verfassung vorschwebt, so gut in die Tat umsetzen, wie im Bereich der Arbeiten für die Schule. In keinem anderen Bereich aber gibt es in unserem Lebensalltag größere Konfliktanlässe als in diesem. Dabei wäre gerade hier alles so einfach... 154 Die Schule als Herausforderung Nun, die Schwierigkeiten sollen nicht geleugnet werden. Unter den 355 schulpflichtigen Kindern, die im Verlaufe von fünfzig Jahren in ein Kinderheim aufgenommen wurden, war kein einziges, dass nicht wegen der Schule Ärger gehabt hatte; in den meisten Fällen entsprachen die Mädchen und Jungen nicht den Ansprüchen der Lehrer und in vielen Fällen erwarteten die Eltern von ihren Kindern mehr, als diese zu leisten in der Lage und bereit waren. Hier ein Beispiel: "Mein Kind ist ein Versager." Das erklärte der Vater eines Zweitklässlers eines Abends seinen Freunden. Was war geschehen? Anlässlich der Einschulung des Kindes hatte er im gleichen Kreis verkündet, dass sein Sohn auch mal Zahnarzt werden solle, wie ein Verwandter von ihm. Um Medizin zu studieren aber muss man das Abitur haben. Also hatte der Vater die Schullaufbahn seines einzigen Kindes für sich selbst schon geplant. Als sich während des ersten Schuljahres herausstellte, dass der Junge Mühe hatte, die schulischen Anforderungen zu bewältigen, war der Vater zutiefst enttäuscht. Er verlor das Interesse am schulischen Lernen seines Kindes und überließ alles seiner Frau. Nicht zuletzt deren starker Persönlichkeit und vor allem ihrem liebevollen Verständnis war zu verdanken, dass der Junge die Hauptschule mit Erfolg beendete und eine Lehre begann. Mit fünfundzwanzig Jahren war er ein gesuchter Computer-Experte. Elterliche Erwartungen belasten heute die Erziehung und Bildung von Kindern mehr als in früheren Zeiten. Dabei lernen alle Kinder, wie im vorangegangenen Kapitel geschildert, von Natur aus gerne - wenn wir Erwachsenen ihnen nur nicht die Freude an Lernen und Leisten vermiesen würden. Falsche Erwartungen oder andere Formen seelischen Drucks können Kinder in Familie und Schule lähmen (Heinrich Kratzmeier München 1982, S. 133 ff). Unser Beispiel zeigt, dass sich unter bestimmten Umständen im weiteren Verlauf des Lebens das natürliche Streben nach Lernen und Leistung durchsetzt. Andererseits gibt es eine Fülle an Möglichkeiten und guten Erfahrungen, wie Kinder dazu geführt werden können, auch unbequeme Pflichten im Zusammenhang mit schulischem Lernen auf sich zu nehmen und hier Eigenverantwortung zu lernen. Die Arbeit daheim für die Schule wie vor allem die Erledigung der Hausaufgaben gehört dazu. Sie sollen dazu dienen den in der Schule vermittelten Lehrinhalt zu vertiefen und selbständig zu erweitern. Auf diese Weise sollen Konzentration, Ausdauer und Durchhaltevermögen ebenso gestärkt werden, wie die Bereitschaft, Pflichten zu erfüllen, gerade auch dann, wenn sie unbequem sind und Anstrengung erfordern. Nicht zuletzt sollte neben der Selbständigkeit die Eigenverantwortung gefördert werden. 155 Nur dann und in dem Ausmaß erfüllen Hausaufgaben - also arbeiten an Lerninhalten außerhalb des Unterrichts - ihren Zweck, wenn und soweit sie den hier genannten didaktischen Funktionen dienen und vor allem die auf die Persönlichkeitsförderung gerichteten Absichten in einer überprüfbaren Weise auch erreichen. Die Befragungen des Professors Anton Bucher von der Universität Salzburg, die am 15. November 2007 auf einer Fachtagung in Mainz vorgestellt wurden, gaben Auskunft darüber, was Kinder glücklich beziehungsweise unglücklich macht (Weinheim 2001) ergaben, dass Hausaufgaben "Glücksdämpfer" seien. Gerade, wenn sie als "zu viel" empfunden werden, tragen Hausaufgaben dazu bei, das Wohlbefinden von Kindern empfindlich zu stören. Hierbei sind es keineswegs die zeitlichen Belastungen allein, die die befragten Kinder störten. Vielmehr sind es die im Zusammenhang mit der Erledigung der Hausaufgaben entstehenden Konflikte mit den Eltern, die das Glücksempfinden von Kindern beeinträchtigen. Es gibt zweifellos eine große Anzahl unter unseren Schülerinnen und Schülern, die in der Schule und daheim mit Interesse und Engagement arbeiten. Alle Berufspädagogen wissen - und können das voll akzeptieren - dass es auch kaum eine/n unter ihnen gibt, die in allen Fächern oder bei allen Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern gleichermaßen arbeiten können, da die Interessen ebenso verschieden sind wie die zwischen menschlichen Beziehungen. Auch wir haben, als wir noch Kinder waren, in der Schule bei jenen am meisten gelernt, zu denen wir eine gute Beziehung hatten, sei es, weil wir ihre persönliche Autorität, ihre Fachkompetenz oder die Art und Weise des Umgangs mit uns schätzten. Dies galt vor allem für jene Pädagogen, die uns als Persönlichkeit wahrnahmen und achteten. Die Schule erschwert die Entwicklung zu einer selbstständigen, eigenverantwortlich handelnden strebsamen und die Würde aller Menschen achtenden, Urteils- und entscheidungsfähigen Persönlichkeit, wenn sie sich darauf beschränkt, eine lebensferne Lernschule zu sein. Kennzeichen einer derartigen Lernschule ist unter anderem die Betonung kognitiven Lernens und eine Schule, die alle Bemühungen der Schülerinnen und Schüler, den Anforderungen der Schule gerecht zu werden, in das System der Leistungsmessung zwängt. Man kann zum Beispiel heute als nachgewiesen erachten, dass das Bewertungssystem der Schulen zwar unter juristischen Gesichtspunkten wasserdicht unter pädagogischen jedoch absolut dysfunktional ist. Zur Herausbildung einer lernbereiten und an schulischen Unterrichtsinhalten interessierten Persönlichkeit trägt das Bewertungssystem nicht bei. Dies zeigt sich besonders dann, wenn ein Kind nicht versetzt wird. Noten, so ist erst kürzlich wieder herausgearbeitet worden, werden in Abhängigkeit von den subjektiv geltenden Leistungsanforderungen eines Lehrers und dem Leistungsniveau einer Klasse vergeben. Sie sind keineswegs ein objektives Kriterium für das Sitzenbleiben. In einer Studie von Klaus Klemm (Gütersloh 2010) wurde nachgewiesen, dass Klassenwiederholungen zu keiner Verbesserungen der 156 Leistungen führen. Sie sind unzweckmäßig, denn sie wirken eher demotivierend als leistungsfördernd. Die Schulschelte ließe sich lange fortsetzen28. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, die gebildet und mutig genug sind, die Chancen nutzen, die ihnen das Schulsystem bietet. Das in der staatlich verwalteten und gelenkten Schule dem Lehrer Eigenverantwortlichkeit im Rahmen seiner Fachlichkeit geltende Prinzip ist mit dem Begriff von der "Pädagogischen Freiheit" (vgl. dazu § 38 SchGes. BW) angedeutet. Doch die Verwirklichung dieser Freiheit in Verantwortung vor dem Kind einerseits und der Gesellschaft andererseits, setzt bestimmte Kompetenzen voraus, über die die Schulpädagogen verfügen sollten. Zwei besonders bedeutsame seien genannt: Fachliches Wissen und Können, das sich sowohl auf die Sachkenntnis als auf die Didaktik eines Unterrichtsfaches bezieht, erzieherische Fähigkeiten in Verbindung mit den Eigenschaften, die sich als Charakteristika einer "reifen Persönlichkeit" bezeichnen lassen. Es entspricht aller Lebenserfahrung, dass eine derartige Lehrerpersönlichkeit nicht aus den Ausbildungsstätten hervorgeht. Mit bestandenen Prüfungen erwirbt eine Lehrerin/ein Lehrer, genau wie bei Berufsabschlüssen aller anderen Berufe, erst die Möglichkeit des beruflichen Einstiegs. Wissen und Können wachsen im Laufe der Berufsjahre. Darum ist Bescheidenheit auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer angesagt, eine selbstkritische Haltung und der Verzicht auf Macht und Arroganz gegenüber Schülern Eltern und Kollegen. Und damit ist auf ein ganz wichtiges Detail verwiesen, das die schulische Entwicklung unserer Kinder begleitet: die Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule. Erwarten Eltern, die sich um ihre Kinder bemühen, Hilfe, Rat und Information von den Lehrern, so erwarten Lehrer ihrerseits, eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern. So jedenfalls sieht es die offizielle, in Schulgesetzen und Verordnungen nachweisbare Schulpädagogik vor, wenn es heißt: Schule und Eltern pflegen ihre Erziehungsgemeinschaft. Man kann zur Schule oder einzelnen Lehrern stehen wie man will: Dass während der Schulzeit unserer Kinder Pflege, Fürsorge, Bildung und Erziehung gemeinsame Leistungen von Lehrern und Eltern sind, daran ist faktisch nicht zu rütteln. Jeder Bruch dieser Selbstverständlichkeit, jedes Gegeneinander, jede Form der Diskriminierung des jeweils anderen, führt unweigerlich zu Störungen in der Entwicklung unserer Kinder. Gewiss gibt es auch hier wie in anderen Bereichen entwicklungsbedingte Grade von negativen oder positiven Auswirkungen der gegenseitigen Beziehungen auf die Kinder. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da wünscht der junge Mensch ausdrücklich, dass die Eltern sich heraushalten: er hat die Schule zu seinem eigenen Lebensthema gemacht; und er ist in dieser Beziehung selbständig geworden. Je jünger ein Kind ist, umso gravierender sind die Auswirkungen des Charakters der Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule. Je älter ein Kind ist, umso eher wird es in der Lage sein, seine schulischen Angelegenheiten selbst zu regeln. 157 Die Bedeutung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen, die durch ein Kind miteinander verbunden sind, sind für die Entwicklung eines jeden Kindes ganz allgemein, in Bezug auf den Schulerfolg aber in besonderem Maße von so großer Bedeutung, dass wir uns dieser Verbindung im folgenden Abschnitt erneut zuwenden und die Ausführungen über die Notwendigkeit übereinstimmenden Handelns in Erziehung und Bildung ergänzen. Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken An den Anfang dieses Kapitels gehört der Verweis auf die Aussagen im Abschnitt über das Zusammenwirken in der Erziehung von Kindern (oben, S.53 ff). Am Beispiel des Verhältnisses von Schule und Elternhaus wird dessen Bedeutung für den Schulerfolg eines Kindes hier noch einmal unterstrichen und konkretisiert. Gelegentlich haben Eltern Streit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und umgekehrt deutet die Schule auf die Familie, wenn es um die „richtige“ Erziehung und Bildung geht. Wenn ein Kind zur Schule geht, dann ist die Verantwortung für Erziehung und Bildung geteilt. Die Verfassung räumt der Schule neben den Eltern zumindest für alles, was Leben und Lernen in der Schule und für die Schule betrifft gleiche Rechte und Pflichten ein. Diese Situation kann im Einzelfalle zu Differenzen führen. "Ich lehne es ab, mich um die Schulaufgaben zu kümmern. Das ist schließlich Sache der Schule". Diese Haltung wäre ebenso unverantwortlich wie die eines Lehrers, der sagen würde: "Die Eltern haben dafür zu sorgen, dass die Hausaufgaben so sind, wie ich das will. Sonst sollen sie zusehen, wo sie mit dem Kind bleiben". Die gemeinsame Verantwortung für das gleiche Kind, zwingt beide, Eltern und Lehrer, zu übereinstimmenden Handeln. Das ist der rechtliche Gesichtspunkt, dessen praktische Konsequenzen jedermann in den Schulgesetzen nachlesen kann. Danach sind Eltern und Lehrer zur Zusammenarbeit verpflichtet. Zu einem Team oder einer kooperierenden Gruppe gehören alle, die an der Erziehung und Bildung eines Kindes mitwirken. Wir wissen genau, dass das so ist. Nicht nur in der Phase des Handelns sollten wir übereinstimmend vorgehen, sondern bereits in der Analyse des Einzelfalls und / oder bei der Analyse bestimmter mit diesem Kind als typisch erlebten Situationen. Wenn zum Beispiel Eltern wissen, dass ihr Kind in bestimmten Situationen „zumacht“ und für sie vorübergehend nicht mehr erreichbar ist, wäre es hilfreich, sich mit der Erzieherin oder der Lehrerin/dem Lehrer darüber auszutauschen. Wir müssen ja mit ähnlichen Reaktionen in Kindergarten oder Schule rechnen. Es könnten sich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, alle in einer Familie, in einem Team oder Eltern mit den anderen Erziehern über ihre Reaktionen auf das Verhalten des Kindes verständigen und dann gemeinsam nach Strategien Ausschau halten, einmal, wie die Ursachen vermieden werden könnten zum anderen, wie dem Kind aus seiner Verweigerungshaltung herausgeholfen werden kann. 158 Alle die in einem Boot sitzen, müssen auch in die gleiche Richtung paddeln und sich gleichermaßen anstrengen. Wie bei Mannschaftssportarten oder in einem Orchester gehören auch bei unterschiedlichen Erziehungsträgern kooperative Arbeitsweisen zur Grundlage jedes Erfolges. Sie sind sozusagen die Mindestleistungen, die erbracht werden müssen. Ist hier bereits Sand im Getriebe, müssen z.B. ein Kindergartenteam oder die Lehrer einer Schulklasse mit den Eltern erst einmal diesen Sand entfernen, wenn sie Problemsituationen mit Aussicht auf Erfolg bearbeiten wollen. Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten übereinstimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird. Diese Erkenntnis gibt uns das Ziel einer Zusammenarbeit vor: Wir müssen im Interesse unserer Kinder positive Beziehungen zwischen Eltern und den anderen an der Erziehung Beteiligten erreichen. Das vertrauensvolle Zusammenwirken von Eltern und Berufspädagogen ist eine Grundbedingung dafür, dass ein Kind gern lernt (Steiner, 1980 S. 68). Der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus erklärte in einem Rundfunkvortrag, dass siebzig bis achtzig Prozent unserer Eltern bodenständig, unkompliziert, kooperativ, verantwortungsbewusst (sind)“ (SWR Aula vom 24.08.2014). Eltern fällt es jedoch schwer, eine Beziehung positiv zu gestalten, wenn sie den Eindruck haben, nur in ihrer Familie müsste sich alles ändern. Hier ist nicht an Verständnisfragen oder eine helfende Kritik zu denken - die sollten von Seiten des Kindergartens oder der Schule immer willkommen sein. Vielmehr geht es um jene Berufserzieher, die ein anderes und ihrer Meinung nach besseres Erziehungskonzept vertreten und durchsetzen möchten. Aber auch Eltern neigen dazu, bei Problemen, die unsere Kinder mit anderen Kindern, mit dem Lernen oder mit sich selbst haben, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte und weit verbreitete menschliche Eigenschaft, nach der wir dazu neigen, die Schuld für irgendein Problem immer zuerst bei anderen Menschen oder Einrichtungen zu suchen. Unsere Kinder machen uns das ganz schnell nach. Dabei kann es zu ganz absurden Begründungen kommen, wie uns das folgende Beispiel zeigt: Ernst hat seine Hausaufgaben unvollständig, weil ihn ein Fernsehfilm gestern Nachmittag mehr fesselte, als die lästige Pflicht. In der Schule entschuldigt er sich mit der Ausrede: „meine kleine Schwester hat mir das Aufgabenblatt zerrissen...“ Doch nicht immer sind Schuldzuweisungen mit Schwindeleien verbunden. Da verschüttet Hans am Mittagstisch seine Suppe und bekleckert die neue Hose. Als die Mutter ihn zurechtweist: „Sei nicht so schusselig“ regiert er mit einer Schuldzuweisung: „Wenn die (Schwester) mich nicht so blöd angeguckt hätte, wäre das nicht passiert ...“. 159 In derartigen Situationen ist es ganz gut, wenn Eltern und Berufserzieher ein gutes Gedächtnis haben und an sich selbst denken würden: „Wenn Du nicht so viel geredet hättest, sagt ein Mann zu seiner Frau (oder umgekehrt) im Auto, dann wäre mir das (zum Beispiel ein Fahrfehler mit Blechschaden) nicht passiert!“ Achten wir also auf uns selbst und geben kein schlechtes Beispiel! Ein weiterer Erfahrungsbericht soll noch einmal auf den Punkt bringen, welche Gefahren der Entwicklung eines Kindes bei fehlender Übereinstimmung drohen können: Erichs Vater ist Lehrer für Mathematik an einem Gymnasium. Der Vater hält von der Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen in der Grundschule nichts. Misstrauisch prüft er jede Klassenarbeit nach, die Erich aus seiner vierten Klasse mit nach Hause bringt. Immerhin geht es in diesem Schuljahr um den Übergang in weiterführende Schulen. Eines Tages weicht seine Sichtweise bei der Beurteilung des Lösungsweges einer Rechenaufgabe von der des Grundschullehrers ab. Nun setzt er sich keineswegs mit dem Lehrer zusammen. Nein, er nimmt seinen Rotstift und korrigiert die Arbeit noch einmal durch und stellt in einem abschließenden Kommentar den Lehrer als Dummkopf hin. Von diesem Tag an zog sich der arme Erich, dem das ungeheuer peinlich war, immer mehr in sich zurück und getraute sich kaum noch, seinen Lehrer anzuschauen. Der ließ diesen Zwischenfall dem Jungen keineswegs entgelten. Doch nun bekam das Kind seine Klassenarbeiten immer einen Tag später als die anderen Kinder der Klasse ausgehändigt. Da der Vater des Jungen für die Grundschule nicht erreichbar (nicht ansprechbar) war, legte der Grundschullehrer vorsorglich die Arbeit dieses Kindes jeweils dem Schulleiter vor und ließ seine Bewertung gleichsam „absegnen“. Dagegen ist aus der Sicht der Schule nichts einzuwenden, denn gegen Eltern, die in dieser Weise die Schule als Erziehungs- und Bildungsinstitution infrage stellen, müssen sich Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer schützen. Doch dem Kind ist damit aus seiner Not, der vom Vater ungewollt geförderten sozialen Isolation, nicht geholfen! Darum bleibt es ein wichtiges Gebot: Übereinstimmend handeln das setzt voraus, dass alle Erziehenden untereinander ein möglichst hohes Maß gegenseitiger Information und Offenheit ermöglichen und alles fördern, was Vertrauen schafft. Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden, Vorurteile und Misstrauen verringern und zum Wohle eines Kindes und nicht gegen seine Bedürfnisse nach Harmonie zwischen den für ihn wichtigen Bezugspersonen, handeln. Eltern und Kinder berichten Wenn Schulkinder verschiedenen Alters danach gefragt werden, was sie mit Schule assoziieren, überraschen die Ergebnisse zunächst. Mädchen und Jungen bearbeiteten an Familienwochenenden29 zum Thema „Schule“ die Frage: 160 "Was fällt mir ein, wenn ich an meine Schule denke? Sicher gibt es dabei Gutes und nicht so Gutes. Unter diesen beiden Gesichtspunkten schreibt jede/jeder für sich selbst auf, was ihr/ihm dazu einfällt. Anschließend tauschen wir aus und reden darüber." Was die Mädchen und Jungen an der Schule gut fanden sind: 1. die Pausen 2. die Ferien 3. die Ausfallzeiten, Freistunden 4. lustige, nette Lehrer 5. wenig Hausaufgaben 6. Wintersporttagen Unterrichtsinhalte selbst, beziehungsweise bestimmte Fächer wurden nur von 10 Prozent der Kinder und jeweils nur ein Fach erwähnt. Was die Mädchen und Jungen an der Schule nicht so gut fanden sind: 1. die Hausaufgaben 2. die Unterrichtsfächer: In der Skala der negativen Äußerungen über die Schule tauchen alle Unterrichtsfächer auf. Jedes Kind hatte an zumindest einem Unterrichtsfach keine Freude. Und immer wieder sind es die Lehrer, die das Fach vermiesen. Die Schülerinnen und Schüler begründeten ihre Abneigung gegen ein Fach stets mit Personen und schrieben: "Musiklehrer, Sportlehrer, Bio-Lehrer" usf. Was in der Häufigkeit folgte, überraschte: Viele Kinder erleben 3. die Schulatmosphäre als unangenehm: "Unsere Schule sieht viel zu schwarz aus" schrieb ein Kind. Ein anderes fand das Klassenzimmer "öd" und andere verknüpften den Gedanken an ihr Schulhaus mit "langweilig" und "es riecht nicht so gut". 4. die (anderen) Kinder 5. Die Schulnoten, Schulstrafen und die Länge des Unterrichts empfanden je etwa gleich viele Kinder als Ärgernis. In den sich anschließenden ausführlichen Gesprächen mit den Mädchen und Jungen, an denen sie sich stets lebhaft beteiligten, stellte es sich heraus, dass es besonders die die Schülerinnen und Schüler als Personen diskriminierenden Vorfälle sind, die ihnen sehr zu schaffen machen: Da hört zum Beispiel der Lehrer gar nicht zu, wenn "wir etwas fragen"; andere Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer "brüllen" oder "schreien einem an"; sie beschimpfen Kinder: "Motzkuh", "blöde Kuh" oder „Ochse“, sie ziehen an den Haaren, an den Ohren oder werfen mit Kreide und - immer wieder - sie geben Strafarbeiten auf. Zum Beispiel muss die Schulordnung abgeschrieben werden. Diese belastenden Erfahrungen finden sich auch in den schriftlichen Auskünften wieder, wenn ein Kind schreibt, dass "Lehrer (bringen) ein Kind in peinliche Situationen", dass Lehrer "andere hänseln und fertig machen" oder dass "ein Lehrer 161 uns Kinderchen nennt". In den Auswertungsgesprächen wurden die Beispiele erläutert und ergänzt. Alle Kinder hatten derartige Erfahrungen gemacht und alle darunter gelitten. Nun sind diese Erfahrungen weder repräsentativ noch wollten die Schülerinnen und Schüler zum Ausdruck bringen, dass "die" Lehrer sich so verhalten. Doch hatten alle in ihren jeweiligen Schulen entsprechende Erfahrungen gemacht. Auch in Bezug auf sich selbst, also auf die Schülerrolle wird "nicht so Gutes" erlebt. An vierter Stelle rangierten andere Kinder als nicht so gute Erfahrungen. Es wurden besonders aggressive Schüler erwähnt, vor denen man Angst habe; wie sich überhaupt die an den Gesprächen teilnehmenden Kinder ausnahmslos gegen Gewalt und Aggression unter den Schülern aussprachen. Wer in der Schule zum Opfer wird, zieht sich gekränkt zurück und wird dadurch erst recht zur Zielscheibe aggressiver Kinder30. Milderten die Auskünfte über das, was an der Schule gut ist, die negativen Erfahrungen? Bezogen auf den Umgang zwischen Lehrern und Schülern keineswegs. Während betont wurde, dass man froh ist, Eltern zu haben, die bei Hausaufgaben "helfen" und "antworten, wenn ich etwas frage", fehlten entsprechende Äußerungen über Lehrer. Niemand wollte zum Beispiel auf Nachfragen bestätigen, dass Lehrer Verständnis für sie als Kinder oder als Schüler hätten. Dass die Kinder an der Schule alles gut finden, was eigentlich "Nicht-Schule" ist, bestätigte sich auch im Gespräch. Schulspezifische Vorteile erkannten Kinder, wenn sie erwähnten, dass der "Sport mein Hobby fördert", dass sie in der Schule "Spielmöglichkeiten" hätten, die sie so daheim nicht haben oder dass es Spaß bei "Schulstreichen" gäbe und die "Ausflüge mit den anderen Kindern" und die Schullandheimaufenthalte gut seien. Wie Eltern die Schule und die damit verbundenen Probleme erlebten, wurde ebenfalls zusammengetragen. Hier wird zunächst berichtet, was Eltern am meisten plagt, wenn sie an die Schule unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen denken: In Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Kinder, spielt auch im Elternbewusstsein die Diskriminierung von Kindern eine große Rolle. Da wurden Ängste angesprochen die Kinder (und Eltern) umtreiben, weil "Erstklässler vor der ganzen Klasse bloßgestellt" wurden, 1 weil "Druck und Leistungszwang" zugenommen haben, 2 weil Kinder "Ängste vor einzelnen Lehrern" und "Fächern" haben 3 weil "Lehrer, vor allem die an Gymnasien, als ungenügend pädagogisch „ausgebildet" erlebt werden. Eltern berichteten von dem für die Lernmotivation und das Verhalten von Schülern nachteiligem Wechsel von "starken und schwachen Lehrern". Die Schüler reagieren auf wechselnde Unterrichts- (pädagogische) Stile mit besonderer Lebhaftigkeit: war in der vorangegangenen Stunde ein besonders autoritärer Lehrertyp in der Klasse, kann sich ein weniger autoritärer Lehrer kaum noch Gehör verschaffen, da die Kinder ihren unterdrückten Bewegungs- und Mitteilungsdrang loswerden oder gar 162 sich an dem als schwächer erlebten Lehrer für die Unbill der vergangenen Stunde rächen wollen. Die Erwartungen aller Eltern an die Schulen waren eindeutig: im Vordergrund steht die Hoffnung, dass Lehrer Kinder zum Lernen motivieren können sollten. Aber auch, dass die Schule kindgerecht gestaltet werden sollte, ist ein wichtiges Anliegen und begegnete sich, wie die Aussprachen zeigten, mit den Aussagen der Kinder über die Schulatmosphäre. Soziales Verhalten sollte die Schule vermitteln und nicht nur Wissen. Und statt Duckmäuser und Egoisten zu erziehen, sollte die Schule zur Herausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins beitragen31. Nicht geringen Kummer bereiten den Eltern die unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten. Es wurde sogar davon gesprochen, dass die Schulkarrieren und Lebensläufe von Kindern von derartigen Zufällen abhängen: geraten sie an eine für diesen Beruf ungeeignete Lehrperson (Indikatoren: Diskriminierung von Kindern und ihrer Leistungen; physische oder psychische Gewaltanwendungen; Repressalien; Verschleißerscheinungen bei Lehrern), würde das die Lernmotivation zerstören. Aber auch unterschiedliche Werthaltungen und pädagogische Konzepte und Überzeugungen von Lehrern wirken verunsichernd und demotivierend. Hier wird von den Schulen mehr Professionalität erwartet. Das heißt in diesem Zusammenhang, dass ein Schulleiter bzw. die Lehrerschaft einer Schule über ihre Konzeption Auskunft geben kann und die eigene pädagogische Konzeption auch im Schulalltag verwirklicht. Eine Schulordnung zum Beispiel, kann nur aus einer bestehenden pädagogischen Konzeption einer Schule abgeleitet werden. Die Eltern aber hatten den Eindruck, dass es in den Schulen, die ihre Kinder besuchen, nur eine Hausordnung, nicht aber ein, die Arbeit aller Pädagogen an dieser Schule verbindendes pädagogisches Konzept gibt. Prinzipien wir Kooperation und übereinstimmendes Handeln innerhalb eines Kollegiums sind keine theoretischen Orientierungen sondern gleichsam einklagbare schulpädagogische Vorgaben (vgl. z. B. dazu u.a. §§ 6, 7 u. 8 sowie 44 SchGes. BW). Vermisst wird in der Schulerziehung eine stärkere Betonung von Werten. Übereinstimmend wurden die inoffiziell geltenden Realnormen wie Kleidermarken und andere konsumorientierte Werthaltungen verurteilt. Hier sollte die Lehrerschaft die Eltern stärker unterstützen und der Vorstellung offensiver entgegentreten, als hänge der Wert eines Menschen von den Kleidern ab, die er trägt, der Ausstattung an Phono- und Videogeräten, die er besitzt oder der Automarke, die er fährt. Es wäre gut, wenn man in dieser Beziehung wieder mehr bewährte Werthaltungen, wie Solidarität mit Armen und Schwachen, Achtung vor der Würde anderer Menschen, vermittle und darauf aufmerksam machte, dass materieller Besitz und Konsum nichts, aber auch gar nichts mit jenen Grundwerten zu tun hat, von denen im Grundgesetz die Rede ist und die unsere Politiker auf allen Ebenen vollmundig 163 verkünden. In der pädagogischen Praxis wird offenbar unterschätzt, dass im Erleben der Betroffenen Kindertagesstätte und Schule die beiden zentralen Instanzen der Wertevermittlung und damit der Gewissensbildung sind. Was Eltern im Zusammenhang mit der Schule innerhalb der Familie erleben, rundete die Erfahrungsberichte ab. Hier einige Aussagen: für Nebenfächer wird nichts getan; bei der Unterstützung für die Hausaufgaben fühlen wir uns überfordert; Hausaufgaben sind eine ständige Quelle von Konflikten und Krisen; Kinder verschließen sich, beginnen zu lügen; Ängste und schlechte Noten verführen zu Unterschriftsfälschungen; es gibt Spannungen unter den Geschwistern; Streit zwischen den Eheleuten wegen der Schule; Mütter tragen die Hauptlast. Soweit einige Mitteilungen aus Veranstaltungen mit Eltern und Schulkindern. Sie zeigen uns ausschnitthaft, was Eltern und Kinder im Zusammenhang mit der Arbeit für die Schule bewegt. Die Kinder und ihre Familien selbst kommen ganz aus dem Blickfeld. Statt dessen schieben sich die Schule und die hinter ihr stehende Gesellschaft, vertreten durch den Staat und seine Kultusbehörden als Institutionen in das Bewusstsein von Eltern und Kindern, die Leistungsergebnisse verlangen, ohne pädagogisch verantwortbare Rahmenbedingungen schaffen zu können oder zu wollen. Fassen wir die Erfahrungen dieser Kinder und Eltern zusammen, dann steht die Schule mit ihren Lehrern, gemessen an ihrem offiziellen Selbstverständnis, sehr schlecht da. Aus Gesprächen mit Lehrern wissen wir aber, dass diese den hohen Erwartungsdruck in Bezug auf Leistungen und Disziplin, auf "Durchgreifen" und "Anforderungen stellen", den Eltern anlasten. Hier ist dringend eine ebenso offene wie innerhalb einer jeden Gemeinde beziehungsweise des Einzugsgebiets einer Schule öffentliche permanente Aussprache gefordert. Ausgehend von den Voraussetzungen unter denen Kinder gedeihen können, hätten Eltern, Lehrer und die "Abnehmer" der Schülerinnen und Schüler, die weiterführenden Schulen oder Ausbildungsstätten, ihre gegenseitigen Erwartungen abzuklären. Die Kooperationsgebote in Erziehung und Bildung beziehen sich nicht allein auf Elternhaus und Schule, sondern ebenso auf alle anderen gesellschaftlichen Gruppen. Und allen kulturpolitisch Interessierten, die an die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer ihre Erwartungen herantragen, sollten zuerst Kooperationen leben und dann reden (J. Rumpf 2009). Das gilt auch für uns Eltern. Wir dürfen uns aber in Bezug auf die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer nichts vormachen, denn alles das, was wir Eltern uns von der Schule wünschen, erwarten die meisten Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer auch: von sich selbst und von den Eltern. Wenn wir über einige Lehrer enttäuscht sind, dann haben wir möglicher Weise nicht ausführlich genug miteinander gesprochen. Es gibt kaum einen Schulpädagogen, der Kindern schaden will. Im Gegenteil: die Lehrerschaft vertritt vielfach die Interessen von Kindern und Eltern – nur erfahren die nichts davon. 164 Diese Aussage kann zum Beispiel unschwer nachgewiesen werden, wenn man die Publikationen von Lehrerverbänden in die Hand nimmt. Die guten Absichten sind also auf beiden Seiten vorhanden. Es fehlt, das wurde allen Beteiligten in unseren Elterngesprächen deutlich, an einer kooperativen Praxis, die diesen Namen verdient. Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens Träger der Schulen sind die Städte und Gemeinden. Dort auch, also vor Ort, finden die schulischen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsprozesse statt. Darum auch sollte sich ein Gemeinwesen, vertreten durch gewählte Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinde- und Kreisparlamenten, mitverantwortlich wissen und mitwirken. Die Akzeptanz einer pädagogischen Einrichtung in der Öffentlichkeit einer Gemeinde wächst in dem Maße, in dem sie am Gemeindeleben in positiver Weise teilnimmt. Folglich sind von pädagogischen Einrichtungen entsprechende Leistungen konzeptionell zu verankern, zu erbringen und ihre Ergebnisse zu evaluieren. Denken wir zum Beispiel nur an die Kindertagesstätten und Schulen in unseren Gemeinden. Ein Erntedankumzug oder der Rosenmontagsumzug wäre ohne die Teilnahme der Kinder und Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer nicht denkbar. Seit Jahrzehnten bringen sie, gemeinsam mit den Eltern, Farbe und Fröhlichkeit in die Veranstaltungen, an denen die Bevölkerung eines Quartiers lebhaft Anteil nimmt. Die Kinder und Erzieherinnen aus Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft gestalten kirchliche Festtage und Gottesdienste mit. Überall dort, wo das so geschieht, erfreut sich die Institution als ganze des Wohlwollens und der Unterstützung der jeweiligen Träger – also der politischen oder der kirchlichen Gemeinde. Sich auszuschließen oder abzugrenzen und auf Mitwirkung und Mitgestaltung von Festen, Feiern und anderen wichtigen, alle Bürgerinnen und Bürger betreffenden Angelegenheiten zu verzichten, schadet dem Ansehen der pädagogischen Einrichtung. Nun beteiligt oder enthält sich nicht „die Einrichtung“. Konkret sind das stets die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich so oder so verhalten. Auf sie wird im Wohnquartier geschaut. Sie repräsentieren mit ihrem Verhalten, mit ihrer Abstinenz oder ihrem Engagement den jeweiligen Kindergarten oder die Schule. Eine Erzieherin oder eine Lehrerin, die sich in einem Verein engagieren, verbinden auf diese Weise die jeweiligen Lebensbereiche Verein und Kindergarten oder Schule. Teams in denen erlebt wurde, dass Leistungen in der Gemeinde und für sie gefordert werden, ist zu empfehlen, sorgfältig das Für und Wider unter dem Gesichtspunkt einmal des Charakters der Beziehungen zwischen sich (dem Team) und Träger und Eltern und zum anderen unter dem der Förderung der Arbeit mit den Kindern zu prüfen und so in das pädagogische Konzept einzubauen, dass den Interessen aller Betroffenen genüge getan ist. Wie immer sich ein Team oder die 165 einzelne Erzieherin entscheiden, ob und in welchem Umfang sie den Erwartungen ihrer Träger und anderer sozialen Gruppen entsprechen wollen: Es ist stets ein Höchstmaß an Transparenz zu empfehlen. Auch die Erzieherinnen und Erzieher, die es vorziehen, gerade wegen der Erwartungen an ihr Engagement oder an ihre persönliche Lebensführung im Einzugsbereich der Tagesstätte, in einer anderen Gemeinde zu wohnen oder in der Anonymität einer großen Stadt „untertauchen“ möchten, ist dringend zu raten, die entsprechenden Entscheidungen offen zu legen und zu vertreten. Einsichtige Träger und Eltern werden dies respektieren. Hier noch einige Einsichten: 1. In einer Zeit, die charakterisiert ist durch Wertewandel und Erziehungsunsicherheit wachsen den pädagogischen Einrichtungen in einem Gemeinwesen bedeutsame Funktionen zu: An ihrer pädagogischen Arbeit orientieren sich die Eltern in dem Ausmaß, in denen sie ihnen Kompetenzen zutrauen und ihnen vertrauen. Schule, Kindertagesstätten und andere Jugendhilfeeinrichtungen sind bereits seit Jahrzehnten die pädagogischen Institutionen, die ebenso zuverlässig wie systematisch unsere kulturellen Eigenheiten weiterreichten. Insofern möchte ich sie als Hüter und Bewahrer unserer kulturellen Identität betrachten. Häufig verloren gegangen aber ist das Bewusstsein dieser Funktionen und das Bekenntnis zu ihnen. 2. Elternhaus und Schule – von der Grundschule bis in die letzte Klasse eines Gymnasiums! - tragen Verantwortung für die Erziehung und Bildung von Kindern. Hierbei unterstützen sie sich gegenseitig und „pflegen ihre Erziehungsgemeinschaft“, wie oben ausführlich begründet wurde. 3. Unerlässlich ist es, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer gerade im Hinblick auf zunehmende Schwierigkeiten in ihrer Arbeit nicht als pädagogische Solisten betrachten, sondern immer auch die Gesamtverantwortung der Schule für die Erziehung und Bildung der Schülerinnen und Schüler im Auge behalten und deshalb alle Möglichkeiten der kollegialen Zusammenarbeit, der gegenseitigen Unterstützung und des Erfahrungsaustausches nutzen. Gerade wenn es um Hilfen für bestimmte Schüler und/oder unterrichtliche Problemsituationen geht, sind kooperative Strategien und solidarische Haltungen wichtig. 4. Elternhaus, Jugendhilfeeinrichtung und Schule stehen in der Erfüllung ihrer jeweiligen Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Gemeinde und Kreis hierfür eingerichtete Institutionen zur Seite. Außerdem sollte, bezogen auf den Einzelfall oder auf typische Problembereiche, nach Unterstützung und Hilfe in einem Gemeinwesen Ausschau gehalten werden. Soziales Engagement kommt nicht von allein. Es bedarf der Ideen und Impulse vor Ort, um Fehlentwicklungen von Kindern vorzubeugen und Eltern und Berufserziehern in diesem Bestreben zur Seite zu stehen. 166 5. Bei der Unterstützung und Förderung der Erziehung und Bildungsaufgaben von Eltern, Kindergarten und Schule kommt allen Gruppen, die in einer Gemeinde aktiv sind, große Bedeutung zu. Im Interesse einer Überwindung der viel beklagten Isolation („Verinselung“) von Einzelnen und/oder Familien, aber auch im Interesse guter Entwicklungsbedingungen für alle Kinder sollten Erziehungsfragen nicht vom Gemeindeleben abgekoppelt werden. 6. Eine besondere Mitverantwortung tragen Bürgermeister, Gemeinde- und Pfarrgemeinderäte vor allem dann, wenn sie Träger von Kindergärten oder anderer Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen sind. Aber auch die Vereine, insbesondere die mit eigenen Nachwuchsgruppen, dürfen nicht isoliert werden bzw. nicht jedes sein eigenes Süppchen kochen wollen. 7. Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen in ein Gemeinwesen hinein zu integrieren, das heißt eben auch: Erziehung und Bildung zu einer Angelegenheit aller zu machen, die in einer Gemeinde Verantwortung tragen. Das bedeutet in der Praxis keineswegs, dass Verantwortungen verwässert und Zuständigkeiten anders verteilt werden. Es geht vielmehr darum, Erziehung und Bildung zu öffentlichen Themen werden zu lassen, um Betroffenheit und ein Gefühl der Mitverantwortung zu erreichen. Es geht damit zugleich darum, für die pädagogischen Leistungen in Familien, Kindergarten, Schule und Vereinen insofern günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, als sie akzeptiert und anerkannt und unterstützt und gefördert werden. 8. Um diese Anliegen mit Leben zu füllen, bewähren sich alle Formen der gegenseitigen Information. Vor allem Druckerzeugnisse (Gemeindeblätter, regelmäßige Informationen aus Tagesstätten und Schulen) sind geeignet, die für eine Unterstützung und Förderung der Bestrebungen von Erziehung und Bildung vor Ort notwendigen Verständnisse und Verständigungen zu erreichen. Heute bietet das Internet zusätzliche Möglichkeiten der Öffnung und des Dialogs. 9. Was sonst noch im Einzelnen dazu beigetragen werden kann, vor allem die Entscheidungsprozesse in den pädagogischen Einrichtungen darüber, wer was wie und wann tun sollte, das können nur die Beteiligten vor Ort miteinander verabreden. Ein Anfang wäre getan, wenn sich Gemeindebzw. Stadträte, Vereinsvorstände, Kindertagesstätten- und Schulleitung mit den Elternbeiräten und den Trägervertretern an einen Tisch setzten und über diese Anregungen nachdächten. Natürlich muss ein derartiges Gespräch, wenn es konstruktiv verlaufen soll, am besten mit Hilfe konkreter Vorschläge, in denen Ziele und Zwecke eindeutig erkennbar sind, von den Pädagogengruppen gut vorbereitet werden. 167 10. Das beste Vorhaben kann sich im Sande verlaufen, wenn nicht von Anfang an vereinbart wird, dass die Ergebnisse der verabredeten, schriftlich festgehaltenen Konzepte und auf welche Weise überprüft und veröffentlicht werden. Auch diese Ergebnisse müssen diskutiert werden, um mögliche Schwachstellen in den Kooperationsprozessen rechtzeitig erkennen und ihre Ursachen bearbeiten zu können. Lernmotivation und Schule Sobald wir Kinder haben und die Kinder in den Kindergarten kommen und zur Schule gehen, gelten noch andere soziale (und ungeschriebene) Gesetze als in unseren Familien. Wir müssen sagen: je weiter die individuellen Lebenseinstellungen und -Gewohnheiten in einer Familie von den Erwartungen und Bedingungen abweichen, wie sie die sozialen Gebilde in unserer Gesellschaft (Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätten) von unseren Kindern erwarten, umso schwerer wird ihnen fallen, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden; umso größer ist die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Die Probleme, die im Zusammenhang mit der Integration einiger Einwanderungsgruppen entstehen, führen uns deutlich vor Augen, was gemeint ist. Eltern und Erziehern fällt es nicht leicht, sich aus den Angelegenheiten von Kindern herauszuhalten, für die diese selbst verantwortlich gemacht werden sollten. Dies gilt ganz besonders dann, wenn es um die Schule geht, in der, wie wir am eigenen Leibe erfahren haben, so manche Weichen gestellt werden. Das Gebot der Zurückhaltung meint keineswegs, dass wir uns überhaupt nicht um die schulischen Belange kümmern sollten. Denn wenn unsere Kinder den Eindruck erhielten, uns wäre die Schule gleichgültig, dann wäre sie ihnen auch bald gleichgültig: denken wir nur an die Bedeutung vorbildlichen Verhaltens. Nein, wir sind sehr interessiert an dem, was die Kinder tun. Unter den Stichworten „Anerkennung“ und „Förderung“ fanden wir bereits einige Informationen hierzu. Schon wenn unser Kind vom Kindergarten nach Hause kommt, dann würdigen wir die mitgebrachte Zeichnung und hängen sie deutlich sichtbar auf. In der Küche einer Familie waren über der Küchentheke mehrere DIN A 4 Blätter hintereinander auf die Kacheln geklebt. Darauf war der lange Zug zu sehen, den der Sohn im Kindergarten gemalt hatte. Frühzeitig erkennen wir also die Leistungen unserer Kinder an; und zwar vorbehaltlos! Die anderen Kinder und die Geschwister werden schon genug daran herummäkeln. Selbstvertrauen gewinnt ein Mensch über die Anerkennung durch die Personen, an deren Anerkennung ihm etwas liegt. Also freuen wir uns über die Leitungsbemühungen unseres Kindes so, wie wir uns einst über sein erstes gesprochenes Wort freuten. Für die schulischen Arbeiten gilt dasselbe. Kinder freuen sich im Allgemeinen auf die Schule und sind sehr daran interessiert, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Wenn uns Eltern die ersten Schreib- und Rechenbemühungen unserer Kinder unzureichend erscheinen, dann meckern wir nicht daran herum. Alles braucht 168 seine Zeit und wenn wir Geduld, Vertrauen und stets aufmunternde Worte und Gesten haben, dann wird das Kind früher oder später alles lernen, was es in der Schule braucht, um versetzt zu werden. Ebenso selbstverständlich stehen wir bereit, wenn das Kind Hilfe braucht. Rechnen, Schreiben und Lesen können wir ja auch, also sind wir in der Lage das eine oder andere zu erklären. Erst in späteren Schuljahren wenn der Schulstoff über unseren Wissensstand hinausgeht, erklären wir unseren Kindern freimütig, dass wir das nicht können und sie sich anderweitig informieren müssen. Da gibt es Nachschlagewerke und - vor allem Klassenkameraden. Kinder, die frühzeitig gelernt haben, für ihre Arbeit selbst die Verantwortung zu übernehmen, haben zwar nicht bessere Noten als andere, denn Noten hängen nicht allein von Fleiß oder Begabung ab, wohl aber sind sie unabhängiger und selbstbewusster. In den betreffenden Familien ist die Schule nur selten ein Konfliktstoff. In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema „Nachhilfeunterricht“. Diese Unterstützungsleistungen, die in der Regel von älteren Schülerinnen und Schülern, gelegentlich auch von Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern selbst, aber inzwischen auch von gewinnorientierten Unternehmen angebotenen werden, sind sowohl sinnvoll als auch unsinnig. Sinnvoll ist Nachhilfeunterricht für unsere Kinder in folgenden Situationen: 1 2 3 wenn durch längere oder kürzere Schulausfälle, zum Beispiel durch Krankheit, Stoff nachzuholen ist, wenn sich nach einem Schulwechsel, zum Beispiel aus Anlass des Umzuges an einen neuen Wohnort, herausstellt, dass man im Unterrichtsstoff allgemein oder in bestimmten Fächern an der neuen Schule weiter vorangekommen ist, als an der alten Schule. So etwas kann vor allem beim Wechsel von einem Bundesland in ein anderes leicht vorkommen. Bei vorübergehenden Problemen in Bezug auf das Verstehen bestimmter Lerninhalte. Zu denken ist da zum Beispiel daran, dass einem Kind der Zugang zu typischen Strukturen eines Wissensbereichs schwer fällt. Es kann vorkommen, dass ein in sprachlichen Bereichen begabtes Kind - es liest gern und gut - in mathematischen Verständnisschwierigkeiten hat oder umgekehrt. Ist in derartigen Fällen durch eine hierfür kompetente schulpädagogische Instanz wie Beratungslehrer/innen oder eine Bildungsberatungsstelle, festgestellt worden, dass eine Förderung über einen begrenzten Zeitraum hinweg hilfreich sein wird, dann hat eine für dieses Kind und auf sein spezielles Verständnisproblem hin abgestimmte Fördermaßnahme ihren Sinn. Unsinnig bis unverantwortlich sind alle Bemühungen von Seiten der Eltern, ihr Kind mit Hilfe von Nachhilfeunterricht zu schulischen Leistungen zu führen oder ihr Kind in bestimmten Schulen zu halten, die das Kind von seiner geistigen Entwicklung und/oder seinen Interessen und/oder seiner Begabung her nicht oder nur sehr mühsam erbringt. Auch sogenannte Hausaufgabenkreise dienen 169 eigentlich nur jenen Eltern, die sich selbst um die schulischen Angelegenheiten ihrer Kinder nicht in dem oben vorgetragenen Verständnis kümmern können oder wollen. Gelegentlich bieten aber außerschulische Förderoder Nachhilfeeinrichtungen, meist von privaten Unternehmen betrieben, mehr als die staatliche Schule. Das gilt besonders in all jenen Institutionen, in denen sowohl die technische Ausstattung als auch die fachliche und persönliche Kompetenz der Lehrpersonen denen an öffentlichen Schulen überlegen ist. Dann könnte ein Besuch derartiger Bildungseinrichtungen zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für das staatliche Schulwesen heranwachsen. Auf das einzelne Kind gesehen, muss das kein Schaden sein, wenn es dadurch Erfolge erlebt, die es sonst in der Schule nicht hatte. Es muss aber auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse aus der Leistungsmotivationsforschung davon ausgegangen werden, dass keine Hilfe sinnvoll und nützlich ist, die nicht zu einem intrinsischen, also von innen heraus kommenden, Interesse des Kindes am Lernen führt32. Kindern Eltern und älteren Kindern geht es möglicher Weise nur darum, das Klassen- oder Schulziel zu erreichen, ganz egal, ob ein Kind dabei etwas begriffen hat von dem was es gepaukt hat oder nicht. Eltern und Lehrer bedauern dann gelegentlich, dass Kinder um der Zensuren willen lernen und eigentlich wenig an den Unterrichtsinhalten interessiert sind. Sie lernen zwar ein Gedicht - doch die Botschaft der Verse erreicht sie nicht. Was diese Kinder zum Auswendiglernen motiviert, ist die Zeugnisnote bis hin zum Notendurchschnitt im Abschlusszeugnis. Das heißt also: nicht für das Leben, sondern für die Noten wird gelernt. Günstigenfalls werden nur die Unterrichtsinhalte behalten, die in Neigungsfächern vermittelt werden. Dass das so ist, können wir unseren Kindern nicht anlasten. Sowohl unser Schulsystem als auch unser Berechtigungswesen wie die Zugänge zu Ausbildung und Studium nötigen uns und unsere Kinder zu einem derartigen Verhalten. Eine gute Schule? „Ist das eine gute Schule?“ fragte mich 2011 eine Mutter aus Berlin und übersandte mir einen Prospekt dieser Schule. Hier ein Auszug aus meiner Stellungnahme: „…Die Grundkonzeption dieser Schule, die nach eigener Darstellung von den Ideen Peter Petersens, Paolo Freires oder Maria Montessoris ausgeht, ist recht sympathisch. Die konzeptionellen Vorstellungen der Initiatoren einer Schule müssen aber nicht immer auch mit der Praxis übereinstimmen. Der pädagogische Alltag wird bestimmt - von den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und deren jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften, ihren fachlichen Kompetenzen - zu denen nicht zuletzt ihr Interesse an der Arbeit mit Kindern gehört – - von den Eltern und deren Menschenbildern und Erwartungen an die eigenen Kinder und an die Schule und - natürlich von den Kindern, von deren Eigenheiten und Motiven. 170 Befindet sich unter den Kindern einer Schule ein besonders hoher Ausländeranteil und unter diesem Kinder aus Familien, die es ablehnen, sich mit unserer Sprache und Kultur anzufreunden, wie es zum Beispiel in bestimmten Schulen im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg der Fall ist, dann dürfen in einer Klasse höchstens zwölf Kinder sein oder es müssen zwei pädagogische Fachkräfte die betreffende Klassengruppe betreuen. Um einen Eindruck darüber zu gewinnen, wie die Realität des Schullebens an dieser Schule aussieht, würde ich Kontakt mit Eltern aufnehmen, die ihre Kinder bereits in dieser Schule haben und mich mit ihnen unterhalten. Vor allem würde ich herauszufinden suchen, ob ihr Kind gerne hingeht, sich auf die Lehrer, den Unterricht, die Freizeitgestaltung, das Essen freut und gern mit den anderen Kindern Kontakt hält. Der Austausch mit den anderen Kindern (zum Beispiel Geburtstagseinladungen, gegenseitige Besuche) und mit jenen Eltern, mit denen man sich gut versteht wird auch später, wenn Ihr Kind zur Schule geht, wichtig. Nicht verzichten sollten Sie darauf, einen Blick in die sanitären Einrichtungen zu werfen und zugleich ihren Geruchssinn zu aktivieren. Auch dort sollte sich Ihr Kind wohlfühlen dürfen und nicht, wie mein siebenjähriger Neffe, die Schultoilette meiden, weil es dort so stinkt und unsauber ist. Gewiss, das sind dann alles subjektive, eher atmosphärische Eindrücke oder Bewertungen. Wenn aber dadurch erreicht werden kann, dass Sie als Eltern eine gefühlsmäßig positive Einstellung zu der von Ihnen gewählten Schule bekommt, dann überträgt sich dies auf Klaus und kann seine Freude auf die Schule verstärken und später erhalten…“ Die Beteiligung der Eltern am Schulleben ist hochbedeutsam. Insofern wird also zum wiederholten Male auf die Grundbedingung eines optimalen Zusammenwirkens aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten hingewiesen. Während an staatlichen Schulen Eltern sich in der Regel nur als gewählte Elternbeiräte ins Spiel bringen können, bieten Schulen in privater Trägerschaft, in unserem Raum sind das in der Regel die Waldorfschulen, den Eltern an, mitzuwirken. An diesen Schulen sind Eltern sogar verpflichtet sich einige Stunden im Monat einzubringen. Wenn sich Elternbeteiligung nicht darauf beschränkt, das Frühstück zuzubereiten oder die Schulräume zu putzen, sondern Eltern ermöglicht: - sich im Freizeitbereich einzubringen, - gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften in entsprechende Gremien laufend über die pädagogische Praxis nachzudenken, 171 - an der Weiterentwicklung der pädagogischen Konzeption mitzuwirken, - je nach Talent und Interesse musische Angeboten mitzugestalten dann wäre das ein großer Schritt in die Richtung einer Schulgemeinde. Allerdings kostet ein derartiges Elternengagement Zeit und Kraft. Und wenn man sich vor Augen hält, dass ja der Besuch einer privaten Schule recht teuer sein kann, dann muss die Schule schon die Gewähr dafür bieten, dass ein Kind sich darin wohl fühlt. Und genau darauf kommt es an: Ein Kind muss sich wirklich wohl fühlen. Das heißt, dass die Lehrer es gern haben, annehmen, akzeptieren und als eigene Persönlichkeit achten. Das Kind sollte nicht das Gefühl (oder gar das Wissen) haben, dass es dem schulischen Ehrgeiz der Eltern oder gar deren Wunschvorstellungen (mein Kind soll einmal… werden) dient. Jedes Kind, so ist bereits ausgeführt worden, ist begierig zu lernen: neue Erfahrungen zu machen, alles auszuprobieren, sich eigenständig und kreativ mit den vielen Angeboten auseinanderzusetzen, die der Alltag vom Morgen bis zum Abend anbietet. Und genau an diesen natürlichen Drang knüpfen Pädagogen ja auch an. Und wir Eltern erfüllen diesen Wunsch, wenn wir unserem Kind genau dies ermöglichen und ihm die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, auf seine eigene Weise, die Welt zu erkunden, Gestalten, Lesen, Rechnen zu lernen oder auch fremde Sprachen. Ich möchte abschließend noch einmal darauf hinweisen, dass der Besuch einer öffentlichen Schule unter den genannten Voraussetzungen genauso erfolgreich sein kann, wie der einer privaten Schule. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht oder nicht optimal, dann kann ein Kind das in der Regel gut kompensieren. Zwei Beispiele: Ich habe da einen Vater vor Augen, dem die Lehrer nie etwas recht machen konnten. Er schimpfte lauthals daheim und in der Öffentlichkeit über die Unfähigkeit der Lehrer und ließ kein gutes Haar an den Schulen, die seine vier Söhne besuchten. Diese vier haben inzwischen öffentliche Grundschule und Gymnasien mit Erfolg abgeschlossen, studieren längst an verschiedenen Universitäten an ebenso verschiedenen Fakultäten mit der gleichen Bravour, mit der sie durch die Schulen gingen, von denen ihr Vater nichts hielt. Die von mir angedeuteten „Kompensationsleistungen“ erbrachten die Mutter und die Söhne selbst - je älter sie wurden, umso mehr. Zwei Kinder lernte ich in den vergangenen Jahren kennen, denen die jeweiligen Fachkräfte bei der Einschulung eine nur beschränkte Bildungsfähigkeit testierten. Beide, ein Mädchen und ein Junge, kamen auf Sonderschulen. Das Mädchen war neun, der Junge vierzehn Jahre alt, als die Sonderschullehrer feststellten, dass sie doch begabter waren, als es bei der Einschulung festgestellt worden war. Beide schlossen die Hauptschule 172 ebenso mit Erfolg ab, wie die darauf aufbauenden praktischen und theoretischen Ausbildungsgänge. Beide besitzen inzwischen Hochschulabschlüsse und sind erfolgreich in ihren Berufen. Der Junge ist mittlerweile selbst stolzer Vater zweier Kinder, die mit der Schule keine Probleme haben. Und ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es umgekehrt ebenfalls gut gehen kann: Es war ein zähes und langwieriges Ringen mit den Eltern, sie davon zu überzeugen, dass ihre Tochter, die inzwischen bis in die dritte Klasse gekommen war, besser in einer Sonderschule aufgehoben sei. Die Eltern hatten gegenüber der Klassenlehrerin der staatlichen Grundschule uneinsichtig gezeigt und sich bereits gegen Ende des zweiten Schuljahres (Ende der Grundschuleingangsstufe) gegen ein Sonderschulverfahren gestemmt. Endlich hatte es die Lehrerin geschafft und in zahlreichen Gesprächen die Eltern zu einer Zustimmung bewogen. Seither sind zwanzig Jahre ins Land gegangen. Befreit vom Druck der „normalen„ Schule und ihren Leistungszwängen und Notendruck, konnte das Mädchen in der kleinen Gruppe der Sonderschule und bei individuellerer Zuwendung durch die Lehrer, ihr Potenzial entfalten. Sie beendete den Besuch der Sonderschule mit einem Hauptschulabschluss, machte eine kaufmännische Lehre und blieb bis zur Gründung einer eigenen Familie erfolgreich im Beruf. Und die Mutter? Sie erklärte der inzwischen pensionierten ehemaligen Klassenlehrerin des Mädchens: „Es war doch gut, das mit der Sonderschule… sie hat einfach mehr Zeit gebraucht“. Diese Beispiele nehme ich als einen Beleg dafür, dass auch dann, wenn nicht alle Rahmenbedingungen für eine optimale Entwicklung eines Kindes stimmen, keineswegs die Flinte ins Korn geworfen werden muss. Die guten Kräfte in einem Kind – so möchte ich das einmal aus meiner Erfahrung heraus sagen – setzen sich durch, wenn seine Grundbedürfnisse, vor allem im frühen Kindesalter, befriedigt wurden. Vor allen anderen aber sind wir Eltern aufgerufen, auf unser Kind voll Optimismus zu schauen und Vertrauen in seine Fähigkeiten haben, sein Leben selbst zu meistern. Die Schule ist hierbei zwar ein unverzichtbarer, aber ein nicht zu überschätzender Zwischenschritt. Bewährte Haltungen und Strategien Einige Haltungen und Strategien, die sich in Familie, Kindertagesstätte und Schule bewährt haben, sollen dieses Kapitel über das Lernen abschließen. Die Abschnittsüberschriften sind uns bereits vertraut, da sie auf das deuten, was wir als Bedürfnisse von Kindern im ersten Kapitel und als Lernbedingungen in den vergangenen Abschnitten kennen lernten. Nun werden wir diese Aussagen mit dem 173 Blick auf die Förderung des Lernens und der Leistungsbereitschaft ergänzen und vertiefen. 1. Zuerst das Kind Wenn wir nach günstigen oder schädlichen Bedingungen für inner- und außerschulische Lernprozesse fragen, haben wir – Eltern, Erzieher und Lehrer - stets von unseren Kindern und deren Bedürfnisse auszugehen. Schaffen wir das nicht, sondern räumen unseren eigenen (Erwachsenen-) Bedürfnissen Priorität ein, brauchen wir uns über Ursachen von Lernschwierigkeiten weiter keine Gedanken zu machen. Es gilt folgende Erfahrung: Je mehr Eltern und andere an der Erziehung von Kindern Beteiligten mit sich selbst, gemeint ist mit ihrer materiellen Situation oder ihrer seelischen oder körperlichen Verfassung .u. a. m. zu tun haben, umso größer wird die Gefahr, dass die Energien, die für Pflege, Fürsorge, Erziehung und Bildung eines Kindes gebraucht werden, nicht ausreichen, und umso wahrscheinlicher werden die Schwierigkeiten in der Entwicklung von Kindern zunehmen. In derartigen Fällen brauchen in erster Linie die Erziehenden (die Eltern oder die Lehrer) Hilfe. Darum richtet sich der Blick zuerst auf uns selbst, wenn unsere Kinder Probleme mit der Schule haben. 2. Wir interessieren uns Vom ersten Schultag an interessieren wir uns für alles, was mit der Schule zusammenhängt. Ist für uns wichtig, was uns unser Kind aus der Schule zu berichten hat, dann behält es auch für das Kind seine Bedeutung. Wir freuen uns über seine Fortschritte beim Lesen, Schreiben oder Rechnen und mäkeln nicht daran herum. Wenn wir zweifeln, ob das denn so richtig und gut sein kann, was das Kind tut, dann gehen wir erst einmal zur Lehrerin oder zum Lehrer und fragen dort nach. Im Regelfalle erzählen die Lehrer gerade der Anfangsklassen in der Grundschule an Elternabenden ganz genau, was die Kinder wie lernen werden und worauf Eltern achten sollten. Man kann nicht alles behalten. Vor allem, wenn man nichts zum Mitschreiben dabei hatte. Also ist es besser, wenn man sich vergewissert und nachfragt, wenn man dem Kind nicht glaubt. Denn unser Kind erklärt uns bestimmt: "Das habe ich so gelernt. Das muss ich so machen, hat die Lehrerin gesagt." Eines dürfte ganz sicher sein: Das was wir gelernt haben und so, wie wir gelernt haben, dass gilt bei unseren Kindern nicht mehr. Je länger unsere Schulzeit zurückliegt, umso weniger. Eltern sollten aufmerksam verfolgen, was das Kind an neuem Wissen oder Wissensbruchstücken aus der Schule mit heimbringt. In den Elternversammlungen erzählen uns die engagierten Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern auch, was sie vorhaben und wie wir Eltern unseren Kindern helfen können. Nehmen wir an, die Mondphasen oder der nächtliche Sternenhimmel sind Unterrichtsgegenstände. Das kann bereits in der ersten Klasse so sein. Schulunterricht aber ist vormittags. Da 174 kann man Mond und Sterne nicht zeigen. Die Eltern aber können das tun und sich mit ihrem Kind an einem sternklaren Abend ans Fenster stellen und ihnen die Schönheit des Himmels zeigen. Und das können alle Eltern tun, ganz gleich, wo und wie sie wohnen. So gibt es unendlich viele und täglich neue Themen, Gegenstände, Begebenheiten - die meisten erscheinen uns Erwachsene angesichts unserer eigenen aktuellen Lebensthemen ganz klein und nebensächlich - die von unseren Kindern an uns herangetragen werden und die wir, gleichsam als ergänzende Anregung an unsere Kinder zurückreichen. Die Kinder haben in der Schule Papier gefaltet: nun falten wir mit ihnen Papier oder regen entsprechende Aktivitäten an. Die Kinder haben etwas von Brüchen gehört: die nächste Tafel Schokolade lassen wir von unserem Kind aufteilen oder es darf helfen Backzutaten auszuwiegen oder überhaupt mit der Küchenwaage experimentieren, wenn es ums Zählen und Messen geht. Der Alltag bietet vielfältige Erfahrungsräume und unsere Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer helfen uns, sie zu entdecken. Aber auch vielfältige andere Unternehmungen und Aktivitäten weiten den Erfahrungshorizont unserer Kinder: Reisen und Wanderungen mit den Eltern, sportliche Aktivitäten, ein Instrument spielen, selber Einkaufen dürfen, und spielen, spielen, spielen. 3. Wir stärken die Eigenverantwortung Wir haben Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu selbstständigem Handeln, das heißt, Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie für ihre Leistungen im Guten wie im Schlechten selbst verantwortlich sind. Natürlich dürfen wir dieses Gebot nicht so auffassen, als müssten wir unsere Kinder sich selbst überlassen. Aber zwischen einem anteilnehmenden, ermunterndem Begleiten kindlicher Bemühungen und einer gleichsam gleichgültigen achselzuckenden Haltung: das ist Deine Sache/Dein Problem, besteht ein beträchtlicher Unterschied. Natürlich fällt es den Kindern nicht immer leicht, ihre Hausaufgaben gut und vollständig zu machen. Sollen wir dann eingreifen und womöglich "Terror machen"? Gegenfrage: Haben bei uns Zorn und Gewalt, Verbot oder Strafe je die Leistungsbereitschaft gefördert und das Gefühl von Eigenverantwortung gestärkt? Nur wenn wir bei unserem Kind erfahren haben, dass es unter "Druck" gern lernt und das, was es lernt auch erfolgreich anwenden kann, dann bleiben wir dabei, denn dann ist dieses Verhalten das "Rezept" das unserem Kind hilft. Natürlich geht nicht immer alles glatt! Wir alle wissen von Kindern, die im Zusammenhang mit schulischem Arbeiten lügen oder gar Hausaufgaben "unterschlagen". Machen wir keine Staatsaktion daraus und verschlimmern die Angelegenheit. Vertrauen, wenn es denn echt und ganz tief mit der Liebe zu unserem Kind verwoben ist, hilft ihm mehr, als jede Bestrafung oder gar Bloßstellungen. Eltern und Lehrer haben gerade bei derartigen Anlässen genau hinzuschauen: sowohl in den Spiegel als auch auf das Kind. Wir müssen uns zum Beispiel fragen, ob wir die guten Eigenschaften und Fähigkeiten zu eigener Verantwortung stets angemessen gewürdigt haben oder ob wir nicht der Versuchung erlagen, die positiven Bemühungen unseres Kindes für selbstverständlich genommen zu haben. Hier gleichen wir Eltern gelegentlich jenen Vorgesetzten am Arbeitsplatz, die gute 175 Leistungen ihrer Mitarbeiter gleichgültig zur Kenntnis nehmen und nur dann Anteilnahme zeigen, wenn etwas schief gelaufen ist. Es verletzt uns als Arbeitnehmer dann sehr, wenn bei einem Fehler, der uns unterlief, die oft jahrelange fehlerfreie Arbeit keine Rolle zu spielen scheint. Unseren Kindern geht es in derartigen Situationen nicht anders als uns. 4. Wir setzen Grenzen Je selbstverständlicher von Anfang an die Pflichten für die Schule und das System der eigenen Verantwortung hierfür in den Familienalltag integriert sind, umso geringer wird die Mühe sein, mit der wir gelegentlicher Unlust unserer Kinder begegnen müssen. Haben wir gelernt "nein" zu sagen und, unserer Überzeugung nach, ungerechtfertigte Begehren von Kindern stets zurückgewiesen, so wird es uns auch in Fällen von Arbeitsverweigerungen leichter fallen, auf die Einhaltung der Norm: "Hausaufgaben sind Pflichten" zu achten und sie durchzusetzen. Hausaufgaben stellen zum Beispiel ein Verbindungsglied zwischen Elternhaus und Schule dar. An der Art und Weise der Erledigung der Hausaufgaben orientiert sich der Lehrer bei seinem Bild über die Interesse des Kindes und die Haltung und Einstellung der Eltern der Schule gegenüber. Wir setzen darum unsere Grenzen beziehungsweise verwirklichen unseren Anspruch auf Eigenverantwortung im Konfliktfalle sinnvoller Weise in einer vertrauensvollen Abstimmung mit dem Lehrer. Ganz besonders gilt in derartigen Situationen, dass wir unser Kind daran beteiligen und nicht über seinen Kopf hinweg oder hinter seinem Rücken mit dem Lehrer kungeln. Zornes- und Wutausbrüche von Seiten der Eltern sind ungeeignet, ein Kind zum Arbeiten zu bewegen. 5. Wir helfen Hilfe und Zuspruch gewähren wir unseren Kindern, wenn wir mit ihnen traurig darüber sind, wenn mal eine Arbeit nicht so gut ausfiel, wenn sie selbst enttäuscht darüber sind, weil sie meinen, versagt zu haben. Da jedes Kind in dieser Situation genug an sich selbst zweifelt und leidet, setzen wir nicht noch durch unsere Vorwürfe oder gar Strafen eins drauf. Wir vertrauen unserem Kind, dass es das nächste Mal sicher besser wird. Und wenn es sein muss, wird es noch manch "nächste Male" geben, auf die wir unser Kind vertrösten. Wie bereits erwähnt, reden wir am besten selbst mit ihm darüber, wie wir ihm am besten helfen können und fragen bei der Gelegenheit, ob es ihm recht wäre, wenn wir auch mal den Lehrer um Rat fragen. Je älter ein Kind ist, umso weniger wird es Verständnis dafür haben, wenn wir hinter seinem Rücken Kontakt mit der Schule aufnehmen. Die beste Hilfe wäre in dieser Beziehung, wenn wir uns vom ersten Schultag an um eine vertrauensvolle, offene und gleichsam selbstverständliche Beziehung zur Schule bzw. zu den Lehrern bemühen. Ohne Scheu und Misstrauen sollten wir über die gegenseitigen Erwartungen sprechen. Dann entsteht bei unseren Kindern gar nicht erst der Eindruck, dass wir Eltern uns nur dann in der Schule blicken lassen, wenn es klemmt. Es gibt immer etwas, worüber wir mit Lehrern reden können: Zum Beispiel darüber, was wir in der Familien über die Hausaufgaben festgestellt haben. 176 6. Wir haben Geduld Unsere Geduld beziehungsweise Zeit braucht unser Kind besonders dann, wenn es nicht immer gleich alles versteht, was in der Schule vermittelt wird. Nicht alle Kinder sind gleich und können im gleichen Alter das Gleiche. Eines kann früher Laufen, Sprechen, Schwimmen, Radfahren ... das andere später. Eines ist mit fünf Jahren eigentlich schon "reif" für die Schule, ein anderes mit sieben Jahren noch nicht oder nicht in allen Teilen. Entwicklungsunterschiede sind das natürlichste von der Welt und liegen nicht in der Verantwortung (Schuld) von Kindern. Ebenso durchschaut ein Kind einen Rechenprozess früher, das andere später oder das eine Kind braucht länger für die Erledigung einer Aufgabe, das andere Kind arbeitet schneller. Nicht an jedem Tag haben die Kinder auch besondere Lust zum Arbeiten. Auch dann haben wir Geduld und lassen den Kindern Zeit. Wir brauchen ja nur daran zu denken, dass es uns auch nicht anders geht. Und genauso wie uns niemand die nun einmal notwendigen Arbeiten abnimmt, ist das Kind darauf angewiesen, irgendwann seine Arbeit selbst zu Ende zu bringen. Und das tut es auch - wenn wir nicht hektisch und voller Ungeduld um es herumspringen. 7. Wir erkennen an Was sollten wir an Leistungen und wie anerkennen? Schenken wir unserem Kind ein neues Fahrrad für ein gutes Zeugnis oder zahlen wir für eine gute Note einen bestimmten Betrag? Sicher freut sich unser Kind auch über gemeinsame Unternehmungen und andere Formen der Zuwendung. Bei außergewöhnlichen Ergebnissen als Folgen intensiver und anstrengender Arbeit können für das Kind attraktive Belohnungen zu weiterem Fleiß anspornen. Dass diese Formen des Lobes, der Anerkennung und der Ermutigung schon lange bekannt – leider aber viel zu wenig in der Praxis angewandt wurden – das zeigt uns das Werk des Tschechen Johann Amos Comenius. Er empfahl bereits in seiner 1657 erschienenen „Großen Didaktik“ den Eltern, sie sollten „...ihren Kindern ... schöne Bücher, Kleider oder sonst etwas Hübsches versprechen, wenn sie sie zum Fleiß ermahnen...“ (1985, S. 99). Da brauchen wir heute nur noch zu ergänzen und feststellen, dass wir dann die Lernmotivation unterstützen, wenn wir in erster Linie des Kindes Bemühungen anerkennen und nicht allein die Ergebnisse - also die Schulnoten! Wie können wir das tun? Von früh an, also bereits im Kindergartenalter, ihre Hervorbringungen, also das, was sie selbst geschaffen haben, anerkennen und zwar ohne heuchlerische Übertreibungen; ein anerkennendes Kopfnicken reicht oft aus. Auf diese Weise erleben die Kinder ohne viel Gerede, dass sie uns etwas wert sind, dass wir sie als Person anerkennen und ernst nehmen. Das gilt besonders dann, wenn es um das Vertrauen in ihre guten Fähigkeiten und Eigenschaften geht. Dieses Vertrauen und Zutrauen bewährt sich gerade dann, wenn wir um Hilfe gebeten werden. Der vierzehnjährige Walter bat gelegentlich seine Mutter, ihm bei den Mathehausaufgaben zu helfen. Doch unwirsch reagierte er, wenn sie sich anschickte, ihn auf Lösungswege aufmerksam zu machen. Er wollte Lösungen gesagt haben, nicht selber rechnen. Gerade in dieser Situation, wenn Walter verärgert seiner 177 Mutter den Rücken zukehrt und sich über sein Heft beugt, wäre es im Sinne von Ermutigung und Anerkennung sicher zweckmäßiger, Mut zuzusprechen und nicht, sich selbst nun verärgert abzuwenden und den Jungen sich selbst zu überlassen. 8. Wir geben Platz und Raum Es soll Kinder geben, die können ganz gut auf einer freigeräumten Ecke des Küchentisches ihre Hausaufgaben machen, wenn nur die Mutter um sie herum ist. Wenn das so klappt, ist nichts dagegen einzuwenden. Alles, was unserem Kind hilft, selbstständig und gut zu arbeiten, ist in Ordnung. Nicht unsere Maßstäbe sollten wir dabei anlegen, sondern auf das Kind achten. Natürlich darf kein Fernsehen nebenher laufen. Auch zu viel ablenkende Aktivitäten (zum Beispiel spielende kleinere Geschwister) können die nötige Konzentration behindern. Wir bieten darum unseren Kindern eine ruhige Ecke oder Nische an, vielleicht sogar ein eigenes Zimmer mit einem Arbeitsplatz. Es fördert Konzentration und Motivation, wenn es "seinen" Arbeitsplatz hat, wo es verlässlich "seine" Arbeitsmaterialien vorfindet beziehungsweise aufbewahren kann. In vielen Wohnungen drängt sich der Eindruck auf, dass die Einrichtung in erster Linie auf die Bedürfnisse der Erwachsenen zugeschnitten und für Kinder kaum Platz ist. Schulkinder aber brauchen "ihren" Arbeitsplatz in der Schule genauso wie zuhause. Bei gutem Willen, lässt sich auch unter beengten räumlichen Verhältnissen ein "Kinderbereich" schaffen. Je älter Kinder werden, umso wichtiger werden derartige Arbeits-Inseln. Sie sind Rückzugsräume, die der Konzentration aber auch dem Wunsch nach ungestörtem Arbeiten (aber auch: Träumen, Spielen, Basteln u.a.m.) dienen. Manchen Kindern hilft es, wenn sie Musik hören beim Rechnen. Reden wir ihnen nicht hinein, solange es keine ernsthaften Probleme gibt. Wenn Schulschwierigkeiten auftauchen, werden auch diese Rahmenbedingungen in unsere Gespräche mit dem Kind einbezogen und geprüft. Auf diese Weise können wir Grundlagen schaffen, sozusagen das Fundament errichten helfen, auf das unser Kind sein Leben zunehmend eigenständiger aufbaut. Staat und Gesellschaft, und das sei an dieser Stelle besonders betont, haben den verfassungsmäßigen Auftrag, uns Eltern zu unterstützen und zu helfen. Finanzielle Unterstützungsleistungen können nur ein Teil sein. Ebenso bedeutsam, wenn nicht sogar wertvoller, sind Anerkennung elterlicher Erziehungsleistungen und die Hilfe hierfür durch Aufklärung und Information. Die Einrichtungen der Jugendhilfe und die Schulen mit ihrem pädagogischen Fachpersonal sind gerade im Zusammenhang mit dieser Aufgabe die Partner der Eltern. Wir sollten im Interesse unserer Kinder diese Partnerschaft sehr ernst nehmen und verantwortlich ausgestalten und sie in einer guten, auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Achtung beruhenden Beziehung verwirklichen. Eine gute Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und den anderen pädagogischen Fachkräften ist eine günstige Voraussetzung für eine erfolgversprechende Schullaufbahn und eine verantwortungsvolle Pflicht - für die Partner in Erziehung und Bildung. 178 10 Unsere Kinder und die elektronischen Medien Einführung Was dürfen wir Erwachsenen Kindern an elektronischen Medien zumuten? Wie geht man mit Fernsehen, Video, Computern oder Smartphone in einer für die Entwicklung unserer Kinder förderlichen Weise um? Diese und viele andere Fragen treiben uns Eltern und Berufserzieher um, seit es diese Medien gibt. Diese Fragen würden sich nicht stellen, wenn Heranwachsende kein Interesse hätten an dem, was auf dem Bildschirmen zu sehen ist oder was mit Hilfe entsprechender Programme alles gemacht werden kann. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wir wissen zwar, dass ein Kind von Natur aus ein aktiver Erkunder und kein passiver Empfänger ist, wie bereits oben unter den „Grundbedürfnissen" (vgl. S. 16) festge halten wurde,. Dennoch können Kinder viele Stunden vor dem Bildschirm hocken und sich anschauen, was es da zu sehen gibt, selbst wenn sie das, was sie sehen, von ihrem Alter her noch nicht einmal verstehen können. Wer seine Kinder vor dem Bildschirm anbindet, so hieß es bereits vor dreißig Jahren, schadet ihrer Entwicklung. Allein der mit diesen Gewohnheiten verbundene Bewegungsmangel, der für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung so notwendig ist, führt gegenwärtig bei Kindern zunehmend zu chronischen Krankheiten und psychischen Störungen (Horst Hackauf und Heike Ohlbrecht 2013, S. 6). Für alle, die derartige Schäden vermeiden möchten, hat Manfred Spitzer, der viel darüber schrieb, eine radikale Empfehlung: Fernsehgeräte wegstellen und den Zugang zu elektronischem "Spielzeug" unmöglich machen. So radikal sich das ausnimmt, so richtig ist die Empfehlung. Richtig ist sie, wenn wir uns vor Augen halten, dass ein Kind nur im sozialen Verband einer Familie gedeihen kann, denn es braucht die ständigen Austausch mit seinen erwachsenen Bezugspersonen, mit seinen Geschwistern und mit anderen Kindern so, wie die Nahrung, die Luft oder die Bewegung. Dieser ständige Austausch ist die Voraussetzung und der ständiger Begleiter aller Lernprozesse. Der angeborene "Trieb" zur Nachahmung ist, wie bereits ausgeführt, ein entscheidender Motor der Entwicklung. Aus dieser Erkenntnis heraus sagt also Manfred Spitzer zu Recht, wenn ein Kind in einer Umgebung heranwächst, in der es die elektronischen Geräte gar nicht gibt oder in seiner Gegenwart nicht benutzt werden, käme es gar nicht auf die Idee, sie selbst benutzen zu wollen. Diese Erkenntnis ist so alt, wie Eltern über Erziehung nachdenken: 179 Wer will, dass sein Kind etwas tut oder lässt, geht mit gutem Beispiel voran. Und wer nicht will, dass Kinder im Familienalltag durch Fernsehen in ihrer Entwicklung behindert werden, schaltet diese Geräte gar nicht erst ein. Allerdings, und diese Feststellung muss angesichts unserer, der Erwachsenen, Nutzung von Handys, Smartphones oder Computern getroffen werden, ist es illusorisch geworden, von Kindern die elektronischen Medien fern zu halten oder gar deren Gebrauch generell zu untersagen. Unsere Lebensrealität sieht anders aus33. Stattdessen brauchen wir Auskünfte darüber, ob und wie eine für die Entwicklung unserer Kinder sinnvolle Verwendung dieser Geräte gesucht werden. Elektronische Medien und Erziehung Wie immer, wenn sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, neue Medien herausbildeten, gab es nicht wenige maßgebliche Kreise in Kultur und Politik, die Gefahren heraufbeschworen und sogar das Ende der Kultur voraussahen (Bruno Bettelheim 1998, S. 4-5). Über die erwarteten Gefährdungen schrieb Joseph Weizenbaum zum Beispiel, dass die größte Gefahr für den Menschen darin bestehe, sich selbst als Maschine zu verstehen oder gar den Computer personifizieren und zu ihm eine emotionale Beziehung herstellen. Unversehens schleichen sich auch in der Umgangssprache Begriffe aus der Computerwelt ein, wie "abspeichern" oder "falsch oder richtig programmiert sein". Dass eine Kind zu seinem Smartphone ähnliche Beziehungen heranbilden, wie einst zu seiner Puppe oder seinem Teddybär, das berichtete die US-amerikanische Wissenschaftssoziologin Sherry Turkle (Bd. Ztg. 05.08.2013, S. 19): „Mit ihm fühle ich mich gut, ich nehme es mit ins Bett, es fühlt sich fast an, wie ein Teil des Körpers, es macht mich quasi zu einem Maschinenmenschen“. Noch lässt sich diese Erfahrung nicht verallgemeinern. Die bereits von Weizenbaum befürchteten Folgen sind bisher ausgeblieben. Kinder ab der Grundschuleingangsstufe benutzen Computer – und mit diesem vertrauten Begriff sind hier zugleich auch i-Phones, Tabletts u. ä. angesprochen - als Werkzeug, also ein Ding, mit dem sie viel machen können. Man kann damit schreiben, malen, gestalten, rechnen oder spielen. Ein Computer ist also für Kinder ein interaktives Spielzeug, vor dessen Bildschirm man nicht nur mehr oder weniger passiv schauend sitzt (Daniela Braun, Freiburg 2000). Unbefangen gehen sie an die Geräte heran und finden sich, sich selbst überlassen, bald zurecht. Natürlich schauen wir Erwachsenen ihnen mit Interesse und Verantwortung über die Schulter. Ein von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern begleiteter Einsatz dieses Mediums verringert zum Beispiel Gefahren, die im Umgang mit Computern für die Persönlichkeitsentwicklung bisher vermutet wurden. Stattdessen können unsere Kinder erfahren, dass Computer auch sinnvolle Betätigungen anbieten. Hierbei ist vor allem an den Einsatz von Lernprogrammen oder solche Spielprogramme oder Filme zu denken, die sowohl unterhaltsam als auch lehrreich sind. 180 Schauen wir noch einmal auf die Einflüsse, die auf ein Kind aus den sozialen Gruppen, in denen es heranwächst, einwirken. Es ist leichter, ein Kind an die Musik heranzuführen oder gar an ein Musikinstrument, wenn die für das Kind wichtigen Bezugspersonen selbst musizieren. Gleiches gilt für alle anderen Tätigkeiten oder Unterlassungen in der sozialen Umwelt. Und je kleiner Kinder sind, umso "prägender" können die frühen Erfahrungen sein. Kürzlich schenkte zum Beispiel ein Vater seiner vierjährigen Tochter sein I-Phone, weil er sich ein aktuelleres, leistungsfähigeres Gerät angeschafft hatte. Dieses Mädchen war keineswegs erstaunt, sondern fuhr mit seinen Fingern über den kleinen Bildschirm hin und her und holte sich die Bilder, die es für sehenswert hielt. Insofern ahmte sie lediglich das Verhalten ihrer Eltern nach, denn auch die Mutter hatte stets so ein Gerät bei sich und kommunizierte unter anderem ständig mit ihrem Mann mit Hilfe dieses Minicomputers oder fotografierte ihre Kinder u. v. a. m. Dass unsere Kinder andere "alternative" Wege gehen, sie ausprobieren und sich möglicher Weise ganz anders entscheiden, als wir Eltern es vorleben, das lernen wir spätestens in der Pubertät unserer Heranwachsenden kennen. Und Manfred Spitzer meint dazu auch, dass es später, also in Entwicklungsphasen, in denen ein Kind rationeller mit der kritischen Kraft seines Verstandes mit elektronischen Medien umgeht, weniger Schaden nehmen wird. Ob sich diese Meinung bestätigen wird und auf welche Weise, das müsste die Zukunft erweisen. Ich neige dazu, die jüngste Entwicklung in diesem Bereich unseres beruflichen und privaten Alltags als eine „Revolution“ zu betrachten. Und in dieser Phase einer schier unendlicher Fülle neuer Kommunikationsmöglichkeiten in Schule, Beruf und Freizeit brauchen unsere Heranwachsende Orientierung. Die Vermittlung eines verantwortbaren Umgangs mit Medien und die für unser Leben förderlichen Möglichkeiten elektronischer Mediennutzung müssen Kinder ebenso lernen, wie die anderen Kulturtechniken. Während wir Erwachsene, die diese Entwicklung in unserer Generation mit vollzogen und mit zu verantworten haben, uns allmählich an die neue Technik gewöhnen konnten (denken wir nur an das Fernsehen und den Computer), finden unsere Kinder diese unsere Medienwelt als gegeben vor. Und genau so, wie sie im ständigen Austausch mit uns Erwachsenen leben lernen, so sollten sie auch in einer verantwortbaren und das heißt vor allem: in einer ihrer Entwicklung förderlichen Weise, mit elektronischen Medien umgehen lernen. Und das können sie nur dort und dann, wo und wann jemand sie entsprechend unterweist. So ist beim Adolf-Grimme-Institut eine Initiative „Eltern und Medien“ eingerichtet worden, die in vielfältiger Weise Veranstaltungen zur Vermittlung von Medienkompetenz unterstützt. Auch auf die Informationen und Tipps der „aktion jugendschutz“ möchte ich aufmerksam machen. Von dort aus finden sich Links auf weitere Internetseiten mit medienpädagogischen Inhalten. Eltern mit Heranwachsenden ab zwölf Jahren möchte ich auf die hochinteressanten Veröffentlichungen der Landesanstalt für Kommunikation Baden- Württemberg 181 hinweisen! Auch Fernsehanstalten selbst haben in enger Zusammenarbeit mit dem Familienministerium in Berlin eine - recht umfangreiche und differenzierte Ratgeberhomepage eingerichtet. "So lernen Kinder richtig fernsehen" wurde in einer Tageszeitung ein Beitrag überschrieben und auf die wertvollen Tipps, die Eltern und Erziehern unter anderen für Vorschulkinder bei „Schau hin“ (http://www.schau-hin.info/) gegeben werden. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Umsetzung aller medienpädagogischen Einsichten nur in ökologischen Zusammenhängen gedacht werden können, dass wir also die auf jeden von uns einwirkenden und jeden von uns beeinflussenden Umweltbedingungen berücksichtigen müssen. Von diesen ökologischen Einflüssen, oder, wie ich sie nenne: "Wirklichkeiten", möchte ich Einige nennen: Die Wirklichkeit in unserer Welt ist beeinflusst durch den unverfrorenen Zynismus aller jener für die Werbung verantwortlichen Personen, die den Kauf elektronischer Geräte und Programme für Erwachsene und Kinder anpreisen, ohne auf mögliche entwicklungsschädigende Auswirkungen durch einen pädagogisch ungefilterten Gebrauch hinzuweisen. Die Wirklichkeit in unserer Industriegesellschaft ist heute unter anderem durch die alles beherrschende Rolle der Wirtschaft gekennzeichnet. Die "Ökonomisierung" aller Lebensbereiche erfasst, um auf bisher weniger bewusste Einflussbereiche zu deuten, nicht nur die Bildung vom Kindergarten bis zur Universität, sondern auch den Familienalltag. Dahinter wird sogar eine bewusste Steuerung von Seiten der Medien-Industrie- und Kulturpolitik vermutet. Wer sich vor Fernseher und Computer "anbindet" und seinen Alltag von dorther und / oder sogar von Laptops, Tablets oder Smartphones beeinflussen lässt, leidet weniger an einer unbefriedigenden Lebenssituation wie Schulversagen, Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Lebensleere und Langeweile. Zu diesem Thema gab es schon 2005 eine aufschlussreiche Sendung im Zweiten Programm des Südwestfunks in der Reihe "Wissen"34, in der von "Tittytainment" die Rede war. Tittytainment, so hieß es in der Sendung, sei eine Kombination von "entertainment" und "tits", dem amerikanischen Slang Wort für Busen. Der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der diese Strategie bereits 1996 ausgedacht hatte, dachte dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden. Nüchtern diskutieren die Manager die möglichen Dosierungen. Die Einfünftelgesellschaft zieht herauf, in der die ausgeschlossenen vier Fünftel mit Tittytainment ruhig gestellt werden müssen. 182 Ich dachte dabei unwillkürlich an das Schlagwort „Brot und Spiele“ aus der Zeit des "Alten Rom". Im Rom des Altertums sorgten die Herrschenden dafür, dass die unbeschäftigten römischen Bürger vom Staat unterstützt wurden (damals: Brot heute: Arbeitslosenhilfe) aber auch zur Unterhaltung und Ablenkung etwas "geboten" bekamen (damals: Spiele im Zirkus - heute: Fußball und Familienserien im Fernsehen und Spiele für die Computer). Und wenn sogar in Deutschland bereits ein Institut eingerichtet wurde, in denen schreibgewandte Frauen und Männer darin geübt werden, Familienserien (Telenovelas und Seifenopern) gleichsam am Fließband herzustellen, um den Unterhaltungsbedarf eines anspruchslosen Publikums ("kundenorientiert") zu befriedigen und dieses Niveau gleichsam "festzunageln", dann dient dies - neben dem Profit für die Verantwortlichen - der zynischen Weltsicht von Politikern wie dem o. g. Brzezinski. "Die Daily Soap als Familienersatz", heißt es in dem Bericht von Antje Hildebrandt über den "Grundy-UFA-Konzern" in Potsdam-Babelsberg (Badische Zeitung v. 17. Januar 2006). Dass in unseren Tagen die Spiele im alten Rom abgelöst werden vom "Caming", das zeigt der Computer-Spieltrieb allein der Deutschen. Zwei Milliarden Euro werden im Jahr für Spiele, darunter Konsolen- und PC-Titel ausgegeben. Sogar eine Computerspielemesse "Gamescom" gibt es. Wenn man sich weiter vergegenwärtigt, dass in Deutschland im Durchschnitt fünf Stunden und fünfzig Minuten jede Person über fünfzig Jahren vor dem Fernseher sitzt und schaut (Quelle: Dick, Alexander in der Badischen Zeitung vom 09.08.2011, S. 1), dann ist unschwer zu vermuten, dass unter diesen viele Eltern und Großeltern sind, die auf diese Weise ihren Kindern und Enkeln vermitteln, wie man den Tag ausfüllen kann. Zu dieser Wirklichkeit gehört weiter, dass immer mehr Eltern ihre Verantwortung für das Wohl ihres Kindes, wie in den Ausführungen über die Grundbedürfnisse dargestellt, nicht in erforderlichem Umfang wahrnehmen. Das jedenfalls ist so lange zu unterstellen, solange es Kinder gibt, deren soziale, geistige, emotionale und körperliche Entwicklung nachweislich durch Fernsehkonsum und Computerspiele Schaden genommen haben 35. Nachfragen der „aktion jugendschutz“ führten zu der Erkenntnis, dass Schulversagen mit einem unverantwortlichen Medienkonsum 36 korrespondiert . Trotz der hier - bewusst zugespitzt - dargestellten Situation in Familien und Gesellschaft, kann nicht gesagt werden, dass alle Kinder, die Fernseh- und Videofilme schauen, gefährdet sind. Auch nicht diejenigen, die gelegentlich Gewaltdarstellungen sehen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Medienwirkungsforschung zu Aggressions- und Gewalt fördernden Auswirkungen des Medienkonsums ist festzuhalten: 183 Die Aggressivität von Kindern wird durch Gewaltdarstellungen in dem Ausmaß gefördert, in dem sie den kindlichen Lebensalltag widerspiegeln. Insofern kann bilanzierend festgehalten werden: Ein Medium für sich genommen wird weder einem Kind zu Höchstleistungen in der Schule verhelfen, noch es für ein Leben in unserer Gesellschaft untauglich machen. Maßgeblich für Nutzen oder Schaden sind die Lebensbedingungen beziehungsweise die Situationen in deren Zusammenhängen Medien Anwendung finden (Sichtermann, München 1997,S. 14 ff) sowie die diesen Ausgangslagen entsprechenden Funktionen, die die Medien für den Anwender haben. Vor dem Bildschirm Es soll zunächst einmal festgehalten werden: In der Zeit, die ein Kind vor dem Bildschirm sitzt, spielt es nicht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich FernsehVideo- und Computernutzung auf bloßes Konsumieren beschränkt. Diese Aussage ist insofern zu differenzieren, als die entsprechenden, die Entwicklung beeinträchtigenden Auswirkungen je nach Alter und den sonstigen personalen und sozialen Rahmenbedingungen unterschiedlich sind. Kindern, die noch keine vier Jahre alt sind, ist es schwer möglich, Filme, die sie auf dem Bildschirm wahrnehmen, zu verarbeiten. Für diese Altersgruppe gelten Fernsehfilme, wenn diese nicht speziell für diese Altersgruppe bearbeitet wurden, als sinnlos. Bis zum Ende des dritten Lebensjahres sollte eigentlich überhaupt nicht ferngesehen werden. Dennoch schauen auch die kleineren Kinder gerne mit, wenn die Eltern oder älteren Geschwister gucken. Es wird vermutet, dass sie Freude an sich bewegenden bunten Bildern haben, auch wenn sie die Bildinhalte noch nicht mit ihren Erfahrungen verknüpfen und die Abläufe nicht verstehen können. Sofern Eltern oder ältere Geschwister fernsehen, findet das Bestreben der jüngeren Kinder seine Erklärung allein schon aus dem Nachahmungsstreben: „Ich will auch...“. Machen wir uns also nichts vor: Kinder, vor allem die kleineren Kinder, würden weder etwas vermissen noch ginge ihnen etwas verloren, wenn sie noch keine Fernsehfilme anschauen könnten. Sie brauchen und wollen für ihre Entwicklung Aktivitäten. In der Praxis setzten sich Bewegungsdrang und Kommunikationsbedürfnisse auch vor dem Fernseher durch. Da schauen zum Beispiel jüngere Kinder die Teletubbies an. Die Kinder bleiben nicht still sitzen: sie fragen die mit schauenden Erwachsenen, erklären, kommentieren, singen und sprechen parallel zur Sendung, antworten auf Aufforderungen der Off-Stimme, tanzen und bewegen sich nach der Musik u. a. m.37 Eine Bemerkung zur zeitlichen Dimension: Es gibt von Medienpädagogen und Kinderpsychologen empfohlene Richtwerte, in denen die Obergrenze des wöchentlichen Fernseh- bzw. Videokonsums angegeben werden. Danach gelten für Sechsjährige eine, für Sieben bis Achtjährige zwei, für neun und Zehnjährige drei, für Elfjährige vier, für zwölfjährige fünf, für Dreizehnjährige sechs und für 184 Vierzehnjährige sieben Stunden (Jörg Sommer in Südkurier v. 01.09.99). Diese Empfehlungen spiegeln keineswegs die Realität wieder. In die negative Richtung hin wurde beobachtet, dass schon 3 – 5- jährige Kinder durchschnittlich 80 Minuten täglich vor dem Fernseher sitzen – in die positive Richtung hin verkürzt sich, nach Aussagen von Eltern, der Fernsehkonsum auf wenige, regelmäßig geschaute Sendungen wie Pippi Langstrumpf oder Pumuckel, weil ihre Kinder viel zu viel anderes zu tun haben und ständig in Bewegung sein wollen. Bei nur zwei Stunden Fernsehen am Tag, hätte ein Kind bis es zwölf Jahre alt wird, ein ganzes Lebensjahr seiner geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung verloren, so sehen es Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler. Die Konsequenz aus einer derartigen Perspektive wäre die, ganz aufs Fernsehen zu verzichten. Kinder, die im Übermaß schauen - und das heißt im Grunde: ebenso viel oder gar mehr Zeit für das Fernsehen aufwenden, wie sie allein oder mit anderen Kindern und Erwachsenen spielen - lernen nicht die Welt kennen, wie sie ist, sondern so, wie sie die Filme darstellen. Ein Horterzieher erzählt die folgende Geschichte: Ein Achtjähriger weigerte sich, als wir mit der Kindergruppe in den Zoo fahren wollten, in den Zug zu steigen: „Ich habe Angst. Da sind lauter Leichen drin“. Niemand von uns Erziehern wunderte sich darüber. War der Junge doch bis zur Einschulung in einer Umgebung herangewachsen, in der vom Aufwachen bis zum Einschlafen ununterbrochen der Fernseher eingeschaltet blieb, der den Lebensmittelpunkt für die Familie in der kleinen Wohnung bildete. Es kostete uns und seinen Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern viel Mühe und Geduld, diesen im Grunde normal begabten Jungen zum Hauptschulabschluss zu führen. Einige von den Vielsehern erreichen zum Beispiel nicht oder nur zum Teil die Fähigkeit zu - unter anderem - abstraktem und vorausschauendem Denken, also jene Stufe der Intelligenzentwicklung, die Jean Piaget als die Stufe der "formalen Operationen" bezeichnet und die sich mit etwa elf Jahren zu entwickeln beginnt. Kinder, denen statt elterlicher Zuwendung und Ermunterung zu eigenem und gemeinsamem Spiel der Bildschirm angeboten wird, haben schlechte Chancen in der Schule. Misserfolge in der Schule aber behindern die Herausbildung von Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und damit Eigenschaften wie umfassendes Interesse und Lernbereitschaft. Die können nur gedeihen, wenn ein Kind Anerkennung und Erfolg erlebt. Misserfolgserlebnisse führen zur Flucht vor der Realität. Die Kinder zieht es dann vermehrt vor den Bildschirm. Da haben sie keinen Frust. Sie versetzen sich in die Rollen ihrer Bildschirmhelden und begnügen sich damit. Der Teufelskreis schließt sich. Nun könnte das hier angedeutete Gefährdungspotenzial eine zu vernachlässigende Größe sein. Das ist aber nicht der Fall. Im Bundesdurchschnitt besaßen 2012/2013 rd. 45 Prozent der zwölf bis dreizehnjährigen und 63 % der achtzehn bis neunzehnjährigen ein eigenes Gerät. (JIM-Studie 2013. Stuttgart 2013, S. 8); einen eigenen Fernsehapparat hatten unter den Sechs- bis Dreizehnjährigen bereits 43 Prozent (KIM-Studie 2010. Stuttgart 2010, S. 69). Es ist eher unwahrscheinlich, 185 dass die Eltern dieser Kinder mit nachhaltigem Erfolg, Einfluss auf die Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder nehmen. Als Gründe für diese hohe Versorgung von Kindern mit Fernsehern und anderen Mediengeräten sind anzusehen: Eltern wollen Konflikten ausweichen; z.B. dem Streit um die Programmwahl, Eltern wollen ihre Ruhe haben, Eltern wollen gleichzeitig und ungestört ihre eigenen Fernseher nutzen, Eltern wollen ihren Kindern eine eigenverantwortliche Nutzung ermöglichen. Es sagen weder der Besitz derartiger Geräte noch die durchschnittliche Nutzungsdauer von Kindern etwas darüber aus, ob geeignete Programme ausgewählt und ob diese Kinder von ihren Eltern verantwortungsvoll begleitet wurden oder ob irgendwelche entwicklungsschädigenden Auswirkungen festgestellt wurden. Die Untersuchung aber zeigt, dass die technischen Voraussetzungen für einen exzessiven und damit die Entwicklung von Kindern gefährdenden Medienkonsum inzwischen in allen Haushalten geschaffen worden sind. Je größer das Angebot an Video- und Fernsehgeräten oder Computerprogrammen, umso mehr werden sie auch genutzt. Es ist zum Beispiel nachgewiesen worden, dass der audiovisuelle Medienkonsum bei Vorhandensein eines Recorders pro Woche um acht Stunden höher ist, als ohne Recorder. Und aus eigener Erfahrung als Lehrer und Erzieher möchte ich hinzufügen: gerade die Elf- bis Vierzehnjährigen sind besonders verführbar. Wenn sich in diesem Alter die Eltern nicht um die Jugendlichen bemühen, dann werden die Filme auf dem Bildschirm den Forderungen der rauen Wirklichkeit vorgezogen. Im Ergebnis kann der Rückzug auf die Bildschirmmedien dazu beitragen, dass nicht Erfolgszuversicht und Leistungswille wachsen, sondern persönliches Versagen und Leistungsverweigerung. Statt Kooperationsfähigkeit entwickelt sich Aggressivität, statt konstruktivem Engagement in Schule, Beruf und Freizeit Passivität und Konsumhaltung und in extremen Fällen eine Aussteigermentalität gepaart mit Missgunst und Hass gegen alle, die als erfolgreicher erlebt werden. Sogar eine schwere seelische Erkrankung kann die Folge sein, wie es das traurige Beispiel eines Sechzehnjährigen zeigt, der sich solange mit seinem virtuellen Helden beschäftigt hatte, dass er sich schließlich selbst für einen Straßenkämpfer hielt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden musste. Eine seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von Psychologen aus Beratungsstellen beobachtete Auswirkung des zunehmenden Medienkonsums ist der Rückgang der Sprachkompetenz bei Kindern mit verheerenden Folgen auf die Schullaufbahn. Wir hatten bereits darauf verwiesen, dass ein Kind aktiv, also handelnd lernt und nicht allein durch hören, zuhören oder zusehen. Ein Kind lernt gehen, indem es geht, Rad fahren, wenn es mit dem Rad versucht zu fahren, Erwachsene lernen Auto fahren, wenn sie fahren (und nicht, wenn sie anderen dabei zuschauen). Ein Mensch lernt sprechen, wenn er mit anderen spricht. Diese Erfahrung ist so simpel, dass ich mich fast geniere, sie hinzuschreiben. Genau 186 diese schlichte Erkenntnis wird in mehr und mehr Familien übersehen. Eine Studie von Psychologen an der Freiburger Universität kommen zu gleichen dramatischen Schlussfolgerungen: “Fernsehen bedeutet Vernachlässigung der Kinder“. (In: Badische Zeitung vom 27.09.2000 und vom 02. 06. 2001), und „belastet seelisch deutlich mehr als die Schule“. Zwischen die Gespräche von Eltern mit ihren Kindern, Kindern mit ihren Eltern oder Kinder mit ihren Geschwistern tritt das „Schauen“. Günstigenfalls schauen Eltern und Kinder gemeinsam einen Film an. Wird aber während eines Films oder hinterher nicht darüber miteinander gesprochen, was einen bewegt, was man gesehen und vielleicht nicht richtig verstanden hat, dann diente das Schauen nur der Unterhaltung der Eltern. Sprachliche Kompetenz können Kinder so nicht erwerben. An dieser Stelle ist von an einem sieben Jahre alten Jungen zu berichten, der als „lernbehindert“ vom Schulbesuch zurückgestellt werden musste. Eine genauere Nachprüfung ergab, dass dieses geistig normale Kind darum nicht eingeschult werden konnte, weil bei ihm die Sprachentwicklung um zwei Jahre verzögert war. Die Ursache war bald entdeckt: Die Oma, die ihren Enkel zur Pflege hatte, schickte ihn nicht einmal in den Kindergarten, um sich von ihm nicht trennen zu müssen. Stattdessen stellte sie ihm ein Fernsehgerät und einen Videorecorder in das Zimmer. „Der Junge guckt doch so gern“ begründete sie ihr Vorgehen. Man könnte hinzufügen: wenn er guckt, vergisst er die Welt da draußen und ich habe ihn für mich. Zu den Folgen dieses Erzieherverhaltens gehörte, dass der eigentlich recht intelligente kleine Kerl, außerstande war, sich sprachlich verständlich zu machen oder gar mit anderen zu unterhalten. Seine Oma verstand ihn. Und das reichte ihr. Nachdem er aus diesem Umfeld herausgekommen war, hat er sprachlich rasch aufgeholt und die Schule mit gutem Erfolg besucht. Dieses Beispiel deutet aber auf die dramatischen Folgen unzureichender sprachlicher Kommunikation in Familien. Schon immer waren die Kinder benachteiligt, in deren Familien ein „restringierter Code“, also eine einfache, begrifflich wenig differenzierende Umgangssprache, gesprochen wurde. Der Kindergarten hatte die ergänzenden und ausgleichenden Leistungen zu erbringen, um die Chancen von Kindern aus derartigen Sprachumwelten zu verbessern. Nicht zuletzt deswegen wurde der Kindergarten in den letzten vierzig Jahren flächendeckend ausgebaut. Inzwischen sind Kindergarten und Schule geradezu als fernsehfreie „Gegenwelten“ zu einem, von Fernsehen und Videos beeinflussten Familienalltag zu betrachten. Dort droht eine Spracharmut allen Kindern, wenn in Familien weniger miteinander gesprochen als Fernsehen/Video geschaut wird. Denn Eltern, die selbst schauen, können sich mit ihren Kindern nicht unterhalten. Eine Mutter erzählt: Ich habe drei Fernseher zu Hause: einen in der Küche, einen im Wohnzimmer und einen im Schlafzimmer. In allen läuft das gleiche Programm, denn wenn ich putze, will ich doch trotzdem sehen, wies weitergeht.“ 187 Wann und was bespricht diese Mutter mit ihrem fünfjährigen Mädchen? Nichts. „Mach das, lass´ das, sei ruhig, geh spielen...“ auf derartige Anweisungen beschränkt sich die Kommunikation mit dem Kind. Auch dieses Mädchen musste vom Schulbesuch zurückgestellt und einer Sprachförderung zugeführt werden. Dass auch Aggression und Unruhe wachsen und die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, durch die passiven Fernsehkonsumgewohnheiten bei Kindern abnehmen, ist auf einem Psychologenkongress im Januar 1999 in Saarbrücken bestätigt worden. Die Gründe für die steigende Zahl hyperaktiver und konzentrationsschwacher Schülerinnen und Schüler ist nicht zuletzt auf den Mangel an konstruktiver Bewegung und eigener Aktivität zurückzuführen. Wer sich selbst vor den Bildschirm „anbindet“, dem fehlen Bewegung und aktive Betätigungen mit Dingen und anderen Menschen. Bei einigen Betreibern stehen nicht Information und Unterhaltung an erster Stelle, sondern die Einschaltquoten und die Gewinn sichernden Werbeeinnahmen. Und hierfür sind alle Mittel recht - auch wenn in Bezug auf Filmauswahl und Gestaltung wenig auf u.a. positive ethische Orientierung Wert gelegt wird. Es sind erwachsene mündige Bürger, die auch an der Produktion und dem Vertrieb jener Programme einschließlich der Computerspiele ihr Geld verdienen, die die seelische Entwicklung von Heranwachsenden beschädigen. Was kulturpolitisch, wirtschaftlich und rechtlich nicht verhindert werden will oder kann, muss aber gleichwohl unter pädagogisch-ethischem Gesichtspunkt als verwerflich bezeichnet werden. Alle an diesen Prozessen beteiligten Personen und Institutionen handeln verantwortungslos38. Dass es Eltern gibt, die Medienangeboten, die ihren Kindern schaden, keinen Widerstand entgegensetzen können, ist zu bedauern. Resignierend stellte eine Achtzehnjährige in einem Beitrag für eine unserer Tageszeitungen fest: „Heute besteht für viele Kinder ein schöner Nachmittag darin, vor dem PC zu hocken und das neueste Hau-drauf- und weg- Spiel auszuprobieren oder eines der unendlich vielen, stumpfsinnigen Horrorvideos zu schauen ... Wie soll man Kinder dazu bringen, mehr Phantasie zu entwickeln oder sich mehr mit natürlichen Dingen zu beschäftigen, wenn zuhause ... nichts Besseres vorgelebt wird“ (Sina Plettenberg in der Badischen Zeitung v. 07.07.2000). Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung dafür, was und wie viel in einer Familie –auch von den Kindern - gesehen und gehört wird und was nicht. Ich betrachte den Hinweis von Eltern darauf, dass ja „alle“ vor Bildschirmen sitzen oder ihre Minicomputer benutzen, als Ausdruck der angesprochenen Hilflosigkeit oder sogar der eigenen Bequemlichkeit. Gerade Erwachsene, die für sich selbst Fernseh- und Videofilme nutzen, um die eigene innere Leere und die Unfähigkeit zu kreativem Tun mit „irgendetwas“ anzufüllen, zeigen sich außer Stande, ihren Kindern zu helfen, aus dem Fernseh- und Computerspielkonsum auszusteigen. Für Eltern als Abnehmer gilt: 188 Nicht alles was gerade auf dem Markt (oder „in“) ist, muss gekauft oder konsumiert werden. Niemand zwingt uns dazu, dem Medienangebot gleichsam „bewusstlos“ zu folgen und die Anbieter durch hohe Einschaltquoten in ihren Bestrebungen nach Medienmacht und Gewinn zu unterstützen. Das ist allein unsere freie Entscheidung. Der Medienforscher und Familienberater Jan-Uwe Rogge hat in seinem Büchlein „Kinder können fernsehen“ (Hamburg 1995) darüber berichtet, dass Sendungen für Kinder wie „Pusteblume“ oder „Die Sendung mit der Maus“ dann und darum zu Lerneffekten führen, wenn bzw. weil sie an kindlichen Wissensbeständen anknüpfen. Es sollte allerdings auch an dieser Stelle noch einmal eindringlich davor gewarnt werden, Bildschirmmedien an die Stelle einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt treten zu lassen. Die Feststellung „Fernsehen macht dumm“ hat dann ihre Berechtigung, wenn den Kindern Anregungsbedingungen aus ihrer sozialen (zum Beispiel die Eltern) und dinglichen (zum Beispiel Spielmöglichkeiten) Umwelt fehlen und das Fernsehen zu einer Hauptbeschäftigung für Kinder wird. Hierbei ist mit umso größeren Folgeschäden für die geistige Entwicklung von Kindern zu rechnen, je jünger sie sind. Es gibt Beobachtungen, nach denen exzessives Fernsehen dazu beiträgt, dass die zweite Objektivierungsstufe beim Kinde, so wie sie in Jean Piaget’s Arbeiten über die geistige Entwicklung von Kindern dargestellt erforscht ist, nur unzureichend oder gar nicht erreicht wird. Über die seelischen und geistigen Schäden, die exzessiver Fernsehkonsum bei Kindern verursachen kann, hat eine Forschergruppe in einer breit angelegten Untersuchung in den Jahren 1999/2000 nachgewiesen. Der Computer als Freund und Helfer ? Wenn danach gefragt wird, wann bzw. in welchem Alter Kindern Computer in der Familie ohne Beschädigung der kindlichen Entwicklung zur Verfügung gestellt werden könnte, so ist es nicht leicht, darauf eine verbindliche Antwort zu geben. Bekanntlich gibt es inzwischen schon Programme, die sich an Dreijährige wenden. Bisher ist keine Studie bekannt, die über die Auswirkungen eines derartig frühen Computereinsatzes oder über die Eignung entsprechender Programme Auskunft gibt. Das Argument, man kann nicht früh genug damit anfangen, Kinder an diese Technik heranzuführen, damit sie später (wann?) keine Probleme damit haben, ist als Begründung unzureichend. Es sind nicht die Erfahrungen im Umgang mit Computern, die maßgeblich den Lebens- und Berufserfolg eines Menschen bestimmen, sondern die individuellen Persönlichkeitseigenschaften Auch beim Einsatz von Computern in einem Kindergarten oder in der Grundschule müssen Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer sehr sorgsam prüfen, was die Arbeit mit ihm bewirken soll und 189 was sie tatsächlich bewirkt. Auf dem Bundesgrundschulkongress 1999 wurde zwar eine „vielseitige Nutzung der modernen Medien“ im Unterricht gefordert, zugleich aber darauf verwiesen, dass Sinn und Zweck von PC und Programmen verantwortlich geprüft werden müssten (aus: Grundschulverband aktuell, Heft Nr. 68 Nov. 99, S. 10 und 17)39. Der Computer hat in Familien mit Kindern eine derartige Verbreitung gefunden, dass diejenigen, die noch keinen besitzen, Ausnahmen sind. Gelegentlich müssen Eltern einen Computer anschaffen, weil es zum Beispiel Lehrer in weiterführenden Schulen gibt (besonders in den Gymnasien), die bereits heute Hausaufgaben aufgeben, die nur dann erfolgreich bearbeitet werden können, wenn die Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem Computer und Internetanschluss haben. Es sind bereits in allen weiterführenden Schulen selbstverständlich Computer vorhanden. Es gibt hier und da „Computer-Räume“, in denen Schülerinnen und Schüler Aufgaben bearbeiten bzw. den Umgang mit diesem Werkzeug üben können. Vor allem in den Sonderschulen setzen kundige Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer den Computer im Unterricht ein. An einer Schule für Lernbehinderte in Bad Säckingen zum Beispiel, stand den Schülerinnen und Schülern bereits Ende der achtziger Jahre ein Gerät in wenigstens einer Klasse zur Verfügung. Damals gab es noch gar keine Lernprogramme. Der Klassenlehrer musste stattdessen alle Programme selbst entwickeln. Bereits in jenen Jahren bewährte sich der Computereinsatz in der Förderschule, da die Mädchen und Jungen hochmotiviert waren und der Lerneffekt entsprechend groß. Gerade im Zusammenhang mit schulischem Lernen, sei es in der Schule selbst oder bei der Bearbeitung von Hausaufgaben kann ein Computer, ausgestattet mit geeigneten Programmen, die Lernprozesse fördern. In einer Werkrealschule war es mit Hilfe eines eigenen, vom Schulleiter initiierten computerunterstützten Lernnetzwerkes möglich, jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten arbeiten zu lassen. Drohen von Computerspielen Gefährdungen für unsere Kinder? Diese Frage stellen sich alle verantwortungsbewussten Eltern zurzeit immer wieder. Die Meldungen über Kinder, die Mitschüler und Lehrer in Schulen in den USA und in Europa bedrohen oder sogar töten, beunruhigen in dieser Zeit uns alle. Und immer wieder wird in Zeitungen, Illustrierten oder in Fernsehsendungen auf den Zusammenhang zwischen der Zunahme gewalttätigen Verhaltens Minderjähriger und den entsprechenden Trainingsmöglichkeiten in bestimmten Computerspielen und in Spielhallen verwiesen. Was passieren kann, wenn dieses "Spiel" - Verhalten in der Freundesgruppe oder unter den Schülern einer Klasse zur Norm wird, das erzählt dem Redakteur des "Hochrheinanzeigers", einige Lehrer: "Mir ist eine ganze Klasse abgestürzt. Die Sucht erfasste binnen Monaten fast alle Jungen dieser Klasse. Die Schulnoten brachen in den Keller und Sitzen-bleiben stand ins Haus". 190 "Die interessieren sich für nichts mehr. Das einzige Thema ist der Computer." Dabei berichten Informatiklehrer, dass der Computer als Ganzes diese Schüler häufig gar nicht interessiert. Sobald es um ernsthafte Anwendung geht, steigen sie geistig aus dem Unterricht aus" "Die können sich kaum noch etwas merken. Der Unterricht geht einfach an ihnen vorbei". (Soweit aus dem "Hochrhein-Anzeiger" vom 16.11.2005). Mir erzählte der Klassenlehrer eines vierten Schuljahres aus einer Schule im Hotzenwald im Juli 2007, dass immer mehr seiner Schüler nur noch Computerspiele im Kopf und als Thema haben. Und wenn er mit den Eltern darüber spricht, zucken die nur mit den Achseln. Aber wenn es um die weiterführenden Schulen geht, dann nehmen sie uns persönlich übel, wenn wir diese Kinder ihrer miserablen Leistungen wegen nicht empfehlen können. "Wenn man diesen Kindern helfen wollte, dürften sie tagsüber nicht mehr nach Hause. Denen täte die Ganztagesschule sicher gut." Die "Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe Berlin (ISFB) im Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin (Charite) hat in einer Studie Computerspiel-Süchtige Minderjährige mit Gelegenheitsspielern aus der gleichen Alters- und Bildungsgruppe verglichen. Dabei sind die Forscher auf deutliche Unterschiede zwischen beiden Gruppen gestoßen, die bestätigen, dass Computer-Spielsucht lebensuntüchtig macht. 40 191 Wann aber ist ein Kind oder Jugendlicher "Computerspielsüchtig"? Über Symptome und über den Umgang mit dieser Erscheinung informiert ausführlich das Buch von Sabine M. Grüsser und Ralf Tahlemann, das unter diesem Titel: "Computerspielsüchtig. Rat und Hilfe" im Huber- Verlag erschienen ist. Dieser Verlag stellt Arbeitsblätter zur Verfügung, die helfen können, Suchtverhalten im Umgang mit Computerspielen zu erkennen41. In der dritten Januarwoche 2007 sprach mich der Vater zweier Kinder an und bat um Rat: sein achtjähriger Sohn sei "total heiß" auf bestimmte Computerspiele und er fürchtet, dass der Junge Schaden nimmt. In dieser Familie, die Mutter ist eine vierzigjährige Sozialpädagogin, die Tochter ist zehn Jahre alt, gibt es keinen Fernsehapparat. Die Eltern sind hoch motiviert und engagiert, wenn es um die Erziehung und Bildung ihrer Kinder geht. Der Junge hatte sich das Spielgerät zu Weihnachten gewünscht und von seinen Großeltern erhalten. Da er daheim bisher nicht am Computer spielen konnte, war er häufig bei Schulkameraden zu Gast, wo Computerspiele in der Freizeit selbstverständlich waren. Nun konnte auch er daheim spielen. Um hier steuern und mitreden zu können, war der Vater bereit, nach erledigten Hausaufgaben mit seinem Sohn eine halbe Stunde mitzuspielen. Diese Zeit war, wie er mir berichtete, auf der CD-Hülle vom Hersteller auch empfohlen. Vor einer längeren Spieldauer wurde ausdrücklich gewarnt. "Was soll ich Ihnen sagen", so der Vater, "ich hatte selbst Mühe, mich nach der halben Stunde loszureißen. Die Spielentwickler hatten den Spielverlauf so spannend programmiert, dass man total in die Spielsequenzen hineingezogen wird. Ich verstehe, dass mein Sohn davon ganz angefressen ist. Aber das ist doch nicht gut für ihn! Wenn sogar der Hersteller selbst auf die Gefahren, die drohen können, aufmerksam macht... Was wird nur aus den Kindern, wenn man da nicht aufpasst?" Die aggressionsverstärkende Wirkung Gewalt verherrlichender PC-Spiele ist hinlänglich untersucht und belegt. Die Hemmschwelle wird unmittelbar nach der Nutzung derartiger Spiele deutlich herabgesetzt. Bei häufiger Nutzung neigen die Kinder eher zu Aggression und Gewalt „Das kann dazu führen, dass aus einer harmlosen Rangelei unter Kinder und Jugendlichen eine schwere Prügelei wird“ sagt die Psychologin Rita Steckel von der Ruhr-Universität Bochum (Bad. Zeitg. am 18.11.2001). Wenn aber allein diese Zusammenhänge als ein Ursache-Wirkungs-Mechanismus dargestellt werden, dann trifft das nicht den Kern der Ursachen. Wie oben im Zusammenhang mit dem Fernseh- und Videokonsum bereits berichtet, beschäftigen sich seit vielen Jahren Medienforscher, Psychologen und Pädagogen mit diesen Problemen. Für den Umgang mit dem Computer und dem Einsatz von Spielprogrammen gilt das gleiche, was zur Fernseh- und Videonutzung bereits gesagt wurde und soll hier noch einmal bekräftigt werden: Nicht auf das Spiel, auf die Spieler kommt es an. Natürlich darf aus dieser Kurzformel nicht geschlossen werden, dass es bestimmte charakterliche Eigenschaften allein sind, die den einen 192 brutale und den anderen sanfte Spiele bevorzugen lässt. Mit einer so einfachen Erklärung würden wir die Verantwortung leugnen, die das soziale Umfeld, wie die Familie oder eine Gesellschaft hat, die ein entsprechendes Angebot überhaupt zulässt. In Stichworten sollen die sich nachweislich schädlich auswirkenden und im Zusammenhang mit dem Fernsehen bereits benannten Einflussfaktoren noch einmal bekräftigt werden: 1 das Familienklima: in einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken gewalttätige Computerspiele die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder in der Familie und / oder die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu sein sind nicht selten die Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung zu der - als ein Beispiel - die Flucht in die Gewalt (z.B. gewaltverherrlichenden Filme und Spiele) gehört. 2 je häufiger Frustrationserlebnisse (z.B. Versagen in der Schule, Außenseiterpositionen in der sozialen Gruppe) auftreten und nicht kompensiert werden können (z.B. durch Aussprachemöglichkeiten, Erfolge auf anderen sozial anerkannten Gebieten wie dem Sport oder in der Familie selbst u. ä.) umso mehr wachsen Aggressionen und die Bereitschaft, gewalttätiger Aktivitäten. Entsprechende Spiele wirken sich auch hier verstärkend aus. 3 die Lebensperspektive: wenn ein junger Mensch seine Existenz als sinnlos erlebt und (bzw. weil er) keine positive Zukunft für sich sieht, weil er z.B. Berufsziele oder andere Wünsche und Träume als für sich selbst überhaupt nicht realisierbar empfindet. Es lässt sich gut nachvollziehen, dass Heranwachsende Video- und Computerspiele auch darum nutzen, um die Flucht aus einer Angst auslösenden Umwelt anzutreten. Ein nicht zu unterschätzender Reiz geht auch von der Tatsache aus, dass sie mit Hilfe ihrer Computerwelt Kommunikationsbarrieren gegenüber ihren Eltern errichten können, die umso höher sind, je weniger sich Mutter oder Vater mit Computern und dem „Computerspeak“ auskennen. Diese Welt schafft ihnen einen persönlichen Freiraum, der sie abgrenzt von der Welt der Erwachsenen. Während der oft stundenlangen Spiele, kann man seinen ganzen Frust über das unfriedliche Elternhaus und über andere ungünstige Lebensbedingungen austoben. Leider hat dieses Austoben keine befreienden Auswirkungen sondern verstärkt nur noch die Unzufriedenheit und den Verdruss. Ein Achtzehnjähriger schreibt über seine Erfahrungen mit Computerspielen, dass es viele gibt, bei denen er sich „köstlich amüsierte“. Es gibt aber auch Spiele, „da sitzt man wirklich ohne Ende vor der Glotze, da man mindestens 60 Stunden braucht, damit man ans Ende kommt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: es gibt nichts Besseres, als wenn nach einem Wochenende man hat seit Tagen nicht mehr richtig gegessen und getrunken – die Bitte kommt, die letzte CD einzulegen...“ (Mark Kästner: Moorhühner jagen, Feinde auffressen. In: Bad. Ztg. Freiburg v. 12.07.2000, S. 29) 193 Es ist zu verstehen, dass dieser Zwang, sich vor den Computer zu fesseln und selbst elementare Bedürfnisse zu vernachlässigen, Erschöpfungszustände zur Folge hat, die sich nachteilig auf Schule und Berufsausbildung auswirken. Nicht selten wachsen Aggression und Gewaltbereitschaft und werden mit hinaus genommen in die Schule oder auf die Straße. Noch einmal ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass allein schon das Angebot bzw. der Zugang zu Kriegs-, Tötungsoder pornografische Video- und Computerspiele aus ethischer und pädagogischer Sicht als unverantwortlich zu betrachten ist. In unserer Gesellschaft besteht ein erhebliches Spannungsfeld zwischen der Freiheit auf der einen und der Verantwortung auf der anderen Seite. Bundes- und Landesbehörden bemühen sich gemeinsam mit Medienkonzernen in entsprechenden Arbeitsgruppen und Kontrollorganen darum, das jugendgefährdende Spiel- und Filmangebot zu beeinflussen. Doch angesichts der Möglichkeiten, die inzwischen das Internet bietet, sind diese Bemühungen fragmentarisch. Damit bleibt die Verantwortung bei den Familien. Dort aber helfen im Familienalltag Verbote kaum. Die betreffenden Heranwachsenden brauchen Alternativen, die ihnen jene Abenteuer, soziale Anerkennung und Erfolge ermöglichen, die sie in ihrem Alltag vermissen. Sie brauchen aber auch Lebensbereiche, innerhalb derer sie lernen können, den Computer und seine Möglichkeiten zum Vorteil ihrer Entwicklung zu nutzen. Unter diesem Gesichtspunkt sind Computer in Schule und Familie zweckmäßig. Für sozialpädagogische Fachkräfte in den Kindertagesstätten und die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer in den Schulen empfiehlt es im Zusammenhang mit der Verwendung von Computern - sehr genau zu prüfen, was die Kinder in einer Gruppe oder Klasse zu ihrem Gedeihen wirklich brauchen. Möglicher Weise müssen sie erst einmal lernen, sich zu bewegen, zu sprechen, zu singen, Bilderbücher anzuschauen bzw. zu lesen oder in sehr praktischer Weise kreativ zu sein, also reichlich Gelegenheit erhalten müssen, die Welt aktiv zu erkunden. - konzeptionelle Übereinstimmung mit Eltern und Trägern anzustreben und – das betrachte ich als besonders wichtig – eng mit den Eltern zusammen zu arbeiten - kritisch nachzuschauen, welche Förderungspotenziale sich in welchen Programmen nachweisen ließen. Eltern denken beim Kauf von Programmen sowohl an die Wünsche ihrer Kinder als auch an die Auswirkungen, die die Programme auf sie haben können. Also müssten wir wissen, welche Programme was fördern und welche wie schaden. Was tun, angesichts der großen schier unübersehbaren Angebots und dem Drängen unserer Kinder, dies oder jenes Programm unbedingt zu kaufen? Obwohl es ausgeschlossen ist, dass der Idealfall je erreicht wird und gleichsam jedes Kind ein für seine spezifischen Möglichkeiten und Bedürfnisse zugeschnittenes Programm erhält, haben wir die Programme, die bereits entwickelt worden sind, unter dem Blickwinkel ihrer speziellen Funktionen im Zusammenhang mit der Förderung ebenso spezieller Fähigkeiten zu prüfen. 194 Unsere Entscheidungen für ein bestimmtes Programm, z.B. ein Spielprogramm, Rechnen, Sprachförderung, Sachkundefächer o. dgl., können sich stützen auf die Anforderungen der Erzieherinnen und Erzieher oder auf die Empfehlungen der Schule, die das betreffende Programm in dieser Klasse (bei diesem Kind) bereits verwenden. Es kann aber genauso gut ein Programm - also auch ein Computerspiel - von uns ausgewählt werden, wenn wir es für den vorgesehenen Zweck für geeignet halten und darum angeschafft oder selbst geschrieben haben. Soweit es Unterrichtsinhalte berührt, ist der o. g. Kooperationsgesichtspunkt besonders zu beachten. Jede pädagogische Institution kann bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Pf. 2325 in 53013 Bonn) die sehr informativen Blätter „Computerspiele auf dem Prüfstand“ bestellen oder abonnieren. Zweimal im Jahr kommt eine neue Sendung, die kostenlos abgegeben wird. Bei der Auswahl von „Lernprogrammen“ wird es zweckmäßig sein, dass das Übungsprogramm für ein Kind, zum Beispiel: das große Einmaleins, auch für die anderen Kinder in einer Familie verwendbar ist. Um Eltern und Fachkräften raten und helfen zu können, gibt es in jeder Region inzwischen Informationsstützpunkte. An Kreisbildstellen und an den Schulen, in Baden-Württemberg sind das die „Multimediaberater“, halten sachkundige Personen Informationen über Programme bereit. Nirgendwo muss also beim gegenwärtigen Verbreitungsstand von Computern bei null angefangen werden. Es fehlt lediglich noch an Interaktionsprozessen unter den Computeranwendern und an Schnittstellen, die allen Interessierten ermöglichen würde, vorhandene Erfahrungen zu nutzen und effektiv auszubauen. Allein schon der Einsatz von Programmen, die in sozialpädagogischen Einrichtungen schulfächerbezogene Lernprozesse unterstützen sollen, brauchte eigentlich die Zusammenarbeit mit den Lehrern. Wenn sozialpädagogische Fachkräfte oder Eltern Lernprogramme kaufen wollen, dann sollten sie die Lehrer (z.B. Multimediaberater) in den Schulen fragen! Auskünfte über geeignete Programme geben darüber hinaus die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kreisbildstellen und die Berater in Spezialgeschäften, bei denen sogar sogenannte „Demo-Versionen“ angeschaut werden können. Es braucht also Zeit, wenn man für sein Kind das „richtige“ Lernprogramm kaufen will. Bei Spielprogrammen sieht es nicht anders aus. Hier können Kinderwünsche besonders weit von dem abweichen, was Eltern für verantwortbar halten. Das Internet, das inzwischen ermöglicht, alle Programme bzw. Apps nicht nur dort zu öffnen sondern auch in den eigenen Computer zu laden, erschwert eine elterliche Kontrolle oder macht sie gar unmöglich, da ich sie bei Herannahen einer kontrollierenden Instanz mit einem Finger sofort schließen oder löschen kann. 195 Mit den Fingern auf dem Smartphone Ob sie stehen, gehen oder sitzen: viele unserer Kinder und Jugendlichen haben nicht nur einen Stöpsel im Ohr, verbunden mit einem Empfangsgerät in der Tasche, sie halten in ihren Händen auch ein Smartphone. „Jedes vierte Kind zwischen sechs und dreizehn Jahren besitzt ein eigenes Smartphone“ ergab eine Umfrage des Verlags „Egmont Ehapa Media“ im Jahre 201442. Ständig fahren sie mit ihren Fingern darauf herum. Die vierzehnjährige Else verschickt und empfängt über die mobile Nachrichtenplattform „Whatsapp“ ständig Kurzmitteilungen. „Hi, wie geht‘s“ tippt sie an eine ihrer Freundinnen ein, und die antwortet: „gut, ich bin grad bei ALDI. Kommst Du nachher an der Schule vorbei?“ „O.k. bis dann“. Nein, etwas wirklich Wichtiges oder gar inhaltsreiche Texte werden nur selten untereinander ausgetauscht. Kinder und Jugendliche erleben diese Technik als Bereicherung, fühlen sich ohne diese Kommunikationsmöglichkeit abgeschnitten, als nicht mehr erreichbar. Außerdem können sie ihre Lieblingsmusik hören. Sogar wecken können sie sich lassen, und nicht selten ist es, dass sie dann erst einmal checken, ob und welche Nachrichten sie inzwischen erhalten haben. Selbst wenn sie sich in Gruppen zusammenfinden oder zu Hause vor dem Fernseher sitzen, werden Kurzmitteilungen empfangen oder gesendet. Zum Beispiel darüber, was man gerade tut und wie man das Gesehene oder Gehörte bewertet und auch die Situation, in der man sich befindet, erlebt. Ein Kommunikationswissenschaftler hat über die jungen Menschen und diese aktuelle Form der Kontaktpflege geforscht. Er fand heraus, dass die meisten Jugendlichen keine pathologischen Smartphone-Nutzer seien. Es werden vielmehr statt der Briefe, die einander von der Elterngeneration noch geschrieben wurden, Kurzbotschaften ausgetauscht. Allerdings ermöglicht die neue Technik, sehr viel kürzere und sprachlich recht schlichte Rückkopplungsprozesse. Diese Vereinfachung ist den Jugendlichen gerade recht. Weder auf Rechtschreibung noch auf einen sprachlich guten Stil muss geachtet werden. „Schreib wie du sprichst“ haben früher Eltern ihren Kinder gesagt, wenn sie nicht wussten, was und wie sie den Brief an die Großeltern verfassen sollten. Und diese Empfehlung wird heute tatsächlich im wahrsten Wortsinne realisiert. Kritisch ist zu sehen, dass diese Form, mit Hilfe von Smartphone miteinander zu kommunizieren die direkten zwischenmenschlichen Kontakte reduziert und soziale Situationen schrumpfen lässt43. Denn die Top-Apps der Nutzer sind die sozialen Netzwerke wie Whats-App und Face-book. Sie können die persönliche Begegnung, die Beziehungen, die sich durch die gegenseitige Berührung, das Erleben von Mimik und Gestik oder den stimmlichen Ausdruck des Gesprächspartners zueinander entwickeln, nicht ersetzen. Insofern birgt die Beschränkung auf diese Form der Kommunikation die Gefahr der Verarmung in der Kontaktpflege und der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. dazu auch die Forschungen von Prof. Dr. Christian Montag. Hier: http://www3.uni-bonn.de/Pressemitteilungen/009-vom 15.01.2014). 196 Den Umgang mit Handys, so ist Eltern dringend zu empfehlen, sollte nicht ungeregelt und ohne Begleitung sein. Ein Handy, gleichsam ein Telefonersatz, ist nützlich, wenn ein Kind seine Eltern mal schnell erreichen will oder muss. Da können wir heute froh darüber sein, dass es diese unkomplizierte und rasche Kontaktmöglichkeit gibt. Zu denken ist zum Beispiel, dass sich ein Kind auf einem Ausflug, einer Schulwanderung zu Fuß oder mit dem Fahrrad befindet oder für die Mutter einkaufen geht und bei dieser Gelegenheit eine Rückfrage hat. Also geben wir Eltern, unserem Kind ein Handy mit. Anders sieht es mit dem Kleincomputer, also einem Smartphone aus, der viele zusätzliche Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Denken wir nur an die Möglichkeit, dass ein Kind von sich selbst Bilder ins Internet stellt oder persönliche Informationen über sich und seine Familie, Freunde, aktuelle Situationen und Vorhaben auf diesem Wege veröffentlicht. Sogar kostenpflichtige Kontakte kann ein Kind mehr oder weniger wissentlich realisieren und die Eltern stehen plötzlich vor hohen Rechnungen. Eine gleichsam unbegrenzte, von Regeln freie Verwendung dieses Mediums durch unsere Kinder ist nicht zu empfehlen. Es könnten statt dessen Eltern festlegen 1. Kinder, die ein Smartphone von ihren Eltern erhalten, bezahlen die damit verbundenen Kosten von ihrem Taschengeld. 2. Die Eltern, verhindern je nach Alter und Reife bestimmte Nutzungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel den Zugang zum Internet mit Hilfe hierfür zu erwerbender Programme. 3. Eltern stellen Regeln auf und beachten deren Einhaltung, wann und wo ein Smartphone benutzt werden darf. Da ist zum Beispiel zu denken daran, dass ein Smartphone im Bett oder während des Essens bzw. der gemeinsamen Mahlzeiten nichts zu suchen hat. In der Schule ist es Sache der Schule bzw. der Lehrerschaft ob und wie die Nutzung von Smartphones geregelt wird. Vorbilder sind jene Schulen bzw. Schulverwaltungen, die die Nutzung von Smartphones im Bereich von Schule und Unterricht regeln und auf deren Einhaltung achten. Jedes Kind braucht auch für die Nutzung von Smartphones einer sorgfältigen Einführung durch seine Eltern, es muss also den Umgang damit lernen. Diese Einführung durch und das Training mit den Eltern ist als Voraussetzung dafür zu betrachten, dass einem Kind ein Smartphone zur zeitweiligen Verfügung anvertraut wird. Hierfür müssten Eltern allerdings in der Lage sein. Eltern, die sich selbst nicht auskennen, werden weder als Vorbilder wirken können noch ihrer elterlichen Verantwortung gerecht werden. Die Skepsis, die Manfred Spitzer mit der Nutzung von Smartphones bzw. Kleincomputern durch Kinder verbindet, und die Gefahr einer „Digitale(n) Demenz“ (so der Titel seines neuen Buches, München 2012) befürchtet, sollte 197 differenziert betrachtet werden. Ich möchte hierzu erzählen, was ich kürzlich beobachtete: Zum Geburtstagskaffee eines Sechsjährigen trafen auch Freunde von ihm ein. Der Älteste war zwölf und die Jüngste seiner Gäste war sieben Jahre alt. Während die Erwachsenen am Kaffeetisch mit einander redeten und schier kein Ende fanden, saßen und lagen die Kinder im benachbarten Wohnraum und waren, jedes für sich mit ihren elektronischen Spielgeräten beschäftigt. Der Älteste zum Beispiel, hatte zwei Fußballmannschaften geladen, deren Spiel er mit seinen Fingern tippend, steuern konnte. Und wie Spitzer in seinem Buch richtig schildert, kamen die Kinder in dieser Zeit nicht miteinander ins Gespräch. Nach etwa einer halben Stunde aber beendeten alle Kinder ihre Computerspiele und gingen in die Kinderzimmer, um dort miteinander zu spielen. Ich schaute mal nach, was sie trieben. Sie saßen auf dem Fußboden und an Tischen, hatten zwischen sich Brettspiele aufgebaut, dort auch Vater und Großeltern dabei („komm jetzt endlich, Opa“ hatte eines den Großvater aus dem Kreis der Erwachsenen geholt und „spielst Du mit uns, Papa“ ein anders Kind). Drei Mädchen widmeten sich ihren Puppen… Ich schloss daraus, dass Kinder es zwar eine Weile interessiert, die Spielprogramme auf ihren Smartphones zu bedienen, es sie aber nach einer gewissen Zeit langweilt und sie dann – und viel länger – lieber mit anderen Kindern und/oder mit den Erwachsenen spielen. Und zwar ohne Aufforderung bzw. Anregung durch die Erwachsenen. Und wenn Spitzer im Untertitel zu seinem Buch den Titel erläutert: „Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, wird der Eindruck erweckt, als würde das neue Spielzeug gleichsam generell zur Verdummung führen. Mein Beispiel deutet an, dass Kinder im Alltagsleben andere Prioritäten setzen können und das auch tun, wenn wir Erwachsenen sie nicht daran hindern. Und so wird ein Schuh draus: Kinder brauchen zu ihrem Gedeihen uns: die Eltern, die Großeltern, die Berufserzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer, so wie im Abschnitt über die Grundbedürfnisse beschrieben. Stehen sie den Kindern zur Seite, dann sind unsere Kinder nicht gefährdet. Anmerkungen zum Internet Hier haben wir es mit einer zusätzlichen Dimension unseres Lebens zu tun, die mehr ist, als die Nutzung von Computerprogrammen bzw. dem Smartphone. Allein an der täglichen Nutzungsdauer der Onlineverbindungen von Mädchen und Jungen lässt sich ablesen, welche Bedeutung diese Kommunikationsmöglichkeit in den letzten Jahren erfuhr. Betrug die tägliche Onlinenutzung von Montag bis Freitag nach Selbsteinschätzung in Minuten 2006 noch 99, so waren es 2013 bereits 179 (JIM-Studie 2013, S. 29). Es nutzen fast ebenso viele Mädchen wie Buben das Internet. Internet ist Topthema auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind Webseiten von bekannten 198 Kindermarken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der Kinder gehen einmal die Woche ans Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in einem sozialen Netzwerk wie z. B. Facebook. Sich mit der Internet-Nutzung – bezogen allein auf den Freizeitbereich oder auf den Schulunterricht – auseinanderzusetzen, dazu braucht jeder von uns viel Informationen aus den entsprechenden Forschungsbereichen und sehr viel persönliche Erfahrung. Soweit aber sind wir noch längst nicht alle und für viele von uns ist das Internet noch fremd. Über die Internetnutzung im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung ist bisher noch wenig geschrieben und kaum geforscht worden. Die Forschungen des Instituts IconKids & Youth in München, von dem einige der hier genannten Zahlen stammen (vgl. Bad. Ztg. Freiburg v. 22.02.2011), arbeitet als Marktforschungsunternehmen in erster Linie für Anbieter im Internet und nicht für die Nutzer und schon gar nicht für die Familienerziehung – es sei denn von dort käme das Geld44. Es nutzten fast ebenso viele Mädchen wie Buben das Internet. Internet ist Topthema auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind Webseiten von bekannten Kindermarken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der Kinder gehen einmal die Woche ans Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in einem sozialen Netzwerk wie z. B. Facebook. Im Durchschnitt sind sie eine Stunde online. Bezogen auf unsere Kinder und Jugendlichen hier einige Stichworte, die zugleich darauf deuten, womit wir uns gegenwärtig vertraut machen sollten: „Kindersuchmaschinen, z. B. „blindekuh“, „Kinderseiten von Fernsehsendern“, z.B. „kindernetz“ vom SWF, „Chatten“, z.B. „kindersache“ von der Infostelle Kinderpolitik, Berlin, Kinderseiten und kommerz, z..B. „coole-schule“ von Kraft Jacobs Suchard. (Christina Feil, 2000, S. 15 ff) Unsere schulpflichtigen Kinder haben längst die Möglichkeiten des Internet entdeckt, die sich für die schulische Arbeit anbieten und holen sich dort Hilfe für ihre Chemieaufgaben, ihre Geschichtsarbeit, den Aufsatz oder zur Lösung mathematischer Aufgaben. Kostenlos und kompetent, interessant und informativ sind die entsprechenden Internetseiten. Die verschiedenen Hausaufgabendienste und andere Anbieter lassen keine Fragen unbeantwortet und keine Wünsche offen. Insofern hinken wir Eltern gewaltig hinter her, wenn wir uns noch nicht mit dem Angebot vertraut gemacht haben. Uns Erwachsenen bleibt nur noch wenig Zeit, wenn wir unseren Kindern zur Seite stehen und die Internetnutzung verantwortungsvoll begleiten wollen. Für Berufspädagogen sind Voraussetzung und Ziel allen Umgangs mit Computerprogrammen und dem Internet das, was in der medienpädagogischen Literatur als „Kompetenz“ bezeichnet wird (jugendschutz.net, Mainz). Bezogen auf das Internet als Informations- und Kommunikationsmedium heißt das für ihre Nutzer: 1. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten das Internet als Werkzeug zu erkennen, es selbst gestalterisch zu nutzen, als ein Instrument zur Optimierung 199 ihrer Informationsbedürfnisse und interaktiven bzw. kommunikativen Möglichkeiten – sowohl als Einzelperson, als auch als Gruppe zu verwenden und ständig zu erweitern. 2. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, Informationen zu sichten und zu bewerten, z. B. unter den Kriterien der individuellen Zwecke und gezielt auszuwählen. 3. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, die Möglichkeiten des Internet entsprechend kritisch wahrzunehmen und, wenn sie ihre Zwecke erreicht haben, das Internet zu verlassen. Dieser Hinweis ist darum ernst zu nehmen, weil im Zusammenhang mit der Internetnutzung Suchtgefährdungen, seelische Erkrankungen bzw. Verstärkung seelischer Störungen und erhebliche finanzielle Belastungen beobachtet wurden. Wir sollten also die Kinder, die in unseren Familien heranwachsen und die wir in Schulen und Tagesstätten betreuen, lehren, die Möglichkeiten des Internet zu beherrschen und zu nutzen, ohne umgekehrt vom Internet beherrscht zu werden und in die Rolle von „Medien-Analphabeten“ oder „chronischer Konsumenten“ abzugleiten. Eltern und Erzieher helfen ihren Kindern, kompetente Mediennutzer zu werden und orientieren sich an folgende Empfehlungen: Programme auswählen bzw. auswählen helfen. Das heißt, dass Eltern wissen, welche Filme ihre Kinder warum anschauen möchten. Fernsehgeräte werden nur zu diesem Zweck eingeschaltet und wieder abgeschaltet, wenn der Film zu Ende ist. Gemeinsam schauen, das heißt, Eltern sehen sich den ausgewählten Film mit ihren Kindern gemeinsam an. Dann können die Kinder mit den Eltern gleich über Unverstandenes sprechen. Vergleichbares gilt für die Wahl anderer Apps. Auch mögliche Ängste, die allein durch bestimmte Geräusche hervorgerufen werden können, lassen sich mindern, wenn die elterliche Nähe gespürt wird. Über das Gesehene sprechen: das heißt, auch wenn die Eltern nicht mitschauen können, sollten die Kinder Gelegenheit haben, mit ihnen darüber zu sprechen. Je mehr die Kinder erzählen und durch das erzählen „los werden“, umso geringer wird die Gefahr, dass Filmszenen Kinder „umtreiben“. Gerade, wenn eine Sequenz für ein Kind angstauslösend war, und was das ist, kann allein das Kind erleben, will es darüber sprechen. Die Rolle der Gesprächspartner können natürlich auch ältere Geschwister oder Verwandte übernehmen. Die beste Alternative für alle Kinder und Jugendlichen sind nicht passives Schauen, sondern Aktivitäten, die sie in besonderer Weise herausfordern, ihnen Gelegenheit zum Erfolg durch eigene Leistung geben und die möglichst gemeinsam mit Eltern und/oder in Kinder- und Jugendgruppen erbracht werden. 200 Musikalische Früherziehung, Sportgruppen, Radfahren, Wandern und Schwimmen sowie viel Spielen, Erkunden und Entdecken im Freien, besondere Angebote für Jugendliche auch außerhalb der Vereine wie Kanu- und Kletterkurse - alles dies sind seit Generationen die besten „Miterzieher“. Überall dort, wo diese aktiven Betätigungen im Vordergrund stehen, wo ein Kind etwas schaffen kann, worauf es hinterher mit Stolz und Genugtuung weist, treten die Gefährdungen durch Fernsehen und Video zurück. Wenn Eltern bei der Filmauswahl darauf achten, dass die jeweiligen Freizeitaktivitäten eine mediale Unterstützung erhalten, lassen sich Fernseher und Videogerät sogar in den Dienst einer das Kind fördernden Entwicklung stellen45. Die Schwierigkeiten, die in Familien dann entstehen, wenn Geschwister heranwachsen und ihre altersorientierten unterschiedlichen Forderungen anmelden, sind gelegentlich sehr groß. So, wie sich nicht alle Filme für alle Altersgruppen eignen, so sind auch Zeit und Dauer von Fernsehkonsum zu differenzieren. Für die Lösung des Geschwisterproblems gibt es kein Rezept. Jüngere Geschwister werden immer danach streben, das Gleiche zu dürfen oder mitzumachen, wie ihre Eltern oder die älteren Geschwister. Genau wie mit der Taschengeld- und Ausgangsregelung werden sich aber in jeder Familie andere Gepflogenheiten und andere Begründungen für altersangemessene Regeln finden. Um extreme, den Familienfrieden nachhaltig beeinträchtigende Konflikte zu vermeiden, empfiehlt es sich, immer dann und dort attraktive Alternativen anzubieten, wann und wo sich die anderen Kinder benachteiligt fühlen. Wer an die Stelle von Fernsehen und Video nichts anbieten kann, was die Kinder gern auf´s Schauen verzichten lässt, hat es schwer. Allein mit Worten und Verboten sind hier keine Erfolge zu erzielen. Einige Bemerkungen zur Fernsehwerbung: Sie kann in Familien dann als Problem erlebt werden, wenn Kinder sich von der Werbung dazu verführen lassen, ihre Eltern mit entsprechenden Kaufwünschen zu nerven. Dass es auch uns Erwachsenen nicht leicht fällt, sich von Werbesprüchen nicht für dumm verkaufen zu lassen, beweist die Werbung selbst: wenn sich niemand daran orientierte, gäbe es sie bald nicht mehr. Schon vor fünfzig Jahren hieß das Thema eines Schulaufsatzes: „Reklame siegt auch dann, wenn man den Braten roch: Man denkt man glaubt es nicht, und glaubt es schließlich doch.“ Wieweit Kinder sich durch Werbung in Fernsehen oder Druckerzeugnissen beeinflussen lassen, hängt von unserem Verhalten ab. Tun wir nicht selbst Werbung als das ab, was es in erster Linie sein soll: Verleitung zum Kauf, dann können wir nicht erwarten, dass sie erkennen, um was es Werbestrategen geht. Ganz lassen sich freilich Ärger und Verdruss nicht vermeiden, weil gerade jüngere Kinder den elterlichen Argumenten nicht folgen können. Die Beachtung folgender Tipps kann sich aber entlastend auswirken: Nehmen wir jeder Werbung den „Ernstcharakter“. Wir achten auf Widersprüche, Albernheiten, Lächerlichkeiten oder baren Unsinn und machen uns gemeinsam 201 lustig über alles dies. Damit wird der unvermeidliche Werbebeitrag zu unverbindlicher Unterhaltung. Diesen Prozess unterstützen wir durch unser Kaufverhalten. Wir verzichten zum Beispiel ganz allgemein darauf, das zu kaufen, was angepriesen wird. Wenn wir etwas kaufen, dann hat das seine guten Gründe, die wir auch nennen können. Und wenn einmal eine Kaufentscheidung mit einer Werbung übereinstimmt, was zum Beispiel beim Kauf eines Autos unvermeidlich ist, dann können wir unseren Kindern gegenüber nachweisen, dass dieser Kauf nicht von einem Werbespot angeregt worden ist. Nur wenn Kinder bei den Eltern erleben, dass deren Kaufverhalten von Werbung unabhängig ist, lernen sie selbst, unabhängig zu werden. Inzwischen sind das Internet und dessen Nutzungsmöglichkeiten so verbreitet, dass es unter anderen fast hundert Prozent aller 10 bis 13-jährigen anwenden. Ob mit diesem Verhalten und welche entwicklungsfördernde Prozesse verbunden sind, ist noch nicht erforscht. Einerseits werden Interaktionsprozesse bzw. zwischenmenschliche Kontakte gefördert oder erleichtert, da auf diesem Wege auch sprachlich nur wenig differenzierte Kontakte gepflegt werden können. Ich denke da zum Beispiel an die Internetplattformen. Andererseits könnte die persönliche Begegnung und die damit verbundene ganzheitliche Wahrnehmung des Gesprächspartners zurückgedrängt werden. Zusammenfassung: 1. Die Nutzung von Bildschirmmedien bergen Chancen und Gefährdungen. Gefährdet sind unsere Kinder und Jugendlichen dann, wenn sie mit Hilfe von Filmen, Spielen und der Internetnutzung versuchen Defizite auszugleichen, die sich auf jene elementaren körperlichen und seelischen Bedürfnisse beziehen, die in den betreffenden Familien nicht hinreichend befriedigt werden. 2. Die Nutzung von Bildschirmmedien einschließlich dem Internet bergen vielfältige und heute noch nicht absehbare und noch kaum in ihren Auswirkungen erforschte Chancen nur für die Kinder und Jugendlichen, für die diese Medien in erster Linie ergänzende Funktionen haben. Die können sich einmal auf Kommunikation, Unterhaltung und Entspannung beziehen und zum anderen auf den Erwerb, die Ergänzung oder das Training von Kenntnissen und Fertigkeiten unter anderem für die Bereiche Steckenpferd, Schule, Berufsausbildung oder Berufsausübung. 3. Alle Personen und Institutionen, die für die Erziehung und Bildung in einem Gemeinwesen Verantwortung tragen oder sich mitverantwortlich fühlen, sollten gegen jene Erscheinungen eintreten, die als Ursachen für den Missbrauch von Medien erkannt worden sind und im Interesse der heranwachsenden Generationen, unserer Kultur und Gesellschaft alles tun, was eine positive Entwicklung jedes Kindes mit Hilfe von Medien und orientiert an den gültigen Erziehungs- und Bildungszielen fördert. Auf diese gemeinsame, 202 gleichsam „vernetzte“ Verantwortung deutet das Team „jugendschutz.net“ (in der Zeitschrift „Diskurs“ Nr. 1/2000, S. 55). Vor allem aber, und das soll abschließend noch einmal betont werden, brauchen unsere Kinder uns, ihre erwachsenen Bezugspersonen als Ansprechpartner, verständnisvolle Begleiter und als Vorbilder. 11 Schlussbemerkungen Wie sehr uns Eltern die Elternschaft belasten kann, wird für die Älteren unter uns, die schon erwachsene Kinder haben, im Rückblick deutlich. Viele von uns wissen genau, und haben das auch als wichtiges Erziehungsziel verinnerlicht, dass ihre Kinder dahin geführt werden sollen, ihr Leben in die eigenen Hände nehmen zu können. Die „eigenen Hände“ das bedeutet aber zugleich in eigene Verantwortung mit allen Risiken und Chancen. Diese Eigenständigkeit aber ist es, die uns zu schaffen machte. Es fällt uns Eltern nicht leicht, einigen von uns ist es sogar unmöglich, die eigenen Vorstellungen über das, was gut ist für unser Kind und das, was ihm nach unserer Überzeugung schadet, beiseite zu stellen. Wir sind ja so viel älter, meinen es so gut und wollen unserem Kind alles das ersparen, was wir einst erlitten hatten. Diese guten Absichten verwirklichen wir am besten dann, wenn wir – anders als vielleicht unsere Eltern - unseren heranwachsenden Töchtern und Söhnen unsere Bevormundung ersparen und ihnen ermöglichen, ihre eigenen guten und schlechten Erfahrungen zu sammeln. Und lassen wir uns von der Erkenntnis des Humanisten und Schriftstellers Leonhard Frank (1991) leiten, dass der Mensch von Natur aus gut ist! Unsere Ängste freilich kann uns niemand nehmen, wenn wir an die Gefährdungen unserer Heranwachsenden denken. Haben wir aber bisher die Bedürfnisse unserer Kinder beachtet, leben wir genug Selbstvertrauen, dann sollte der Lösungsprozess gelingen. Dieser Prozess sieht bei jedem unserer Kinder jeweils anders aus und sein Gelingen muss sich keineswegs daran messen lassen, ob ein Kind auszieht und seinen Wohnsitz an einem anderen Ort nimmt. Selbst wenn unsere herangewachsenen Mädchen und Jungen sich aus eigenem Willen und in völliger Freiheit dazu entschieden haben, lieber noch daheim wohnen bleiben zu wollen, auch wenn sie längst wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen, darf uns das nicht beunruhigen. Die Lösung, von der hier die ganze Zeit die Rede war, vollzieht sich in der ganzen Persönlichkeit und zeigt sich uns in recht verschiedener Gestalt. Allgemein aber gilt, dass unser Kind dann selbständig geworden ist, wenn es uns für ein eigenständiges Leben nicht mehr braucht. Wenn dann unsere Kinder zu uns kommen, weil sie unseren Rat oder unsere Hilfe wünschen oder uns von ihren Erfahrungen oder Plänen berichten, dann hat sich die Eltern – Kind - Beziehung gewandelt. Die Alters- und häufig auch die Erfahrungsunterschiede sind freilich geblieben. Doch nun sitzen sich 203 gleichberechtigte und gleich selbständige Persönlichkeiten am Tisch gegenüber. Nun werden unsere Überlegungen und Erfahrungsberichte mit Interesse aufgenommen. Und nun sind die Begegnungen mit unseren herangewachsenen Kindern von stiller Freude und Genugtuung über diese neue Art und Weise der Beziehungen angefüllt. Anmerkungen Gemeint sind Erwachsene, die in positiver Weise all jene Werte und Normen mit den Kindern leben, die diese optimal auf das Leben vorbereiten, ihnen Orientierung und Halt anbieten, wie „Autonomie, Selbstbewusstsein, Wissen um den eigenen Wert und den Wert für die Gesellschaft. Common sense. Rücksichtnahme. Menschlichkeit.“ (Prof. Peter Paul Schnierer von der Universität Heidelberg in der Sendung „Wissen“ am 16.10.2014: „Jugendgewalt im Roman. Von „Herr der Fliegen“ bis zu „Nichts“ – Manuskript, S. 12) 1 Vgl. hierzu die Ergebnisse der Studie „Kinderwertemonitor“ vom Kinderhilfswerk Unicef und die Zeitschrift Geolina im Jahre 2014. Im Internet unter http://www.unicef.de/presse/2014/kinderlegen-wert-auf-werte/56986 2 Uta Meier-Gräwe, Professorin für Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Giessen, in der Sendung „Aula“ des SWR II am 6. August 2006; vgl. auch Katja Bauer in ihrem Beitrag: Wo stöckeln nur die Mädchen hin?...über die Gefahren der Pinkifizierung“ in: Badische Zeitung am 23. 12. 2013, S. 31. 3 4 Vgl. dazu: John Bowlby: „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ , München 4/2001). 5 Hilfe bei der Sinnfrage. Philosophie als Lebenskunst. Vortragsmanuskript der Sendung SWR2 Aula vom 01.01.2007, S. 4,). 6 „Sozial und resonanzfähig – Warum der Mensch auf Kooperation geeicht ist“. Vortrag in der Sendung "Wissen" des SWR 2 am 21. Januar 2007 Diese Zusammenhänge sind durch die erziehungswissenschaftliche und motivationspsychologische Forschung mehrfach nachgewiesen. Zu verweisen ist z. B. auf die Arbeit von Rolf Kühn: Bedingungen für Schulerfolg. Zusammenhänge zwischen Schülermerkmalen, häuslicher Umwelt und Schulnoten. Göttingen 1983. Vgl. auch: Ralf Schwarzer: Schulangst und Lernerfolg. Düsseldorf 1975; vgl. dazu weiter unten, S. 169 ff 7 Dieses Beispiel deutet darauf, dass die Wurzeln noch heute gültiger und von unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen bestätigter Bedingungen pädagogischen Handelns sehr weit zurück reichen. Berufserzieher vor allem sollten sich unserer Denktraditionen bewusst sein und sie achten. 8 9 Hier ist zum Beispiel zu denken an die Schrift „Haben oder sein“ von Erich Fromm. SWF 2 - Sendung vom 27.09.2004; 10,05 Uhr. Vgl. auch den Bericht von Anita Rüffer über die Fachtagung in Freiburg über Interventionen gegen häusliche Gewalt: Badische Zeitung Freiburg v. 20.11.2006, S. 24 10 der Schiedsrichter-Obmann Matthias Scheibengruber am 14. Januar 2013 in der Badischen Zeitung, S. 15 11 204 12 Mechthild Müser, SWR2; Sendung v. 16.04.2008; Manuskript, S. 4. Es waren 234 Erzieherinnen und Erzieher aus Kindergärten und 115 Eltern in einer Großstadt beteiligt. 13 vgl. dazu auch den Abschnitt über „Werte und Normen in der Erziehung“ oder das Buch von Hans Janssen: Kinder wollen Klarheit. Regeln finden - Grenzen setzen. Zürich 1994. 15 So lautet der Titel eines lesenswerten Buches von Günter Pernhaupt und Hans Czermak in dem die sorgfältig recherchierten Folgen einer schlagfertigen Strafpraxis von Eltern und Erziehern dargestellt werden. Wien 1980 14 Reiner Funk, Hrsg.: Erich Fromm Gesamtausgabe Band VII. Aggressionstheorie, S. 194. Erich Fromm hat sich sehr gründlich in seinen Schriften mit der menschlichen Aggression befasst und darüber geforscht. Kritisch setzt er sich aus analytischer Sicht mit anderen Aggressionstheorien auseinander. Fromm weist nach, dass die zerstörerischen Formen zwischenmenschlicher Aggressionen bis hin zu Krieg und Zerstörung in den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen eine Ursache haben. 16 Zu jenen Biologen und Ethologen gehören zum Beispiel Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse. Wien 1963) Bernhard Hassenstein (Verhaltensbiologie des Kindes. München 1976), Felix v. Cube u.a. (Fordern statt verwöhnen. München 8/1995 - Neubearbeitung) und Irinäus Eibl-Eibesfeld: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Weyarn 3/1997 erweitert und neu bearbeitet. Die anderen hier genannten Ansätze aus Psychologie und Soziologie finden wir sowohl bei Eibl-Eibesfeld als auch in den Arbeiten von Thomas Elbert von der Universität Konstanz, der davon überzeugt ist, dass Menschen von Natur aus darauf angelegt sind, Gewalt auszuüben und sogar zu töten. (vgl. z. B. ein Interview in der NZZ am Sonntag vom 07.09.2014, S. 20-21) 17 18 Busemann, Andreas: Beiträge zur pädagogischen Milieukunde. o.O. 1970. Luitgart Brem-Gräser: Familie in Tieren. München 1975, S. 81. Vgl. zu diesem Thema auch Bettina Mähler: Geschwister. Hamburg 1995. Forer, Lucille K. und Still, Henry: Großer Bruder – kleine Schwester. Die Geschwisterreihe und ihre Bedeutung. Köln 1979. Walter Tomann: Familienkonstellation – ihr Einfluss auf den Menschen und sein soziales Verhalten. München 1980 Aus der Fülle der Schriften über Geschwister und einem wirkungsvollen Umgang mit diesen Problemen hier noch zwei Titel: Endres, Wolfgang: Geschwister … sie haben sich zum Streiten gern. Weinheim 5/1994, Hier: S. 39. Heinz Lothar Worm: 5 Fragen an den Elternberater. 8. Band der Reihe „Kinder sind Kinder“. München 1984 19 William Stern sprach in diesen Zusammenhängen von „Furcht“ (Psychologie der frühen Kindheit. Darmstadt 1993, S. 444). Umgangssprachlich meinen wir mit Befürchtungen gleichsam „geringere“ Ängste. 20 Zittau, Jörg: Wer braucht denn noch Sex? Güterloh 2014. Vgl. auch: SWR 2 Sendung Wissen /immer weniger Sex vom 27.05.2014 21 22 Sokrates, wirkte im vierten Jahrhundert v. Chr. in Athen Vgl. dazu: http://eltern.t-online.de/taschengeld-2013-taschengeldempfehlungen-fuer-jedesalter-/id_16514274/index 23 24 In: SWR 2 Wissen am 19. Januar 2013; Manuskript S. 4. Autorin: Ulrike Lückermann Dass diese Überlegung kritisch gesehen werden muss, zeigt uns der Charakter Voltaires, des französischen Philosophen und Dichters aus dem achtzehnten Jahrhundert Einerseits war er sehr wohl in der Lage zu sich selbst auf Distanz zu gehen und sich über sich selbst kritisch zu äußern. Andererseits ist überliefert, dass er gern Schach spielte aber sehr ungern verlor. Kluge Freunde wie kluge Eltern in unseren Tagen bei ihren Kindern- halfen darum etwas nach, um ihn gewinnen 25 205 zu lassen. Voltaire freute sich dann jedes Mal sehr (wie unsere Kinder auch). Und ist es nicht schön, anderen eine Freude zu machen? 26 Lückemann, SWR2 Sendung Wissen am 19.01.2013; Manuskript, S. 13. Über Eigenschaften und Verhaltensweisen, die gegenwärtig in den Erziehungswissenschaften zur „Lebensvorbereitung“ favorisiert werden vgl.: Hans Werner Heymann: Bildung trotz oder mit Internet? In: Pädagogik Nr. 9/00, S. 7 27 Die Literatur zum Thema Lehrer und Schule ist sehr reichhaltig. Hier sei stellvertretend für alle, auf Veröffentlichungen der „Aktion humane Schule“ verwiesen, in denen sich Analysen und Empfehlungen für eine kindgerechte Schule in großer Zahl befinden. Vgl. dazu: „Humane Schule“. Mitteilungsblätter ..., die seit 1974 erscheinen. 28 Von mir ausgewertet wurde das Material von zehn Familienwochenenden mit insgesamt 253 erwachsenen Teilnehmern und 186 Schulkindern. 29 Matthias Pöhm hat über dergleichen Situationen gearbeitet und einen Ratgeber verfasst, wie Kinder aus einer Opferrolle herauskommen können: „Schlagfertig auf dem Schulhof“ 2008 http://www.rhetorik-seminar-online.com/pohm-letter-archive/poehmletter91#1 30 Sowohl die Schulgesetze der Bundesländer erteilen den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer gleichlautende Aufträge als auch die Mehrheit Eltern in der Bundesrepublik haben vergleichbare Erwartungen an die Schule. Vgl. dazu Falko Rheinberg, Rainer Bromme und Bernd Weidenmann, Weinheim 4/2001 31 Vgl. dazu auch das Manuskript der Sendung „Kindheit im Leistungswahn. Wenn Förderung zum Zwang wird“ von Christina Bergengruen.SWR 2: Wissen vom 29.11.2013 32 Einen guten Überblick bieten die „Jugendmedienstudien“ an. So zum Beispiel die JIM Stuttgart 2012, die KIM Stuttgart 2013 und die miniKIM Stuttgart 2013 – Die Studienkonzeptionen und die Ergebnisse der Untersuchungen stehen als PDF-Dateien zum Download zur Verfügung. http://www.mpfs.de/?id=527 33 Auf eine mögliche Gefährdung der Geistigen und körperlichen Entwicklung von Kindern durch den ständigen Umgang mit Handy, Smartphone u. ä. macht Manfred Spitzer in seiner Schrift über „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer, München 2014) aufmerksam. Im Freizeitmonitor für 2014 wird nachgewiesen, dass Fernsehen das Freizeitverhalten der Deutschen dominiert. http://www.stiftung fuerzukunftsfragen.de Kurz, Robert: Bildungsproletariat und Elitenbildung. Anmerkungen zur Ökonomie des kulturellen Notstands. Manuskript, S. 3 34 Vgl. dazu die Ergebnisse der Studie des Kriminologisches Forschungsinstituts von Niedersachsen (KFN) unter der Leitung von Professor Christian Pfeiffer (SWR 2 / Aula vom 11. 02. 2007 und die Veröffentlichung dieser Studien am 15. 02. 2008: Die Pisa-Verlierer - Opfer ihres Medienkonsums) 35 "Strukturellen Jugendschutz ausbauen". In: bildung und wissenschaft Nr. 7-8/2007, S. 30-31. Vgl. dazu auch den entsprechenden Abschnitt im Kapitel über den Umgang mit dem Computer! 36 Vgl. dazu die Beobachtungsergebnisse von Maya Götz referiert von Sabine Riemann in: Die Teletubbies. In: Grundschule Nr. 7-8/2000 S. 23 37 Über den „Ethikbedarf der Medien“ finden sich im Septemberheft der Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz (III / 2000) einige Beiträge. Die sich eher an das Kommunikationssystem von Wissenschaftlern richtenden Aufsätze von Stefan Aufenanger und Andreas Greis bieten dem einzelnen Pädagogen allerdings keine Werthorizonte an, auf die er seine medienpädagogischen 38 206 Strategien beziehen könnte. Dagegen deutet der Verweis auf das bundesweite Medienprojekt „Spitze Feder“ in dem Beitrag von Heike Mensing-Schauer auf Bemühungen, wenigstens in Bezug auf das Fernsehen einen kritischen, wertorientierten Dialog zwischen „Fernsehmachern und – konsumenten“ in Gang zu bringen.(S. 16 – 18 dieser Ausgabe). Vgl. dazu auch die Mitteilungen der Landesbildstellen Baden-Württemberg „Analog und Digital“. In der Ausgabe Nr. 2/1999 werden z. B. eine Reihe von Projekten vorgestellt, die in Schulen durchgeführt werden und über die Funktionen eines Computer unterstützten Unterrichts nachgedacht. 40 www.isfb.org/Forschung/Forschungsergebnisse; vgl. auch http://www.urbia.de/magazin/schulkind/freizeit-und-medien/kein-eigener-computer-u... 39 41 http://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/verhalten/Dokumente/Ambulanz_Flyer.pdf 2014http://www.t-online.de/eltern/familie/id_70603878/kids-verbraucheranalyse-2014-jedesvierte-kind-hat-ein-smartphone.html 42 43 Drösser, Christoph veröffentlichte in der „ZEIT“einen Beitrag: „Macht mal Pause!“ Die Soziologin Sherry Turkle über Kommunikation per SMS und Facebook, Entfremdung und Verbindlichkeit in Beziehungen. http://www.zeit.de/2011/09/Interview-Sherry-Turkle 44 Vgl. die jeweils aktuellen Informationen bei: http://www.iconkids.com/deutsch/04publikationen/04_1/studien.html Vgl. hierzu die Fachbeiträge von u.a. Sigrid Weber in: http://www.kindergarten-heute.de: „Wie was und warum Kinder fernsehen. Oktober 1999 ff http://www.kindergartenheute.de/artikel/themenpakete/heft_inhalt.html?k_beitrag=3521070 45 207 Literaturangaben Adler, Alfred Menschenkenntnis. Frankfurt 1981 Andresen, Sabine, Brumlik, Michael, Koch, Klaus Das Elternbuch. Stuttgart 2010 Arlt, Marianne Pubertät ist, wenn die Eltern schwierig werden. Freiburg 1992 Bauer, Joachim Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg 5/2005 Bauer, Joachim Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg 2006 Bauer, Joachim „Sozial und resonanzfähig – Warum der Mensch auf Kooperation geeicht ist“. Vortrag in der Sendung "Wissen" des SWR 2 am 21. Januar 2007 Bauer, Joachim Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München 2011 Bergengruen, Christina Kindheit im Leistungswahn. Wenn Förderung zum Zwang wird. SWR 2: Wissen am 29.11.2013 Druckversion Bergmann, Wolfgang Hüther, Gerald Computer-süchtig? Kinder im Sog moderner Medien. Weinheim 2013 Bettelheim, Bruno Liebe allein genügt nicht. Stuttgart 1971 Bettelheim Kinder brauchen Märchen. München 12/1988 208 Bockhorst, Hildegard 2/2006 Kinder brauchen Spiel und Kunst. München Bowlby, John: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München 4/2001. Bowlby, John Trennung. Angst und Zorn. München 2006 Bowlby, John Verlust. Trauer und Depression. München 2006 Brazelton, Thomas und Greenspan, Stanley Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern…,Weinheim 2003 Braun, Daniela Lasst die Kinder an die Maus! Wie Kinder in der Kita mit Computern umgehen. Freiburg 2000 Braunmühl, Ekkehard Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung“. Weinheim 1983 Braun, Karl-Heinz und Martin Felinger Sinn-Bildung von Kindern. Eine Fallstudie. In: neue Praxis Nr. 2/2009, S. 129 - 144 Brem Gräser, Luitgard Familie in Tieren. 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