Eltern und Kinder berichten

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Joachim Rumpf
Ein Buch für Eltern
und für alle, die sich mit Erziehung und Bildung befassen
(Rumpfs-paed.de)
Vorwort
4
1. Teil
Über die Grundbedürfnisse von Kindern
Einführung
Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen
Eltern sorgen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen
Grundbedürfnisse und Erziehung
Zur Auswahl der Grundbedürfnisse
Die Grundbedürfnisse im Einzelnen
Physische Grundbedürfnisse
Das Bedürfnis nach Sicherheit
Das Bedürfnis nach Liebe
Das Bedürfnis nach Anerkennung
Das Bedürfnis nach Vertrauen
Das Bedürfnis nach Führung
Das Bedürfnis nach Förderung
Das Bedürfnis nach Freude
Das Bedürfnis nach Verständnis
Das Bedürfnis nach Frieden
Das Bedürfnis nach Sinn
Zum Schluss
6
7
8
9
9
12
12
15
19
21
24
27
30
33
35
37
40
44
2. Teil
Was Eltern und Berufspädagogen
bewegt
1.
Übereinstimmungen in der Erziehung
Einführung
Die Familie als interaktives Geflecht
In der Erziehung an einem Strang ziehen
Eltern erziehen nicht allein
47
48
51
53
2.
Drohen, strafen, Grenzen setzen
Einführung
Was sind Strafen?
Straffolgen
Brauchen Kinder Strafe?
Kinder lernen aus Folgen
Kinder ermutigen
56
57
58
60
62
64
1
3.
Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen
Einführung
Die menschlichen Aggressionen
Einige Ursachen aggressiven Verhaltens
Aggressivität in unserem Alltag
Aggression und Gewalt als pädagogische Herausforderungen
Zank und Streit unter Kindern
Geschwister streiten gern miteinander
Im Vorschulalter macht uns der kindliche Trotz zu schaffen
65
66
69
73
74
79
81
84
4.
Über die Ängste von Kindern
Einführung
Die Verlassenheitsangst
Von der Angst, nicht beachtet zu werden
Die Versagens- oder Leistungsangst
Vom Umgang mit Ängsten
Einige Hinweise zum Schluss
92
92
94
94
97
98
5.
Sexualität und Erziehung
Einführung
Sexualität ist natürlich
Sexualität als soziales Verhalten
Sexualität und Entwicklung
Sexualität und Erziehung
100
101
101
102
107
6.
Kinder werden selbständig
Einführung
Die Verselbständigungsphase „Pubertät“
Selbständigkeit als Erziehungsaufgabe
Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung
Günstige Bedingungen auf dem Weg zur Selbständigkeit
Wer sich lösen können soll, muss sich gebunden haben
Erfahrungen von Eltern
106
107
110
113
115
118
119
7.
Der Umgang mit Geld
Einführung
In den Familien ist Geld immer ein Thema
Einige Rahmenbedingungen und Erfahrungen
121
122
125
8.
Kinder spielen und lernen
Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen
und außerschulischem Lernen
Einführung
Die kindliche Neugier
Kinder brauchen andere Kinder
Einige Informationen über das Lernen
Was das Lernen fördert oder behindert
Über das Spiel und seine Bedeutung
131
132
134
135
136
142
2
Spielen muss möglich sein
Spielen wir gern mit unseren Kindern?
Formen des Spiels
Spielleidenschaft
144
146
148
149
9.
Lernen und Schule
Einführung
Die Schule als Herausforderung
Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken
Eltern und Kinder berichten
Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens
Lernmotivation und Schule
Eine gute Schule?
Bewährte Haltungen und Strategien
152
153
156
158
163
166
168
171
10.
Unsere Kinder und die Bildschirmmedien
Einführung
Elektronische Medien und Erziehung
Vor dem Bildschirm
Der Computer als Freund und Helfer?
Mit den Fingern auf dem Smartphone
Anmerkungen zum Internet
Zusammenfassung
177
178
182
187
193
195
199
11
Schlussbemerkungen
200
Anmerkungen
201
Literaturverzeichnis
205
3
„Sei still!“
Erziehung und Bildung in der Familie
Ein Buch für Eltern
und für alle, die sich mit Erziehung und Bildung befassen
Vorwort
Liebe Miteltern und –großeltern,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ mit diesen Worten überreichten
meine Großeltern meinen Eltern für ihre beiden Kinder einen Rohrstock, als
sie uns Ende der dreißiger Jahre im vergangenen Jahrhundert besuchten.
Meine Schwester und ich waren empört. Und als Oma und Opa wieder
abgereist waren, zerbrachen wir den Stock.
Mich ließ dieses Erlebnis nicht los. Ich muss noch heute immer wieder daran
denken. Und dass ich später Pädagoge von Beruf wurde, ist auch dieser
Erinnerung geschuldet.
Brauchen Kinder „Züchtigungen“? Müssen wir Eltern und Berufspädagogen sie
aus welchem Anlass ständig ermahnen: „sei still!“ oder sonst wie „zur Ordnung
rufen“ und auch noch bestrafen? So, wie das in einigen Kulturen und
Religionsgemeinschaften noch heute üblich ist.
Seither suchte und fand ich Antworten auf diese und viele andere Fragen.
Gern berichte ich Ihnen darum auf den folgenden Seiten über meine Erfahrungen
als Erzieher vieler Kinder, eigenen und fremden. Und ich trage zusammen, was ich
mit anderen Eltern in vielen Elternabenden und Familienwochenenden über
Erziehungsfragen austauschte. Aus alledem ergaben sich eine ganze Reihe von
Empfehlungen ganz allgemein zum Leben mit Kindern und im Besonderen zu
bestimmten Einzelthemen.
Ich hatte bereits vor zehn Jahren begonnen, alles dies auf meine Homepage
www.rumpfs-paed.de einzustellen. Sehr häufig wird sie inzwischen aufgesucht. Ich
habe einen großen Teil dieser Texte überarbeitet und in diesem Buch für Sie
zusammengestellt.
Es ist kein einfaches Unterfangen, dieses Buch zu lesen. Ich habe nicht nur rund
sechzig Jahre in pädagogischen Berufen gearbeitet, sondern mich auch theoretisch
mit Themen aus Erziehung und Bildung befasst. Aus beidem erwuchsen die
Ansprüche an Inhalt und Form alles dessen, was hier zusammengestellt ist. Sollten
Sie Fragen haben oder etwas ergänzen wollen, dann teilen Sie mir das bitte mit!
Und wenn Sie es wünschen, dann füge ich gern Ihre Erfahrungen auf die
4
thematisch dazu passenden Seiten auf meine Homepage mit ein. Vielleicht gelingt
es dann mit der Zeit, beide mit Gewinn zu verbinden: einen Buchtext, der ja nicht
einfach verändert werden kann, mit dem dazu passenden Aufsatz im Internet, der
jederzeit modifiziert und gleichsam auf den neuesten Wissensstand gebracht
werden kann.
Die von mir verfassten Texte ersetzen weder die Fachliteratur über die jeweiligen
Gegenstände noch können und wollen sie mit Elternratgebern über Fragen der
Erziehung und Entwicklung konkurrieren. Ich denke da unter anderem an
Veröffentlichungen wie die im Internet „Elternwissen kompakt“ oder die
Schriftenreihe „Klett Extra für Eltern“ aus den siebziger Jahren, an die
Taschenbücher aus dem Rowohlt Verlag „Das Elternbuch“ oder an die ElternRatgeber-Reihe aus dem Südwest-Verlag, die ganz neu in den Buchhandel kamen.
Aber auch die populärwissenschaftlichen Bücher von dem Adler-Schüler Rudolf
Dreikurs u.a. (z.B. „Kinder fordern uns heraus“) oder von der Ärztin und
Waldorfpädagogin Michaela Glöckler (z.B. „Elternfragen heute“), möchte ich
interessierten Eltern als Literatur empfehlen.
Im Unterschied zu diesen Schriften sind meine Texte auf wenige
Erziehungsprobleme beschränkt und konzentrieren sich auf Fragestellungen, die
Eltern im Alltag bewegen. Ihre Auswahl wurde von der Häufigkeit bestimmt, mit der
die jeweiligen Kapitel in meiner Homepage aufgerufen wurden.
Meine
eigenen
fachlichen
Überzeugungen
werden
von
drei
humanwissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet:
1. Die ethischen Fundamente einer humanistischen Psychologie und die von
ihr ableitbaren Normen und Wertvorstellungen sind Ausgang und Ziel von
Erziehung und Bildung.
2. Was Kinder zu ihrem Gedeihen brauchen beziehungsweise was ihrer
Entwicklung schadet, ist hinreichend erforscht. Diese Grundbedürfnisse
gelten unabhängig von Zeit und Kultur.
3. Im Zusammenhang mit Erziehungs- und Bildungsprozessen haben die
Erkenntnisse über den pädagogischen Bezug nach dem die Basis aller
erzieherischen Bemühungen das „leidenschaftliche Verhältnis eines reifen
Menschen zu einem werdenden Menschen (ist), und zwar um seiner selbst
willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Hermann Nohl,
1970, S. 134).
Darüber hinaus können die hier vorliegenden Texte
Moderatorinnen und Moderatoren von Gesprächskreisen mit Eltern die
inhaltlichen Vorbereitungen erleichtern, sowie,
ganz oder in Ausschnitten, den Eltern als Begleitmaterial dienen.
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1. Teil
Über die Grundbedürfnisse von Kindern
Einführung
Einmal im Monat kommen Elsbeth und ihre Tochter uns besuchen. Die kleine
Anita ist inzwischen anderthalb Jahre. Stolz über ihre Leistung schaut sie
meine Frau und mich an, nachdem sie die zwei Etagen ganz allein und Stufe
für Stufe emporgestiegen ist. „Was sagt ihr nun? Bin ich nicht schon groß?“
Natürlich bewundern die Mama und wir ihren Erfolg und lächeln sie an und
freuen uns darüber.
Anschließend geht sie voran in den Raum mit den vielen Büchern. Zielsicher
strebt sie dem kleinen Tisch zu, auf dem, wie sie von den vorangegangenen
Besuchen her weiß, etwas zum Spielen für sie bereitliegt. Diesmal ist ein kleines
Büchlein dabei: Die Biene Maja ist auf dem Einband zu sehen. Sie nimmt das
Buch, zeigt es strahlend ihrer Mama, schaut sich um und geht durch den Raum
hinüber zur Couch auf die sie hinaufklettert. Sie wendet sich zum Tisch, legt
das Büchlein darauf und beginnt zu blättern. Ihr Tun begleitet sie mit Ein- und
Zweiwortsätzen, auf die wir Erwachsenen jeweils bestätigend reagieren. Einer
von uns setzt sich zu ihr und schaut mit ihr gemeinsam die Bilder an und
spricht mit ihr darüber…
Nichts Besonderes möchte man sagen. So begegnen wir unseren Kindern doch
jeden Tag. Das ist doch für uns kein Thema! Was hat dieses alltägliche Geschehen
mit den Bedürfnissen der Anita zu tun?
In unserem Alltagshandeln im Umgang mit unseren kleinen und großen Kindern
gehen wir auf sie ein, befriedigen so deren Bedürfnisse, sorgen dafür, dass sie sich
wohl fühlen. Michele erfuhr in dieser kaum halbstündigen Episode eine vielseitige
Förderung: Die Herausforderung des Treppensteigens, den Stolz auf die erbrachte
Leistung, die Anerkennung von Seiten der für sie wichtigen Bezugspersonen, die
Freude über ein neues Spielzeug und dessen Aufforderungscharakter, die verbale
Kommunikation vor dem Hintergrund liebevoller, akzeptierender Zuwendung…
Und über jede Stunde im Leben dieses Kindes in Gemeinschaft mit seinen Eltern
und anderen Erwachsenen und Kindern ließe sich viel erzählen. Auch darüber,
dass Anita fordernd und quengelig sein kann, wenn sie mit den Eltern über den
Markt geht, oder dass sie sich beim Spiel mit Gleichaltrigen heftig streitet mit
älteren Kindern aber gut zu Recht kommt. Und stets sind Mutter und Vater
gefordert so zu reagieren, dass sie den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht werden,
sie angemessen „beantworten“ und auf diese Weise dessen Wohl fördern. Und
dieses „Wohl“, um das es im Zusammenleben mit unseren Kindern unaufhörlich
geht, soll nun etwas ausführlicher betrachtet werden.
6
Die Bedürfnisse von Kindern sind immer die gleichen.
Die Bedürfnisse von Kindern waren und sind zu allen Zeiten und in allen
Kulturen oder in jeder Bevölkerungsgruppe die Gleichen. Bei näherem
Hinschauen ist erkennbar, dass die hier vorgetragenen "Grundbedürfnisse"
konkreter Ausdruck der in der deutschen Rechtsprechung zentralen Formel vom
"Wohl des Kindes" sind.
Weder Veränderungen in politischen und ökonomischen Systemen noch in den
Bereichen der Kultur, wie zum Beispiel unterschiedlicher Akzentuierungen von
Wertvorstellungen, haben etwas an diesen Grundbedürfnissen geändert.
In einem Interview in der Zeitschrift Diskurs (2/1992) sprach Urie Bronfenbrenner
in diesem Zusammenhang von den in der Erziehung gültigen "Universalien".
Diese "Universalien in der Kindererziehung" sind genau die, die sich in den
Forschungsergebnissen der verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen
widerspiegeln.
Die US-amerikanischen Professoren Thomas Berry Brazelton und Stanley
Greenspan (2002, S. 9) ziehen nach ausführlichen Recherchen eine
niederschmetternde Bilanz:
"Die elementaren Bedürfnisse der Kinder werden weder bei uns noch in anderen
Ländern wirklich befriedigt". Beide Mediziner haben folgende Grundbedürfnisse"
("irreducible needs", d. i.: nicht ableitbare, unabdingbare Bedürfnisse)
herausgearbeitet:
beständige liebevolle Beziehungen,
körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation,
Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind,
entwicklungsgerechte Erfahrungen,
Grenzen und Strukturen,
stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität,
globales Verantwortungsbewusstsein, das auch die Kinder in armen Ländern
einbezieht.
Diese, von den Amerikanern so bezeichneten Grundbedürfnisse sind zwar sehr
abstrakt formuliert, sie enthalten aber durchaus Elemente, die sich in den auf
diesen Seiten veröffentlichten Bedürfnissen wiederfinden.
Hier jedoch in
konkreterer Gestalt und aus dem Erfahrungshorizont betroffener Eltern sowie
Pädagogen und Psychologen aus theoretischen und praktischen Arbeitsfeldern.
Dass auch in Deutschland Mediziner nach optimalen Bedingungen für die
kindliche Entwicklung fragen, das zeigen uns die Vertreter der Gehirnforschung.
Deren Forschungsergebnisse bestätigen in sehr eindrucksvoller Weise den
Erfahrungsschatz und die Handlungsempfehlungen maßgeblicher Pädagogen seit
Johann Amos Comenius im 17. Jahrhundert bis heute.
Es handelt sich dabei weniger um bestimmte pädagogische Strategien, als vielmehr
um allgemeine Verhaltensweisen und menschliche Haltungen, wie sie Begriffe wie
7
"Achtung" vor jedem Kind, "Verantwortung für ein Kind und seine Entwicklung"
oder sehr wohl beschreibbare "Familienatmosphären" andeuten. Armin Krenz hat
nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus, unsere Begegnungen mit dem Kind als
eine, an Werten orientierte „Umgangskultur“ beschrieben (1999, S. 69 ff).
Welches Einzelthema wir auch betrachten: unsere pädagogische Wirksamkeit in
Erziehung und Bildung in den Familien und in pädagogischen Einrichtungen ist
von vielen dieser allgemeinen Bedingungen beeinflusst. Und wenn hier die
Formulierung gewählt ist: „Jedes Kind hat das Bedürfnis nach…“ dann sollte das
nicht missverstanden werden. Es ließe sich dafür auch setzen:
„Jedes Kind hat Anspruch auf…“ oder „Jedes Kind hat ein Recht auf…“. Dies zu
vermitteln, ist ein ganz zentrales Anliegen dieses ersten Teils.
Eltern sorgen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen
Kinder sind nicht - zumindest nicht in erster Linie - für ihre Eltern da. Wohl aber
Eltern für ihre Kinder! Die Entscheidung für ein Kind ist stets zugleich die
Entscheidung für eine ganz besondere Form der Verantwortung!
Ein Kind ist kein Besitz wie ein Fahrrad oder ein Möbelstück. Es gehört also nicht
uns, auch wenn wir als Mutter oder Vater von "meinem" Kind sprechen. Doch das
ist so selbstverständlich und banal, dass es eigentlich keiner gesonderten
Erwähnung bedürfte, wenn - ja wenn! - es nicht doch Eltern gäbe, die meinten, das
ist mein Kind und ich allein habe zu bestimmen, ich allein weiß, was ihm gut tut,
ich ..., ich..., ich...". Jedes Kind aber ist und hat eine eigenständige Persönlichkeit
von Anfang an, die sich entwickelt und ausformt im Dialog mit uns. Und Dialog
heißt unter anderem auch, den eigenen Willen und das eigene Streben unseres
Kindes mit unseren Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnissen in einer für unser
Kind fördernden Weise in Beziehung zu bringen.
Was Eltern in Bezug auf ihr Kind wirklich und zunächst unteilbar "besitzen", das
ist die Verantwortung für ihr Kind. Die Eltern tragen diese Verantwortung
zunächst ungeteilt und sorgen dafür, dass die Grundbedürfnisse ihres Kindes
befriedigt werden. Im Grunde lassen sich Eltern wie überhaupt die Erwachsenen
im Umfeld eines Kindes selbst zu den „Grundbedürfnissen“ zählen1. Bei dieser
Fürsorge für ihre Kinder bedürfen Eltern in allen Kulturen selbstverständlich der
wohlwollenden Förderung durch ihr Umfeld. Das ist einmal die eigene Familie, in
der Regel also die Großeltern, die Geschwister und die anderen in enger
Verbindung mit ihm lebenden Verwandten. Das sind aber auch die ideellen und
materiellen Rahmenbedingungen, die das Familienleben in vielfältiger Weise
fördern, wie unsere Familiengesetzgebung, die Länder, Landkreise, Städte und
Gemeinden oder die Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung in unserem Staat.
Von dort her sind familienunterstützende Einrichtungen am Werk und müssen
ständig ausgebaut werden. Während Kinderkrippe und Kindergarten – gleichsam
im Auftrage der Eltern – an der Betreuung, Erziehung und Bildung mitwirken, tritt
später die Schule im Auftrag des Staates hinzu und teilt sich von nun an mit dem
8
Schwerpunkt auf die „Bildung“, die Verantwortung für die Entwicklung eines
Kindes.
Auf den folgenden Seiten wird diese Verantwortung in Bezug auf die Beachtung
der Grundbedürfnisse von Kindern beschrieben.
Grundbedürfnisse und Erziehung
Die Entwicklung eines Kindes lässt sich auch als ein von der Natur her angelegtes
ständiges Streben nach Kompetenz und Autonomie, nach Eigenständigkeit und
Unabhängigkeit betrachten.
Diese Bestrebungen begleiten und unterstützen Eltern und Berufserzieher nach
besten Kräften. In unseren Zielvorstellungen, wenn wir Antwort auf die Frage
geben, wohin wir das Kind führen wollen, bringen wir das gern zum Ausdruck. Die
Prozesse unserer Begleitung, Unterstützung oder Führung bezeichnen wir - etwas
verkürzt - als "Erziehung".
Erziehung wird in dem Ausmaß erleichtert, in dem wir Erwachsenen bereit und in
der Lage sind, auf die Grundbedürfnisse eines Kindes zu achten und sie zu
befriedigen. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören neben den physischen die nach
Liebe, Sicherheit, Anerkennung, Vertrauen, Verständnis, Orientierung bzw.
Führung, Förderung, Freude, Frieden oder Sinn.
Wenn wir uns deutlich machen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt, wie sie
im Alltag unseres Familienlebens umgesetzt werden, dann wird uns bald klar, dass
diese Grundbedürfnisse universell sind für das Wohlbefinden eines Menschen.
Haben wir Erwachsenen das erkannt, dann ist der Schritt nicht mehr weit zu der
Erkenntnis, dass wir dann von günstigen Entwicklungsbedingungen für unser
Kind sprechen können, wenn in unserer Familie eine ausgewogene Balance
zwischen der Befriedigung der Grundbedürfnisse unseres Kindes und unserer
eigenen besteht. Diese Balance ist bei allen folgenden Erörterungen mitzudenken.
Für diese Ausgewogenheit freilich kann nicht unser Kind sorgen. Ein Beispiel:
Wenn Kinder zu ihrem Gedeihen "Frieden" brauchen, die ihnen wichtigen
Erwachsenen aber im Unfrieden miteinander leben, dann sind alle Betroffenen
sehr unglücklich darüber. Und es ist die Aufgabe der Erwachsenen, dafür zu
sorgen, dass sich dieser Zustand ändert.
Zur Auswahl der Grundbedürfnisse.
"Liebe allein genügt nicht".
Mit diesem Satz überschrieb der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim eines seiner
Bücher. Ist denn elterliche Liebe nicht die Hauptsache oder die
Grundvoraussetzung für das Gedeihen eines Kindes? Ohne Zweifel ist das so. Es ist
aber bei diesem Gedanken an einen anderen Buchtitel zu erinnern und sich vor
Augen zu halten, dass Liebe nicht nur "ein Wort" bleiben darf, sondern sich im
Familienalltag zeigen muss.
9
Kinder und ihre Eltern brauchen außer Liebe noch vieles andere mehr, wenn sie
gedeihen wollen.
Woher kennen wir Erwachsenen diese Bedürfnisse, die selbstverständlich auch in
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wirksam sind? Vor allem sind es die
Kinder selbst, die ihre Bedürfnisse aus gegebenem Anlass ausdrücken können und,
je älter umso klarer, sagen, was sie wollen und was nicht. Darum ist anzumerken,
dass mein "Katalog" keineswegs vollständig ist und, je nach eigener Erfahrung
erweitert werden kann. Es haben sich aber auch Psychologie, Pädagogik,
Anthropologie oder Neurobiologie mit diesen Fragen beschäftigt. Viele ihrer
Vertreter kommen hier zu Worte.
Eltern und Erzieher werden immer wieder feststellen,
dass sich alle Bedingungen, die wir für eine positive Entwicklung unserer
Kinder brauchen, überschneiden. Eine säuberliche Trennung ist nicht immer
möglich.
Es ist zugleich mit zu bedenken, dass die hier als Grundbedürfnisse einer
gedeihlichen körperlichen und seelischen Entwicklung von Kindern
vorzustellenden Lebensbedingungen auch für Erwachsene Geltung besitzen. Ich
denke da besonders an unser Bedürfnis, von anderen Menschen freundlich und
höflich (vgl. dazu auch unten S. 22) angesprochen zu werden. Unsere Kinder
wünschen sich das von uns auch. Daraus folgt, dass wir unsere Kinder nicht anders
behandeln, wie wir von anderen Menschen behandelt werden möchten. Diese
Grundbedingung eines friedfertigen zwischenmenschlichen Umgangs kommt nicht
aus der Pädagogik oder der Psychologie, sondern ist wenigstens so alt, wie das
Christentum. Sowohl im neuen wie im Alten Testament finden wir dieses Gebot
(vgl.: Evangelium des Matthäus, Kap. 7.12). Dass diese „Goldene Regel“ so schwer
zu verwirklichen ist und wir deren Verletzung noch heute und an jedem Tag
erleben, zeigt uns, dass es nicht leicht ist, ein als wertvoll anerkanntes Verhalten in
die Tat umzusetzen. Insofern auch wollen wir uns bescheiden: Alle von
pädagogischen Fachkräften als sinnvoll und richtig erkannten Verhaltensweisen
von Eltern ihren Kindern gegenüber stehen unter dem Vorbehalt unserer eigenen
Unzulänglichkeit. Wir wollen zwar immer das Beste aber wir "sind halt auch nur
Menschen".
Diese Selbsterkenntnis soll uns jedoch nicht daran hindern, darüber
nachzudenken, darüber zu sprechen und uns zu vergewissern, was denn - von
unserer Lebenserfahrung und von den Wissenschaften her bestätigt - für unsere
Kinder gut und schlecht ist.
Am Anfang der Entwicklung eines Menschen stehen die Kindheitsphasen in
Elternhaus, Tagesstätten und Schulen. Diese Lebensbereiche sind es, die für eine
entwicklungsfördernde Befriedigung der Grundbedürfnisse jede Unterstützung
verdienen. Sowohl die politischen Gremien, die staatliche Verwaltung wie auch
jeder Einzelne in seiner Eigenschaft als Staatsbürger tragen die Verantwortung
dafür, dass alle Mittel bereit gestellt und alle Möglichkeiten genutzt werden, um
die Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Grundbedürfnisse unserer Kinder
sichern.
10
Mit der Bedürfnisauswahl werden Akzente gesetzt ohne damit andere
Lebensbedingungen, die dem Kindeswohl dienen, ausschließen zu wollen. Für die
Entwicklung von Kindern sind zum Beispiel Bewegung, Musik, Räume,
Begegnungen mit anderen Kindern und der Natur ebenfalls von großer Bedeutung.
Gläubige
Menschen
in
den
verschiedenen
Religionsoder
Weltanschauungsgemeinschaften werden ihre Glaubensinhalte als Bedürfnisse
betrachten.
Bruno Bettelheim schrieb ein Buch mit dem Titel "Kinder brauchen Märchen",
(München 12/1988) eine Einsicht, die auch die Waldorfpädagogik teilt, wie es
Arnica Esterl (2011) darstellt und Hildegard Bockhorst überschreibt ihr Buch:
„Kinder brauchen Spiel und Kunst“ (2/2006).
Andere Autoren widmen noch anderen Bedürfnissen ihre Aufmerksamkeit, wie
zum Beispiel Wayne Dosick: „Kinder brauchen Werte“ (München 1995) oder ganz
allgemein: Armin Krenz: "Was Kinder brauchen. Entwicklungsbegleitung im
Kindergarten" (Freiburg 1995). Einige, der in meinem Aufsatz erwähnten
Bedürfnisse überschneiden sich auch oder widersprechen sogar den Auffassungen
anderer Pädagogen. So grenzt zum Beispiel Armin Krenz "Erziehung" ab von
"Entwicklungsbegleitung". Wir finden ähnliche Unterscheidungen im Konzept der
"Antipädagogik", wie es Ekkehard von Braunmühl (Weinheim 1983) oder etwas
modifiziert Hubertus von Schoenebeck (München 1982) vertreten. Dagegen wurde
von einigen Autoren, von Eltern und Berufspädagogen mehr "Mut zur Erziehung"
gefordert und der Erziehungsprozess gleichgesetzt mit Befehl und Gehorsam (vgl.
z. B.: Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. München 2006).
Derartig unterschiedliche Vorstellungen trugen und tragen nicht zuletzt zu den
bereits erwähnten Unsicherheiten bei, von denen vor allem die in Ausbildung
befindlichen Berufspädagogen betroffen waren. Ob ein Kind Erziehung,
verstanden als bewusste direkte und indirekte Formen der Beeinflussung von
Haltungen und Verhaltensweisen durch Erwachsene überhaupt braucht, wird von
einigen Autoren in Frage gestellt. Über diese Fragen nachzudenken ist legitim.
Wer aber Eltern und Berufspädagogen keine andere Orientierung, die sich in der
Lebenswirklichkeit bewährte, anzubieten hat, handelt leichtfertig.
Jeder von uns Eltern und Berufserziehern hat erlebt, dass unsere
erzieherischen Bemühungen in jeder Entwicklungsphase an Grenzen
stießen. Grenzerfahrungen aber sollten zum Nachdenken über uns selbst,
über unser Verhalten dem Kind gegenüber und nicht in die Resignation
führen oder uns zu einer Haltung veranlassen, das Kind sich gleichsam
selbst zu überlassen.
Wer nach vergeblichen Anläufen der Einflussnahme auf ein Kind das Handtuch
wirft und sagt "mach doch was du willst", öffnet dem Kind, das Orientierung
wünscht und Grenzen fordert, die Tür hin zu anderen, durch uns nicht
beeinflussbaren Ansichten und Verhaltensweisen. Wenn Eltern sich sagen (lassen)
müssen, dass Fehlentwicklungen ihrer Kinder in Umständen ihre Wurzeln haben,
die in den Familie beziehungsweise im familiären Umfeld gesucht werden müssen,
oder wenn Fehlentwicklungen in der Schule ausgelöst werden, weil dort die
11
Grundbedürfnisse nicht beachtet wurden, dann steht nun eine Plattform zur
Verfügung von der aus die Situation eines Kindes geprüft und diskutiert werden
kann mit dem Ziel, eine optimale Entwicklung dieses Kindes zu ermöglichen. Nach
wie vor aber gilt, dass unseren Kinder selbst jene Bedürfnisse, die sie wünschen
und brauchen, bewusst sind. Hierbei ist ihnen die Familie selbst die Wichtigste2.
Die Grundbedürfnisse im Einzelnen
Die Darstellung in Wabenform symbolisiert, dass alle Bedürfnisse als Elemente
eines Systems zu denken sind und sich u. a. gegenseitig beeinflussen und
durchdringen und dass alle den gleichen Stellenwert in einem Menschenleben
haben. Dieser Wert kann zwar von Situation zu Situation variieren. In
Krankheitsphasen werden zum Beispiel physische Bedürfnisse eher im
Vordergrund stehen, als das Bedürfnis nach Förderung. Dennoch haben alle hier
genannten Bedürfnisse eine wichtige Funktion und tragen gemeinsam das ihre
zur Persönlichkeitsentwicklung bei.
Ist in diesem System ein Element beschädigt oder fällt gar ganz aus, und wenn
kein anderes diesen Ausfall zu kompensieren vermag, dann kommt es zu
Störungen in der seelischen Entwicklung.
Physische Grundbedürfnisse
Sie sind eigentlich am einfachsten zu erkennen: Nahrung, Wärme, Schlaf und
Bewegung brauchen wir alle, um wachsen und gedeihen zu können. Wir
Erwachsenen bremsen eher bei der Nahrungsaufnahme; vor allem, wenn wir
Gewichtsprobleme bekommen. Aber auch unsere Kinder brauchen von Anfang an
die für sie richtige Ernährung. Spätestens an den Zähnen merken wir, wenn wir
12
hier nicht aufgepasst haben. Da begegnet uns zum Beispiel ein Sechsjähriger,
dessen Zähnchen aus schwarzen Stummeln bestehen. "Das kommt von der
Flasche", erklärt der Zahnarzt. Das Kind hatte seine Flasche nicht entbehren
wollen, er war nicht rechtzeitig "entwöhnt" worden und durfte bis zur
Schuleingangsuntersuchung süße Tees und Säfte aus der Flasche nuckeln.
Wie viel und welche Nahrung Kindern gut tut, ist zweifellos individuell
verschieden. Nicht zuletzt spielen hier die Orientierungen der Eltern, die
kulturellen Umwelten mit ihren oft grundverschiedenen Nahrungsangeboten und
Essensgewohnheiten eine wichtige Rolle. Gerade am Beispiel der
unterschiedlichen Ernährungsweisen ließe sich gut darstellen, dass Essen und
Trinken für sich genommen, nicht maßgeblich für das Gedeihen eines Kindes sein
müssen – wenn es nur nicht hungern und dürsten muss.
Oder denken wir an die Bedeutung ausreichenden Schlafs. Was für uns
Erwachsene in der Regel ausreicht, um uns am nächsten Tag ausgeschlafen und fit
dem Alltag zu stellen, das wissen wir ganz genau. Und wir können leicht erkennen,
dass zum Beispiel unsere gedrückte Stimmung, unsere leichte Reizbarkeit oder die
gebremste Arbeitslust auf eine schlaflose Nacht zurückzuführen sind. Bei Kindern
ist das nicht anders. In Kindergarten und Schule sind unsere Kinder dann "ganz
ausgeschlafene Kerlchen", wenn sie genügend Schlaf hatten und nicht (zum
Beispiel) mit uns oder älteren Geschwistern bis in die Nacht hinein vor einem
Bildschirm hockten. Übrigens würde unseren Kindern dann auch die Bewegung
fehlen. Austoben, wenn irgend möglich im Freien, verhilft unserem Kind zu der
Müdigkeit, die es für einen gesunden Schlaf braucht.
Dass ausreichende Bewegung bei Kindern von großer Bedeutung ist, das weiß
heute jeder Mensch. Allein die Fernseh- und Zeitungswerbung von
Sportartikelherstellern führen uns das ständig vor Augen. Wozu wir Erwachsene
uns aber gleichsam "antreiben" müssen, das ist bei Kindern selbstverständlich. Sie
sind von Natur aus immer in Bewegung. Ein Besuch in einer Kinderkrippe, in
einem Kindergarten oder Beobachtungen auf Kinderspielplätzen lassen das jeden
nacherleben, der selbst keine Kleinkinder mehr daheim in der Familie hat.
Wenn die Kinder sich nicht mehr oder zu wenig bewegen, dann sind es die
Erwachsenen, die sie daran hindern. Zum Beispiel, wenn sie Kindern statt
Bewegungsgelegenheit den Fernseher anbieten. In den USA verbringen bereits
Zweijährige im Durchschnitt täglich zwei Stunden vor dem Fernseher. Dass es bei
uns nicht besser aussieht, wies Manfred Spitzer nach. Fernsehen aber macht nicht
nur dumm sondern auch dick. Dicksein - also Übergewichtigkeit - ist ein
Risikofaktor. Allein für Deutschland werden gegenwärtig etwa 20.000 Tote pro
Jahr geschätzt, die auf den Risikofaktor "Übergewicht durch Fernsehen
(Bewegungsmangel)" zurückgeführt werden müssen (Manfred Spitzer in: „Mediale
Umweltverschmutzung“. SWR2 Aula am 27.02.2005). Diese Zahl wird weiter
ansteigen, wenn bereits Kinder daran gehindert werden, sich altersgerecht zu
bewegen.
13
Die Klassenlehrerin eines dritten Schuljahres in einer einzügigen Schule einer
Schwarzwaldgemeinde klagte über die Schülerin Heike und deren Mutter:
„Heike wird immer dicker und träger. In der Schule hat sie schon darum große
Probleme, weil sie von ihren Klassenkameraden gehänselt wird. Sie ist zwar
nicht das einzige Kind mit Übergewicht. Bei ihr sieht man das aber sehr
deutlich. Das ist aber auch kein Wunder, denn nicht einmal zur Schule muss sie
laufen. Die Mutter bringt sie jeden Morgen mit dem Auto zur Schule und holt
sie nach Unterrichtsschluss wieder ab…, nein, die Mutter ist nicht so besonders
dick; sie will aber nicht, dass ihre Tochter die höchstens zehn Minuten zur
Schule läuft. Es könnte ihr ja etwas passieren…
Nach langem Hin und Her habe ich von ihr einfach gefordert, dass sie im
Interesse der Gesundheit ihres Kindes, sie wenigstens am Morgen in die Schule
laufen lässt… Doch schon nach dem ersten Tag passte mich die Mutter nach
der Schule ab: ob die Heike nicht besser mittags nach Hause laufen sollte. Sie
kämen morgens nicht so schnell (!) zum Haus raus…
Ich bestand aber darauf, dass Heike morgens laufen müsse, weil sie dann allein durch die frische Luft - nicht mehr so unausgeschlafen sei sondern
stattdessen aufnahmebereiter werden würde…“
Diese Episode beleuchtet beispielhaft ein weit verbreitetes Problem. Denn nicht
nur in dem kleinen Schwarzwalddorf gibt es übergewichtige Kinder. Das
Phänomen ist so weit verbreitet, dass die deutsche Ratspräsidentschaft den Kampf
gegen Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in Europa vorantreiben wollte.
Übergewicht, Mangelernährung, Fehlernährung und Bewegungsmangel fördern
eine Fülle meist schwerer und chronischer Erkrankungen. Allein in Deutschland
sind nach einer Studie fünfzehn Prozent aller Kinder übergewichtig. Darunter sind
achthunderttausend, die unter Fettleibigkeit leiden. Oder sehen wir in eine andere
Analyse:
„10 bis 20 % der Schulanfänger sind heute zu dick, darunter befinden sich
wiederum zwischen 4 und 8 % Kinder, die sogar fettsüchtig sind. Parallel dazu
gibt es den anderen Trend: Viele Mädchen eifern bereits im zarten Alter von 9
Jahren einem Körperideal nach, das eindeutig im untergewichtigen Bereich
liegt. Sie wollen schön sein, und hervorgerufen wird dieser Normdruck durch
umstrittene TV- Sendungen wie "Germany's Next Top Model" und durch die
neuen Körperideale der Gesellschaft.“ 3
Bereits 1992 wies die Ärztin und Professorin Michaela Glöckler in dem Buch:
„Elternfragen heute“ (S. 391) auf den engen Zusammenhang zwischen
Bewegungsreichtum und geistiger Entwicklung:
„je geschickter und koordinierter (ein Kind) sich bewegen lernt und seinen
Bewegungssinn aktiviert, umso differenzierter und leistungsfähiger wird auch
das Nervensystem…“
14
„Freiheit“ als ein grundlegendes Lebensgefühl kann sich für die aus der
anthroposophischen Anthropologie kommende Ärztin nur herausbilden, wenn
Freiheitserlebnisse durch intensive Bewegungserfahrungen wie Skateboard fahren,
Rad fahren und viele andere sportliche Aktivitäten gepflegt werden.
Wer als Kind nicht herumtoben durfte, stets „still sitzen“ musste oder wer
sich gar vor dem Fernseher „anbindet“, wird weder das hier angesprochene
„Freiheitsgefühl“ entwickeln noch die in ihm angelegten kognitiven und
kreativen Möglichkeiten optimal fördern.
Bewegung, das ist ein Schlüssel, um geistig und schöpferisch ebenso „fit“ zu
bleiben wie körperlich. Dass Bewegung Konzentration, Lerneifer und
Selbstdisziplin fördern kann, das hat am 4. Februar 2007 in einem
Rundfunkvortag der Erziehungswissenschaftler Ulrich Hermann am Beispiel eines
sehr mutigen und pädagogisch verantwortungsvoll handelnden Lehrerteams
vorgestellt:
„Zum Beispiel in der Bodenseeschule Friedrichshafen kann man es jeden
Morgen erleben: Die Klassenzimmertüren stehen offen, es herrscht Ruhe im
Schulhaus, es gehen aber auch Schüler umher. Ruhe haben wir, erklärte der
Schulleiter Alfred Hinz, weil wir den Kindern Bewegung erlauben. Und weil
wir ihnen Bewegung erlauben, lernen sie, die anderen, die still arbeiten
möchten, nicht zu stören. Und warum möchten die Kinder morgens still
arbeiten? Weil ihnen erlaubt ist, allein oder zu zweien oder zu dritt das zu
arbeiten, was sie möchten. Sie wissen übrigens, dass sie, wie die Eltern,
morgens zur Arbeit aus dem Haus gegangen sind und nicht, um sich im
Unterricht zu langweilen. Ergo: Wer stört schon andere, wenn er selber
ungestört arbeiten will? Aber auch: Wer sich wohlfühlen soll, muss Spielräume
der Selbstgestaltung haben. Dann lernt er auch Selbstverantwortung – und
das Disziplinproblem hat sich erledigt.“
Und noch einmal soll unterstrichen werden:
Wer sich wohl fühlen soll, muss sich bewegen dürfen!
Dass der
in den Ländern der
Europäischen Union initiierten
„Bewegungskampagne“ von Seiten unverständiger Eltern im Alltag Hindernisse in
den Weg gelegt werden, sei nicht verschwiegen. Die Realität sieht eben, zum
Nachteil einer optimalen Entwicklung unserer Kinder, hier und da anders aus. Wir
brauchen nur an den Umgang mit Bildschirmmedien zu denken!
Das Bedürfnis nach Sicherheit
Für die Entwicklung von Kindern sind Sicherheit und Verlässlichkeit von
existenzieller Bedeutung. Es ließen sich zu beiden Bedürfnissen eigene Kapitel
füllen. Hier werden sie gemeinsam betrachtet.
15
Geschützt und geborgen fühlt sich unser Kind bereits im Mutterleib (vgl.:
Schindele, Eva: „Beziehung von Anfang an.“ (In: SWR 2 Wissen am 16.02.2008).
Sobald es geboren wurde, "ersetzt" die Mutter (die Eltern) diesen Schutz, wenn sie
das Kind in ihren Armen birgt. Es ist - auch für den Vater - ein unbeschreiblich
gutes Gefühl, dieses kleine Menschenkind, zum Beispiel auf dem eigenen Bauch
liegen zu haben und mitzuempfinden, wie es sich in Sicherheit fühlt und, von
unseren Händen umfasst, schläft. So wie wir atmen, bewegt es sich sanft auf und
nieder und unseren Herzschlag spürt es, wie wir den seinen. Dieses kleine Kind,
das noch kein Bewusstsein seiner selbst hat, lebt sozusagen allein durch uns und
mit unserer Hilfe. Mehr noch: Damit es sich später, etwa nach 18 Monaten, von
uns lösen und ein eigener kleiner Mensch mit eigenem Wissen und Wollen werden
kann, muss es sich erst ganz fest an uns binden können. Natürlich kann das Kind
derartiges noch nicht denken. Wohl aber fühlt es mit all seinen Sinnen - und ist in
dieser Beziehung bereits als Fötus außerordentlich empfindlich - ob wir diese
Bindung zulassen. Diese erfühlten Erfahrungen, die für ein Kind gleichsam
Antworten auf die Fragen geben: werde ich geliebt und angenommen, bin ich
erwünscht und geborgen, bilden jenes Urvertrauen heraus, aus dem jeder Mensch
sein späteres Selbstwertgefühl entwickeln kann4.
Wir vermitteln unserem Kind die feste Bindung und ein Urvertrauen unter
anderem auch dann, wenn wir uns über sein Dasein freuen, seine Nähe genießen
und für das Kind da sind, wenn es uns braucht. Natürlich müssen diese Aufgaben
nicht die leiblichen Eltern übernehmen. Nur das Bindungsangebot muss
verlässlich sein, das heißt, dass die Bezugspersonen nicht ständig wechseln. Auf
die Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung weist folgendes Beispiel:
Die Geschäftsinhaberin bringt die acht Monate alte Sarah mit in den Laden
und berät die Kunden bei der Auswahl von Dekorationsstoffen.
Währenddessen krabbelt das Kind auf dem Fußboden herum und geht auf
Entdeckungsreisen. An einem der vielen Regale kann sie sich aufrichten und
beginnt, den Regalinhalt zu untersuchen. Gründlich prüft das Kind die
Papprollen, bewegt sie hin und her, führt sie ans Gesicht und wirft sie endlich
hinter sich, und wendet sich dem nächsten Gegenstand zu. Das Kind ist von
Natur aus ein aktiver Erkunder und lernt auf diese Weise, seine soziale und
dingliche Umwelt kennen.
Während Sarah krabbelt und den Regalinhalt untersucht, wendet sie ihren
Kopf immer wieder mal zur Mutter. Vor allem dann, wenn diese längere Zeit
nicht zu hören ist, weil die Kundschaft spricht. Doch nun muss die Mutter das
Ladenlokal verlassen, um im Lager etwas zu suchen. Das Kind bleibt bei der
der Mutter gut bekannten Kundschaft zurück. Es dauert gar nicht lange, da
hört das Kind auf, das Regal zu untersuchen. Es lässt sich zu Boden gleiten,
bleibt sitzen und sucht mit den Augen seine Mutter. Wenige Minuten verhält
sich das Kind still, so, als ob es gelähmt sei. Dann beginnt es zu weinen. Bevor
aus dem Kummer Angst wird, ist die Mutter wieder da. Und sofort verstummt
das Kind und wendet sich wieder dem Regal zu.
16
Ein Kind in diesen ersten anderthalb Lebensjahren braucht, um aktiv sein zu
können, eine ihm vertraute Bezugsperson, die ihm das Gefühl der Sicherheit und
Geborgenheit vermittelt. Nur aus diesem Gefühl heraus kann es sich der Umwelt
zuwenden, sie erkunden und damit zugleich "lernen".
Natürlich beschränkt sich dieses Bedürfnis nach Sicherheit im Sinne von Schutz,
Liebe, Geborgenheit und Zuverlässigkeit nicht auf die ersten achtzehn
Lebensmonate. Auch später wird ein Kind sich dessen vergewissern wollen, ob
Mutter und/oder Vater für es da ist. Wir Eltern können uns auf den Kopf stellen:
unser Kind wird sich durch seine Verhaltensweisen und seine Fragen immer
wieder vergewissern wollen, ob wir es noch lieb haben oder es fragt: "hast du mich
genau so lieb wie...?"
Dieses Bedürfnis nach Sicherheit, Zuverlässigkeit, Geborgenheit und
Beständigkeit wird vor allem dann erfüllt, wenn Mutter und Vater beieinander
bleiben.
Vor
dem
Oberlandesgericht
Freiburg
wurde
vor
einer
Sorgerechtsentscheidung (ob die geschiedenen Vater oder Mutter oder beide
gemeinsam das Sorgerecht erhalten) die zwölfjährige Tochter gefragt, „zu
wem willst denn du?“ Sie antwortete: "ich will, dass wir wieder eine Familie
sind". Und weil dieser Wunsch (dieses Bedürfnis) nicht erfüllt werden konnte,
weil Mutter und Vater jeweils wieder geheiratet hatten, sagte sie: "Dann ist es
mir egal; wenn nur nicht wieder geschieden wird".
Selbstverständlich ist, und das wissen wir alle aus der eigenen Lebensgeschichte,
dass sich die hier gemeinte Sicherheit in Bezug auf die Eltern mit zunehmendem
Alter wandelt, bis wir endlich ganz ohne unsere Eltern leben können. Doch die
erwähnten Bedürfnisse bleiben für uns ein Leben lang wichtig. Sie geben uns Halt.
Nicht wenige unter uns Erwachsenen können sich ein Leben als "Einzelgänger" gar
nicht vorstellen. Sie brauchen die Bindungen an andere Menschen, das Gefühl, in
einer sozialen Gruppe aufgehoben und geborgen zu sein, sei das nun eine
Partnerbindung, die aktive Mitgliedschaft in einem Verein oder in einem
Freundeskreis. Nur haben wir Erwachsenen es selbst in der Hand, für Schutz,
Liebe, Geborgenheit und Zuverlässigkeit in dem Ausmaß zu sorgen, wie wir es für
unser Wohlergehen brauchen. In einem Elternseminar bestätigte ein Vater: "Das
was wir hier besprechen, das gilt doch nicht nur für unsere Kinder. Das gilt doch
genauso für uns Erwachsene".
Eine ganz andere Dimension von "Sicherheit und Zuverlässigkeit" kommt in den
Blick, wenn wir auf den Familienalltag schauen. Auch hier muss und will sich ein
Kind darauf verlassen können, dass sich möglichst wenig verändert.
Die folgende Schilderung eines Tagesablaufes ist als "idealtypisch" zu betrachten
und der eine oder andere wird sie als übertrieben ansehen. Die hier in einem
Hochschulseminar
zusammengetragenen
entwicklungsfördernden
17
Strukturelemente könnten, das war die Überzeugung aller Teilnehmerinnen und
Teilnehmer, von jeder Mutter und jedem Vater unabhängig von sozialem Status
oder Lebensort im Familienalltag beachtet werden.
Ganz gleich welche regelhaften Abläufe (Strukturen) im Alltag einer jeden Familie
üblich sind:
Es kommt darauf an, dass es überhaupt welche gibt!
Freundlich wird das Kind jeden Morgen rechtzeitig geweckt. Mit Mutter und
Vater oder wer immer die Hauptbezugsperson für das Kind ist, wird
gemeinsam und in aller Ruhe gefrühstückt und dann das Kind mit dem
selbst gerichteten Vesperbrot auf den Weg zur Schule oder in den Kindergarten
gebracht oder geschickt. Kommt es dann wieder nach Hause, dann freuen sich
Mutter oder Vater über das Wiedersehen, sie hören zu, was das Kind zu
erzählen hat, zeigen Verständnis für Probleme, die das Kind mit nach Hause
bringt und auch dafür, dass das Kind nicht immer begeistert ist von dem, was
es heute zum Mittagessen gibt. Sie trösten das Kind, wenn es traurig ist, weil
etwas nicht gelang. Abends geht das Kind stets zur gleichen altersgemäß
gestaffelten Zeit in sein Zimmer. Wenn die Eltern hier freundlich und mit
ruhiger Bestimmtheit auf Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit achten,
Ausnahmen für das Kind erkennbare Ausnahmen bleiben und keine hektische
Atmosphäre in der Familie herrscht, sind kaum Schwierigkeiten zu erwarten.
Nicht einmal das Fernsehen wird zu einem Problem, wenn die Eltern selbst
darauf verzichten, solange das Kind um sie herum ist. Überhaupt gilt in allem,
dass ich das, was ich vom Kind erwarte, selbst zuverlässig tue, weil Vorbild die
beste Erziehung ist. Die meisten der Grenzen, die wir dem Kind setzen müssen,
sind ohnedies Regeln, die auch für Erwachsene verbindlich sind. Von dieser
gemeinsamen Verbindlichkeit her lassen sich Regeln auch am besten
begründen.
Liegt das Kind im Bett, setzen sich Mutter oder Vater zu ihm und verweilen
noch ein bisschen. Auch bei mehreren Kindern ist das möglich. Vielleicht wird
noch eine Geschichte vorgelesen oder ein Bilderbuch angeschaut. Wenn aber
die Kinder älter werden, ist der Abend die beste Zeit, Probleme zu erörtern und
Differenzen ins Reine zu bringen. Die Eltern achten darauf, dass ihr Kind nicht
einschläft, bevor nicht die gelegentlich unausbleiblichen Konflikte zwischen
Eltern und Kind bereinigt sind. Das Kind bleibt erst dann allein in der
Wohnung (bei Tag und in der Nacht), wenn es von seiner Reife her das
Alleinsein gut verkraftet. Das Kind muss sich auf seine Eltern verlassen
können, d. h., die Eltern sind immer da für das eigene Kind. Je jünger das Kind
ist, umso mehr braucht es diese Verlässlichkeit, aus der heraus das
"Urvertrauen" wächst. Nur wenn eine dem Kind vertraute Person als Ersatz
zur Verfügung steht, dürfen es die Eltern in einem vorher gemeinsam
vereinbarten zeitlichen Umfang verlassen.
Wichtig ist, und das soll noch einmal betont werden,
18
dass ein Kind regelhafte Abläufe erlebt und als hilfreich und zweckmäßig erfährt.
Abweichungen von Regeln aber sollten für das Kind als Ausnahmen erkennbar
sein.
Wir Menschen brauchen ganz einfach derartige verlässliche Orientierungen und
Gewohnheiten in unserem Alltag. Sie helfen uns, Zeit zu sparen und Kopf und
Seele frei zu halten für bedeutsamere Leistungen, wie Wilhelm Schmid feststellte5.
Für eine positive Entwicklung unserer Kinder sind derartige verlässliche
Orientierungen von besonders großer Bedeutung. Es hat uns schon Maria
Montessori auf dieses erstaunliche Phänomen hingewiesen, als sie entdeckte, wie
außerordentlich wichtig es für Kinder ab etwa dem zweiten Lebensjahr ist, in
Bezug auf die Ordnung der Dinge und die Zeit alles verlässlich und immer "gleich"
zu erleben (2002, S. 122 ff). Denken wir zum Beispiel nur an die „festen“ Plätze
unserer Kinder am Familientisch. Sie würden es ja nicht einmal tolerieren, wenn
Mutter und Vater die Plätze wechseln. Vor allem, wenn Veränderungen anstehen,
können sie sich auf unsere Kinder dramatisch auswirken.
Von noch viel größerer Bedeutung für jeden Menschen sind die Beziehungen zu
unserem Du. Wir brauchen und wollen Verlässlichkeit in unseren Beziehungen zu
den Eltern, dem Freund, der Freundin, der Partnerin oder dem Partner. Wir
wollen uns auf sie verlassen können. Und aus der Sicherheit dieser sozialen
Bindungen wächst uns die Kraft zu, die wir brauchen, um unseren Alltag zu
bestehen und in ihm andere Beziehungen herzustellen und die gelegentlichen
Belastungen in zwischenmenschlichen Begegnungen zu ertragen. Ein Kind, das in
der Schule Ärger mit seinem Lehrer hatte oder Streit mit dem Klassenkameraden,
soll sich darauf verlassen können, dass es daheim von einer verständnisvollen
Mutter in den Arm genommen und getröstet wird.
Mit einer allzu spröden Auffassung oder gar rigiden Handhabung derartiger
verlässlicher Elemente unseres Lebens, sind aber auch Gefahren verbunden. Dort,
wo Ordnungen um der Ordnungen erzwungen oder zwischenmenschliche
Begegnungen besonders streng geregelt werden, können sie ·umkippen. Darum
auch lässt sich nur zustimmen, wenn es in Bezug auf die pädagogische Bedeutung
von Strukturen heißt, dass sie sich positiv auswirken, "wenn sie flexibel genug
sind, um Kindern Raum für eigene Aktivitäten zu lassen" meint die Pädagogin
Anneliese Spreckels-Hülle, (2005, S. 18-20).
Die hier dargelegten Verhaltensempfehlungen sind lediglich geeignet, den Alltag in
Erziehung und Bildung in Familie, Tagesstätte oder Schule zu erleichtern. Findet
die eine keine Beachtung, treten dafür andere an ihre Stelle. Die Hauptsache
bleibt, dass Eltern und Berufspädagogen genau wissen, warum sie etwas tun oder
lassen und das auch ihren Kindern begründen können.
Das Bedürfnis nach Liebe
19
Im Grunde handelt es sich um "Liebe", die wir dem Kind über unsere sorgende
Anwesenheit, über unsere verlässliche Existenz (ich bin für dich da, wenn du mich
brauchst; ich verlasse dich nicht) und über den Schutz (ich passe auf dich auf; ich
helfe dir,) vermitteln. Mit elterlicher Liebe ist eigentlich alles gemeint, was hier
beschrieben wird. Es wird damit deutlich, dass Liebe nicht nur ein unbestimmtes
Gefühl oder gar nur eine Gefühlsaufwallung ist. Ganz im Gegenteil: Kinder fühlen
sich besonders betrogen, wenn sie gelegentlich, so aus einer Stimmung heraus, mit
Zärtlichkeit überschüttet werden, Zuwendung und Zeit aber vermissen müssen.
Liebe ließe sich also auch mit den drei "Z" umschreiben:
Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit!
Dennoch ist es nicht leicht zu erklären, was elterliche Liebe ist oder worin sie sich
unterscheidet von der Liebe zwischen Mann und Frau. "Liebe ist Verantwortung"
sagt
Martin
Buber
und
entspricht
damit
am
ehesten
jener
Grundgesetzformulierung in der es heißt:
"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht".
Die Betonung liegt auf "zuvörderst ihnen", eine Akzentuierung, die in allen
Ausführungen auf diesen Seiten über die Erziehung und Bildung von Kindern stets
mitzudenken ist.
Im Familienalltag spielt die Zeit, die wir unseren Kindern widmen, eine große
Rolle. Alles Leben vollzieht sich in Zeit, lässt sich in Zeit messen. Wenn wir uns
unseren Kindern zuwenden, mit ihnen essen, spielen, sprechen, etwas
unternehmen oder ihnen zuhören, gelegentlich auch mit ihnen einen Film
anschauen, dann geben wir ihnen (und sie uns) Zeit. Und allein an dieser Gabe
können unsere Kinder gleichsam unsere Liebe erkennen.
Materielle Zuwendungen können fehlende Zeit für unsere Kinder nicht
aufwiegen. Vielmehr stehen an erster Stelle unserer Zuwendungen jene, die kein
Geld kosten.
Die meisten von uns haben einen Arbeitsplatz. Mütter und Väter, die außer Haus
Geld verdienen gehen, haben irgendwann Feierabend, arbeitsfreie Wochenenden
und Urlaub. Und diese Zeiten gehören dem gemeinsamen "Tun" und keineswegs
nur dem gemeinsamen "Schauen" mit den Kindern. Elternverantwortung zeigt
sich im Alltag vor allem darin, dass Eltern auf die Bedürfnisse ihrer Kinder
"antworten". Das kann in vielfältiger Weise geschehen. Auch dort, wo wir unsere
Kinder in die Pflichten für Wohnung, Haus oder Garten mit einbinden und
gemeinsam mit ihnen schaffen. Verantwortungslos handeln Eltern, wenn sie an
ihren Kindern vorbei oder neben ihnen her leben.
„Ich habe jetzt keine Zeit“ sagt Frau L. und wendet sich wieder dem Gespräch
mit ihrer Bekannten zu, als Tochter Anita sie ansprach: „Mama, kannst du mal
kommen?“. Nun lassen sich Vierjährige nicht mehr so nebenbei abspeisen,
sondern versuchen es noch einmal: „Mama, komm jetzt!“. Frau L. ungeduldig
und lauter: „Nerv mich nicht! Wirst ja wohl warten können.“
20
Eine Situation, wie Eltern daheim und Erzieherinnen in der Tagesstätte sie
häufig erleben. Wenn sich aber derartige Zurückweisungen häufen – und je
öfter sich ein Kind abgewiesen fühlt, umso häufiger wird es zunächst die Zeit
der Erwachsenen fordern – umso stärker wird das Gefühl, nicht angenommen
zu werden, nicht geliebt zu sein. Es sind die vielen, oft kaum bewussten
Zurückweisungen, die sich von kleinen Narben zu großen Verletzungen
auswachsen. Sind diese seelischen Verletzungen groß genug, kann sich ein
Kind zurückziehen, unansprechbar werden oder aber aggressiv, gewalttätig
gegen Sachen, andere Kinder oder gegen sich selbst.
Die Berücksichtigung dessen, was Kinder brauchen, wenn sie ein stabiles
Fundament für ihr Leben erhalten sollen, zeigt uns also aus verschiedenen
Perspektiven, was Eltern und Berufserzieher alles zu leisten haben. Hier und da
sind derartige Leistungen Opfer, die mit jenem Verzicht zu vergleichen sind, die
Eltern ihren Kindern in Notzeiten bringen, wenn sie eigene elementare
Bedürfnisse zu Gunsten ihrer Kinder hintanstellen.
Der Freiburger Oberarzt Professor Dr. Joachim Bauer bestätigte mit seinen
Forschungen, dass die Beziehungen von Eltern zu ihren Kindern von
herausragender Bedeutung für eine gesunde Entwicklung sind. Er spricht von der
"Erfahrung des Geliebt - Werdens ohne Bedingungen" ((5/2005, S. 57 ff). Seine
Forschungen über Ursachen depressiver Gesundheitsstörungen führten zu den
Ergebnissen, dass eine Quelle des menschlichen Selbstwertgefühls die Erfahrung
der bedingungslosen Liebe im Kindesalter ist. Defizite in diesem Feld der
zwischenmenschlichen Beziehungen begünstigen die Herausbildung depressiver
Krankheitsbilder.
Kinder kommen mit Versagungen, Verboten oder gar Strafen und Züchtigungen
überhaupt nicht zurecht, wenn sie sich der liebenden Fürsorge ihrer Eltern nicht
sicher sind. Und mit jeder Gewalt, die wir ihnen antun, verunsichern wir sie mehr,
so dass sie sich am Ende ungeliebt fühlen. Wenigstens ebenso dramatisch wirken
sich wechselhafte erzieherische Verhaltensweisen, instabile Beziehungen zwischen
den Eltern und andere Verletzungen elementarer kindlicher Bedürfnisse aus. Eines
Tages wird dann aus Gewaltphantasie Gewalttätigkeit, aus dem Wunsch nach
Schutz und Geborgenheit Abneigung und Hass. Diese, die Persönlichkeit unserer
Kinder schwer belastenden Erfahrungen richten sich als Aggressionen gegen sich
selbst und/oder nach außen; sie führen aber auch zu völliger Resignation und zur
Suche nach Ersatz wie zum Beispiel zu Süchten.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, soll noch einmal ausdrücklich
betont werden, dass es sich bei diesen Ausführungen um einen Versuch handelt,
dem Phänomen "elterliche Liebe" etwas näher zu kommen. Liebe im
zwischenmenschlichen Bereich, so wie wir sie als Liebe zwischen Mann und Frau
oder ganz allgemein als "Menschenliebe" bezeichnen, spricht andere Dimensionen
unseres Fühlens und Verhaltens an. Und wieder anderer Natur sind alle
zwischenmenschlichen Kontakte, die auf Ausgleich beruhen, auf ein ausgewogenes
21
Geben und Nehmen oder auf die Erwartung, dass das Lächeln, das wir aussenden
stets zu uns zurückkommt, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Im Alltag aber
werden sich nicht selten die hier angesprochenen Elemente unseres Verhaltens
vermischen.
Das Bedürfnis nach Anerkennung
Ein vierjähriges Kind bringt ein Bild aus dem Kindergarten mit, das es dort
gemalt hat. "Guck, das hab ich gemalt" verkündet es stolz, überreicht das
Kunstwerk und schaut die Eltern erwartungsvoll an. "Danke" sagen die Eltern,
schneiden ein Stückchen Tesaband ab und hängen es neben die anderen Bilder
an die Küchentür. Weil dort fast kein Platz mehr ist, schlagen sie vor, ein altes
wieder zu entfernen und in die Mappe mit den Bildern unseres Kindes zu legen.
Denn alles, was unser Kind uns schenkt, ist uns wertvoll. Und alles, was es mit
Anstrengung und Ausdauer schafft, denken wir an unsere Treppen steigende Anita
zurück, erkennen wir an. Gerade in den Bereichen von Sport und Bewegung, beim
bildnerischen Gestalten oder – nicht zuletzt – beim Musizieren bietet sich unseren
Kindern eine Fülle an Möglichkeiten lustvollen Schaffens. Kinder, die nicht erleben,
dass ihre „Leistungen“ auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden, strengen sich
nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen. Und wenn dann
etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „das kann ich nicht“. Die Anerkennung und
das Interesse an kindlichem Bemühen oder Leistungsstreben durch jene Personen,
die für ein Kind wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der Leistungsmotivation,
die in Schule und Beruf gebraucht wird.
Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner
Anstrengungen vorweist, wird es am Ende resignieren und in seinem Verhalten
zeigen, dass ja „alles keinen Zweck“ hat.
Anerkennung der Persönlichkeit unseres Kindes meint aber noch mehr, als
Ermutigung. Hier ist an das Verfassungsgebot von der Beachtung der Würde
des Menschen zu denken. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul spricht
von „Gleichwürdigkeit“ und meint damit, dass Anerkennung heißt, sich in
Würde zu begegnen, sich aufgehoben fühlen im liebenden Blick eines
Gegenübers, stellt keine Bedingungen und fordert nichts (2009, S. 211). Nicht
alle mögen gleich empfindsam (oder empfindlich) sein. Wenn aber mein Vater
zu mir "Dummkopf", mein Lehrer zu mir "Hornochse" oder die Mutter zur
Schwester "blöde Kuh" sagte, dann waren wir Kinder tief verletzt. Natürlich
zeigten wir das nicht so deutlich; wir waren ja vom guten Willen unserer
Eltern und Lehrer abhängig. In unserem Inneren aber taten uns derartige
Herabsetzungen weh. Und so kann eine kleine seelische Narbe zu der anderen
kommen und unser Selbstwertgefühl ganz erheblich beschädigen. Wer stets ein
Kind als „dumm“, faul“, „behindert“ bezeichnet, darf sich nicht wundern, wenn
22
es
in
Kindergarten
„misserfolgsmotiviert“.
und
Schule
nicht
mitkommt.
Es
wird
Wer so etwas in seinem Leben erfahren hat, und von seinen Eltern und Erziehern
als dumm, ungeschickt oder minderwertig erlebt wird, dem fällt es später schwer,
selbständig zu werden. Er gibt rasch auf und traut sich wenig zu. Statt zu
demütigen sollten wir unsere Kinder viel mehr ermutigen.
Es waren unter anderen Rudolf Dreikurs und Vicki Soltz, die diese Haltung in
ihrem viel beachteten Buch "Kinder fordern uns heraus" (Stuttgart 2005)
empfahlen. Strafen im Zusammenhang mit schulischem Lernen können den guten
Willen eines Kindes empfindlich beeinträchtigen.
Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und
verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind genau das Gegenteil von
anerkennenden Verhaltensweisen und damit keine guten Begleiter auf dem Weg in
eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis
ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die sie gelegentlich
völlig lähmen. Sie trauen sich nichts zu, weil ihnen in ihrer Kindheit die
Anerkennung für ihre Bemühungen fehlte.
Bevor Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf
den neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe,
den Stift richtig zu halten und bei Versuchen im Kindergarten, auf dem Papier
seine „Wellen“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen
gerade oder gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen, hatte er offenbar
Schwierigkeiten. Was Andreas von den anderen Kindern unterschied, das
waren Eltern, die damit nicht umgehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit
gehabt zum Elternabend zu gehen, als Funktion und Bedeutung derartiger
Übungen erklärt wurden, vielleicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört
oder verstanden: sie mäkelten an den Versuchen ihres Jungen herum, die er
vom Kindergarten mit nach Hause genommen hatte, um sie den Eltern zu
zeigen. Die ordneten darauf hin „Hausaufgaben“ an und wollten, dass er zu
Hause übe. „So macht man das doch nicht ... Nun gib dir endlich mal Mühe...
stell dich bloß nicht so an... das ist doch kinderleicht... wenn das so weitergeht,
wirst du nie schreiben lernen...jetzt machst du das alles noch einmal, aber
ordentlich...“ so tönte es unentwegt aus dem Mund der Mutter und wenn der
Vater kam, dann gab auch der noch seine Kommentare dazu ab.
Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt
jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit
dir nicht zufrieden -! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur
weiter, das schaffst du schon“ oder: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“
Kann man es mit dem Anerkennen und Ermutigen auch übertreiben? Gewiss, man
kann in allen Lebenssituationen des "Guten zu viel" tun. Kinder aber haben ein
23
gutes Gefühl dafür, wenn Eltern sie ständig loben oder gar belohnen, auch wenn
sie sich nicht angestrengt haben. Denken wir noch einmal an die Szene mit dem
Bild, das uns unser Kind vom Kindergarten mitbringt. Wer hindert uns daran,
dosiert zu reagieren? Niemand zwingt uns, ein Bild schön zu finden, das wir für
"Geschmier" halten. Wohl aber können wir ganz genau hinschauen. Wir kennen
unser Kind und seine Möglichkeiten und darum erkennen wir auch, wie viel Mühe
es sich gegeben hat. Und wenn wir mehrere Bilder zur Auswahl haben, dann sagen
wir, was uns warum besser gefällt. Kritische Hinweise verträgt ein Kind besser als
Missachtung. Und wenn wir wissen, dass ein Kind etwas besser machen kann,
dann sagen wir ihm das auch - aber eben so, dass wir es nicht entmutigen! Ein
Kind braucht nicht nur Anerkennung und Ermutigung, sondern auch
Anforderungen und Gütemaßstäbe.
"Der entscheidende Stimulus für die Vitalitätssysteme des Gehirns - sie
werden auch Motivationssysteme genannt - ist die Zuwendung und
Wertschätzung anderer Menschen..." sagt der Neurowissenschaftler und Arzt
Joachim Bauer6.
In unserem Alltag zeigt sich diese Wertschätzung nicht zuletzt in einem höflichen
Umgang miteinander. Darum auch gehört das „Bitte“ und „Danke“ sagen, allein
schon als Ausdruck von Anerkennung der Persönlichkeit des anderen, zu den
Selbstverständlichkeiten unseres Zusammenlebens. Gerade ein „Dankeschön“ als
positives Feedback wirkt sich bei jedem Empfänger – also nicht nur bei unseren
Kindern – motivationsfördernd und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen
außerordentlich positiv aus. Zugleich fühlt sich ein Kind in seiner Gruppe, also in
der eigenen Familie oder den anderen Kindern wie zum Beispiel im Kindergarten
oder in einer Schulklasse angenommen, anerkannt, akzeptiert. In diesen
„Primärgruppen“, also innerhalb seiner Familie oder den „Sekundärgruppen“, also
in allen die Familie ergänzenden, wie Kindergarten, Hort oder Schule oder gar
ersetzenden Gruppen, wie Kinderheime, kann sich ein Kind entwickeln, sofern
dort seinen Grundbedürfnissen optimale Beachtung zuteil wird und das heißt
auch, dass sich kulturpolitische Entscheidungen am Wohl der Kinder und weniger
an Ideologien orientieren.
Das Bedürfnis nach Vertrauen
Dieses Stichwort fügt sich nahtlos an das soeben Besprochene an und es wird
erneut deutlich, wie sehr alles, was hier ausgeführt wird, wechselseitig
zusammenhängt und einander durchdringt. Dem Kleinkind sagen Eltern: "Lass die
Finger davon, das kannst du noch nicht", unseren älteren Kindern untersagen wir
möglicherweise den Umgang mit bestimmten anderen Kindern, weil wir einen
"schlechten Einfluss" befürchten. In beiden Fällen sprechen aus uns die Sorgen um
unser Kind, die Verantwortung, die wir für sein Wohlergehen tragen und unser
Wunsch, dass unser Kind so wird, wie wir es uns vorstellen.
24
Sobald wir aber Misstrauen in unseren Gründen spüren, mit denen wir von
unserem Kind etwas fordern oder ihm etwas verwehren, beginnt der Wurm an
unserem Vertrauen zu nagen. Unser Kind, ob klein oder groß, hört genau heraus,
ob uns echte Sorge um das Kind umtreibt, oder ob wir ihm einfach nicht zutrauen,
mit der Aufgabe oder Situation umzugehen.
Es muss uns jedoch bei dem Problem des Vertrauens nicht immer um unser Kind
gehen. Eine Voraussetzung dafür, Vertrauen geben zu können, ist, Vertrauen zu
sich selber zu haben. Wer sich selbst nicht traut (oder nichts zutraut), dem fällt es
auch schwer, anderen Menschen Vertrauen zu geben. Also schauen wir auch in
dieser Beziehung in uns selbst hinein und forschen nach unseren Motiven!
Hier ein Beispiel, wie es uns häufig begegnet. Und wieder geht es um die Arbeiten
für die Schule.
Wir alle kennen Eltern, die nur das Beste wollen für ihre Kinder. Da ein
höherer Bildungsabschluss, also zum Beispiel das Abitur, nach unserer
gegenwärtigen Erfahrung bessere Berufsaussichten mit höheren Verdiensten
und Prestigegewinnen verspricht, wollen diese Eltern, dass ihre Kinder gute
Schüler sind. Bereits im Kindergarten sollen die Kinder auf die Anforderungen
der Schule vorbereitet und erste Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen
vermittelt werden. Ist aber das Kind erst in der Schule, dann wachen Mutter
oder Vater sorgsam und besorgt darüber, dass das Kind auch wirklich alles
gut mitkriegt. Zu denken ist da zum Beispiel an ein Elternpaar, das ganz
besonders großen Wert darauf legt, dass ihre Kinder das den Eltern
vorschwebende Schulziel erreichen. Jede Bastelarbeit oder jedes Bild, das ihr
Kind im Kindergarten angefertigt hat, lassen sie sich vorlegen. Nicht aber, um
es deutlich sichtbar in der Wohnung auszustellen, sondern um es zu
überprüfen. Pingeliger als jede pädagogische Fachkraft setzen sie ihren
Kindern gegenüber die eigenen Maßstäbe durch. Eine scheinbar schlechte
Arbeit wird von den Eltern als eine persönliche Beleidigung erlebt.
Je stärker ein Kind im Bereich eigener Schöpfungen, seien sie daheim oder in der
Tagesstätte angefertigt, von den Erwachsenen gegängelt und kontrolliert wird, je
enger sein eigener Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum ist, umso größer ist
die Wahrscheinlichkeit, dass es Schwierigkeiten bekommt, ja, dass es völlig
versagt.
Und im Umkehrschluss lässt sich festhalten:
Je frühzeitiger ein Kind in Bezug auf seine eigenen Leistungen in die eigene
Verantwortung gestellt wird, und je konsequenter und überzeugter die
Eltern der Fähigkeit ihres Kindes vertrauen für seine Angelegenheiten selbst
die Verantwortung zu übernehmen, umso geringer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass es – zum Beispiel später in der Schule - die Ziele
nicht erreicht.
25
Für
den
Schulbereich
sind
diese
Zusammenhänge
durch
die
erziehungswissenschaftliche und motivationspsychologische Forschung mehrfach
nachgewiesen7. Und was für die Schule gilt, trifft auch für die Kinder in
Kindergarten und Hort zu.
Mut brauchen wir und vor allem Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder, dass
sie das, was wir ihnen zutrauen, auch schaffen, dass sie „Verantwortung“
übernehmen können. Aber was dürfen wir und in welchem Alter von unseren
Kindern erwarten? Welche Gefahren sind möglicher Weise mit einer verfrühten,
welche mit einer völlig ungenügenden Bereitschaft von Eltern verbunden,
Eigenständigkeit zuzulassen? Wie können wir unserem Kind denn in einer
verantwortbaren Weise helfen, alles das selbst zu tun, was es kann oder was es
lernen soll? Das können Fragen sein, die unsere Überlegungen bei dem Gedanken
an die Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung begleiten. Welche
Erleichterungen eine souveräne Haltung für Eltern mit sich bringen kann, soll
folgendes Beispiel nachweisen:
Das Ehepaar Z. im Nebenhaus hatte zwölf gesunde Kinder. Als das älteste
Kind, die Käthe, siebzehn Jahre alt war, wurden die jüngsten Kinder geboren.
Frau Z. brachte Drillinge zur Welt, wovon ein Kind ein Junge war.
Obwohl Frau Z. keiner außerhäuslichen Tätigkeit nachging, wird es leicht
verständlich sein, dass sie sich nicht um alle Kinder mit gleicher Intensität
kümmern konnte. Sie sah ihre Hauptaufgabe darin, ihren Kindern und dem
Vater täglich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Die ältesten Mädchen
übernahmen es, die Geschwister zu betreuen. Und alle wirkten, je nach ihren
Möglichkeiten, an der Haushaltgestaltung mit. Kein Kind besuchte einen
Kindergarten. Stattdessen waren ständig Nachbarskinder in dem kleinen
Siedlungshaus oder in dessen Garten anzutreffen. Oft weinte ein Kind und
musste von einem anderen getröstet werden. Wenn es gar zu schlimm wurde,
lief wohl auch mal eines in die Küche zur Mutter. Die meisten Angelegenheiten
regelten die Kinder untereinander selbst, zum Beispiel wer mit welchem
Spielzeug spielte oder wer wessen Kleider anzog. Die Kleineren trugen stets die
Kleider der Größeren. Für die Flick- und Näharbeiten war die Mutter solange
zuständig, bis die älteren Mädchen das selbst tun konnten.
Es versteht sich von selbst, dass sich Mutter oder Vater nicht um die
Schulaufgaben kümmerten. Natürlich freuten sie sich über Erfolge ihrer
Kinder. Wenn aber eines Hilfe brauchte, dann holte es sich die bei seinen
älteren Geschwistern. Und die leisteten ganz selbstverständlich diese Hilfe.
Dieses Beispiel deutet auf eine bedeutsame Bedingung, die die Selbständigkeit und
damit die Eigenverantwortlichkeit von Kindern fördert:
Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen
Angelegenheiten gar nicht kümmern können, dann zeigt es gleichsam
„automatisch“, dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu
sorgen. Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner körperlichen,
geistigen und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von einem
26
Dreijährigen zwar nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie zubereitet.
Wohl aber wird er sich an- und ausziehen und seine Schuhe binden, allein auf die
Toilette gehen oder sich allein waschen können.
Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo
die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in
Haushalt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend
wegen Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel,
wird die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß
darum bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung
pflegen oder einkaufen gehen.
Kinder wollen aus eigenem Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur
aus neugierig, probieren gern etwas aus und möchten gern alles selber machen.
Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann
und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind
eifrig, stolz und zufrieden.
Das Bedürfnis nach Führung
Dieser Begriff soll provozieren und Mut machen zugleich. Anders ausgedrückt lässt
sich sagen, dass ein Kind sich fragend an die Erwachsenen wendet und von ihnen
Orientierung
erwartet.
Wir
haben
uns
daran
gewöhnt,
diesen
Orientierungswunsch und unsere Reaktion darauf „Erziehung“ zu nennen. Dieses
Grundbedürfnis wird ja nicht allein und schon gar nicht bewusst von einem Kind
eingefordert. Andere Kräfte, die Gesellschaft, die Politik und die sozialen Gruppen
in denen wir leben, erwarten von den Eltern, dass sie ihre Kinder an die Normen
und Werte dieser Kultur heranführen. Zur Unterstützung der Familien, die ja
diesen Erwartungen nicht im vollen Umfang ohne Hilfe gerecht werden können,
wurden
Erziehungsund
Bildungseinrichtungen
wie
zum
Beispiel
Kindertagesstätten und Schulen geschaffen. Und alles was dort – also in Familie,
Kindertagesstätte oder Schule geschieht - hat mit Erziehung zu tun.
„Erzieherinnen und Leitungskräfte müssen sich selbst als werteorientierte
Bildungsträger verstehen und in ihrer Person Werte und Bildungsmerkmale
tragen, die sich entwicklungsförderlich für Kinder erweisen…“
fordert Armin Krenz (2007, S. 90).
Bereits 1927 setzte Theodor Litt, einer der einflussreichsten deutschen Pädagogen
in seiner Schrift „Führen oder wachsen lassen“ (Stuttgart 7/1958) ausführlich mit
der Frage auseinander, ob man sich im Umgang mit Kindern darauf beschränken
dürfe, es gleichsam sich selbst zu überlassen oder ob es zu führen sei. Dabei
verstand Litt unter Führung die erzieherische Aufgabe, jedes Kind einzuführen in
bzw. heranzuführen an die „Wertsphäre“ von Kultur und Gesellschaft (S. 72 u. 75).
Litt kam zum Ergebnis, dass beide Seiten, das unbewusste von der individuellen
Entwicklung bestimmte Heranwachsen und die „Ein-Führung“ einander ergänzen.
Den Erziehern kommt die entscheidende Vermittlerfunktion zu8. In der
27
pädagogischen Literatur wird unterschieden zwischen bewusstem, beabsichtigtem
und zielorientiertem erzieherischen Handeln und den unbeabsichtigten, nicht
durch uns gesteuerten Handlungen oder Situationen, die gleichwohl von
nachhaltiger Wirkung sind. Die letzteren meinen wir, wenn wir sagen, dass wir auf
das, was ein Kind von der Straße, von anderen Kindern oder aus der Schule
mitbringt, keinen Einfluss haben. Auf diese "funktionalen" erzieherischen
Prozesse, zu denen auch die Nutzung elektronischer Medien gehört, wird an dieser
Stelle nicht eingegangen.
Führung, Grenzen setzen, Orientierungshilfen geben ... alles das sind
Elemente von „Erziehung“ und elementare Notwendigkeiten, um unseren
Heranwachsenden zu einem Gewissen zu verhelfen, das ihnen sagen kann,
was gut und richtig ist
(vgl. dazu Hans Janssen 1994).
Je klarer und wirksamer die beabsichtigten (intentionalen) erzieherischen
Einwirkungen durch uns sind, je überzeugender und von Innen heraus Eltern
und Berufserzieher hinter ihnen stehen, umso weniger wirken sich
gegenläufige funktionale Einwirkungen aus.
Auch die so genannte „antiautoritäre“ Erziehungsrichtung, wie sie in den siebziger
Jahren in unserem Erziehungs- und Bildungswesen bis in die Familien hinein heftig
umstritten wurde, verzichtete nicht auf jene intentionalen Erziehungsprozesse.
Damals ging es vielmehr um die Art und Weise, wie Eltern und Erzieher mit ihren
Kindern umgehen sollten, damit sie optimal gefördert werden. Und weil
ausgesprochen wurde, was jeder von uns am eigenen Leibe längst erfahren hatte,
dass nämlich Erziehung mit Schlägen oder Missachtung kindlicher Würde
(autoritäre Erziehung) keineswegs zu einem selbständigen, verantwortlich
handelnden und mündigen, sich seiner Selbst bewussten Staatsbürger führt, war
zunächst die Begeisterung groß. Es mag einige gegeben haben, die dachten, nun
brauche man gar nichts mehr zu tun: ein Kind wird von alleine wissen, was ihm gut
tut. Diese bequeme Haltung gab es auch schon vorher. Sie wurde Laissez-faire-Stil
genannt und lässt sich mit Gleichgültigkeit übersetzen. Doch war diese erzieherische
- oder besser nicht-erzieherische Haltung unter Eltern, Erziehern und Lehrern
genauso verpönt, wie die diktatorische. Hier ein Beispiel:
Das Ehepaar Herzig gehört zu jenen, die „es geschafft“ haben. Noch relativ
jung an Jahren besitzen sie ein schönes geräumiges eigenes Haus in dem jeder
ihrer drei Buben (5, 7 und 8 ½ Jahre alt) jeder ein eigenes Zimmer bewohnt.
Die Kinderzimmer sind nach allen Regeln der Kinderzimmer-Werbe-Kunst
eingerichtet. Sie verfügen zum Beispiel über zwei Ebenen mit Rutsche und
Leiter, eine bunte schier unendliche Fülle wertvollen Spielzeugs, sind
ausgestattet mit Fernseher und Video und die Mama ist daheim und kümmert
sich um ihre Sprösslinge rund um die Uhr. Papa hat im Untergeschoss ein
komfortables Büro, in dem er nach Feierabend seine Ingenieurstätigkeit
28
fortsetzt. „Man muss laufend am Ball bleiben, sonst kann man das alles hier
(er deutet mit einer weit ausholenden Handbewegung auf seine Einrichtung)
vergessen“.
Der älteste Sohn Hans aber wurde vom Besuch einer öffentlichen Grundschule
ausgeschlossen und in eine Schule für Erziehungshilfe eingeschult. Eine
Erklärung bietet der Junge selbst an. Aus gegebenem Anlass sagt der sehr
intelligente und sprachgewandte Hans: „Ich mache was ich will. Meine Mutter
sagt immer, du bist für das, was du tust selbst verantwortlich.“
Diese Haltung lebt die Mutter tatsächlich. Ganz gleich, wie sie das für sich
begründet: Hans war mit diesem Verständnis von Eigenverantwortung
deutlich überfordert. Keine Pflöcke, keine Grenzen an seinem Weg führten ihn
in das Chaos einer theoretischen Eigenverantwortung, die er praktisch auf
seine Weise füllt. Und das bedeutet, dass er sich von niemanden - auch von
Mutter und Vater nicht - etwas sagen lassen will.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass alle Bedürfniselemente, wie hier zum Beispiel
„Anerkennung“, „Vertrauen“, „Förderung“ und „Führung“ nicht allein eng
miteinander verflochten sind, sondern auch in einem Spannungsverhältnis
zueinander stehen. Diese Spannungen sind in einer, auf die jeweilige Persönlichkeit
eines Kindes hin orientierte elterliche Haltung auszuhalten und auszugleichen.
Nicht jedes Kind reagiert auf elterlichen Führungsanspruch oder Führungsverzicht
gleich heftig. Erziehung heißt praktisch und in Bezug auf jedes unserer Kinder
gebieten, verbieten, meinem Kind ermöglichen, aus den Folgen seines Verhaltens zu
lernen, sowie es belohnen und ermutigen. Außerdem muss ich fordern oder
verzichten, beharrlich bleiben oder nachgeben. Jede Mutter, jeder Vater oder jede/r
Berufserzieher/in wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in diesem Prozess
kein Leid angetan wird. Das heißt, dass wir auf körperliche Züchtigung ebenso
verzichten, wie auf die Würde des Kindes verletzende Äußerungen. Gerade in
kritischen Situationen wird es sich zeigen, ob wir ruhig und souverän handeln
können, ob wir mit Geduld und Verständnis das durchsetzen, von dem wir
überzeugt sind, dass es gut ist für unser Kind hier und heute und in seiner Zukunft.
Kein Erzieher darf den Anspruch von Kindern auf Orientierung ignorieren und
meinen, dass die Anderen oder "das Leben" die Kleinen schon formen werden.
Zum Leben eines Kindes gehören zunächst und vor allen andere Menschen: die
Eltern, die Erzieher und die Lehrer. Und je jünger die Kinder sind, umso wichtiger
sind sie. An uns richten die Kinder mit ihrem Verhalten die Fragen:
Wie weit darf ich gehen? - Was darf ich? - Was darf ich nicht?
Sie fordern den erzieherischen Dialog mit uns heraus! Und die Kinder haben einen
Anspruch darauf, eine klare Antwort zu erhalten!
Jede Mutter und jeder Vater wird sich daran erinnern, wie ein Kleinkind etwas tat
und dabei genau wusste, dass das nicht in Ordnung ist. Denken wir an einen
zweijährigen Jungen, der im Bad spielt, indem er am Waschbecken Wasser in den
Zahnbecher laufen lässt und den Becher in die Badewanne leert. Als er merkt, dass
29
er beobachtet wird, entleert er den Becher auf den Fußboden. Dabei schaut er zum
Vater und in seinem Gesicht lesen wir die Frage: " Was machst du nun?"
Können wir Eltern und Erzieher nun angemessen darauf reagieren? "Angemessen"
das heißt, zu erkennen, dass uns das Kind weder ärgern will, noch tut es das, weil
es bestraft werden möchte. Mit seinem Verhalten fordert es eine Reaktion heraus
(es "provoziert"), die wir so übersetzen müssen:
"Zeige mir meine Grenzen!"
Grenzen, die einem Kind zeigen, wohin es gehen soll, haben Verhaltenssicherheit
zur Folge. „Das tut man" oder „das tut man nicht" sagen wir gern. Die Maßstäbe
für das, was gut und richtig ist, nehmen wir einmal aus unserer eigenen
Lebenserfahrung; vor allem aber aus der uns umgebenden Kultur, die diese unsere
Lebenserfahrung mit beeinflusste. Denken wir an das Beispiel "Zeit", von dem
oben bereits im Zusammenhang mit "Geduld" die Rede war. Dass ein Mensch den
Faktor Zeit zu beachten hat und zum Beispiel lernen muss pünktlich zu sein, in
bestimmten Situationen schnell zu reagieren, seine Zeit einteilen können muss u.
v. a. m., das ist ja keine subjektive, willkürlich gesetzte, sondern eine für alle
gleichermaßen geltende gesellschaftliche Norm.
Wir prüfen also, wenn wir etwas von unseren Kindern verlangen beziehungsweise
sie Grenzen erfahren lassen, ob wir unseren Maßstab gleichsam aus einer Laune
heraus nehmen oder ob es sich um eine allgemein anerkannte gesellschaftliche
Norm handelt.
Noch einmal sei darauf hingewiesen:
Was wir unbeirrt und mit Festigkeit und bestimmender von innen
herauskommender Überzeugung vertreten, das wird auch von unserem Kind
akzeptiert.
Mag es zunächst maulen und Widerworte geben; es wird sich am Ende fügen,
wenn es im Grunde weiß (weil das von Anfang an so war), dass es den Eltern allein
um sein Wohl (und nicht um deren Bequemlichkeit, deren Eigensinn oder deren
Macht) geht. Wir kommen auf Gesichtspunkte der erzieherischen Autorität immer
wieder zurück und beantworten uns folgende Fragen:
Schaffen wir Eltern und Erzieher es, "Nein" zu sagen:
- wenn unser Kind vor seinem zwölften Lebensjahr auf dem Beifahrersitz
unseres Autos mitfahren will?
- wenn unser Kind den vereinbarten täglichen Beginn der Hausaufgaben
verschieben will, um zuerst zu spielen und dann zu arbeiten?
- wenn unser Kind über die festgesetzte Zeit hinaus Fernsehen oder am
Computer spielen will?
- wenn unser Kind uns veranlassen will, etwas zu kaufen, was wir nicht
kaufen wollen?
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Gerade in unserem vom Konsumdenken beeinflussten Leben in der westlichen
Industriegesellschaft und den auf Verführung ausgerichteten Angeboten in
unseren Kaufhäusern und Einzelhandelsgeschäften braucht jedes Kind eine
Orientierung durch uns – und nicht durch die Auslagen! Wenn wir es schaffen, in
diesen und vielen anderen alltäglichen Situationen "Nein" zu sagen, dann
verringern wir die Gefahr, dass unser Kind uns auf der Nase herum tanzt, und vor
allem, dass es Schaden nimmt in seiner Entwicklung9.
Das Bedürfnis nach Förderung
Mit Förderung ist das gemeint, was im alten Jugendwohlfahrtsgesetz Anspruch auf
Erziehung zu seelischer, geistiger und körperlicher Tüchtigkeit hieß. Eltern
bemühen sich nicht selten um die geistige Förderung ihres Kindes, wenn sie
versuchen, es mit Hilfe von "Nachhilfestunden" zu fördern, um ihm etwas
vermitteln zu lassen, was es einfach nicht begreift. Diese Form der Förderung ist
nicht gemeint. Hier geht es um mehr. Das, was Förderung umfasst, beginnt bereits
im Säuglingsalter, wie wir oben erfahren haben. Denn wenn unser Säugling und
Kleinkind Verlässlichkeit, Zärtlichkeit und Zuwendung, Akzeptanz und Vertrauen
erlebt, dann wird es gut gerüstet sein für alle Anforderungen, die das Leben an es
stellt. Es soll sich dereinst im sozialen Feld unauffällig bewegen können und
dennoch durchsetzungsfähig sein, es soll interessiert und aufgeschlossen sein und
gern lernen wollen und Aufgaben bewältigen, auch wenn es mal schwer fällt. Es
soll in Krisenzeiten nicht gleich den Kopf verlieren und durchhängen, sondern sich
im vollen Vertrauen auf seine eigenen Kräfte auch schwierigen Situationen stellen.
Eine Menge guter Eigenschaften wünschen wir uns für unser Kind und fragen uns,
was wir denn dafür tun können.
Das Beispiel von dem Erkundungsdrang des acht Monate alten Kindes deutete
bereits darauf hin, dass wir unserem Kind als einem von Natur aus aktiven
Erkunder die Gelegenheit anbieten müssen, die Welt selbst zu erkunden und sich
im Entdecken, Ausprobieren und dann weiter beim Spiel zu üben. Dazu braucht es
sicher Möglichkeiten, sich zu bewegen, auszutoben, sich im Freien zu tummeln,
aber auch einen Platz in unserer Wohnung, eine Ecke, in der es ungestört spielen
kann. Spielzeug werden wir ihm kaufen oder schenken lassen, das das Bedürfnis
nach aktiver Auseinandersetzung fördert.
Dem achtjährigen Jungen der Familie K. schenkten Verwandte einen Roboter
aus Blech. Doch das einzige, was das Kind mit diesem Roboter zunächst tun
konnte war, ihn aufzuziehen. Dann drehte sich der Roboter um seine eigene
Achse. Höflich bedankte sich der Junge, denn er wusste, was sich gehört. Dann
zog er mit dem neuen Spielzeug ab in sein Zimmer. Als die Eltern und die
Verwandtschaft einige Zeit später nach ihm schauten, konnten sie sich davon
überzeugen, dass es noch eine weitere Variante (außer dem Aufziehen) gab,
um sich aktiv mit dem neuen Spielzeug zu beschäftigen. Mit Hilfe seines
31
Werkzeugkastens hatte der Junge den Roboter zerlegt und versuchte, das
Uhrwerk mit Elementen eines Technik-Baukastens zu verbinden. Die Eltern
freuten sich über die Kreativität ihres Jungen. Die Verwandten aber zogen
enttäuscht von dannen. In ihren Augen hatte der Junge das Geschenk "kaputt"
gemacht.
Am besten ist es, wenn wir unsere Kinder mit Dingen spielen lassen, die sie in
vielfältiger Weise herausfordern. Es gibt zum Beispiel heute bereits Kindergärten,
die tageweise oder ganz auf fertiges Spielzeug und andere, industriell gefertigte
Spielmaterialien verzichten. Die Kinder langweilen sich keineswegs. Aus
"wertlosem Material", wie Papprollen, Holzstücken oder Stoffresten können
phantastische Gebilde entstehen. Und draußen können Kinder mit Sand, Erde,
Steinen und Ästen lange spielen ohne sich zu langweilen. Kinder sind von Natur
aus kreativ und wissbegierig; man kann auch sagen: sie lernen gern!
Dass es aber auch anders sein kann und Kinder geradezu daran gehindert
werden, ihre natürlichen Kräfte zu entfalten, zeigt das Schicksal von Heinz. In
der Familie, in der er heranwuchs, bestimmte der Fernseher, gekoppelt mit
einem Video-Gerät, die Freizeiten. Das Gerät wurde morgens angestellt, und
weil die Mutter jede freie Minute vor dem Fernseher hockte, taten die drei
Kinder ihr das nach. Am Nachmittag und an den Wochenenden setzte sich
noch der Vater hinzu, holte die ausgeliehenen Videofilme aus der Tasche und
ließ sie ablaufen. Dabei war es den Erwachsenen gleich, ob die Filme für die
noch nicht schulpflichtigen Kinder geeignet waren oder nicht. Als Heinz
eingeschult werden sollte, wurde gleichsam aktenkundig, was Erzieherinnen
bei seinen sporadischen Kindergartenbesuchen bereits festgestellt hatten:
Heinz war (unter anderem) in seiner Sprachentwicklung erheblich
zurückgeblieben.
In der Familie von Heinz waren ganz einfache Muster des Lernens unbeachtet
geblieben:
Sprechen lernt ein Kind, wenn es viel spricht und alles benennt oder wenn
die Eltern auf seine Fragen antworten; soziale Verhaltensweisen lernt es,
wenn es mit anderen Kindern spielt; seinen Körper lernt es zu beherrschen,
wenn es läuft, springt und sich vielfältig bewegt. Sehen lernt es, wenn es
beobachtet, Fahrrad fahren, wenn es Fahrrad fährt und nicht vom
Zuschauen.
Kinder lernen also am ehesten, wenn sie etwas tun. An allem Tun sollten möglichst
viele seiner Sinne beteiligt sein. Zwingen wir aber ein Kind dazu, passiv zu sein,
nimmt es Schaden an Geist und Seele. Es sind gerade die Forschungsergebnisse
von Manfred Spitzer (2002) oder Joachim Bauer (2005), die uns heute aus
neurologischer Sicht nachweisen, auf welche Weise Kinder gefördert oder auf
welche Weise der kindlichen Entwicklung erheblicher Schaden zugefügt werden
32
kann. Eines Tages wird es gar nicht mehr aktiv sein wollen. Das angeborene
Interesse am eigenen Erkunden wird dem ebenfalls angeborenen Hang zur
Bequemlichkeit Platz machen. Erst wurden die natürlichen Bedürfnisse eines
Kindes übersehen oder missachtet. Bald kommt der Zeitpunkt, wo es nicht mehr
will. Später wird es zum Verweigerer, der jede Anstrengung scheut und zu nichts
"Lust" hat.
Genau hier liegt das Geheimnis der Freude und des Interesses an der Leistung.
Gerade bei allen Angeboten, die die Kreativität eines Kindes herausfordern, spielt
das eine große Rolle. Dort fallen aber noch andere Faktoren ins Gewicht: Zum
Beispiel, die Gelegenheit, den schier unerschöpflichen Bewegungsdrang der Kinder
ausleben zu können – auch und nicht zuletzt in Freien -, die Art und Weise der
Vermittlung von Wissen, die entsprechenden didaktischen Kenntnisse und
Strategien der Pädagoginnen und Pädagogen oder die Arbeitsatmosphäre.
Je mehr wir ein Kind bei seinen Leistungsbemühungen ermutigen, umso
größer das Interesse. Je weniger wir seine Bemühungen anerkennen und
nur das Ergebnis im Auge haben, umso größer die Gefahr, dass ein Kind
resigniert. "Versuche es noch einmal! Du schaffst das schon!" sollte ein Kind
häufiger hören als: "Lass die Finger davon, dazu bist Du noch zu klein (zu
dumm, zu ungeschickt)".
Das Bedürfnis nach Freude
Fangen wir bei uns selber an: Wir wünschen uns bei allen Gelegenheiten "frohe
Festtage, Gesundheit und Freude". Sich auf etwas freuen dürfen und freuen
können gilt seit langem als ein Gefühl, das dazu beiträgt, das Leben lebenswert zu
machen. Friedrich Schiller widmete dieser - nur dem Menschen eigentümlichen
Grundstimmung - ein Gedicht, das Ludwig van Beethoven vertonte und an den
Schluss seiner Neunten Symphonie setzte. Die "Ode an die Freude" ist zu einer
Welthymne geworden. Auch die christliche Botschaft, und hier besonders das
Weihnachtsevangelium stellt die Freude in das Zentrum. Während wir
Erwachsenen uns aus gutem Grund "Freude" wünschen, weil wir oft verlernt
haben, uns zu freuen, freuen sich Kinder gleichsam von Natur aus. Hier ist uns
Menschen die Bereitschaft zu einer Stimmung angeboren, die wir nicht erst lernen
müssen. Alle Kinder, denen kein Leid angetan wird und deren Bedürfnisse eine
hinreichende Befriedigung erfahren, freuen sich bei vielen Gelegenheiten.
Frohsinn und Lebensfreude bringen sie ebenso unmittelbar mit ihrem ganzen
Körper zum Ausdruck, wie sie ihren Kummer in elementarer Weise so zum
Ausdruck bringen, als stürze die ganze Welt zusammen. Freude und Leid liegen
noch ganz dicht beieinander. Und wir Eltern und Erzieher möchten unseren
Kindern recht viel Freude bereiten.
33
"Mein Kind macht mir viel Freude" sagen wir dann gern und bringen damit
zugleich zum Ausdruck, dass auch unser Kind viel Freude hat. Denn wer Freude
schenkt, dem wird Freude gegeben. Oder, wie es im Volksmund heißt: "Wie es in
den Wald hinein schallt, so ruft es wieder raus."
Freude schenken ist bei Kindern nicht schwer. Gerade weil sie sich noch über alles
freuen können, brauchen wir nicht, wie bei Erwachsenen, lange zu überlegen.
"womit könnte ich ihr/ihm nur eine Freude machen?" Zugleich aber könnte diese
Frage Maßstab dessen sein, was wir "Verwöhnen" nennen. Kinder die alles
bekommen, eigentlich noch bevor sie ein begehrliches Auge darauf geworfen
haben, werden rasch verlernen, sich zu freuen. Ihnen wird das Leben öde und
langweilig. Bereits unsere alten Volksmärchen wussten davon zu erzählen: Nur
wer noch Wünsche hat, kann sich auch auf etwas freuen.
Dass zur Freude die freudige, spannungsreiche Erwartung gehört, das erfahren
Eltern und Berufserzieher immer dann, wenn ein für Kinder besonders
bedeutsames Ereignis bevorsteht.
Und wieder denken wir an die eigene Kindheit zurück: Die Wartezeit vor der
„Bescherung“ am Heiligen Abend, die Zeit, die nicht vergehen wollte, wenn wir
mit den Eltern ins Kasperle-Theater oder zur Kindervorstellung ins Theater
gehen durften, sie füllte unser ganzes Ich mit freudiger Erwartung aus, die so
tief erlebt wurde, dass wir sie noch heute als Erwachsene gut erinnern können.
Später, als wir dann groß waren, erlebten wir eine ähnliche spannungsreiche
Vorfreude, wenn wir uns auf die Verabredung mit der Freundin /mit dem
Freund vorbereiteten.
Die Freude eines Kindes wächst also aus freudigem Erleben. "Schau mal!" ruft der
zweijährige Karl beim Spaziergang und strahlt vor Aufregung und Vergnügen und
zeigt uns einen Käfer, der gerade über den Weg eilt. Und so entdecken unsere
Kinder die Welt, sind freudig erregt und können sich vor Freude gar nicht lassen,
wenn sie etwas sehen, was ihnen neu ist und/oder gefällt.
Nehmen in derartigen Situationen die Eltern keinen Anteil an dieser spontanen
Freude (weil sie schlechte Laune haben, weil sie nichts dabei finden, weil sie
vermeintlich Wichtigeres zu tun haben u. a. m.), dann wird das Kind verstummen.
Es braucht das Echo unserer Teilnahme an allem was es tut und besonders an
seiner Freude! Mehr als alles, was Geld kostet, schätzt unser Kind die Eltern. Also
schenken wir ihm unsere Zeit und unternehmen gemeinsam so viel wie möglich.
Wir denken zum Beispiel an einen Besuch im Zoologischen Garten, einen Ausflug
an einen See, an den Spaziergang an einem Bach oder wir denken bei der Planung
von Ferien und der Fahrt zum Urlaubsort an unsere Kinder: so können wir Freude
bereiten.
Freude und Wohlbehagen, Frohsinn und Lachen gehören zusammen. Bereits bei
unseren Säuglingen können wir dieses Grundbedürfnis erkennen, wenn sie uns
34
zum ersten Mal anlächeln oder sich durch lebhafte Bewegungen und fröhliches
Glucksen signalisieren, dass sie froh darüber sind, uns zu sehen und zu hören.
Freude, wenn ich mit diesem Begriff alle diese positiven Gefühle im Menschen
zusammenfasse, kommt, wie beim Säugling bereits beobachtbar, in sozialen
Beziehungen auf. Ein chinesisches Sprichwort sagt „Das Lächeln, das du
aussendest, kehrt zu dir zurück“. Unser Kleinkind beweist, dass das so ist. Und
wenn sich erst ein Kindergesicht unserem fünf Monate alten Säugling liebevoll
zuwendet, können wir sehen, wie sich nach großäugigem Erstaunen rasch lebhafte
Freude zeigt. Kinder brauchen andere Kinder: das ist für ihre Entwicklung
unverzichtbar! Wenn wir unserem Kind Freude bereiten wollen, ermöglichen wir
ihm, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sowohl Gleichaltrige als auch
Kinder unterschiedlichen Alters brauchen diesen Umgang miteinander. Gewiss
treten später, bei Geschwistern können wir das genauso gut beobachten wie in
Krippe, Kindergarten oder auf dem Spielplatz, Konflikte auf.
Wenn die Eltern mit ihrem fünf Jahre alten Roman in die Stadt fuhren, dann
wusste er genau, wo die Spielplätze waren. Dort zog es ihn (und er seine
Eltern) hin. Keine größere Freude konnten sie ihm bei diesen Stadtbesuchen
bereiten, als mit ihm auf den Spielplatz zu gehen. Dort saßen die Eltern dann
irgendwo in Sichtkontakt mit Roman, der mal mehr, mal weniger zielstrebig,
auf die im Sandkasten spielenden oder auf den Gerüsten herumturnenden
Kinder zuging.
Wenn spielbereite und kontaktfreudige Kinder da waren, brauchten die Eltern
viel Zeit und Geduld, bis Roman, zufrieden zurück kam und bereit war, weiter
mitzugehen. Gelegentlich aber kam es zu Differenzen mit anderen Kindern.
Seinen Frust beendete Roman, in dem er zu den Eltern lief und offensichtlich
froh war, weggehen zu können. Beim nächsten Besuch in der Stadt aber war
der Spielplatz erneut sein Ziel.
Freude und Frustration, Lachen und Weinen können also dicht beieinander liegen.
Wichtig aber ist es, dass unsere Kinder beides erfahren und frühzeitig ihre sozialen
Erfahrungen machen. Ob das mit einer Sandschaufel auf einem Spielplatz ist oder
noch mit Windeln am Po, im Kinderzimmer.
Das Bedürfnis nach Verständnis
Verständnis - in diesem Begriff ist "Verstehen" enthalten. Und das "Verstehen"
spielt in unserem Leben eine ganz zentrale Rolle, wie wir es alle täglich am eigenen
Leibe erleben.
"mit meinen Eltern (meinen Geschwistern, Freunden …) verstehe ich mich gut"
"Du verstehst mich nicht", "Du willst mich einfach nicht verstehen"
"Niemand versteht mich…", "ich wünsche mir einen Menschen, der mich gut
versteht"
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in allen diesen immer wieder gebrauchten Redewendungen bringen wir die
Bedeutung zum Ausdruck, die für uns Menschen ein gegenseitiges Verständnis
hat.
Welche Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung, um einen anderen Menschen beziehungsweise ein Kind - zu verstehen?
Ganz vorne an steht die Erkenntnis, dass wir die Lebensäußerungen unserer
Kinder umso besser verstehen, je mehr wir unsere eigenen verstehen. Vor allem,
wenn es uns gelingt, uns an unsere eigenen Gefühle in unserer Kindheit und
Jugend zu erinnern.
Ich bemühe mich weiter, ein Kind zu verstehen, wenn ich ihm richtig zuhöre, mich
ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwende und versuche, mich in es
hineinzuversetzen.
"Emotionale Intelligenz" überschreibt Daniel Goleman sein Buch (1996), in dem er
sehr anschaulich und einprägsam über das Einfühlungsvermögen und dessen
Bedeutung informiert.
"Verständnis" also noch eine andere, sehr wichtige Grundlage: ich meine
"Kenntnis", man kann auch "Wissen" sagen.
Um Verständnis dafür zu haben, dass ein Kleinkind alles, was es in die Finger
bekommt, zum Munde führt und daran herum lutscht oder darauf zu beißen
versucht, ist es für Eltern gut zu wissen, dass der Mund - wie alle anderen
Sinnesorgane des Kindes - an der Erkundung der Welt aktiv Anteil hat. Er stellt
gleichsam so eine Art "Erkundungslabor" dar, das unter anderem prüft, wie etwas
schmeckt, riecht, ob etwas mehr genießbar scheint oder weniger…
Gewiss sind die Eltern in der Pflicht, darauf zu achten, dass Gegenstände, die bei
diesem Prüfvorgang ein Kind verletzen könnten, nicht in einer für es erreichbaren
Nähe sind. Ein generelles Verbot oder Verhindern "ba, das tut man nicht" nimmt
einem Kind wichtige Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln. Doch um das
Verhalten eines Kindes richtig zu deuten und es nicht unnötig zu bremsen, wenn es
dabei ist, seine Umwelt zu erkunden und zu lernen, müssen Eltern einfach wissen,
was ein Kind zu seinem Gedeihen braucht und warum es etwas tut oder lässt.
Ähnliches gilt auch für die Lösungsphasen, also die Perioden, in denen Kinder uns
in besonderer Weise zu erkennen geben, dass sie von uns "weg wachsen". Freuen
wir uns über jedes unserer Kinder, das uns "vergisst", wenn es am Eingang zum
Kindergarten losstürmt und sich über die anderen Kinder freut. Oder über den
pubertierenden Heranwachsenden, der jede unserer Äußerungen kritisch prüft
und nur noch selten bereit ist, kommentarlos zu "schlucken", was wir ihm sagen
oder von ihm erwarten. Wer nicht weiß, dass Kinder, um zu reifen, Erwachsene
brauchen, um sich an ihnen reiben zu können, wird eher verzweifeln über die
Widerstände seiner Kinder und sie nicht als notwendig und natürlich begreifen.
Auch in dieser Entwicklungsphase lauern vielfältige Gefahren auf unsere Tochter,
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unseren Sohn. Und es braucht von unserer Seite viel Vertrauen in die guten Kräfte
in unserem Kind, um auch jene Situationen, die wir als kritisch erleben, mit
Gelassenheit und Zuversicht zu leben.
Ein Elternpaar mit vier Söhnen, deren Ältester in die Abschlussklasse der
Hauptschule kam, war über dessen Trägheit und Wurschtigkeit ganz
verzweifelt. "Zu nichts hat er Lust… er hängt nur rum… lässt sich volldröhnen
(mit lauter Musik)… zu den Hauaufgaben muss man ihn zwingen… es ist zum
Verzweifeln"
Zum "Verzweifeln" war aber auch, dass die Mutter ständig und der Vater nach
Feierabend dem Sohn ihren Kummer vorhielten und immer wieder
prophezeiten: "mach nur so weiter: so wird nie was aus dir!"
Es konnten die Eltern davon überzeugt werden, dass diese Phasen vorüber
gehen würden und sie ganz fest darauf vertrauen sollten, dass der Junge - und
auch die drei jüngeren, von denen eines noch im Kindergartenalter war, ihren
Weg schon machen würde. Sie sollten nur fest zu ihnen halten, ihnen, trotz
aller Schwierigkeiten die sie haben und bereiten, zur Seite stehen und ihnen
behutsam helfen (zum Beispiel dem Ältesten eine Lehrstelle zu finden, eine
Perspektive anzubieten…).
Während die Mutter sogleich bereit war, ihre verbalen Attacken einzustellen,
zu schweigen, wo sie vorher vorwurfsvoll "gepredigt" hatte, anzuerkennen und
zu ermuntern, was sie vorher selbstverständlich nahm, blieb der Vater noch
skeptisch. Immerhin bremste er sich und verzichtete auf Moralpredigten.
Heute, zehn Jahre später, alle drei Jungen sind in ihren Berufen erfolgreich tätig,
bestätigten sie, dass ihnen das Wissen um die natürlichen Krisen in der
Entwicklung und die aus diesen Kenntnissen erwachsende Zuversicht geholfen
habe. Die Konflikte mit den Söhnen verringerten sich und verloren an Schärfe.
Stattdessen lernten - nach der Bilanz der Eltern - auch die Kinder, sich und ihre
Möglichkeiten günstiger einzuschätzen. Die Mutter hatte sogar den Mut als
Elternvertreterin im Kindergarten und dann in der Schule, diese Einsichten dort
offen zu vertreten und andere Eltern zu bewegen, mehr Vertrauen in ihre Kinder
und mehr Verständnis für sie zu haben.
Das Bedürfnis nach Frieden
Eigentlich versteht es sich von selbst, dass jedermann in einer friedlichen Welt
leben möchte. Es sieht auch so aus, als gelänge es der Staatengemeinschaft zumindest für die Region Westeuropa - den Frieden für die jetzt lebenden
Generationen zu sichern. Dieser Frieden ist für die Entwicklung von Kindern der
Rahmen, der zu unseren allen allgemeinen Lebensbedingungen gehört, so wie
auch der Schutz und die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt. Sind diese
gefährdet wie in Kriegen oder durch den unverantwortlichen Umgang mit unseren
37
natürlichen Lebensgrundlagen, werden die elementaren Menschenrechte aller
Menschen, besonders aber der Kinder missachtet.
Für jedes einzelne Kind von unmittelbarer Bedeutung ist der Frieden in seiner
sozialen Umwelt, also der friedvolle Umgang der Familienmitglieder
untereinander, der Umgang mit Nachbarn oder mit der Erzieherin im
Kindergarten und dem Lehrer oder der Lehrerin.
Das Schrecklichste was einem Kind angetan werden kann, sind sich streitende
Eltern. Einwände wie: "Kinder müssen frühzeitig lernen, Konflikte auszuhalten
und auszutragen" oder: "Streitigkeiten kommen in den besten Familien vor" sind
unakzeptable Ausreden, die in dem hier gemeinten Zusammenhang nicht gelten auch wenn sie für sich genommen stimmen. Es gibt unter Erwachsenen
beziehungsweise Mutter und Vater verschiedene Meinungen, Auffassungen oder
Absichten, die zu Differenzen führen. Das ist ebenso natürlich, wie es Stunden
oder Tage gibt, wo man mal nicht so gut beieinander und darum schlecht gelaunt
oder besonders reizbar ist. Dies aber sind alles keine stichhaltigen Gründe dafür,
eine Familienatmosphäre durch entsprechende Verhaltensweisen zu vergiften.
Kinder wissen im Allgemeinen recht gut zu unterscheiden, zwischen einem
vorübergehenden Donnerwetter und einer über Stunden und Tage andauernden
unfriedlichen Atmosphäre.
Wenn Eltern einen an und für sich geringfügigen Anlass("wer hat denn da wieder
die Tür aufgelassen, es zieht ja wie Hechtsuppe") dazu benutzen, sich zu zanken
und es im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen immer lauter und im Ton
aggressiver wird, ja sogar beleidigende, Persönlichkeitsverletzende Äußerungen
fallen oder es, was noch schlimmer ist, zu Tätlichkeiten kommt, dann haben wir es
hier nicht mit einer empfehlenswerten Strategie zu tun, Konflikte zu bewältigen.
Auch Formen des "ich rede nicht mehr mit Dir", des über längere Zeiten
andauernden "eisigen Schweigens" oder des sich "Aus-dem-Wege-gehens"
(möglicherweise in die nächste Kneipe oder zur guten Freundin) reinigen die
Atmosphäre in der Regel nicht, sondern vergiften sie.
Wie bereits in früheren Jahren Kinder unter den sich streitenden Eltern litten,
zeigen uns die Lebenserinnerungen eines deutschen Erzählers. Ernst Wiechert
erinnert sich in seiner Autobiographie „Wälder und Menschen“ (1936, S. 49) an die
Ehekrisen im Elternhaus um 1890 und er schreibt:
„… aber die tiefste Verdüsterung meines kindlichen Lebens habe ich in jenen
zahllosen und endlosen Stunden erfahren, in denen ich vor der geschlossenen
Tür oder am Fenster des Schlafzimmers gelauscht habe, ob meine Mutter
weine.
Und noch schrecklicher als diese sichtbaren Schmerzen waren die Tage kalten
Schweigens, die sich an solche Stunden schlossen. Dann war es, als sei alles
Leben in unserem Hause gelähmt, als werde die Sonne nie wieder scheinen, als
wäre es am besten zu sterben und von der Not der Menschen nie mehr etwas
zu wissen…“
38
Jeder von uns, der Zank und Streit der eigenen Eltern miterlebte, kann das gut
nachvollziehen. Eine Mutter erzählte aus ihrer Kindheit:
„Wenn sich meine Eltern vor uns Kindern stritten und laut anschrien, dann
haben mein Bruder und ich mit geschrien – doch nicht aus Zorn, sondern in
heller Panik. Und wissen Sie, wie meine Eltern dann reagierten? Sie schlugen
beide auf uns ein… ich werde das nie vergessen“.
Wie aber auch immer die Konfliktstrategien in den Familien aussehen: die Kinder
stehen zwischen ihren Eltern und leiden. Der Streit zwischen Menschen, zu denen
Kinder einen guten Bezug haben oder haben möchten, macht Kinder kaputt. Eine
interdisziplinäre Fachtagung, die im November 2006 in Freiburg stattfand und
sich dem Thema häuslicher Gewalt und ihrer Folgen in Deutschland befasste, wies
an Hand dramatischer Zahlen und Schicksalen nach, dass Kinder Gewalt in der
Familie als existentielle Bedrohung empfinden. Oft ist nicht die Scheidung von
Eltern der Grund von erheblichen seelischen Erkrankungen von Kindern, sondern
die Zeiten, die der Trennung vorausgingen. Ein ganz besonders dramatisches
Kapitel in der Geschichte von unfriedlichen Familien ist die Gewalt, die
gegeneinander ausgeübt wird. Das kann die Gewalt gegen Kinder sein oder die der
Erwachsenen untereinander.
Kinder gedeihen nur in einer im Prinzip friedfertigen Umgebung. Und die
kann, entsprechende Persönlichkeiten und Einsichten vorausgesetzt, in jeder
Familie und, auf eine Gruppe oder Klasse bezogen, auch dort geschaffen
werden.
Nun wird mich jede/jeder, die/der die Realitäten in unserer Gesellschaft kennt, zu
denken ist da zum Beispiel an die Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern, einen
weltfernen Träumer nennen. Doch wie für alle genannten Bedürfnisse gilt gerade
in Beziehung auf den Umgang von Eltern miteinander und mit ihren Kindern, dass
Friedfertigkeit Kindern hilft und Unfriede und Aggressivität Kinder massiv
verstört. Um die Auswirkungen auf "Kinder in Gewaltbeziehungen" machte Beate
Hinrichs im September 2004 in einer gleichnamigen Radiosendung eindrucksvoll
aufmerksam10.
In einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken gewalttätige
Computerspiele die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder in der
Familie und / oder die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu sein, sind
nicht selten die Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung zu der als ein Beispiel - die Flucht in die Gewalt (z.B. Gewaltverherrlichenden Filme und
Spiele) gehört.
Hier ist zum Beispiel weiter an eine weit verbreitete Art und Weise, Gewalt
auszuüben und aggressiv zu sein zu denken: an die Zuschauer von Fußballspielen.
In den Niederlanden war im November 2012 ein Schiedsrichter-Assistent von
Zuschauern tot geprügelt worden. Bei uns in Deutschland sieht es nicht viel besser
39
aus. „Was sich Schiedsrichter von Trainern, Eltern und Spielern, vor allem bei dem
Nachwuchs, anhören müssen ist unterste Schublade“11.
Über das friedliche Miteinander in den Familien hinausgehend, muss hier auch
auf die hohe Bedeutung eines friedfertigen Umgangs zwischen den
Erwachsenen aus der Herkunftsfamilie und allen anderen an der Erziehung
und Bildung eines Kindes Beteiligten hingewiesen werden. Unter anderem hat
die Kooperationsforschung zu Tage gefördert, welch ein Förderungspotential
in einem guten Zusammenwirken zum Beispiel zwischen Elternhaus und
Kindertagesstätte oder Schule enthalten ist und welche Schädigungen für ein
Kind folgen können, wenn Eltern und Erzieher nicht gut miteinander
auskommen.
Doch selbst in der friedfertigsten Familie bleiben Eltern und Kinder nicht von
Zank und Streitereien verschont. Unfrieden aber löst Ängste aus, vor allem bei
unseren Kindern. Wenn Geschwister sich in die Haare kriegen, werden Mutter
oder Vater als Vermittler gerufen. Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser
Problematik im Familienalltag ist darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter
Geschwistern, genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das
Einzelkind tritt unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden
Geschwisterchens.
Das Bedürfnis nach Sinn
"Den Sinn des Lebens anzunehmen, als den konkreten Inhalt dieses konkreten
einmaligen Lebens, macht aus, mit meinem Eigentlichen identisch zu sein".
(Monika Maron 1981, S. 99)
Während für uns Erwachsene die Frage nach dem Sinn unseres Lebens von
existentieller Bedeutung ist, wachsen unsere Kleinen zunächst noch heran, ohne
über sich nachzudenken. Unsere Kinder sind im Kreise von Eltern und
Geschwistern geborgen und wenn sie auf die Frage nach dem Sinn ihres Daseins
antworten könnten, dann würden sie vermutlich sagen: "Mein Leben hat den Sinn,
dass ich da bin". Tatsächlich fließt unseren Kindern, vor allem zunächst im
Kleinkindalter, der Lebenssinn durch uns Erwachsene zu: Wenn wir uns darüber
freuen können, dass dieses Menschlein auf der Welt ist und wächst und gedeiht,
darüber, dass es lächelt, laufen lernt und zu sprechen beginnt, dann teilt sich dem
40
Kind diese Freude mit. Auf diese Weise lernt das Kind, sich seines Daseins zu
freuen, sich positiv zu erleben. Diese Grunderfahrung ist die Voraussetzung dafür,
dass unser Kind, je älter es wird umso mehr, ein gutes Bild von sich selbst
aufbauen und einen Sinn in seiner Existenz sehen kann.
Auch ein Kind, das durch Krankheit und Behinderung früh gezeichnet ist, lernt,
sein Dasein anzunehmen, in erster Linie durch die positive, fürsorgende
Zuwendung, die Freude an seiner Existenz, die die Eltern dem Kind zeigen. Es sind
gerade die belastenden, die seelischen Kräfte von Eltern und Kindern besonders
herausfordernden Lebenssituationen, aus denen allen Beteiligten Lebenssinn
zuwächst. Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor Frankl, der die Bedeutung
der Sinnfrage im menschlichen Leben in den Vordergrund seiner Arbeit stellte,
sagt unter anderem, dass jeder Mensch selbst die Antworten auf die Fragen nach
dem Sinn seines Lebens finden kann. Er findet sie mit Hilfe seines Gewissens, das
ihm sagt, auf welche Weise er auf die Lebenssituation, in der er sich befindet,
antwortet, sie verantwortet.
Mit dieser Erkenntnis wird uns die Bedeutung des Gewissens vor Augen geführt,
das uns in allen kleinen und großen Entscheidungen unseres Lebens berät. Also ist
die Frage nach dem Sinn eng mit der Herausbildung eines Gewissens verknüpft.
Unser Gewissen entwickelt sich gleichsam im Dialog mit unseren Eltern und den
anderen Menschen und in den Situationen, die wir erleben. Es sagt uns in allen
Lebenslagen, was gut ist und was schlecht. Armin Krenz (2008) verbindet darum
auch die Frage nach dem Sinn ganz eng mit der nach der Heranbildung unserer
Werte. Im Grunde bilden die hier vorgetragenen Grundbedürfnisse zugleich eine
Werteskala ab, wie in der Einführung bereits angedeutet. In dem Ausmaß, in dem
ein Kind die mit ihr verbundenen Haltungen bzw. Verhaltensweisen durch alle ihm
wichtigen Bezugspersonen erfährt, kann sich sein Gewissen ausbilden und das
Kind Sinn erfahren.
Als Kläre mit fünf Jahren an einer fieberhaften und ansteckenden Krankheit
litt, musste sie in ein Kinderkrankenhaus. Es war das erste Mal, dass sie sich
unter diesen für Eltern und Kind gleichermaßen belastenden Umständen von
der Familie trennen sollte. Die Konzeption des Krankenhauses aber
ermöglichte es, dass jeweils ein Elternteil das Krankenzimmer mit dem Kind
teilen konnte. Es war darum für Mutter und Vater selbstverständlich, dass sie,
obwohl beide in ihren Berufen sehr gefordert waren, abwechselnd über Nacht
bei der Tochter schliefen. Sie konnten ihr die Hand halten, die Beine wickeln
und jene Pflege und Fürsorge angedeihen lassen, die das Kind rasch wieder
gesund werden ließ.
„Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit in Beziehungen zu den Eltern
erleben“ signalisiert einem Kind, gerade wenn es die Eltern in besonderer Weise
fordert, dass es wichtig ist in dieser Welt, dass seine Eltern es „brauchen“. Selbst
wenn es so nicht ausgedrückt wird, so wächst mit dem Sinn, den Eltern mit der
41
Existenz ihres Kindes für sich selbst verbinden, auch dem Kind Lebenssinn zu.
Und dieser Sinn bleibt, solange die Eltern leben. Und jedes Kind darf sich glücklich
schätzen, wenn es die eigene Sinnerfahrung als Erwachsene in eine neue
Beziehung, in die eigene Partnerschaft mit einbringen kann und nun – gleichsam
in der nächsten Generation – Sinn und Wert in einer Partnerbeziehung neu
gestaltet.
Es ist weiter anzuknüpfen an das Bedürfnis des Kindes nach "klärenden
Antworten" wie sie oben erwähnt wurden. Diese Antworten durch uns Eltern,
durch Erzieherinnen / Erzieher und Lehrerinnen / Lehrer sind es, die maßgeblich
das Gewissen formen. Aber auch die Erfahrungen von Sicherheit, Liebe,
Anerkennung, Vertrauen, Geduld, Förderung oder Frieden beeinflussen unsere
Maßstäbe und damit unser Gewissen.
Halten wir uns auch vor Augen, dass eigene Leistungen und der Verzicht unsere
Gewissensbildung beeinflussen. Denken wir zum Beispiel an die "Erziehung zur
Sauberkeit": Unser Kind lernt durch unsere Ermunterung und Freude, seine
Ausscheidungen "herzugeben" und zugleich seine Darm- und Blasenfunktionen zu
"beherrschen". In ähnlicher Weise werden wir von ihm später Verzicht und
Leistung erwarten, wenn es darum geht, eine Tätigkeit zu unterbrechen und zum
Essen zu kommen oder uns hier und dort ein wenig zur Hand zu gehen oder, was
wohl sehr häufig geschehen wird, seine spontanen Wünsche, die wir ihm nicht
erfüllen ("Mutti ich will ...," "Mutti, kauf mir..."), zu verarbeiten. In dem Ausmaß,
in dem es uns im Großen und Ganzen gelingt, aus Leistung und Verzicht gleichsam
einen seelischen Erfolg werden zu lassen, helfen wir am Aufbau eines Gewissens
und damit zum Fundament späterer Sinnerfüllung. Denn nach solchen Situationen
hat ein Kind in seinem Innern ein gutes Gefühl, weil es seine eigene Trägheit oder
seine momentane Begehrlichkeit überwand. Voraussetzung unserer Bemühungen
freilich ist, und dies gilt gerade im Zusammenhang mit der Erziehung zu Sinn und
Wert eines Lebens, dass Eltern selbst Sinn und Werte vorleben.
Und noch ein Beispiel:
Sinnerfüllung findet der Mensch in der Hingabe an eine Aufgabe. In Bezug auf
Kinder sagen wir gerne, dass sie selbstvergessen spielen. Unseren Kindern
diese Erfahrung zu ermöglichen, dass sie sich einem Spiel beziehungsweise
einer Tätigkeit voll "hingeben" können, lehrt sie, dass aus dieser Hingabe Sinn
wächst.
In den späteren Jahren, im Jugend- und Erwachsenenalter, empfinden wir den
Mangel oder das völlige Fehlen einer Aufgabe (wir sagen dann: "für die es sich zu
leben lohnt") als existentielle Frustration. „Schön ist, was Sinn macht, eine Arbeit,
eine Lust, ein Schmerz, ein Gedanke – all das, was besonders bejaht und somit zur
Quelle des Lebens wird…“ sagte Wilhelm Schmid (SWR 2, in der Sendung „Aula“
am 1. 1. 2007, Manuskript S. 7).
In dem Maße, in dem jeder von uns seinen Sinn findet und lebt, verwirklicht er
sich selbst. Ein Leben, das überwiegend vom Streben nach Berufserfolg,
materiellem Reichtum, Lustgewinn oder Kick so oft wie möglich und koste es was
42
es wolle (bzw. auf wessen Kosten auch immer) bestimmt wird, ist also mit
"Selbstverwirklichung" nicht gemeint! Unser Gewissen sagt uns stattdessen, dass
wir uns in dem Ausmaß (als Menschen) verwirklichen, in dem wir uns
"selbstvergessen" einer Aufgabe, einer Pflicht widmen, die von uns den vollen
Einsatz unserer Persönlichkeit fordert. Was für jeden von uns "Sinn" bedeutet, hat
in seinen Schriften besonders Viktor E. Frankl vorgetragen (z. B.: Der Mensch auf
der Suche nach Sinn". Freiburg o. J.). Bereits Wilhelm von Humboldt hielt in
seiner Schrift „Theorie der Bildung des Menschen“ von 1793 fest, dass der
menschliche Geist nach Selbstvervollkommnung strebt und die auf dem
humanistischen Denkmodell fußenden Lebensphilosophien stellen den Menschen
in Bezug auf seine Entscheidungen in die eigene Verantwortung. Wir brauchen,
um dieser Eigenverantwortung für den Sinn unseres Lebens gerecht werden zu
können, ein hohes Maß an Selbständigkeit, Selbstkontrolle und Wertebewusstsein.
Für die Heranwachsenden, die sich dieser Verantwortung für den Sinn ihres
Lebens gewachsen fühlen sollen, aber bleibt - gerade in diesem hier nur
angedeuteten existentiell ebenso bedeutsamen wie sensiblen Bereich - das gute
Vorbild aller, die für sie Bedeutung haben.
Eltern und Berufserzieher werden sich die Frage stellen, was sie - über das eigene
Vorbild hinaus - dafür tun können, dass bei ihren Kindern die mit einer
sinnerfüllten Existenz verbundene seelische Gesundheit ermöglicht wird. Ich sehe
diesen Weg nicht als gar zu schwierig an. Gewiss wäre es müßig, über die Sinnfrage
mit Kindern vor den pubertären Phasen diskutieren zu wollen. Statt dessen
vertrauen wir auf das jedem Menschen innewohnende Bestreben, seine in ihm
vorhandenen Möglichkeiten (Begabungen, Neigungen, Charaktereigenschaften u.
ä.) zur Entfaltung zu bringen, sein Leben selbst zu verantworten und weitgehend
unabhängig zu sein - also mehr oder weniger bewusst und gezielt sein "Selbst"
verwirklichen zu wollen. Diese, nach Carl Rogers (1994, S. 99 f) von Natur aus
vorhandenen guten Strebungen bedürfen im Alltag Zielvorgaben.
Der zweijährige Fabian, der von seiner Mutter in eine Kleinkindergruppe
gebracht wurde und dort auf andere Kinder traf, "vergaß" nach kurzer Zeit die
Mama. Die anderen Kinder waren ihm wichtig und selbstvergessen nahm er
die vielen Gelegenheiten zu sozialen Kontakten im gemeinsamen Spiel wahr.
Das Streben, sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben, die nicht die eigene
Familie ist, dort angenommen und wahrgenommen zu werden, zieht alle
Kinder - genau wie Fabian - zu anderen Kindern. In vergleichbaren
Altersphasen erleben alle Eltern, dass ihre Kinder gern auf die Spielplätze
gehen, auch in fremden Städten und in anderen Ländern.
Diese sozialen Kontakte vermittelten schon sehr früh das bewusste Streben nach
Zielen. Wenn ein Kind erlebt, dass ein anderes Kind etwas kann beziehungsweise
tut, was ihm noch fremd ist aber reizvoll erscheint, wird es das ebenfalls tun
wollen. Einen Drachen steigen lassen, ein Modellflugzeug bauen: das Leben eines
Kindes ist überreich an Anregungen, die ihm aus der sozialen Umwelt zuwachsen
und die ihm Ziele vorgeben. Wir Erziehenden greifen lenkend und fördernd ein
43
und achten darauf, dass nicht das "Haben" das Grundmotiv ist (oder gar bleibt),
sondern das bewusste Streben nach einem Ziel. Nicht also der Besitz eines
Konstruktionsspielzeugs zum Beispiel, wie es ein Modellflugzeug sein kann,
sondern der Bau und die Flugfähigkeit - also das "Tun" steht im Vordergrund. Um
diese Ziele zu erreichen, braucht es nicht wenig Geduld, Geschick, Lernbereitschaft
und Ausdauer. Aber auch Verzicht wird geübt, wenn stattdessen andere, vielleicht
leichtere und bequemere Spielalternativen zurückgestellt werden müssen.
Fabian ist inzwischen drei Jahre alt und beginnt, sich für Spielzeug zu
interessieren, das vergleichbare Anforderungen stellt, wie das Beispiel vom
Modellflugzeug. Die Angehörigen und die Berufserzieher in der Tagesstätte
haben diese Interessen im Auge und stimmen ihre Angebote darauf ab. So wie
bei ihm tun das in einer guten Einrichtung alle Berufspädagogen in Bezug auf
alle Kinder und achten darauf, welche Angebote welche Kompetenzen zu
fördern vermögen und den betreffenden Kindern Erfolgserlebnisse vermitteln.
Diese Schritte: Angebot / Anregung - Ziel (das will ich können / erreichen) Durchführung (Leistung) - und Erfolg (Produkt) erleben ein Kind und seine
Eltern und Erzieher als Freude (Stolz). Nehmen wir die Erkenntnis von der
Bedeutung einer sinnhaften Existenz in den Blick, dann wissen wir jetzt, dass
diese scheinbar winzig kleinen Schritte einem Heranwachsenden ermöglichen,
seinem Leben Ziele und damit Sinn zu geben.
Ohne Sinn kann der Mensch nicht leben“ sagt Viktor Frankl und beschreibt „Wege
zum Sinn“ (Alfried Längle, 1985). Bereits Antoine de Saint Exupery hat hierin die
Bestimmung des Menschen gesehen und mit seinem eigenen Leben vorbildhaft
verwirklicht. Sein Gebot „Dem Leben einen Sinn geben“ (1952) steht als bewusster
oder unbewusster Auftrag vor jedem Einzelnen und macht, sobald er seinen
Lebenssinn gefunden hat, einen guten Teil seiner seelischen Gesundheit aus. Am
Anfang individueller Entwicklungen aber stehen die Kindheitsphasen und in ihnen
alle Erwachsenen, die für ein Kind Vorbilder sind.
Zum Schluss
In einem Brief schrieb eine Erzieherin sinngemäß, dass alles das, was hier als
Grundbedürfnisse aufgelistet und erörtert worden ist, für jeden Menschen gilt. So
ist es in der Tat! Und wenn in diesem Beitrag auf Kinder abgehoben wird, dann ist
dieser Akzent den Adressaten, den pädagogischen Fachkräften geschuldet. Jede
Leserin und jeder Leser kann leicht nachvollziehen, dass für sie und ihn jedes der
genannten Bedürfnisse hohe Bedeutung besitzt. Vielleicht in bestimmten
Lebensphasen oder Situationen mal das eine mehr als das andere. Doch sind
Erwachsene in anderer Weise betroffen. Ganz allgemein und stark vereinfachend
ließe sich das geflügelte Wort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ins Feld führen
und sagen, dass Erwachsene in der Lage sind, selbst dafür zu sorgen, dass ihre
Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen. Und fragt man danach, ob sie noch andere,
44
als die genannten Grundbedürfnisse haben, werden sie noch viele andere nennen,
an die hier gar nicht gedacht worden ist. Bei Kindern verhält es sich ganz anders.
Sie wachsen erst heran, sie „entwickeln“ sich – und wissen noch nichts von ihren
„Grundbedürfnissen“. Sie leben, und leben gern und voller Frohsinn und Lust, mit
wahrhaft unbekümmerter Freude über jeden neuen Tag, wenn sie sich geliebt und
geborgen fühlen. Für ihre Entwicklung tragen die Eltern und Berufspädagogen
gemeinsam mit dem ganzen sozialen Umfeld und in unterschiedlicher Weise die
Verantwortung. Darum hat jeder erwachsene Mensch, der mit Kindern umgeht,
die hier genannten Bedürfnisse – gleichsam als eine Norm – zu beachten, um die
Entwicklung eines Kindes von der Zeugung bis zu der ihm möglichen
Selbständigkeit in positiver Weise zu fördern, sein „Wohl“ zu sichern.
Kinder, bei denen in unserer Gesellschaft die in diesem Buch vorgetragenen
Grundbedürfnisse nicht oder unvollständig befriedigt werden, brauchen Hilfe.
Einen Hilfebedarf gibt ein Kind durch sein Verhalten in Kindergruppen, wie zum
Beispiel in Kindergärten oder in der Schule, deutlich und unübersehbar zu
erkennen. Auf diesen Hilferuf hin vergewissern sich Berufspädagogen bei den
betreffenden Kindern und ihren Eltern, ob und welche Gründe ihn auslösten. Jede
Erzieherin, jeder Erzieher in einer Kindertagesstätte und jede Lehrerin, jeder
Lehrer in den Schulen weiß, dass allen Kindern und ihren Eltern von unserem
Grundgesetz her Unterstützung zugesichert ist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz
sind die Hilfsmöglichkeiten festgeschrieben. Sie können sowohl innerhalb von
Familien geleistet werden, als auch die Familienerziehung flankieren oder
ergänzen, wie Kindertagesstätten: Es gibt darüber hinaus Hilfsangebote, die
vorübergehend oder für längere Zeit an die Stelle der leiblichen Eltern treten, wie
Pflegestellen oder Heime. Es ist zu unterstreichen, dass alle diese Hilfeformen
einander gleichwertig sind. Sie rechtfertigen sich in jedem Einzelfalle vor dem
Hintergrund einer aktuellen und sorgsam nachgewiesenen Bedürfnislage. Es sind
die Sozialen Dienste der Jugendämter und der Wohlfahrtsverbände, die allen
sorgeberechtigten Müttern und Vätern zur Seite stehen, sie auf deren Wunsch hin
beraten und ihnen und ihren Kindern die jeweils geeigneten Hilfen anbieten. In
dieses Netz von Familie, Pädagogischer Einrichtung und sozialen Diensten, deren
Aufgaben darin bestehen, für das Wohl aller Kinder Sorge zu tragen, sind auch die
Gemeinden bzw. Stadtbezirke, Kinder- und Jugendorganisationen wie z. B.
Sportverbände, die Familiengerichte und die Gesundheitsämter eingebunden. Es
sollte allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Organisationen genauso
wie den Angehörigen einer Familie das Wohl der Kinder, und das heißt konkret:
die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse, ein hohes und unverzichtbares Gut sein. Sie
basieren, wie hier geschildert, auf den Erkenntnissen der verschiedenen
Disziplinen der Humanwissenschaften, zu denen auch das Konzept des
lebensbezogenen Ansatzes in der Pädagogik gehört. Unter dieser Bezeichnung
finden wir den „bisher einzigen didaktischen Ansatz, der direkt auf dem
Grundbedürfnisansatz beruht“ (Jutta Mägdefrau 2007, S. 84. Norbert Huppertz
2008 1/3). Die Aufgabe, in Konzeption und Praxis von den Grundbedürfnissen
auszugehen, stellt sich auch all jenen, die sich darum bemühen, den Personen und
45
Personengruppen gerecht zu werden, die aus den unterschiedlichsten Motiven
heraus, zu uns nach Deutschland gekommen sind. Gerade, wenn es sich um Eltern
und ihre Kinder handelt, die einem anderen Kulturkreis angehörten, ist die in
diesen Texten vertretene Einsicht, dass alle Menschen die gleichen
Grundbedürfnisse haben, sehr wichtig. Zu denken ist da zum Beispiel an
gesellschaftliche Gruppen wie Religionsgemeinschaften, deren Wertvorstellungen
von jenen abweichen, wie sie in unseren westlichen Demokratien, angefangen von
der Erklärung der Menschenrechte bis hin zu Verfassung und Recht, die bei uns
gelten, selbstverständlich sind. Denken wir nur an die Ausführungen von Jesper
Juul über die Anerkennung der kindlichen Persönlichkeit, ihrer Würde und
Unantastbarkeit und daran, dass diese Normen für Mädchen und Jungen, für
Frauen und Männer gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Unabhängig von
Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung oder Krankheit sind in allen Personen die
gleichen Bedürfnisse vorhanden und haben einen Anspruch darauf, von den
sozialen Gemeinschaften beachtet zu werden. In Familien, Kindergruppen,
Schulen oder an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen begegnen wir uns in diesem
Verständnis. Und wenn „Integration“ als Konzept inzwischen von allen diesen
sozialen Gemeinschaften gefordert wird, dann wird sie umso eher gelingen, je
überzeugender Grundbedürfnisse, wie zum Beispiel die nach Anerkennung,
Förderung oder Freude erlebt und vorgelebt werden. In unserem Alltagsleben –
und ich greife eine Forderung von Bernhard und Helma Hassenstein (7/1978, S.
56) auf – kommt es darauf an, dass wir uns vorbildhaft verhalten und durch
gemeinsames Tun zu Leitbildern für unsere Kinder werden. Kinder sind für sich
selber da und nicht für uns Erwachsenen. Diese schlichte Erkenntnis wird in dem
Ausmaß verwirklicht, in dem wir unserer Verantwortung gerecht werden, für die
Beachtung der Grundbedürfnisse eines Kindes zu sorgen. Von dieser Fürsorge –
wenn sie denn im hier dargestellten Verständnis verwirklicht wird – emanzipiert
sich unser Kind vor allem ab der Pubertät mehr und mehr. Und ist eines Tages das
Ziel all unserer Fürsorge erreicht und unser Kind tritt uns als selbständige,
eigenverantwortlich handelnde Persönlichkeit gegenüber, dann ist das bis zu
diesem Zeitpunkt von uns und dem Kind so erlebte „Gefälle“ zwischen uns
ausgeglichen. Tochter oder Sohn werden uns in ihr „eigenes Leben“ verlassen, aus
dem wir uns strikt herauszuhalten haben. Helfen,
Beistehen, Raten werden wir uns sicher in differenzierter Weise gegenseitig, wenn
es denn von uns oder unseren Kindern gewünscht wird oder eine Notlage gebietet.
Die Eltern – Kind – Beziehung wird bei verständnisvoller, und das heißt die
Grundbedürfnisse beachtender Haltung eine neue und beide Teile beglückende
Dimension erreicht haben. Unschwer lässt sich erkennen, dass alle die hier
besprochenen Bedürfnisse von Kindern nicht nur innerhalb einer Familie beachtet
werden sollten, sondern in Kindergarten und Schule und darüber hinaus in unserem
ganzen Leben eine gleichrangige Bedeutung haben. Es sei in diesem Zusammenhang
noch einmal auf Pestalozzi verwiesen. Er war es, der dem Menschen die Aufgabe
stellte, „Werk seiner selbst“ zu werden. Wir können das, was Pestalozzi meinte, mit
den von Maslow genannten Bedürfnissen vergleichen und sagen: nach der
Befriedigung der physischen und Sicherheits- Bedürfnisse, sowie dem Wunsch nach
46
Anerkennung und Akzeptanz von den Eltern und in den gesellschaftlichen Gruppen,
erfüllt sich ein Menschenleben, wenn es dem Einzelnen gelingt, seinen eigenen
unverwechselbaren Weg zu finden. Es haben gewiss viele Mütter, Väter und
Erzieherinnen und Erzieher in der eigenen Kindheit manches von dem entbehren
müssen, was hier alles genannt worden ist. Und sie werden sagen: „trotzdem ist aus
mir etwas geworden“. Damit bringen sie zum Ausdruck, dass wir im
Erwachsenenalter ein „Werk unser selbst“ wurden. Der Pädagoge Armin Krenz
überträgt gleichsam das Pestalozziwort in unsere Zeit, wenn er schreibt (Freiburg
1999, S. 53):
„Ich bin der, der ich bin, und kann mich jederzeit ändern, wenn ich es will.“
Auf unserem Willen also kommt es an und auf die Kraft, gegenüber uns selbst
unseren Willen durchzusetzen, wenn wir etwas ändern möchten. Und auf diese
Weise überwanden wir auch die negativen Erfahrungen unserer Kindheit und
Jugend. Ob wir unseren Kindern diese Erfahrungen ersparen wollen und ihnen das
geben, was sie für ihr Gedeihen brauchen, das liegt in unserer Verantwortung. Dass
damit nur einige Grundbedingungen gegeben sein werden und im Übrigen noch viel
in Erziehung und Bildung zu tun bleibt, das zeigen uns die nächsten Kapitel, in denen
einige Themen aus dem pädagogischen Alltag in Familien besprochen werden. Stets
aber denken wir an das zurück, was Kinder brauchen, denn hier finden wir die
meisten Antworten zum Beispiel auf die Fragen nach dem „Wie“: was kann ich tun
oder was muss ich lassen, um zu erreichen, dass mein Kind selbständig wird und sein
Leben meistert.
2. Teil
Was Eltern und Berufspädagogen
bewegt
2.
Übereinstimmungen in der Erziehung
Einführung
Eigentlich versteht es sich von selbst, dass Eltern in der Erziehung und Bildung
ihrer Kinder wenigstens soweit übereinstimmend handeln, dass Kindern
47
entwicklungsschädigende Diskrepanzerfahrungen erspart bleiben. Nicht immer
aber besteht eine derartige Übereinstimmung. Dieser Mangel kann zu erheblichen
Konflikten führen, die den Familienfrieden empfindlich stören. Hier ein Beispiel:
In einer Familie gibt es erheblichen Ärger wegen des Fernsehens. Die Eltern
sind der Überzeugung, dass zu viel und unkontrollierter Fernsehkonsum ihrer
fünfjährigen Tochter schadet. Mutter und Vater sind sich einig und haben den
Fernseher aus dem Wohnzimmer verbannt. Aber Opa, der mit der Oma in der
unteren Wohnung des Zweifamilienhauses lebt, Rentner ist und viel Zeit vor
dem Fernseher verbringt, findet nichts dabei, wenn sein Enkelkind ihm beim
Fernsehen Gesellschaft leistet. Also geht die Tochter einfach die Treppe
hinunter und schaut beim Opa mit.
Wenn immer ein Kind zwischen derartige unterschiedliche Auffassungen gerät,
sucht es sich, wie das Fernsehbeispiel andeutet, die für sich bequemste oder
günstigste/ angenehmste Alternative aus. Es gibt aber noch andere
Reaktionsmöglichkeiten von Kindern. Denken wir nur an unsere Erfahrung, dass
Kinder Vater und Mutter, Eltern und Großeltern, Elternhaus und Schule in
derartigen Situationen gegeneinander ausspielen können.
Suchen wir Antworten auf folgende Fragen:
Was heißt „entwicklungsschädigende“ Unstimmigkeiten?
Welche Erfahrungen haben wir in Situationen, in denen wir nicht an einem
Strang zogen, mit unseren Kindern und mit uns gemacht?
Welche Vorteile hat es, wenn wir -Eltern/Erzieher- übereinstimmen im
Handeln oder sogar im Denken und Fühlen?
Was können wir tun, um diese Übereinstimmung herzustellen und zu sichern?
Am Anfang sollen einige Informationen gegeben werden, die uns darauf
aufmerksam machen, dass unsere Erziehungsbemühungen Teil eines recht
komplizierten Beziehungsgefüges sind.
Dies hier dargestellte Bild,
beziehungsweise „System“ einer Familie halten wir uns immer vor Augen, wenn
wir über Erziehungsfragen nachdenken. Es gilt also auch für alle anderen Kapitel.
Und immer wieder auch werden wir feststellen, vor allem, wenn wir an die
Ausführungen über die Grundbedürfnisse denken, dass bereits Vertrautes
aufschimmert, es Bekräftigungen aber auch Ergänzungen gibt.
Die Familie als interaktives Geflecht
Halten wir uns die Heranbildung einer Familie kurz vor Augen:
Eine Frau und ein Mann lernen sich kennen und lieben; sie beschließen,
zusammenzuziehen und beieinander zu bleiben. Häufig heiraten sie auch.
Bereits in dieser Zweierkonstellation - einer Dyade - gibt es eine Fülle
wechselseitiger Beziehungen, mit einer eigenen Dynamik. Ohne an dieser Stelle
eine ausführlichere Analyse vorzunehmen, sollen fünf Elemente dieser Beziehung
erwähnt und erläutert werden:
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Die Erwartungen: Jeder der beiden Partner trägt an sich selbst und an den
Anderen Erwartungen heran. Hierzu ein Beispiel: Untersuchungen ergaben, dass
junge Frauen und Männer an ihre künftigen Partner sehr unterschiedliche
Erwartungen herantragen, was die Mithilfe im Haushalt betrifft. Während die
befragten weiblichen Jugendlichen es als selbstverständlich betrachteten, dass ihr
Mann später seinen Anteil an der Hausarbeit übernimmt, sehen das 2/3 der
befragten männlichen Jugendlichen ganz anders. Sie erwarten, dass sie keine
Arbeitsleistungen im Bereich des Haushalts zu erbringen haben, weil das eine
Sache der Frau sein soll.
Leider wird über die gegenseitigen Erwartungen zu wenig miteinander gesprochen
oder während der Phase des Honey-Moon als nicht so wichtig angesehen. Es lässt
sich voraussagen, dass jeweils unterschiedliche Erwartungen zu erheblichen
Konflikten führen werden -„wenn ich das vorher gewusst hätte ...“-. Hier sind zu
einem hohen Anteil Ursachen zu suchen, die später zu Trennung und Scheidung
führen.
Die Wahrnehmungen: Auch die Wahrnehmungen sind subjektiv. Sowohl das
Selbstbild - so sehe ich mich - als auch das Fremdbild - so werde ich gesehenkönnen differieren. Der Volksmund verwendet das geflügelte Wort von der „Liebe,
die blind macht“.
Zu dem Bereich der Wahrnehmungen gehört nicht nur das Sehen. Auch das
richtige Deuten von Aussagen der Partnerin/des Partners und die die Sprache
begleitende Gestik, Mimik, der Ton sind sehr schwierig und bergen die Gefahr
vieler Missverständnisse.
Die Gefühle: Sie sind es, die über die „Einfärbung“ von Erwartungen und
Wahrnehmungen entscheiden. Sie stehen in einem ständigen Austausch
untereinander und fragen sich gleichsam in jedem Menschen ständig:
Stimmen meine Gefühle wie Liebe oder Zuneigung noch mit dem überein, was ich
am Anderen wahrnehme, wie sie/er meine Erwartungen erfüllt? Können sie das
ausgleichen, was ich lieber anders hätte? Gefühle können sich allmählich
verändern. Günstigstenfalls wird aus Liebe verständnisvolle Zuneigung, in
ungünstig verlaufenden Beziehungen sprechen wir von Gewöhnung und/oder
Gleichgültigkeit. Gelegentlich kommen Eheleute so weit, dass sie der
Partnerin/dem Partner absichtlich „zu Leid“ leben.
Die Kommunikation: In der Begegnung mit anderen Menschen kommunizieren
wir mit ihnen. Wir sprechen miteinander, drücken unsere Erwartungen,
Wahrnehmungen und Gefühle in Sprache, Mimik und Gestik aus. Die
Kommunikationsforschung hat uns hier ebenso verständliche wie überzeugende
Informationen anzubieten (Watzlawick 1989 und Hofstätter Stuttgart 1966).
Die gemeinsamen Tätigkeiten: Vielleicht wird gerade dieses Beziehungselement
von Frauen und Männern, die lange allein lebten, als besonders gravierend
erfahren. Partnerschaft ist dadurch charakterisiert, dass man nicht mehr alles
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allein tun muss. Gemeinsam wird gegessen, spazieren gegangen, ein Kino oder
eine Gaststätte aufgesucht, Sport miteinander getrieben, in die Ferien gefahren
und vieles andere mehr gemeinsam unternommen. Sogar vor dem Fernseher
sitzen die Eheleute nun häufig zu zweit.
Voraussetzung von Harmonie in einer derartig gemeinsam gelebten Partnerschaft
ist freilich, dass nicht allein eine Person der anderen etwas aufzwingt.
Noch einmal sei darauf hingewiesen: Das sind nicht alle Beziehungselemente!
Zwischen den Partnern kommen noch die Sexualität hinzu, solidarische
Verhaltensweisen - einer unterstützt/hilft/verteidigt den anderen, gemeinsame
Vorlieben und Steckenpferde, wie Reisen, Musizieren, Tanzen, bestimmte
musikalische Richtungen... u. a. m.
Eine Partnerschaft ist also ein ebenso kompliziertes wie vielseitiges und
empfindliches Beziehungsgefüge dessen Charakteristika die Gegenseitigkeit und
die Veränderbarkeit sind. Urie Bronfenbrenner fasst diese Dynamik von Dyaden in
den Satz: „Wenn sich bei einem Beteiligten an der Dyade etwas verändert / eine
Entwicklungsveränderung eintritt, verändert sich auch beim anderen etwas“
(Stuttgart 1983, S. 74). In der soziologischen Literatur wird die Familie als soziales
System definiert. Die Wechselseitigkeit -Fachbegriff: Reziprozität- und
gegenseitige Abhängigkeit – Interdependenz - des zwischenmenschlichen
aufeinander bezogenen Handelns – Interaktion - sind Eigenschaften eines sozialen
Systems.
Und nun kommt der Tag, da tritt in dieses Beziehungsgefüge eine weitere Person
ein: das erste Kind. Dieses Kind verwandelt die Zweierbeziehung in eine
Dreierbeziehung, die es von Anfang an sehr aktiv beeinflusst.
Für das Kind ist - nicht nur in unserem Kulturkreis - zunächst die Mutter die
wichtigste Person. In den vorgeburtlichen Phasen und nach der Geburt immer
stärker werdend, beeinflussen die physischen und psychischen Kontakte zur
Mutter die Entwicklung des Kindes. Aber auch in der Mutter-Kind-Beziehung
wirkt das Prinzip der Wechselseitigkeit und es ist nicht ungewöhnlich, dass ein
Kind auf seine Mutter einen größeren Einfluss ausübt, als das umgekehrt der Fall
ist. Von Anfang an braucht ein Kind, wie im Kapitel über die Grundbedürfnisse
ausführlich beschrieben, Anerkennung, Sicherheit, Vertrauen, Förderung,
Verlässlichkeit, Verständnis und Zuneigung um gedeihen zu können.
Ängstlichkeit, Besorgtheit und Verzärtelung sind ungeeignete Formen der
Zuwendung.
Der Vater steht trotz dieser Beziehungspriorität zwischen Mutter und Kind
keineswegs draußen. Seine Rolle in dem „System“ dieser Familie verändert sich
aber ebenso, wie die der Mutter. Für das Kind wird er allmählich die gleiche
Bedeutung erhalten wie die Mutter und muss seinen Platz finden und ausfüllen.
Kommen ein oder mehrere Kinder hinzu, verändert sich jedes Mal das
Beziehungsgefüge erneut. Die Eltern stehen wegen ihres Entwicklungsvorsprungs gemessen an ihren Kindern - in besonderer Verantwortung, weil sie maßgeblich
die Beziehungen in allen ihren Elementen beeinflussen. Erwartungen,
50
Wahrnehmungen und Gefühle werden von Kindern übernommen, verarbeitet und
beantwortet. Veränderungen - vor allem mit negativem Charakter - werden
empfindsam registriert, ganz gleich, von welcher Person in diesem Gefüge -in
diesem „System“- die Veränderungen ausgehen. Dieses Wechselspiel gegenseitiger
Beziehungen wird in der folgenden Darstellung angedeutet:
Mutter
Vater
Kind
Kind
In dieser Darstellung wird von einer Familie mit vier Personen ausgegangen. Jede
hinzutretende Person, das können weitere Kinder sein aber auch andere
Familienangehörige - Großeltern zum Beispiel - vervielfältigen die wechselseitigen
Beziehungen mit ihren Elementen Erwartungen, Wahrnehmungen, Gefühle,
Kommunikationen oder gemeinsame Aktivitäten.
Über das, was Eltern tun und lassen sollten, um die Entwicklung ihrer Kinder
optimal zu unterstützen, gibt es, denken wir allein an die Grundbedürfnisse - in
diesem Buch eine Fülle an Aussagen. Die Eltern selbst fragen in jeder Generation
aufs Neue danach, wie sie denn „richtig“ erziehen sollten. In Gesprächen mit
Eltern taucht immer wieder die zweifelnde und meist unnötige Frage auf: „Was
hätte ich anders machen sollen?“ Nicht selten lohnt sich dann ein Blick auf die
eigene Erziehungspraxis innerhalb einer Familie. Dann auch zeigt es sich, wie sehr
es dem Familienfrieden gut tut, wenn Kinder ein übereinstimmendes
Erzieherverhalten erleben, so wie es in dem Eingangsbeispiel geschildert wurde.
Um nicht missverstanden zu werden: übereinstimmend handeln bedeutet nicht,
wie im nächsten Abschnitt erläutert wird, dass sich jeder dem Kind gegenüber
gleich verhält.
In der Erziehung an einem Strang ziehen
51
Knüpfen wir an das Beispiel vom Fernsehen an und schauen auf die beteiligten
erwachsenen Personen: Mutter und Vater, Oma und Opa gehören in die Familie.
Tragen wir sie in das Bild ein, dann werden wir für Oma und Opa einen Platz
außerhalb der Kernfamilie - so nennen wir die vier Personen in dem Viereck zeichnen müssen, zu denen gleichwohl Verbindungslinien - also wechselseitige
Beziehungen - einzutragen sind. Oma und Opa aber sind nicht nur „draußen“ außerhalb der Kernfamilie -, sie sind auch älter, sind anders eingerichtet, haben
einen anderen Tagesablauf, sie sprechen anders, bevorzugen andere Speisen und
vieles andere mehr. Die fünfjährige Tochter z. B. ist sehr gut in der Lage und alt
und klug genug, um diese Unterschiede zu den eigenen Eltern beziehungsweise zur
Kernfamilie zu erkennen. Wenn ein Kind aber Unterschiede zwischen
„signifikanten“ anderen Personen (damit sind alle die gemeint, die für ein Kind
eine wichtige Bedeutung haben, und das sind nicht allein Mutter und Vater)
wahrnimmt, dann kann es auch mit den unterschiedlichen Wert- und
Normvorstellungen umgehen.
Probleme wird es erst dann geben, wenn die Bezugsgruppen Elternpaar und
Großelternpaar mit dem, was die jeweils anderen tun, nicht einverstanden sind.
Und noch schlimmer wird es, wenn sie ihre Meinungen in Gegenwart des Kindes
laut und deutlich, in Sprache, Mimik und Gestik, zum Ausdruck bringen.
Die eigenen Erinnerungen von jedem von uns bestätigen diese Erfahrung: Wenn
sich unsere Eltern negativ über die von uns geliebten Großeltern ausließen, dann
kamen wir in einen „Loyalitätskonflikt“. Wem sollten wir Recht geben, wem
durften wir glauben? Noch schlimmer wird die Situation eines Kindes, wenn auch
die Großeltern ihrerseits über die Eltern oder über einen Elternteil „herziehen“.
Der Gipfel eines derartigen Loyalitätskonfliktes wird für ein Kind dann erreicht
und es in eine schier ausweglose Lage gebracht, wenn es von den beteiligten Eltern
weggeschickt wird mit der Aufforderung: „Geh doch zum Opa! Hast ihn ja eh’
lieber...“.
Konflikte dieser Art aber, die das seelische Gleichgewicht eines Kindes empfindlich
durcheinander bringen und die Beziehungen zu den anderen Bezugspersonen
negativ einfärben, führen unweigerlich zu, zum Teil erheblichen,
Erziehungsschwierigkeiten. Das, was in diesem Beispiel über die Bedeutung
übereinstimmenden bzw. gemeinsam verabredeten Verhaltens einem Kind
gegenüber gesagt wird, gilt selbstverständlich genauso in Bezug auf die anderen
für ein Kind wichtigen Bezugspersonen wie z. B. pädagogische Fachkräfte in
Kindertagesstätte und Schule. Die Lösung beziehungsweise entsprechende
Vorbeugung ist eigentlich denkbar einfach:
In dem Ausmaß, in dem die beteiligten Erwachsenen ihre Verschiedenheiten
akzeptieren - zumindest aber tolerieren - , können Kinder mit den aus diesen
Verschiedenheiten herrührenden unterschiedlichen Erziehungsverhalten wie z.
B. Geboten oder Verboten leben.
52
Akzeptanz und Toleranz bedeuten also keineswegs in allen Fällen zugleich
Übereinstimmung im Handeln! Je unterschiedlicher die Lebenserfahrungen und
Ansichten der Menschen sind, umso geringer ist die Aussicht, in allen Punkten der
Erziehung und Bildung auf einen Nenner zu kommen. Das ist auch gar nicht
notwendig. Wenn nur, so ließe sich allgemein sagen, die gegenseitigen
Beziehungen „stimmen“. In derartigen Fällen bezieht sich die Übereinstimmung
nicht auf ein bestimmtes erzieherisches Handeln und die dahinter stehenden
Überzeugungen, sondern darin, dass die Erziehungsbeteiligten sich darin einig
sind, sich gegenseitig zu tolerieren. Sind die Beziehungen aber gestört und
stimmen wir nicht in unserem Toleranzverhalten überein, dann müssen wir damit
rechnen, dass die Störungen über das Kind ausgetragen werden und es Schaden
nimmt.
Ganz besonders vertraut ist uns diese Erkenntnis aus Trennungssituationen. Und
damit sind wir erneut bei der Kernfamilie. Alles was für die Verbindung zwischen
Eltern und Großeltern gilt, trifft natürlich auch für die Eltern selbst zu. Als je
besser ein Kind die Beziehungen zwischen seinen Eltern erlebt, umso eher kann es
Unterschiede in den jeweiligen Erziehungsverhalten verkraften.
Verändern sich aber die guten Beziehungen zwischen Mutter und Vater zum
Negativen hin, sei es, dass sie sich nicht achten, andere Frauen/Männer attraktiver
finden oder sich einfach nicht mehr riechen können, dann wächst die Gefahr, dass
derartige Beziehungsstörungen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.
„Geh zu deinem Vater... zu Deiner Mutter“ heißt es dann und nicht mehr: „Geh zu
Papa ... Mama“. Ist dann eines Tages tatsächlich die Trennung/Scheidung eine
beschlossene Sache, ist in Bezug auf eine positive Entwicklung von Kindern schon
viel Porzellan zerschlagen worden.
Wir Eltern sind in derartigen Phasen so mit uns selbst und unserem Leid
beschäftigt, dass wir übersehen können, dass sich das Selbstwertgefühl eines
Kindes oder Jugendlichen aus der Liebe, der Akzeptanz und der Zuverlässigkeit
der Beziehungen, im Grunde sogar aus dem ganzen Beziehungsgeflecht speist.
Gehen die Beziehungen zu Bruch, leidet das Selbstbild eines jungen Menschen.
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Ein Kind fühlt sich schuldig
und ist beschädigt, wenn Eltern sich trennen oder wenn es in einer Familie zu
Brüchen z. B. zwischen nahen Verwandten kommt.
Nun liegen zwischen der zeitweiligen völligen Übereinstimmung in Fragen der
Erziehung und Bildung und Gegensätzen, die unauflösbar sind, weil die
Beziehungen nicht mehr stimmen, eine ganze Palette von „Hü- und HottSituationen“, die unseren Familienalltag bestimmen. Wo die Grenze des
Erträglichen für ein Kind liegt, kann nur vom Kind selbst beantwortet werden.
Es erscheint als unmöglich, eine für alle Kinder gleichermaßen gültige
Toleranzgrenze zu bestimmen, ab der sich unterschiedliche Erziehungsverhalten
von Eltern oder Beziehungsprobleme zwischen ihnen schädlich auf die
Entwicklung auswirken.
53
Wir wissen aber, dass gute Beziehungen zwischen Eltern die gute Chance bergen,
dass unterschiedliche Auffassungen von allen Beteiligten gut verkraftet werden.
Wann immer wir bereit sind, den anderen Elternteil, eine Erzieherin oder Lehrerin
in ihren Eigenartigkeiten und Einzigartigkeiten anzunehmen und zu akzeptieren,
fällt es auch einem Kind nicht schwer, mit unterschiedlichen Reaktionen
zurechtzukommen.
Kinder bauen ihre Erfahrungen gern in ihr Verhaltensrepertoire ein. Sie gehen
vielleicht zuerst zu der/dem, wo sie damit rechnen können, ihren Wunsch erfüllt
zu bekommen. Das ist kein Beinbruch, vorausgesetzt, dass sich niemand deswegen
gegen den anderen ausgespielt fühlt. Wenn es uns aber zu viel wird oder wir
verunsichert sind, weil derartige Diskrepanzen zu häufig auftreten und wir den
Eindruck haben, dass unser Kind Schaden nimmt, und wir z. B. sagen müssen: „Du
verwöhnst das Kind. Wenn Du so weitermachst, lässt es sich von mir nichts mehr
sagen ...“, dann ist es Zeit, sich zusammenzusetzen und miteinander darüber zu
sprechen. Wir müssen deswegen keine allwöchentlichen Familienkonferenzen
einrichten. Dennoch sind die entsprechenden Empfehlungen von Thomas Gordon
in seinem Buch „Familienkonferenz“ - noch immer gültig. Es ist immer besser,
miteinander zu reden, als es darauf ankommen zu lassen, uns wegen
unterschiedlicher Auffassungen und Entscheidungen in die zu Wolle kriegen. Die
Bereitschaft zum Gespräch, zur Offenheit und zum einander zuhören ist Ausdruck
unserer Beziehungen. In einem solchen gemeinsamen Gespräch können wir
unsere Kinder selbst fragen, was sie an unserem Erziehungsverhalten stört. Wir
sollten keine Angst haben, dass Familienkonferenzen zu diesem Thema unsere
Autorität beeinträchtigen. Autorität begründet sich unter anderem mit Offenheit
und mit unserer Fähigkeit und Bereitschaft, miteinander zu sprechen und das
vorzuleben, was wir von unserem Kind und seinen „signifikanten Anderen“, zu
denen nicht zuletzt die pädagogischen Fachkräfte in Kindertagesstätten und
Schulen gehören, erwarten.
Eltern erziehen nicht allein
Sobald ein Kind einen Teil seines Tages außerhalb der Kernfamilie verbringt, sei es
in einer pädagogischen Einrichtung wie z. B. Kinderhort oder Schule oder aber in
einer Tagespflege, erziehen wir Eltern nicht mehr allein. Es sind jeweils zwei bis
drei Träger von Erziehung und Bildung, die sich, ein jeder auf seine Weise und in
eigener Verantwortung, um das gleiche Kind bemühen. Nehmen wir noch hinzu,
dass in der Familie, in der ein Kind heranwächst, mehrere Erwachsene - zum
Beispiel Mutter und Vater, vielleicht noch die Großeltern, wie oben beschrieben auf das Kind einwirken, dann können wir uns vorstellen, wie wichtig es ist, dass
alle an einem Strick ziehen und übereinstimmend bzw. aufeinander abgestimmt
und einander ergänzend handeln.
Der guten Kooperation aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes
Beteiligten, kommt also ein hoher Stellenwert zu!
54
Hier ist vor allem an die Kindergärten und Schulen zu denken, die durch unsere
Kinder mit der Familie verbunden sind. Nicht selten kann es zu Unstimmigkeiten
zwischen den Eltern einerseits und den pädagogischen Fachkräften in
Kindergarten und Schule andererseits kommen. Zur Erziehung gehören nicht nur
bestimmte Ziele, die wir vor Augen haben, oder Erziehungsmittel, wie zum
Beispiel Ermutigung/Lob oder Drohung/Strafe, sondern auch bestimmte Normen
und Wertvorstellungen. Da kann es Eltern geben, denen Ordnung und Genauigkeit
- zum Beispiel bei der Heftführung oder den Hausaufgaben - nicht so wichtig sind
wie der Lehrerin/dem Lehrer oder umgekehrt. Dann wird es unverzichtbar sein,
sich zu verständigen. Halten wir uns die Bedeutung dieser Verflechtung der
Lebensbereiche Familie einerseits und Schule beziehungsweise Kindergarten
andererseits mit Hilfe der folgenden kurz skizzierten Erkenntnisse vor Augen:
1. Erkenntnis:
Alle menschliche Entwicklung vollzieht sich in Interaktion mit verschiedenen
Umwelten.
Urie Bronfenbrenner (1981, S. 199 ff) sieht die Entwicklung des einzelnen
Menschen im Kontext seiner sozialen Umwelten und bezieht die komplexen
Beziehungen verschiedener sozialer Umwelten beziehungsweise Lebensbereiche,
in denen eine Person gleichzeitig heranwächst, in seine Entwicklungspsychologie
mit ein. Stellen wir uns diese Beziehungen zwischen den verschiedenen
Lebensbereichen mit Hilfe eines Modells vor Augen:
Mesosystem
Familie
Kind
Schule
Exosystem
Makrosystem
Die durch ein Kind bestehende Verbindung von Lebensbereichen, wie die Familie
und z. B. die Schule, bezeichnet Bronfenbrenner als „Mesosystem“. Ich führte
bereits aus, dass der Charakter der Beziehungen zwischen den verschiedenen
Lebensbereichen die Situation eines Kindes beeinflusst. Haben ErzieherInnen/
Lehrerinnen und Lehrer eine gute Beziehung zum Elternhaus -und umgekehrt-,
wirkt sich das auf die seelische Befindlichkeit des Kindes aus.
55
Die von außen auf das Mesosystem einwirkenden Systeme - z. B. Richtlinien,
Verordnungen aber auch alle anderen von den einzelnen Lebensbereichen nicht
beeinflussbaren Faktoren, die aber auf sie einwirken, wie z. B. Massenmedien,
Verkehr u. a. - bezeichnet Bronfenbrenner als „Exosysteme“.
Das kulturelle Gesamt einer Gesellschaft bis hin zu den ökonomischen und
politischen Verhältnissen in der Welt bezeichnet er als „Makrosysteme“.
Eltern richten ihr Augenmerk vor allem auf die Phänomene innerhalb des
Mesosytems, also zum Beispiel der durch ihr Kind konstituierten Verbindung mit
der Schule.
2. Erkenntnis:
Alle Beteiligten stimmen sich ab.
Man könnte statt „Abstimmung“ auch Kooperation sagen. Zu einem Team oder
einer kooperierenden Gruppe gehören alle an der Erziehung und Bildung eines
Kindes Beteiligten. Wir wissen genau, dass das so ist. Nicht nur in der Phase des
Handelns sollten wir übereinstimmend vorgehen, sondern bereits in der Analyse
des Einzelfalls. Wenn zum Beispiel Eltern wissen, dass ihr Kind in bestimmten
Situationen „zumacht“ und für sie vorübergehend nicht mehr erreichbar ist, wäre
es hilfreich - kooperationsbereite Pädagogen vorausgesetzt -, sich mit der
Erzieherin/der Lehrerin/dem Lehrer darüber auszutauschen, wenn mit ähnlichen
Reaktionen in Kindergarten oder Schule gerechnet werden muss.
Es könnten sich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, alle in einer Familie, in einem
Team oder Eltern mit den anderen Erziehern über ihre Reaktionen auf das
Verhalten des Kindes verständigen und dann gemeinsam nach Strategien
Ausschau halten, einmal, wie die Ursachen vermieden werden könnten, zum
anderen, wie dem Kind aus seiner Verweigerungshaltung herausgeholfen werden
kann. Alle die in einem Boot sitzen, müssen auch in die gleiche Richtung paddeln
und sich gleichermaßen anstrengen. Wie bei Mannschaftssportarten gehören auch
bei unterschiedlichen Erziehungsträgern kooperative Arbeitsweisen zur Grundlage
jedes Erfolges. Sie sind sozusagen die Mindestleistungen, die erbracht werden
müssen. Ist hier bereits Sand im Getriebe, müssen z. B. ein Kindergartenteam und
die Eltern gemeinsam erst einmal diesen Sand entfernen, wenn sie
Problemsituationen mit Aussicht auf Erfolg bearbeiten wollen.
3. Erkenntnis:
Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten
übereinstimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das
Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird.
Ausgehend von dieser Erfahrung, ist den Eltern eine möglichst enge
Zusammenarbeit mit den Berufserziehern selbstverständlich. Wenn wir Eltern
oder Kindergarten und Schule Erziehungsprobleme haben und/oder wir uns einer
Kooperation verschließen, ist im Interesse eines Kindes eine Änderung unserer
Zurückhaltung dringend geboten. Alles muss getan werden, was zu gegenseitigem
Vertrauen und Verständnis führt und alles ist zu vermeiden, was Vertrauen und
56
Verständnis beeinträchtigt. Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden,
Vorurteile und Misstrauen verringern. Zum Schluss dieses Abschnitts fassen wir
noch einmal zusammen:
Wenn zwischen verschiedenen Lebensbereichen Verbindungen bestehen, die
gegenseitiges Vertrauen, positive Orientierung und Zielübereinstimmung
fördern, dann wirken sie sich auf die Entwicklung eines Kindes günstig aus.
Wenn diese Verbindungen möglichst mühelos und ohne großen Aufwand
hergestellt werden können, dann sind sie besonders effektiv. Hierbei ist von
großer Bedeutung, dass stets die Familie in das kommunikative Netz
eingebunden ist. Dies ist eine Bedingung, die vor allem in der Kooperation
zwischen Kindergarten und Grundschule bedeutungsvoll ist (Norbert
Huppertz / Joachim Rumpf 1983, S.149). Je persönlicher die Kommunikation
zwischen den verschiedenen Lebensbereichen ist, umso mehr fördert sie die
Entwicklung eines Kindes.
2.
Drohen, strafen, Grenzen setzen
Einführung
Eine ganz allgemeine Erfahrung sei diesem Kapitel vorangestellt:
Obwohl in der überwältigenden Mehrzahl der Familien Schimpfen, Drohungen und
Strafen im erzieherischen Umgang mit Kindern selbstverständlich sind, ist das
Interesse an Elternabenden sehr groß, wenn es um die Antworten auf die Frage
geht: „Wie man sich Schimpfen und Strafen sparen kann“. Offenbar leben wir
Eltern, aber auch Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen und Lehrer in
einem gewissen Zwiespalt: Einerseits bestrafen wir fleißig, andererseits aber wollen
wir das gar nicht tun. Wenn wir strafen, plagt die meisten von uns ein schlechtes
Gewissen. Wir beruhigen es, in dem wir sagen: es geht ja nicht anders. Kürzlich
erklärte eine Journalistin aus der Schweiz, die selbst ein kleines Kind hat: „Man
kann doch nicht ohne Strafen erziehen und eine hinter die Ohren ist von Zeit zu Zeit
nötig“. Die „strafende Hand“ ist also nicht allein ein Problem der Deutschen. Denn
Ohrfeigen zählen in Deutschland zu den häufigsten erzieherischen Strafen. In mehr
als 80 Prozent aller Familien wird Gewalt angewendet. Allein im Jahre 2006
wurden 72.000 Fälle von Kindesmisshandlung angezeigt. Es halten aber nach einer
Studie aus dem Jahre 2005, und das lässt dann doch eine optimistische Perspektive
zu, „95 % aller Eltern … eine gewaltfreie Erziehung für erstrebenswert und sind
davon überzeugt, dass körperliche Strafen Kindern eher schaden als nützen12.
Was sind Strafen?
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Ganz allgemein und sehr weit gefasst ließe sich sagen, dass wir jedes
zwischenmenschliche Verhalten, das wir als Strafe auffassen (wir fühlen uns bestraft
oder wir wollen bestrafen) damit meinen. In unserem Rechtssystem zum Beispiel
füllen Straftheorien, Strafpraxis oder Gesetze, Urteile und Kommentare zu
Strafproblem ganze Bibliotheken. Wir sprechen in unserem Zusammenhang aber
nur von der „pädagogischen Strafe“ also von einer Handlung im Zusammenhang mit
einer erzieherischen Absicht.
Erzieherinnen und Eltern formulierten in einem gemeinsamen Gespräch:
„Strafe ist jedes Verhalten, das einen anderen verletzt“
„Strafe findet ihren Ausdruck in Zwängen, Demütigungen, Kränkungen, in
Gewalt (Schläge), die nicht Notwehr ist“
„Strafen sind auch Zuschreibungen wie: du bist schlecht, dumm, böse... aus dir
wird ja eh nichts; oder Beschimpfungen wie: Dummkopf, dumme Pute,
Taugenichts, frecher Kerl“
Diese Beispiele zeigen uns, was Strafe nicht ist: Sie ist keine gleichsam natürliche
Konsequenz, die sich aus einem Verhalten ergibt. Es wäre für uns zu schön, weil so
bequem, hätten Strafen den objektiven Charakter von Naturgesetzen: wenn die
Puppe auf den Boden fällt, geht sie entzwei. Dieser Vorgang besitzt auch dann
keinen Strafcharakter, wenn das Kind zuvor von den Eltern auf die „logische Folge“
seiner Handlung aufmerksam gemacht wird. Das Kind wäre zwar betrübt, weil die
Puppe zerbrochen ist, kann sich aber nicht bestraft fühlen, weil die Eltern diesen
Vorgang nicht herbeigeführt haben. Erst wenn die Eltern anschließend schimpfen:
„Du bist doch ein ungezogenes Kind... wir haben es dir ja gleich gesagt ..., das hast
du nun davon ..., jetzt setzt es was ...“ beginnt die Bestrafung. Wir sehen an diesem
Beispiel: Zur Strafe gehört die Strafabsicht des Erziehenden.
Das reicht aber nicht aus, da sich ein Kind durchaus nicht immer bestraft fühlen
muss, wenn wir strafen. Die Wirksamkeit einer Strafe hängt von den Beziehungen
ab, die zwischen Kind und Erwachsenem bestehen. Der Charakter der Beziehungen
zwischen beiden kann dazu führen, dass sich ein Kind weder durch Strafen noch
durch Belohnungen angesprochen fühlt. Mit einem mangelhaften oder fehlenden
Echo bei einem Kind oder Jugendlichen müssen wir dann rechnen, wenn die
gegenseitigen Beziehungen auf Gleichgültigkeit beruhen.
Eine negative Reaktion (ein Kind setzt zur Gegenwehr an, wird seinerseits traurig,
zornig, aggressiv) dagegen zeigt uns, dass es emotional betroffen ist. Gelegentlich
erwächst aus diesen gefühlsmäßig aufgeladenen Situationen die Chance zu Einsicht,
Verständigung und Versöhnung. Besser wäre es freilich, es käme gar nicht erst zu
diesen Straffolgen.
Schwierig wird es auch, wenn ein Kind die Strafwürdigkeit seines Verhaltens gar
nicht erkennen kann. Unverständnis aber führt zu Unsicherheit und Angst und
macht alles nur noch schlimmer, weil das Kind gleichsam „nun erst recht“ sein
Verhalten fortsetzt. Hierzu kann es kommen, wenn zum Beispiel die Vorstellungen
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was gut ist und richtig in einer Familie auf der einen Seite, im Kindergarten oder
Schule auf der anderen Seite weit auseinander liegen.
In Bernds Familie ist es zum Beispiel üblich, dass die Eltern grob und
unhöflich miteinander und mit Bernd und seinen Geschwistern umgehen.
Bernd übernimmt die für ihn vorbildlichen Verhaltensweisen und trägt sie in
die Kindergartengruppe und fällt dort damit unangenehm auf. Vor allem
aber gerät er mit seinen (beziehungsweise den elterlichen Verhaltensweisen)
in deutlichen Widerspruch zu den Erziehungsvorstellungen und sozialen
Verhaltensnormen der Erzieherinnen. Wenn diese sich nun gezwungen sehen,
andere Kinder vor Bernd in Schutz zu nehmen, ja ihn sogar zu bestrafen,
könnte der Junge die Gründe gar nicht begreifen. Er würde sich ungerecht
behandelt fühlen und noch aggressiver werden. Mit Hilfe von Strafen lassen
sich zwar in derartigen Fällen vorübergehend insofern Erfolge erzielen, als
Kinder erfahren, dass sie sich in einem anderen sozialen Feld anders
verhalten müssen. In einigen Fällen ist sogar eine Anpassung nicht jedoch
eine tiefreichende Verhaltensänderung zu erwarten. Noch am gleichen Tage
wird die Erzieherin bei Bernd erneut eingreifen müssen und so wird es jeden
Tag - mal mehr mal weniger für alle Beteiligten erträglich - zugehen.
Dieses Beispiel lässt sich auf viele Unterschiede zwischen den Lebensbereichen
Elternhaus, Kindergarten und Schule übertragen und betont noch einmal, wie
wichtig eine gute Zusammenarbeit in Fragen der Erziehung und Bildung unserer
Kinder ist.
Straffolgen
Mit einem Beispiel soll zunächst auf mögliche Folgen der Strafpraxis aufmerksam
gemacht werden.
Als Michael in die Hortgruppe eintrat, war er in der gleichen
Kindertagesstätte schon seit seinem vierten Lebensjahr als unbekümmerter
fröhlicher Springinsfeld bekannt und geschätzt. Der Junge hatte einen recht
„eigenen“ Kopf, der manchmal recht „dick“ sein konnte. Gleichzeitig mit
Michael begann im Hort eine neue Erzieherin mit ihrer Arbeit. Es war eine
ruhige, freundliche und recht bestimmt auftretende Kollegin.
Eines Tages bekam sie mit Michael Streit, als sie ihm erklärte, dass er sein
Sachkundeheft ordentlicher führen müsse. Beide waren nicht so gut drauf
und blieben stur. Die Erzieherin sagte: „so machst du das jetzt!“ und Michael
reagierte genau so bestimmt: „nein, das müssen wir nicht so machen“. Im
Verlaufe der immer lauter werdenden Auseinandersetzungen fuhr ihn die
Erzieherin heftig an, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Nur ein
wenig - aber es reichte im doppelten Sinne:
Michael war daraufhin still und fügte sich.
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Michael zog sich zurück, wenn immer die Erzieherin in seiner Nähe war; er
tat zwar, was sie gebot; aber sie konnte nicht mehr mit ihm sprechen.
Es war in einem späteren Gespräch mit der Erzieherin nicht mehr aufzuklären, ob
die Erzieherin ihn unsanft anfuhr beziehungsweise bestrafte, weil sie zeigen wollte,
dass sie nichts durchgehen lassen wird, oder ob sie an diesem Tage mit dem linken
Fuß zuerst aufgestanden war. Für den Effekt ist das auch von untergeordneter
Bedeutung: Michael blieb ihr gegenüber reserviert. Er war weiterhin ein fröhliches
und dynamisches Kind. Nur zwischen den beiden war das Vertrauensverhältnis
dahin. Die Beziehungen blieben gestört.
Dieses Beispiel aus einer Horteinrichtung bestätigt uns, was wir, bei entsprechender
Empfindsamkeit der Beteiligten im Leben immer wieder erfahren: Ein böses Wort,
eine (sogar missverstandene) Äußerung oder Geste können genügen,
zwischenmenschliche Beziehungen wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit
oder gar Liebe zu beeinträchtigen. Es wäre so schön, wenn wir die Beziehungen
innerhalb einer Familie nicht mit derartigen Störungsursachen belasten würden!
Schauen wir weiter auf Straffolgen. Hier sind die Ergebnisse einer Befragung von
Erzieherinnen und Erziehern13 und die von Eltern interessant. Die Frage lautete:
„Was haben bei Ihnen nach Ihrer Erfahrung Strafen durch Eltern bewirkt?“ Als
Antworten waren möglich:
1.
2.
3.
Ich habe mein Verhalten in der von den Eltern gewünschten Weise geändert.
Ich habe mein Verhalten nicht geändert bzw. nun
genau das Gegenteil von dem getan, was die Eltern bei mir durch die Strafe
erreichen wollten.
Nur zu einem Drittel bewirkten Strafen eine Verhaltensänderung in dem von den
strafenden Eltern gewünschtem Sinne. Zu zwei Dritteln erfüllten die Strafen ihren
Zweck nicht. Ein Teil von diesen gab an, nun erst recht das Gegenteil von dem getan
zu haben, was die Eltern wollten.
Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch vom
betreffenden Kind so erlebt wurden, erreichen nur selten den gewünschten Effekt.
Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde
Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: das
war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen, ist kaum zu erwarten. Schauen wir aber
noch ein bisschen genauer hin, was wir mit Schimpfen und Strafen anrichten
können:
Heinz war im zweiten Schuljahr, als er im Rechenunterricht aufgerufen wurde.
Weil er nicht aufgepasst hatte, ging der Lehrer zu ihm und tat, was er
üblicherweise zu tun pflegte: Er gab Heinz eine schallende Ohrfeige.
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Daheim, wo Schläge nicht üblich waren, verschwieg Heinz den Vorfall. Er wusste
aus Erfahrung, denn die ältere Schwester ging bereits ins vierte Schuljahr, dass
die Eltern nichts unternommen hätten. „Pass halt das nächste Mal auf“ wäre das
Einzige gewesen, was die Mutter gesagt hätte. Am nächsten Morgen klagte der
Junge über Bauchschmerzen. Die besorgte Mutter behielt ihn daheim. Der Arzt
konnte aber keine Erkrankung feststellen.
Heinz ging am übernächsten Tag, wenn auch angstvoll, in die Schule. Im
Rechenunterricht verhielt er sich mucksmäuschenstill und zeigte sich als „braver“
Junge. Nur mit dem Rechnen wollte es nicht mehr klappen. Es war, als hätte der
bis dahin schulisch unauffällige Junge eine Blockade im Kopf.
Einige Monate nach diesem Ereignis wurde der Mathematiklehrer versetzt.
Heinz hat ihn nie wieder gesehen.
Der Junge war zwar froh darüber, dass er diesen „strengen“ Lehrer los war.
Doch mit dem Rechnen wollte es nie mehr recht klappen und das Kind hinkte
während seiner ganzen Schulzeit in diesem Fach den anderen hinterher. Die
Eltern erklärten die „Rechenschwäche“ mit Vererbung: „Ich war im Rechnen
auch keine gute Schülerin“, sagte die Mutter.
Eine einzige Strafe kann ein Kind schocken und für eine lange Zeit verängstigen und
verunsichern. Angst und Unsicherheit aber sind keine guten Begleiter auf dem Weg
in eine selbstbewusste Existenz. Es gibt sehr viele Frauen und Männer, die - noch bis
ins hohe Alter hinein - voller Ängste und Unsicherheiten sind, die auf Bestrafungen
in der Kindheit zurückzuführen sind und die sie gelegentlich völlig lähmen.
Brauchen Kinder Strafe?
Gelegentlich wird strafendes Erzieherverhalten damit gerechtfertigt, dass Kinder
Strafe brauchen. Kinder fordern Strafe heraus. Rudolf Dreikurs gab einem seiner
Bücher den Titel: „Kinder fordern uns heraus ...“ (Stuttgart 1983). Legen wir die
Betonung auf „uns“ und schauen, was damit gemeint sein kann:
Nach dem Aufstehen zanken sich die vierjährige Anita und der achtjährige
Klaus. Die sehr geduldigen Eltern, die sich den Sonntagmorgen nicht verderben
lassen wollen, halten sich heraus. Der Streit versickert. Übellaunig kommt
Anita, die vermutlich bei der geschwisterlichen Auseinandersetzung den
Kürzeren gezogen hat, an den Frühstückstisch. Dort stellt sie ihren Trinkbecher
mit der Behauptung „der Kakao ist kalt“ ruckartig beiseite und bekleckert das
frische Tischtuch.
Die hier geschilderte herausfordernde Haltung den Erziehern gegenüber begegnet
uns in Familie, Kindergarten, Schule oder Hort nicht selten. Eine Herausforderung
muss so beantwortet werden, wie die Kinder es erwarten: Zeige mir meine Grenzen!
Kinder brauchen also keine Strafen, sondern Eltern und Erzieher, die ihnen zeigen,
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wo die Grenzen sind, die man beachten muss, wenn man in dieser unserer
Gesellschaft und Kultur in sozial anerkannter Weise leben will.
Noch einmal sei auf die Einleitung zum Abschnitt „Führung“ im ersten Kapitel über
die „Bedürfnisse“ von Kindern verwiesen: Führung, Grenzen setzen,
Orientierungshilfen geben ... alles das sind Elemente von „Erziehung“ und
elementare Notwendigkeiten, um unseren Heranwachsenden zu einem Gewissen zu
verhelfen, das ihnen sagen kann, was gut und richtig ist14. Jede Mutter, jeder Vater
oder jede/r Berufserzieher/in wird aber streng darauf achten, dass dem Kind in
diesem Prozess kein Leid angetan wird. Das heißt, dass wir auf körperliche
Züchtigung ebenso verzichten, denn „Die gesunde Ohrfeige macht krank“15, wie auf
die Würde des Kindes verletzende Äußerungen. Gerade in kritischen Situationen
wird es sich zeigen, ob wir die Ruhe und Souveränität besitzen, die Geduld und das
Verständnis, die Festigkeit unserer Überzeugung über das, was unserem Kind nützt
oder schadet. Erziehung, das heißt zum Beispiel gebieten, verbieten, meinem Kind
ermöglichen, aus den Folgen seines Verhaltens zu lernen, unter Umständen
belohnen und ermutigen. Außerdem muss ich fordern oder verzichten, beharrlich
bleiben oder nachgeben.
Nicht allen Kindern ist das freilich nicht immer gleich selbstverständlich einsichtig.
Auf eine recht allgemeine Formel gebracht ließe sich sagen: Während sie sich
ständig an uns reiben, reifen sie heran. Sozialisation, also das Hineinwachsen in
unsere Kultur und Gesellschaft lässt, sich durchaus auch unter diesem
Gesichtspunkt betrachten. Im kindlichen Trotz wird das besonders deutlich.
Ein Vater erzählte einmal, dass er seinen wenige Monate alten Sohn baden
und bei dieser Verrichtung die Mutter vertreten sollte. Der Vater, der immer
zugesehen hatte, wenn die Mutter den Jungen badete, abtrocknete und
frisch windelte, übernahm diese Aufgabe gern. Doch während der ganzen
Badeprozedur schrie das Kind wie am Spieß. Der Vater wurde so nervös
und innerlich aggressiv, dass er froh war, als der Junge endlich wohl
verwahrt in seinem Bettchen lag und Ruhe gab. Dem Vater war klar, dass in
den früheren Entwicklungsphasen das Bewusstsein des Kindes an dem
Vorgang noch nicht beteiligt war. Dennoch erlebte der Vater dies ihm
zunächst unverständliche Verhalten des Kindes als ein gegen ihn gerichteter
Protest, als eine gleichsam kritische Äußerung. Das hatte dann auch
entsprechende Folgen: er fasste den Sohn anders, vielleicht unmerklich
zaghafter an, als er ihn in die Wanne hielt. Das Kind beruhigte sich dann
auch.
Dem eigenen Willen und dem Reibungsbedürfnis unserer Kinder lässt sich also in
einer für seine Entwicklung positive Weise begegnen. Wenn wir da sehr weit neben
den Bedürfnissen unserer Kinder agieren, dann kann es erheblichen Schaden
davontragen, wie das folgende Schicksal zeigt:
62
Die Mutter verließ Herrn Zet bald nach der Geburt des zweiten gemeinsamen
Kindes. Die dreijährige Tochter kam zur Großeltern, der anderthalbjährige
Peter blieb beim Vater und dessen Freundin und spätere Frau. Der Vater
wollte von Anfang an keine Fehlentwicklung riskieren, nichts durchgehen
lassen und den Jungen zu einem ordentlichen Menschen erziehen. Doch auf die
natürlichen eigenwilligen Verhaltensweisen des Kindes und dessen
Widerstände, auf die Wünsche nach „Klärenden Antworten“ beantwortete der
Vater mit großer Härte. In hilfloser Wut schlug er auf den Jungen ein, wenn er
sich provoziert fühlte. Einmal, so ist überliefert, hielt er den damals
Vierjährigen sogar zu einem Fenster der in der zweiten Etage eines
Mietshauses liegenden Wohnung hinaus mit der Drohung: Wenn du jetzt nicht
folgst, lasse ich dich fallen!“
Selbst wenn der Vater hinterher seine „unbeherrschten“ Reaktionen bedauerte:
an den Folgen änderte das nichts. Denn Peter antwortete auf die brutalen
Erziehungsmethoden seines Vaters mit Zerstörungen. Er bohrte Löcher in die
Wände seines Kinderzimmers, zerkratzte die Türen und - sich selbst. Das
Martyrium beider (auch der Vater war am Ende mit seinen Nerven) wurde
öffentlich, als der Junge eingeschult werden sollte. Da zeigte es sich, dass das
Kind in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben war. In der
Vorschulfördereinrichtung war Peter, der sich nichts zutraute und allen
Anforderungen verweigerte auch nicht zu helfen.
Der Vater brachte seinen ältesten Sohn, inzwischen waren drei weitere
geboren worden, in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung unter. Wenn
auch das Kind dort allmählich lernte, dass er etwas leisten kann, so vermochte
sich ein gesundes Selbstwertgefühl in der Kindheit und Jugend nur schwer
herauszubilden.
Kinder lernen aus Folgen
Das ist ja schrecklich und so darf Erziehung auch nicht aussehen, werden Sie, liebe
Eltern zu Recht sagen. Gibt es aber einen gangbaren Weg zwischen Drohungen
und Strafen und gar nichts tun? Gewiss, und wir kennen diese Wege gut, weil wir
sie selbst erlebten. Mein erstes Beispiel kommt aus dem schulischen Bereich. Ein
Kind, das eine schlechte Leistungsbeurteilung erhält, fühlt sich so, als wenn es
bestraft worden wäre. Es kann aber bereits in der ersten Klasse sehr gut verstehen,
dass es für eine mäßige Leistung nicht gelobt werden kann. Vor allem dann geht
das nicht, wenn wir Erwachsenen genau wissen, dass hier nicht Unvermögen
sondern Faulheit im Spiele war. Das Kind weiß das auch. Darum braucht ein
Schulkind nicht zur schlechten Bewertung obendrein noch abfällige Bemerkungen
des Lehrers oder gar eine Strafe durch die Eltern.
Gerade dieses Beispiel, von dem wir im Handumdrehen viele Variationen aus allen
Lebensphasen zusammentragen könnten, weist auf eine Tatsache, deren Wirkung
Eltern und Berufserzieher unterschätzen: Gemeint sind die Folgen, die ein
63
Fehlverhalten für ein Kind selbst - und ganz ohne unsere zusätzlichen Kommentare hat.
Kein Kind kommt auf die Welt mit der Absicht, seine Eltern „bis aufs Blut“ zu
peinigen. Im Kapitel über Trotz und Aggressivität wird erörtert, mit welchem
Erkundungsverhalten bei Kindern gerechnet werden muss. Außerdem gibt es
zahlreiche Normvorstellungen von Eltern (das darfst Du - das darfst Du nicht), die
ein Kind erst lernen muss und nicht automatisch und nur darum, weil wir es lieb
haben oder so gut mit ihm meinen, übernimmt. Mit Geduld, Ruhe und Festigkeit
erbitten oder fordern wir, dass es etwas tut oder lässt. Dabei lassen wir uns auf
keinen Machtkampf ein, sondern verhalten uns entsprechend, wie die Beispiele bei
kindlichem Trotz oder Geschwisterstreit zeigen. Gründe, die ein Kind zu
Verhaltensweisen führt, die Drohungen oder Strafen heraufbeschwören können,
sind zu bedenken. Ein Beispiel: Wer auf Fehlverhaltensweisen seines Kindes mit
Drohung und Strafe reagiert, verstärkt dessen Verhalten, wenn das Kind eben dies
beabsichtigt.
Reagieren Eltern und Erzieher aber so, dass das Kind die Folgen seines Verhaltens
selbst zu spüren bekommt - und keine besondere soziale Beachtung erfährt, - dann
wird es von selbst sein Fehlverhalten unterlassen. Das Buch der Psychologen Rudolf
Dreikurs und Loren Frey ist voll von überzeugenden Beispielen. „Die logische Folge
ist logisch mit dem Fehlverhalten verknüpft, die Strafe ist es selten“ überschreiben
sie die folgende Geschichte (Freiburg 11/1994, S. 58):
„Es gab Schwierigkeiten mit einer dreizehnjährigen Tochter, weil sie die Kleider
nicht aufhängen wollte. Sie ließ sie nicht nur liegen, wo sie sich gerade
ausgezogen hatte, sondern schien auch noch Spaß daran zu haben, sie zu
zerknittern. Früher war sie verhältnismäßig gut mit ihren Sachen umgegangen,
und die Mutter verstand die Veränderung nicht. Nachdem sie es mit
Überredung, Drohung und Schimpfen versucht hatte, sagte sie ihrer Tochter
schließlich, sie könne so weitermachen und ihre Sachen hinwerfen, fügte aber
hinzu, dass sie selbst sie dann nicht aufheben oder bügeln würde. Die Tochter
beklagte sich, dass sie nicht genug anzuziehen hätte, aber die Mutter weigerte
sich, das zu ändern, bis das Mädchen sich um das, was es an Kleidung besaß,
besser kümmerte. Es trug ein paarmal schmutzige und zerknitterte Kleider in der
Schule, bis es begann, sorgfältiger zu werden. Es dauerte nicht lange, bis es seine
Kleider aufhängte.“
Natürlich änderte sich das Verhalten des Kindes nicht von heute auf morgen. Als es
aber merkte, dass es der Mutter ernst war und sie selbst die Verantwortung für den
Zustand ihrer Kleider mit allen Konsequenzen übertragen bekommen hatte, änderte
es sich allmählich.
Mit Hinweisen auf die Strategie „Ermutigung“ sei dieses Kapitel abgeschlossen.
64
Kinder ermutigen
Wenn ein Kind im Alter von vier oder fünf Jahren nicht mit seinem Schuhbändel
zurechtkommt, lernt es nicht, selbständig zu werden, wenn die Mama sich
hinunter beugt und ihm den Schuh zumacht, denn das Kind fühlt sich schnell
unzulänglich und entmutigt. Stattdessen sprechen wir dem Kind Mut zu: lass dir
nur Zeit, du wirst es schon schaffen. Dieses Prinzip der Ermutigung und unsere
Bemühungen, alles zu vermeiden, was ein Kind mutlos machen könnte, ist eine der
Grundhaltungen, die uns Dreikurs/Grey empfehlen. Ermutigung ist ein wichtiger
Schlüssel in der Erziehung zu Selbständigkeit und Leistungsbereitschaft.
Voraussetzung aber ist, dass wir selbst zutiefst davon überzeugt sind, dass unser
Kind „es“ schafft.
Das Gegenteil von ermutigen ist entmutigen. An Beispielen von Entmutigung wird
unmissverständlicher klar, dass ermutigende Signale von Seiten der Eltern und
anderer Erwachsener für die Entwicklung eines Kindes besser sind.
Als Andreas eingeschult wurde, freute er sich wie alle anderen Kinder auf den
neuen Lebensabschnitt. Und ebenso wie die meisten Kleinen hatte er Mühe, den
Stift richtig zu halten und bei den ersten Versuchen auf dem Papier seine
„Wellen“ und die „Berge und Täler“ von links nach rechts einigermaßen gerade
oder gar zwischen vorgedruckte Linien zu malen. Andreas hatte, wie die
meisten seiner Altersgefährten also Schwierigkeiten mit dem „Schreiben“. Was
Andreas von den anderen Kindern unterschied, das waren Eltern, die damit
nicht umgehen konnten. Vielleicht hatten sie keine Zeit gehabt zum
Elternabend zu gehen, als Funktionen und Bedeutung der ersten Übungen
erklärt wurden, vielleicht hatten sie einfach nicht richtig zugehört oder
verstanden: sie mäkelten an den Versuchen ihres Jungen herum. „So macht
man das doch nicht ... Nun gib dir endlich mal Mühe... stell dich bloß nicht so
an... das ist doch kinderleicht... wenn das so weitergeht, wirst du nie schreiben
lernen...jetzt machst du das alles noch einmal, aber ordentlich...“ so tönte es
unentwegt aus dem Mund der Mutter und wenn der Vater kam, dann gab auch
der noch seine Kommentare dazu ab.
Die Eltern meinten es nicht böse mit ihrem Kind. Aber so geht es nicht! Hier fehlt
jeder Ansatz von Ermutigung. Andreas hörte nur die eine Botschaft: wir sind mit
dir nicht zufrieden! Die Eltern haben versäumt, ihm Mut zu machen: „Mach nur
weiter, das schaffst du schon“ oder, falls die Lehrerin/der Lehrer nicht zufrieden
waren: Beim nächsten Mal wird es sicher besser!“
Das Beispiel von Andreas lässt sich in viele alltägliche Zusammenhänge
übertragen. Man kann sagen, dass alles, was in unserem Verhalten dazu geeignet
ist, ein Kind zu entmutigen, seine Erfolgsaussichten einschränkt. Im
Zusammenhang mit dem Thema „Wie Kinder lernen“ ist ebenfalls davon die Rede.
Wer seinem Kind zu verstehen gibt: Ich halte dich für einen Versager, für einen
Menschen mit „zwei linken Händen“, für ungeschickt, dumm oder faul, der darf
sich nicht wundern, wenn das Kind so wird oder bleibt, wenn Mutter oder Vater
65
das so sagen. Eine ermutigende Erzieherhaltung aber ist besser geeignet,
Fehlentwicklungen zu vermeiden oder zu beheben. Eine der entscheidendsten
Voraussetzungen für eine derartige Erziehungshaltung ist das Zutrauen zu den
eigenen Fähigkeiten beziehungsweise ein gewisses Ausmaß an eigenem
Selbstwertgefühl. Es fällt uns leichter, Kinder zu ermutigen, wenn wir in unserem
eigenen Leben Ermutigung erfahren haben. Wenn ein Mann seine Frau durch sein
Verhalten demütigt oder gar schlägt und beschimpft oder eine Frau ihrem Mann
immer wieder unter die Nase reibt, dass er ein Versager sei, dann dürfen wir uns
nicht wundern, wenn beide zu den Fähigkeiten ihres Kindes kein Zutrauen haben.
Lassen wir dieses Kapitel aber nicht ohne einen Blick auf eine andere Realität
ausklingen, an die wir denken, wenn wir Eltern auf unsere eigene Kindheit und die
Folgen von Frustrationen bei uns selbst zurückdenken. Sobald wir mit anderen
Eltern darüber sprechen, werden wir feststellen, dass sich viele der uns zugefügten
seelischen Wunden geschlossen haben. Wir sagen dann gern, dass wir das Leben
trotz alledem gemeistert haben. Einige meinen dann gelegentlich sogar, dass ihnen
die Schläge, die sie bekamen, nicht geschadet hätten. Nun, mit derartigen
Verklärungen unserer Kindheitserinnerungen sollten wir schon darum vorsichtig
sein, wenn sie zur Rechtfertigung unserer eigenen Strafpraxis herhalten müssen.
Wenn auch darüber keine verallgemeinerbaren Untersuchungsergebnisse
vorliegen, so lässt sich sagen, dass die meisten von uns sich tatsächlich ihren
negativen Erfahrungen stellen, sie bewusst bearbeiten und auf diese Weise die
Beschädigungen an ihrem Selbstwertgefühl überwinden. Ob es Erzieher, Lehrer
oder die eigenen Eltern waren, die uns mehr oder weniger bewusst seelisch
verletzten: wenn wir uns als Erwachsene damit auseinander setzen, können uns
die entsprechenden Auswirkungen nicht mehr beeinträchtigen. Nun sind wir
selber Eltern geworden. Da wir wissen, was Drohungen und Strafen anrichten
können, halten wir uns zurück. Wenn uns aber mal der Zorn übermannt und die
Gefühle mit uns durchgehen, dann – so werden die meisten Eltern, die mit ihren
Kindern hinterher darüber sprechen, feststellen können, - werden unsere Kinder
für uns sehr viel Verständnis haben und der Schaden bleibt gering.
3.
Unsere Kinder reiben sich an uns und wir an ihnen
Einführung
Aggressionen, damit sind Gefühlszustände und ihnen entsprechende
Verhaltensweisen gemeint, die wir alle zwar gleich benennen, die jeder von uns
aber verschieden erlebt. Körperlich betrachtet, geht in allen Menschen das gleiche
vor: Jede Erregung unserer Gefühle (Emotionen) werden von einem erhöhten
Adrenalinausstoß begleitet, die wir dann als ein aggressives Gefühl erleben, wenn
66
die Ursachen aggressionsauslösend sind. Angeborene Anlagen - Temperamente
z.B. - aber auch situative Einflüsse, wie z.B. Anlässe, Umgebungen oder subjektive
Befindlichkeiten, entscheiden darüber, wann bei einem Menschen dieser Prozess
beginnt.
Mit Gewalt bzw. gewalttätigem Verhalten meinen wir umgangssprachlich jene, die
sich gegen Sachen und Lebewesen (gegen Tiere, andere Menschen und sich selbst)
richten. Nicht alle Gewalthandlungen müssen mit aggressiven Empfindungen
verbunden sein. Ein Bomberpilot zum Beispiel hat in der Regel keine aggressiven
Gefühle, wenn er im Auftrag seiner Vorgesetzten Städte bombardiert und
Menschen tötet. In zwischenmenschlichen Begegnungen sind Gewaltakte nicht
selten mit Aggressionen verbunden, die unter anderem durch Gefühle wie Zorn,
Hilflosigkeit oder Hass ausgelöst wird. Hier ist zum Beispiel zu denken an
Gewalttätigkeiten in der Familie, die in unserer Gesellschaft zwar häufig unter der
Decke gehalten wird, aber viel öfter vorkommt, als bekannt ist (Philip Zimbardo
1995, S. 425).
Neben den direkten zwischenmenschlichen Gewalttätigkeiten stehen noch andere
Gewaltformen. Wenn wir an unsere eigene Gewalterfahrungen denken, dann
empfinden wir vielleicht alles, was wir gegen unseren eignen Willen oder unsere
eigene Überzeugung akzeptieren müssen, wozu wir uns „gezwungen“ fühlen, als
eine „Vergewaltigung“. Wir sagen dann vielleicht auch: „Da wurde mir Gewalt
angetan“ oder: „Ich musste mir Gewalt antun“.
Da Menschen diese Gewalterfahrungen auch in Institutionen wie Betrieben,
Vereinen oder in und durch staatliche Organe (denken wir nur an das
„Gewaltmonopol des Staates“) machen können, diese Gewalt aber keine gleichsam
personale ist, spricht man auch von „struktureller Gewalt“ (Alexander
Mitscherlich, Zürch o. J.).
Aggressionen und gewalttätige Verhaltensweisen beobachten wir aber am
häufigsten in unseren Familien selbst. Zwei Themen sind es, die uns Eltern da
besonders zu schaffen machten:
unsere streitenden Kinder, die sogar mit Fäusten aufeinander losgehen und sich
„bis aufs Blut“ peinigen, können uns „bis zur Weißglut“ reizen.
Oder danken wir an den Trotz, mit dem uns unsere Kleinen herausfordern. Wir
werden darum auch diesen beiden Erscheinungen, der Geschwisterrivalität und
dem Trotz in diesem Kapitel noch einmal unsere Aufmerksamkeit widmen.
Die menschlichen Aggressionen
Aggressionen sind Bestandteile der menschlichen Entwicklung und gehören
genauso zu uns, wie zum Beispiel Hunger und Durst, Geborgenheits- und
Geltungsbedürfnis; oder Sympathie und Antipathie. Aggressionen und die mit
ihnen unter Umständen verbundenen gewalttätigen Verhaltensweisen, sind also
ganz natürlich. Wir Menschen waren aggressiv und gewalttätig zu allen Zeiten und
sind es noch; und zwar in allen Kulturen. Irinäus Eibl-Eibesfeld filmte neun
spielende Buschmannskinder 191 Minuten lang. Bei der Filmauswertung zählte er
67
166 aggressive Akte und zwar: Schlagen mit der Faust, Werfen mit Gegenständen,
Bespucken, Beißen, Zunge zeigen, Anrempeln, mit den Füßen treten und sich
gegeneinander Anstarren. Eibl Eibesfeld
(1972) hatte diese spezielle
Buschmannkultur gewählt, weil dort Friedfertigkeit und harmonisches
Zusammenleben ein tatsächliches im Alltag erreichtes Ideal ist (beziehungsweise
vor etwa vierzig Jahren war). Es fehlte den Kindern also das aggressive Vorbild der
Erwachsenenwelt.
William.W. Lampert (1979, S. 19) untersuchte Konflikte in 6 Kulturen (in
Nordindien, Neuengland, Mextecan-Indianer in Mexiko, Kenia, Okinawa und auf
den Philippinen) bei 3 bis 10 Jahre alten Kindern. Er fand, dass sofortiges
Zurückschlagen mit physischem Schlagen und verbalem Angreifen, in allen sechs
Kulturen universell ist. Und das, obwohl diese Aggressionen und
Gegenaggressionen kulturell sanktioniert, also von den Erwachsenen unerwünscht
sind und bestraft werden. Die Anzahl der Vergeltungsschläge ist im Vergleich zu
den Angriffen bei allen Individuen und Kulturen konstant. Jungen schlagen in
30% der Fälle sofort zurück, Mädchen nur in 15 % aller Fälle. Die Gesamtmenge
gezeigter Aggressivität variiert auch nicht mit dem Alter: Es ist kein quantitativer
Sozialisationseffekt nachweisbar (Karl Grammer Darmstadt 1988).
Mit der Feststellung, dass jeder Mensch aggressive Impulse haben kann, ist nichts
darüber gesagt, wie diese Impulse zu bewerten sind. Um Missverständnisse zu
vermeiden lässt sich darum von vorn herein erklären, dass es zu den Zielen aller
pädagogischen Bemühungen gehört, Heranwachsende zu einer prinzipiell
friedfertigen Haltung zu führen und auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung
verzichten zu können.
Bei unseren Kindern beobachten wir schon früh aggressive Verhaltensweisen. Die
Reaktionen auf Versagenserlebnisse zum Beispiel, wir sagen auch „Frust“ dazu,
verraten eigentlich schon recht früh, wie groß die entsprechenden
Verhaltensdispositionen sind. Fragen wir uns zum Beispiel:
Wie zornig wird unser Kind, wenn wir es gegen seinen Willen festhalten?
Wird es aggressiv, wenn es sich zu wenig beachtet fühlt?
Wie reagiert es, wenn eine spielende Aktion nicht oder nicht gleich zum Erfolg
führt?
Wie verhält es sich anderen (gleichaltrigen, jüngeren, älteren) Kindern
gegenüber?
Die hier angedeuteten Erscheinungsweisen menschlicher Aggression, die von
Erich Fromm als „eine phylogenetisch programmierte Reaktion auf die Bedrohung
vitaler Interessen“ gedeutet wird, nennt er darum die lebensnotwendigen oder
„gutartigen“ Aggressionen16.
Darüber hinaus aber gibt es Ausprägungen unserer Aggressivität, die dann
Beachtung verdienen und bearbeitet werden müssen, wenn sie uns selbst oder
andere Menschen stören, wenn sie uns direkt oder indirekt schaden. Dazu
gehören: Beschädigen und Zerstören von Gegenständen, verbale und/oder tätliche
Angriffe gegen andere Menschen, selbstzerstörerische Aktionen...
Diese
68
destruktiven, oder wie Erich Fromm sagt, „bösartigen“ Formen aggressiven
Verhaltens haben überwiegend soziale Ursachen. Umgangssprachlich meinen wir
meistens diese destruktiven Formen, wenn wir von Aggressionen sprechen. Wir
setzen darum gern zur besseren Kennzeichnung den Gewaltbegriff hinzu. Die
Übergänge sind fließend. Destruktive lassen sich von „normalen“ Aggressionen
gelegentlich nur im Zusammenhang mit ihren Ausprägungen, Häufigkeiten,
Befindlichkeiten des Betreffenden (Schuldgefühle z.B.), und den jeweiligen
Ursachen erkennen. Darum lässt sich im Grunde keine wirksame Strategie gegen
ein gewalttätiges Verhalten von Kindern einschließlich einer aggressiven
Ausdrucksweise anwenden, ehe nicht nach den Ursachen und/oder Auslösern der
uns störenden Verhaltensweisen gefragt wird.
Was nun diese Ursachen betrifft, gibt es mehrere Erklärungen aus
unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen mit jeweils verschiedenen
Ausgangspositionen. Es können hier nur einige Andeutungen gemacht werden:
Ein religiöser Mensch, der die Welt ausschließlich als Gottes Werk sieht, wird
Aggressivität und Gewalt aus dem göttlichen Willen heraus erklären und auf die
Erbsünde verweisen, auf die dunklen Seiten menschlicher Existenz, auf Kain und
Abel vielleicht oder auf Engel (Himmel) und Teufel (Hölle).
Es gibt mehrere psychologische Schulen, die über die Ursachen von und die
Einflussmöglichkeiten auf menschliche Aggression nachgedacht und geforscht
haben. Ein analytisch orientierter Psychologe, der zum Beispiel aus der Schule von
Siegmund Freud kommt, untersucht die Individualentwicklung und hier
besonders die unbewussten Erfahrungen - vergessene oder verdrängte - aus den
Kindheitsphasen. Die Schüler Alfred Adlers wiederum fragen stärker danach, ob
und in welcher Weise einer Persönlichkeit in seinem Leben Anerkennung versagt
blieb und das natürliche Streben nach Geltung und Einfluss behindert wurde.
Ein Vertreter der Humanistischen Psychologie setzt bei den Bedürfnissen der
Menschen an und sieht Ursachen von Aggressionen in bestimmten
Mangelerscheinungen oder Strebungen nach Befriedigung unzureichend erfüllter
Bedürfnisse.
Ein Soziologe sieht Ursachen und Erscheinungen von Aggression und Gewalt eher
in gesellschaftlichen Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit oder Gefühle
von Ohnmacht und Wut gegen gesellschaftlich, wirtschaftlich oder politisch
begründbare Benachteiligungen. Aber auch die Einflüsse aus der Freundesgruppe,
in der sich ein Kind oder Jugendlicher bewegt, können, wenn in der Gruppe
Aggressionen und Gewalt selbstverständlich sind, als Vorbild wirken.
Verhaltensforscher (Ethologen) suchten und fanden, wie oben ausgeführt, unter
anderem Antworten auf Fragen wie: sind Aggressionen in allen Kulturen
gleichsam „natürlich“ zu beobachten? Verfügte der Mensch in seiner Entwicklung
schon immer über die Disposition zu aggressivem Verhalten? Welche Funktionen
hatten diese Dispositionen und gelten diese auch unter den gegenwärtigen
(veränderten) Lebensbedingungen?17
Welche dieser Erklärungen ein Mensch für sich als wahrscheinlich richtig
übernimmt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie ein Erklärungsansatz mit
69
seinen eigenen Lebenserfahrungen und Lebensanschauungen übereinstimmt
beziehungsweise wie „plausibel“ ihm ein Erklärungsansatz erscheint. Allerdings
lassen sich in der Praxis kaum eindeutige Zuordnungen ermöglichen. Fragen wir
nach Ursachen von aggressiven Verhaltensweisen oder Gewalt bei einem
Menschen, spielen nicht selten mehrere Faktoren eine Rolle. Es dürfte bei der
Suche nach den Gründen für das Verhalten eines Kindes nützlich sein, wenn Eltern
und Berufserzieher verschiedene Erklärungsmuster beziehungsweise theoretische
Ansätze kennen und in ihre Praxis integrieren können. Es erleichtert uns die
Deutung und Bewertung eines Verhaltens und hilft uns bei der Suche nach einer
geeigneten pädagogischen Strategie oder psychotherapeutischen Behandlung.
Einige Ursachen aggressiven Verhaltens
Jede der nachfolgend genannten Ursachen müssen nicht zwingend zu aggressiven,
gewalttätigen Verhaltensweisen führen. Wenn wir aber destruktive Aggressivität
beobachten, dann sind diese Ursachen beteiligt, sei es, dass sie vorhandene
Dispositionen verstärken, sei es, dass sich durch sie aggressive Verhaltensweisen
erst herausbilden. Allgemein können wir außerdem die Erkenntnis
vorausschicken, dass immer dann, wenn Grundbedürfnisse, wie wir sie im ersten
Kapitel unseres Buches aufzählten, unzureichend oder überhaupt nicht befriedigt
wurden, die Gefahr besteht, dass ein Mensch zu aggressiven und gewalttätigem
Verhalten neigt. Insofern lassen sich die hier genannten Ursachen zugleich als
Konkretisierungen von Mangelerscheinungen erkennen.
1.
Gestörte Familienbeziehungen
Beziehungen zwischen Menschen verändern sich. Auch die zwischen Eltern
unterliegen einem fortwährenden Wandel. So kann es in einigen Ehen dazu
kommen, dass die Gefühle und Erlebnisse, die zwei Menschen zusammenführten,
verkümmern, sich verlieren oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Aus Liebe wird
Hass.
Nichts braucht ein Kind zu seiner harmonischen Entwicklung mehr, als die
Gewissheit, angenommen und geliebt zu sein, wie oben im Zusammenhang mit
den Grundbedürfnissen bereits beschrieben. Andererseits bindet sich jedes Kind
mit all seinem Sein an seine Eltern. Je jünger es ist, umso vorbehaltloser ist diese
Bindung. Und ein Kind liebt beide Eltern und möchte sie im Grunde immer bei
sich haben, bei ihnen geborgen wissen. Ein Kind wird zutiefst verstört, wenn sich
seine Eltern streiten und nicht wenige Kinder tragen diese Verstörungen als
aggressive Verhaltensweisen in die Kindergruppen hinein.
2.
Gewalterfahrungen in der Familie – zwei Beispiele:
Peter ist alkoholkrank. Wenn er betrunken ist, dann stört ihn die Fliege an der
Wand und – die Frau an seiner Seite. Max sucht mit ihr Streit und nach
Gründen, sie zu schlagen. Wenigstens einmal wöchentlich flüchtet sich die
70
achtjährige Tochter Karola in ihr Zimmer, hält sich die Ohren zu und zittert
vor Erregung. Weil Karola ein gut begabtes Kind ist und gern zur Schule geht,
merkt die Klassenlehrerein lange nicht, dass das Kind in Not ist. Nur dass
Karola ihre Fingernägel abbeißt und sich gelegentlich Haare rausreißt, deutet
daraufhin, dass irgendetwas mit dem Kind nicht in Ordnung ist. Erst bei
einem Schullandheimaufenthalt in der vierten Klasse, Karola war inzwischen
fast zehn Jahre alt, erfuhr die Lehrerin, dass der Vater des Kindes seine Frau
und inzwischen auch die Tochter schlägt. Sie war darauf gekommen, weil
Karola nachts im Schlaf mit dem Kopf an die Wand schlug und viel jammerte,
so dass die anderen Kinder nicht schlafen konnten.
Die seelische Not Karolas aber trat nicht nach außen als Aggressionen gegen
andere Kinder, sondern richteten sich gegen sich selbst. Diese Autoaggressionen
sind keine Seltenheit. Doch wird diesen Kindern weniger geholfen und meistens
recht spät, weil sie in ihren Gruppen weniger auffallen. Da verhält es sich mit
Jochen ganz anders.
Seine alleinerziehende Mutter, an der Jochen sehr hängt, ist immer wieder auf
Partnersuche. Wenn sie dann einen Freund gefunden hat und ihn mit in die
Wohnung bringt, freut sich Jochen jedes Mal. Vielleicht ist dieser Mann ein
neuer Papa, auf den er so sehr wartet. Die Mama von Jochen aber scheint nur
bei gewalttätigen Männern „Glück“ zu haben. Immer wieder erlebte der Junge
über kurz oder lang, dass seine Mutter misshandelt wurde. Als er miterleben
musste, wie einer der Freunde die Mutter vergewaltigte, rastete Jochen, der zu
diesem Zeitpunkt elf Jahre alt war, aus und schlug einen Schulkameraden aus
geringstem Anlass auf dem Schulweg zusammen. Da Jochen bereits in der
vorangegangenen Zeit durch gewalttätige Verhaltensweisen aufgefallen und
die Sozialarbeiterin des Jugendamtes von der Schule eingeschaltet worden
war, musste ein Ausweg für alle Betroffenen gefunden werden. Die Mutter
konnte niemand zwingen, sich helfen zu lassen. Sie wollte auch nicht
herausfinden, wo eventuell ihre eigenen Anteile an der Misere liegen könnten.
Sie sah die Ursachen für die Gewaltbereitschaft ihres Sohnes allein in ihm
selbst. „So war schon dessen Vater...“, das war ihre Erklärung. Sie beantragte
Erziehungshilfe für ihr Kind, die dann auch gewährt und in einem Heim
durchgeführt wurde. Während seiner ganzen Schulzeit fiel Jochen mit seinem
aggressiven Verhalten auf. Aus geringstem Anlass ging er auf Mitschüler und
jene Lehrer los, die er als „schwach“ einstufte. Erst nach der Pubertät, Jochen
hatte mit Erfolg eine Handwerkslehre beendet, wurde er ruhiger. Er zog weit
weg von der Mutter und baute sich in einer großen Stadt sein eigenes Leben
auf.
3.
Versagenserlebnisse in der Schule und bei anderen Anforderungen
Niemand will ein Versager sein. Eine schlechte Klassenarbeit verletzt ein Kind. Es
fühlt sich gekränkt oder sogar zurückgestoßen. Einige Kinder „kompensieren“
71
schulische Versagenserlebnisse in dem sie andere Kinder, die gute Arbeiten
schrieben, als „Streber“ beschimpfen. Aus Furcht, nicht mehr dazu zu gehören,
grenzen sie andere Kinder aus. Doch reichen diese Strategien nicht aus, um das
beschädigte Selbstwertgefühl wieder herzustellen. Nun sucht das betreffende Kind
andere Möglichkeiten, die ihm helfen, Beachtung zu finden. Und mit negativem
Verhalten fällt ein Mensch mehr auf, als mit positivem. Nicht die braven Kinder
machen von sich reden, sondern die, vor denen andere Angst haben. Das haben
wir am Beispiel von Jochen gesehen.
Wer sich gemessen an den jeweiligen Bezugsnormen (Schulklasse, Erwartungen von
Lehrern, Eltern, Ausbildern u.a.) als Versager erlebt, kann kein positives Selbstbild
aufbauen. Auf diese Weise lernt ein Mensch, sich selbst zu hassen. Treten zu diesen
Erfahrungen entsprechende Dispositionen hinzu, hilft er sich selbst, in dem er
seinerseits die Anderen hasst. Dieser Hass als Folge einer Reihe von Frustrationen
richtet sich erfahrungsgemäß gegen Schwächere. Dann wird draufgeschlagen auf alle,
die als schwächer erlebt werden (auf die kleinen Kinder im Bus, auf die, die bereits
am Boden liegen, auf Frauen oder auf die Ausländer ...). Auf diese Weise hat der
Aggressor für einen Moment ein Gefühl von Macht und Überlegenheit. Der
Volksmund sagt dazu dann: "den Sack schlägt man - den Esel meint man". Es lässt
sich zum Beispiel nachweisen, dass die zum Teil dramatischen Zwischenfälle in den
Schulbussen im Regelfalle mittags nach der Schule auftreten. Hat ein junger Mensch
mit seinen aggressiven Handlungen Erfolg, vielleicht weil ihm die anderen Kinder
aus dem Wege gehen oder Angst vor ihm haben u. ä., wird sein Verhalten „verstärkt“.
Selbst Bestrafungen wird er, seiner Grundeinstellung folgend, nur als Bestätigung
dafür erleben, dass ihn niemand anerkennt und mag.
Und bei diesem Bezugsfeld scheint eine andere, nicht minder starke Ursache für
Aggressionen auf: die Angst. Während wir die Ursachen bzw. Auslöser von Frustrationen bei genauem Hinschauen unschwer erkennen können (Leistungsversagen,
Straferfahrungen u. ä.) ist das bei Ängsten sehr viel schwerer möglich. Wenn wir also
von einem Menschen sagen, dass er aggressiv und gewalttätig sei, dann können wir
auch davon ausgehen, dass Ängste und/oder Frustrationen diese Verhaltensweisen
und Einstellungen verursacht haben.
4.
Diskriminierungserfahrungen
Besonders in der Schule treffen wir diskriminierende, die Persönlichkeit von
Kindern zutiefst verletzende Verhaltensweisen an, wenn zum Beispiel Lehrer
Leistungsbewertungen mit herabsetzenden, spöttischen oder beleidigenden
Bemerkungen „würzen“. Aber auch in Familien oder in Sportvereinen (zu denken
ist besonders an Fußball) sind diskriminierende Prozesse keine Ausnahme. Wie oft
müssen die betreffenden Kinder den eigenen Zorn, die stille Wut oder den tiefen
Hass gegen die Peiniger in sich „reinfressen“. Das Gebot von einem
Menschenwürdigenden Umgang sollte uns Erwachsene in der Begegnung mit
Kindern leiten und das heißt, ihre Persönlichkeit zu achten, zu akzeptieren und
anzuerkennen. Und was hier in Bezug auf unsere Kinder gesagt wird, das gilt auch
für uns Erwachsene. Immer wenn wir unseren Zorn, unsere Aggressionen bei
erfahrener Diskriminierung „wegdrücken“, spüren wir diesen Druck auf uns selbst
72
körperlich. Nicht wenige Magen- und Herz- und Kreislauferkrankungen haben
hier ihre Ursachen.
5.
Überforderungen
Auch hierzu ein Beispiel:
Kemal ist der einzige Sohn seiner Eltern. Drei Schwestern, alle älter als
Kemal, leben noch in der Familie. Bereits im Kindergarten reagierte Kemal
sehr heftig, als ihn ein Kind „Türke“ nannte und nicht mit dem Namen
ansprach. Es gab noch mehr Türken und andere ausländische Kinder in der
Gruppe. Nur Kemal schimpfte und schlug andere Kinder, sobald er „Türke“
gerufen wurde. Kinder streiten sich gern wie wir wissen. Und wenn sie
erfahren haben, worüber sich ein anderes Kind besonders ärgert, dann
provozieren sie es auch häufig. So geriet Kemal recht bald in eine
Außenseiterrolle und niemand wollte mehr mit ihm spielen. Die Eltern, nur
der Vater konnte sich mit den Erzieherinnen etwas verständigen, sahen
allein die Schuld für die Aggressionen des Jungen im Kindergarten. Kemal
kam dann nur noch selten in den Kindergarten. Niemand aber konnte
herausbringen, warum Kemal auf die Bezeichnung „Türke“ so heftig
reagiert hatte. Als er in der Schule war, konnte er auf ein anderes Kind
losgehen, nur wenn er meinte, es hätte ihn „Türke“ genannt. „Ich habe ihn
doch nur angeschaut“ verteidigte sich in einer derartigen Situation der
völlig überraschte Mitschüler.
Seine Schwestern, die die gleiche Schule mit gutem Erfolg besucht hatten,
unterschieden sich in ihrem Verhalten nicht von den anderen Kindern. Nach
vielen Bemühungen um den Jungen in der ersten Klasse wurde eine geistige
Behinderung erkannt. Wenig später änderte sich sein Verhalten. In der
Schule für behinderte Kinder wurden die Lernanforderungen seinen
Möglichkeiten angepasst. Nun konnte er auf seine Aggressionen verzichten,
die seine Antwort auf die für ihn unverständlichen Anforderungen in
Kindergarten und Grundschule waren. Seine Eltern, so stellte es sich dann
heraus, hatten die Not des Jungen durch ihre Erwartungen verstärkt. Sie
verglichen ihn mit den Schwestern und konnten selbst nicht verstehen,
warum bei Kemal nichts gelingen wollte, was den Mädchen so leicht
gefallen war.
6.
Gruppennormenen
Kinder und wir Erwachsenen haben das Bedürfnis, einer sozialen Gruppe
anzugehören. Ist es in den Kinderjahren zunächst die eigene Familie, kommen
später Kinder hinzu, mit denen man spielt. Eine Freundin zu haben oder einen
Freund ist wichtig und es wird einiges dafür getan, um die Freundschaft am Leben
zu erhalten. Da werden schon mal Normen verletzt und die Gebote Erwachsener
übertreten. Denken wir nur an die Geschichten, die uns Mark Twain über Tom
73
Sawyer erzählte. Einfühlsam und mit viel Verständnis für die Bedürfnisse von
Kindern erfahren wir, dass die Freunde die Gruppen sind, innerhalb derer eigene
Normen ausprobiert werden können. Diese Freundesgruppen sind aber zugleich
der soziale Raum, der tröstet und Alternativen anbietet, wenn man der
Überzeugung ist, dass man von niemandem mehr geliebt wird. Mark Twain erzählt
in seinem Buch über Tom Sawyer:
Tom „hatte versucht, das Rechte zu tun und gut zu sein, aber sie ließen’s ja nicht
zu. Jetzt wollte er das Leben eines Verbrechers führen, es blieb ihm keine andere
Wahl...“ Und Tom tat sich zusammen mit seinen Freunden Joe Harper und
Huckleberry Finn und alle drei suchten eine Insel im Mississippi auf, die unweit
ihres Heimatortes lag und wurden „Seeräuber“.
Wir können unschwer diese Geschichte in unsere Realitäten übertragen. Nur
sehen die Begleitumstände und die Folgen oft nicht so harmlos aus. Unsere Kinder
und Jugendlichen, die sich daheim „unverstanden“ fühlen, geraten unter
Umständen in Gruppen in denen Aggression und Gewalt als Gruppennormen
gelten. Für eigene Frustrationserlebnisse werden andere Menschen verantwortlich
gemacht. Rasch sind Feindbilder konstruiert: der Ausländer, der Asylant, der
Stadtstreicher, die Neger oder auch nur: die Jungen aus dem Nachbardorf, die
Anhänger der gegnerischen Mannschaft. Und wer in der Gruppe nicht als Feigling
gelten will, der muss sich beweisen. Da werden schon mal jugendliche
Fußballanhänger für Anhänger anderer Mannschaften gefährlich.
Aggressivität in unserem Alltag
Jede/r von uns geriet irgendwann und irgendwo einmal in einen Stau. Nehmen wir
an wegen einer Baustelle war die Autobahn nur noch auf der rechten Spur
befahrbar. Während wir brav auf der rechten Seite immer langsamer wurden,
fuhren andere Autofahrer links an uns vorbei und drängten sich vor uns hinein. Da
bekamen wir eine große Wut in den Bauch. Wir fluchten und schimpften laut vor
uns hin und schlugen wohl auch auf das Lenkrad.
Bleiben wir noch bei diesem Beispiel: Die Situation verliert ihren relativ harmlosen
Charakter, wenn wir die Familie im Auto haben. Vielleicht fahren wir gerade in die
Ferien an den Genfer See oder ins Wallis. Auf der N 1 kommen wir bei Bern nicht
mehr weiter und quälen uns im „Stop and Go“ langsam vorwärts. Dazu kommt die
Hitze an diesem Tag. Es scheint auch wieder mal alles schief zu laufen. Und schon
beginnt der Konflikt unter den Erwachsenen: „Ich habe ja gleich gesagt, wir hätten
gestern Abend losfahren sollen ...“.
Und während auf den Vordersitzen der Streit zwischen den Eltern zu eskalieren
beginnt, werden die Kinder auf den Rücksitzen immer unruhiger. Nichts ist für sie
schlimmer als Krach zwischen Mutter und Vater. „Seid endlich ruhig!“ fordern wir
die Kinder auf. Weil sie sich aber nun nicht mehr kontrollieren können, zu lange
saßen sie schon im Auto still und zu groß ist die Angst davor, dass die Eltern sich
weiter streiten, werden sie immer lauter, quengeln, weinen und hauen sich. Nun
fahren wir, Mutter oder Vater, dazwischen und schimpfen und drohen.
74
Verständlich ist für uns diese Situation und unschwer nachvollziehbar. Die
meisten von uns haben in Belastungssituationen - also unter Stress - vergleichbar
reagiert. Mit einem Fuß aber stehen wir mit derartigen Reaktionsweisen bereits im
Bereich der Destruktivität, also in Bereichen aggressiven Verhaltens, mit denen
wir anderen Schaden zufügen oder, wie Erich Fromm sie nennt: der bösartigen
Aggression. Lassen Sie uns noch einmal auf die Familie im Auto zurückkommen.
Ohne jede Beschönigung müssen wir festhalten: Die Eheleute waren
untereinander aggressiv und gegen die Kinder gewalttätig. Vielleicht gab es sogar
eine Ohrfeige.
Die Kinder mögen hinterher ganz schön auf die Eltern wütend gewesen sein. Und
in ihren Gedanken kamen Gewaltphantasien hoch: „soll der Alte doch gleich gegen
den Vordermann fahren“ oder „ich wünschte, ich wäre jetzt tot; dann würden die
aber weinen; aber dann wäre es zu spät...“
Kinder aber wollen geliebt, geborgen und beschützt sein. Auch die Kinder in dem
Auto haben in ihrem Alltag vielfältige Beweise der Fürsorge ihrer Eltern erfahren.
In kranken und gesunden Tagen, bei Kummer in Kindergarten und Schule, stets
konnten sie sich auf Mutter und Vater verlassen.
Darum auch trocknen die Tränen bald wieder, die Gewaltphantasien machen
freundlicheren Gedanken Platz und - am Ferienort angekommen - ist alles wieder
vergessen. Vergessen? Nun ja, nicht ganz: Mutter und Vater verständigten sich
kurz, dazu brauchte es nicht viele Worte, und gingen mit den Kindern noch ein Eis
essen. Als Wiedergutmachung sozusagen. Obwohl niemand mehr ein Wörtchen
über die Situation im Auto verlor.
In jeder Familie und, je nach Kinderzahl und/oder Belastbarkeit und
Temperament der Eltern, mal mehr mal weniger gibt es derartige
Stresssituationen. Denken wir nur daran, dass Erziehen auch heißt, „nein“ sagen
zu können. Kinder kommen damit ganz gut zurecht, wenn sie wissen oder fühlen,
dass es um ihr Wohl geht und sie sich in der liebenden Fürsorge ihrer Eltern
geborgen wissen.
Aggression und Gewalt als pädagogische Herausforderungen.
Gewalterfahrungen in der Kindheit gehen ein in unsere Erinnerungen und wirken
sich auf unsere Persönlichkeit aus (vgl. dazu den Abschnitt über das
Grundbedürfnis nach Liebe!). Nicht immer müssen wir selbst gewalttätig werden.
Wohl aber tragen wir nicht leicht an den Schlägen und seelischen Verletzungen,
die wir in der Kindheit erfahren haben. Auch dann nicht, wenn wir sie aus
unserem Gedächtnis verbannten.
Eine Oma erzählte, dass sie „es“ als junges Mädchen (etwa im Ersten Weltkrieg)
noch mit der Klopfpeitsche des Vaters bekommen hatte, wenn sie zu spät nach
Hause kam.
Sie verzichtete darum darauf, ihre Kinder mit einem Stock zu züchtigen. Die
bekamen „nur“ noch Schläge mit der Hand.
75
Dieses Beispiel muss so, wie ich es hier darstelle nicht repräsentativ sein. Es sollte
uns aber zu denken geben! Denn aggressive Eltern, Eltern also, die ihre Kinder
schlagen oder demütigen, können bei dem einen Kind zwar erreichen, dass es sich
duckt und „brav“ wird, weil es Angst vor den elterlichen Strafen bekommt. Nicht
selten aber werden derartige Strafen wenig bewirken und können sogar Kinder
aggressiver machen, als sie es ohne die Gegenaggression der Eltern wären. Die
Kinder machen nach, was sie erleben. Mutter oder Vater sind zu
aggressionsfördernden Vorbildern geworden.
Das muss nicht so bleiben. Wir kennen alle Erwachsene, vielleicht gehören wir
selbst zu ihnen, die sich schworen, ihre eigenen Kinder nicht mehr zu schlagen.
Die Schläge aus der Kindheit „brennen“ noch so sehr, dass wir den eigenen
Kindern diese Erfahrungen ersparen möchten. Unsere eigene Erinnerung ist im
Grunde unser bester Lehrmeister. Dieser Lehrmeister verhilft manchen Eltern zu
der Kraft, in ihrem Bemühen durchzuhalten und es anders zu machen als die
eigenen Eltern.
Es ist sicher nicht immer einfach, die Aggressionen unserer Kinder auszuhalten
und auf Gegenaggression zu verzichten. Aggressionen aber sind bei unseren
Kindern notwendig, wie wir gesehen haben.
Vor unsere Reaktionen sollten wir also die Frage stellen, warum sich unser Kind
aggressiv verhält, welche Motive es bewegt. Wenn wir an die bisher genannten
Motive aggressiven Verhaltens denken, dann ließe sich sagen: die sind ja alle
verständlich. Streit unter Kindern, „Kämpfle“, die sie miteinander austragen,
Trotz, Frust, Verteidigung oder Nachahmung, das alles lässt sich leicht
nachvollziehen und sollte Eltern und Erzieher nicht beunruhigen. Es sind dies
allenfalls uns störende oder ärgernde Verhaltensweisen aber keine, die uns
signalisieren, dass ein Kind Hilfe braucht. Sogar jene Kinder, die gleichsam von
Natur aus lebhafter sind und stärker nach außen agieren und hierbei aggressiver
oder draufgängerischer sein können als andere Kinder, bewegen sich in einem
Bereich, den wir - sofern wir durch unsere Erziehung dieses Verhalten nicht
verstärken - akzeptieren müssen. Grenzen sind deutlich dort und dann zu ziehen,
wenn aggressive Verhaltensweisen, ob mit Worten, Gesten oder verletzenden und
zerstörerischen Akten „Feindlichkeit“ erkennbar wird. Erich Fromms
Unterscheidung zwischen gutartiger und bösartiger Aggression deutet zugleich auf
die unterschiedlichen Ursachenbereiche und damit auf die verschiedenen
erzieherischen Interventionen. Wenn wir uns davon überzeugt haben, dass die
aggressiven Akte eines Kindes in einer Art „feindlicher“, gegen seine Umwelt oder
gar gegen sich selbst gerichteten Einstellung ihre Ursache haben, dann braucht
dieses Kind - oder ein Erwachsener - Hilfe. Eine „feindliche“ Haltung anderen
Menschen gegenüber beziehungsweise „bösartige“ Aggressionen bilden sich eher
unter bestimmten belasteten Lebenssituationen heraus und können oft nur in
diesem Ursachenzusammenhang erkannt werden. Zu derartigen Situationen
gehört vielleicht eine ungenügende Beachtung kindlicher Grundbedürfnisse, wie
wir sie im ersten Kapitel kennengelernt haben. In einer jüngst veröffentlichten
Studie aus Zürich ist nachgewiesen worden, dass Kinder, die an verkehrsreichen
76
Straßen und in beengten Wohnverhältnissen heranwachsen, aggressiver sind als
jene, die sich draußen in der Nähe ihrer Wohnungen austoben können. „Man kann
einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen, wie mit einer Axt“ hat Heinrich
Zille, der Maler und Zeichner des Berliner Milieus zu Beginn des vorigen
Jahrhunderts einmal gesagt. Eine als feindlich und zerstörerisch erlebte Umwelt
ebnet den Weg in aggressive Grundhaltungen genauso wie materielle Not,
Arbeitslosigkeit oder Beziehungsstörungen.
Persönliche Dispositionen oder Lebensbedingungen, die destruktive Aggressionen
hervorbringen oder verstärken, sind mit Hilfe erzieherischer Reaktionen allein nur
begrenzt beeinflussbar. Da brauchte es heilpädagogischer oder sogar
psychotherapeutischer
Unterstützung
und
eine
Veränderung
der
agrressionsauslösenden Lebensbedingungen. Kindergarten oder Schule zum
Beispiel, wo Aggressionen einzelner Kinder das soziale Umfeld besonders belasten,
können allein die Probleme nicht lösen und dem Kind oder gar dessen Eltern
helfen. Die Einrichtungen der Jugendhilfe, vertreten durch das Jugendamt oder
soziale Dienste freier Träger, können im Bedarfsfalle Hilfen vermitteln. Eine enge
Zusammenarbeit zwischen Kindergarten, Schule, Elternhaus und Jugendhilfe wird
überall dort unverzichtbar sein, wo uns Kinder durch den Charakter ihres
aggressiven Verhaltens zeigen, dass sie in seelischer Not sind.
Handlungsempfehlungen für den Familienalltag, in denen einige der bereits
dargelegten Erkenntnisse noch einmal betont werden, sollen dies Kapitel
abschließen:
1.
Aggressionen nicht mit Gegenaggressionen beantworten.
Zunächst kommt es darauf an, das eigene Verhalten zu überprüfen. Aggressive
Verhaltensweisen von Eltern, Lehrern und Erziehern, sei es untereinander oder
Kindern gegenüber, wirken vorbildhaft und tragen eher zur Verstärkung
aggressiven Verhaltens bei entsprechend disponierten Kindern bei. Es empfiehlt
sich, statt mit Gegenangriffen mit Betroffenheit zu reagieren und nach Motiven
und dem Sinn kindlicher Aggressivität zu fragen.
In Bezug auf das eigene Verhalten in einer aggressionsgeladenen Situation sind
professionelle Fähigkeiten gefordert, die nicht immer vorausgesetzt werden
können. Alle Eltern, Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer
müssen lernen, mit derartigen Situationen umzugehen. Sie sollten zum Beispiel die
Möglichkeiten von Eltern- und Fortbildungsseminaren nutzen, und dort ihr
eigenes Verhalten aus der Distanz heraus bedenken und geeignete Strategien zu
üben. Diese Empfehlung gilt für alle, die noch keine wirksame Strategie im
Umgang mit Aggressionen entwickelt haben.
Interessante Varianten erfolgversprechenden Verhaltens in Konfliktsituationen
bieten zum Beispiel Alex Molnar und Barbara Lindquist (Verhaltensprobleme in
der Schule. Lösungsstrategien für die Praxis. Dortmund 1990) an mit vielen
Beispielen aus Kindergarten und Schule. Es genügt nicht, mit dem Hinweis auf
Extremsituationen - Gewalttätigkeiten gegen Erzieher oder Lehrer - alle
Strategievorschläge als untauglich zurückzuweisen, bevor sie erprobt wurden. Hier
77
befindet sich allerdings ein weites Feld über den Austausch von Eltern
untereinander oder für Beratung und Fortbildung: Sich selbst offen zu halten für
neue Erkenntnisse und neue Wege in der Erziehungspraxis ist eine
Herausforderung für jede/n von uns!
2.
Mit dem aggressiven Kind sprechen - und nicht über es.
Diese Handlungsempfehlung ist vertraut. Bereits Andreas Mehringer hat 1987 in
seiner "Kleinen Heilpädagogik" davon gesprochen, dass es unverzichtbar ist, mit
den jeweils Betroffenen und nicht über sie eingehend zu sprechen. Sobald die
Emotionen abgeklungen sind, sollten wir Eltern uns Zeit nehmen und - vielleicht
am Abend - Gelegenheit schaffen, das Vorgefallene mit dem Kind zu besprechen.
Dann kann man gemeinsam, je nach Vorfall, auch mit den anderen
Familienmitgliedern, nach neuen Wegen Ausschau halten. Feste Absprachen gleichsam Verträge - mit den Kindern zu vereinbaren, ist aber nur sinnvoll, wenn
man Termine setzt, an denen man deren Einhaltung überprüft (Thomas Gordon,
München 1972).
3.
Im Rollenspiel soziales Verhalten probieren.
So kann es durchaus Bestandteil eines Gesprächs zwischen den Beteiligten
und/oder in der Familie sein, das aggressive Verhalten im Rollenspiel
nachzuvollziehen. Wenn ein Kind auf diese Weise die Gelegenheit erhält, selbst zu
erleben, was in den anderen vor sich geht, in dem es ihre Rollen im Spiel
übernimmt, dann sind Auswirkungen auf Verhaltensweisen eher zu erwarten, als
wenn es nur beim Miteinanderreden bleibt. Die Verwendung von Puppen oder
Stofftieren bietet sich hier als eine sehr geeignete Form an auch sprachlich
gehemmtere Kinder zum Mitmachen zu bewegen. Einige von uns wissen aus
eigenem Erleben, dass uns Geschichten, die wir lasen oder die uns vorgelesen
wurden so stark berührten, dass wir sie lange nicht vergaßen. Im Spiel erlebten wir
nach, was wir in Bilderbüchern sahen, wir spielten unsere Helden und
verarbeiteten so, was uns besonders bewegte. Dass diese Verarbeitungsweise auch
bei indirekten Gewalterfahrungen über Fernsehfilme oder Computerspiele üblich
ist, können wir bei unseren Kindern beobachten. Wir dürfen diese Spiele also nicht
in jedem Falle als Training für gewalttätige Verhaltensweisen betrachteten. Kinder
wollen die sie bedrückenden Filmszenen wieder loswerden und verarbeiten sie im
Spiel.
4.
Wiedergutmachen statt strafen.
Gerade wenn mit aggressiven Akten Schädigungen verbunden sind, sei es, dass ein
anderes Kind verletzt wird oder Arbeits- oder Spielmaterialien kaputt gehen, ist es
allemal pädagogisch sinnvoller, mit dem betreffenden Kind/den Kindern einen
Beitrag zur Wiedergutmachung zu vereinbaren, als sie zu bestrafen.
Wiedergutmachung heißt keinesfalls Geld zu bezahlen sondern sollte in
Aktivitäten bestehen, die einen möglichst engen Bezug zu dem Schaden haben, der
angerichtet worden ist. Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass ein Kind, das im
Zorn daheim etwas zerstört, daran beteiligt wird, diesen Gegenstand zu reparieren
78
oder wieder zu beschaffen. Ist die Wiedergutmachung eine Folge aus Gesprächen
und/oder Rollenspiel, also mit Hilfe der Selbsteinsicht des Kindes zustande
gekommen und nicht von Mutter oder Vater aufgezwungen worden, wird sie die
Einsichtsfähigkeit des Kindes stärken.
5.
Etwas schaffen, worauf man stolz sein kann.
Diese Empfehlung spricht den Bereich der Vorbeugung an. Folgt man den
Erkenntnissen von Erich Fromm, dann sind Aggressionen nicht zuletzt eine Folge
unbefriedigender Lebensumstände. Zu den Elementen eines menschenwürdigen
Daseins also den existenziellen Bedürfnissen gehört "Wirkmächtigkeit". Wir
sprechen von "Kreativität", "schöpferischem Wirken" u. ä. Nicht zuletzt haben
fremdbestimmte Aktivitäten erheblich frustrierende und damit nicht selten
aggressionsauslösende Wirkungen. Die Folge dieser Erkenntnis liegt auf der Hand:
wir haben unseren Kindern reichlich Möglichkeiten zu "Wirkmächtigkeit" zu
geben. In der Praxis ist das eigentlich gar kein Problem: Bereits kleine Kinder
schaffen gern. Wir haben in den Kapiteln über die Bedürfnisse unter den
Stichworten „Anerkennung“ und „Förderung“ oder denen über das Lernen
bestätigt gefunden, dass Schöpferkraft und Einsatzfreude davon abhängen, wie
weit wir Eltern bereit und in der Lage sind, unsere Kinder entsprechend zu
ermuntern. Je jünger sie sind, umso wichtiger ist es ihnen, dass wir mit ihnen
spielen, basteln, etwas gemeinsam unternehmen. Von herausragender Bedeutung
sind in diesem Zusammenhang alle sportlichen und musischen Aktivitäten.
Selbstvertrauen und Selbstwertgefühle wachsen in dem Ausmaß, in dem Kinder
ihre Fähigkeiten bzw. Talente in diesen Bereichen einsetzen können und gefördert
werden.
6.
Über die eigene pädagogische Praxis nachdenken.
Denken wir an das Schema zurück, in dem die gegenseitigen Beziehungen
zwischen den Mitgliedern einer Familie dargestellt und damit die Bedeutung
übereinstimmender Verhaltensweisen von Eltern verdeutlicht wurde. Die
Entwicklung unserer Kinder ist ein wechselseitiger Vorgang. Darum haben wir uns
stets zuerst selbst zu prüfen, wo unsere eigenen Anteile an Aggressivität
fördernden Bedingungen liegen könnten. Alle Veränderungen beginnen
zweckmäßiger Weise bei uns selbst. Schauen wir also in den Spiegel und fragen
uns, wieweit wir Ursache oder Auslöser aggressiver Verhaltensweisen unserer
Kinder sein könnten. Wir müssen Grenzen setzen, so haben wir es in anderen
Zusammenhängen kennengelernt. Gegen Grenzen rennen unsere Kinder an. Das
ist sozusagen ganz natürlich. Und wenn die Kinder gegen uns anrennen, dann
erleben wir das als Aggression. Vielleicht schmeißt unser zorniges Kind, von dem
wir gerade verlangt haben, dass es sein Zimmer aufräumen soll, einen Gegenstand
so heftig gegen die Wand, dass er zerbricht. Diese natürlichen Aggressionen, deren
Ursachen nicht selten auch außerhalb der Familie gefunden werden können,
lassen sich nicht immer vermeiden. Sie sind, je nach Temperament eines Kindes,
mal mehr mal weniger heftig und häufig. Unsere Kinder brauchen dieses Ventil -
79
und wir antworten angemessen. Eine hochwirksame Antwort ist es, die Kinder die
Folgen ihrer Verhaltensweisen selbst erleben zu lassen.
Reagieren wir aber unsererseits auf die hier gemeinten natürlichen aggressiven
Verhaltensweisen unserer Kinder mit Aggression oder gar Gewalt, dann ändern
wir nichts, sondern verschärfen die Situation für alle Beteiligten.
Wir werden uns sogleich am Beispiel von Zank und Streit unter Kindern damit
noch einmal etwas näher damit befassen.
Zank und Streit unter Kindern
Der achtjährige Klaus kommt weinend aus der Schule nach Hause.
„Mama, der Karl hat mich gehauen...“
Mama beugt sich zu ihm: „Zeig mal, wo hat er dich denn gehauen“ und sie
tröstet ihren Jungen, indem sie ihn in den Arm nimmt.
Eigentlich reicht das in den meisten Fällen. Vor allem dann, wenn wir Eltern
wissen, dass der Klassenkamerad und Nachbar ein von Klaus gern gesehener
Spielgefährte ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Klaus wieder einmal ruft: „Nie
mehr spiele ich mit ihm! Nie, nie mehr!“ Seitdem wir Nachbarn sind, geht das nun
schon so. Meistens spielen sie schön zusammen und vertragen sich auch gut.
Manchmal gibt es Streit. Und weil sich beide Eltern aus dem Streit ihrer Kinder
heraushalten und wissen, dass wir die Ursachen eines Konflikts nachträglich
ohnehin nicht mehr herausfinden können und sowieso beide ihren Teil dazu
beigetragen haben, ist es müßig, sich aufzuregen, möglicherweise der Sache auf
den Grund gehen zu wollen und sogar selbst noch zu schimpfen und zu klagen.
Zunächst also gilt in derartigen Situationen: trösten, ruhig bleiben und abwarten.
Kinder können ihre Zwistigkeiten ganz gut selbst beheben.
Etwas anders sieht es aus, wenn Karl kein Freund von Klaus ist. Vielleicht ist der
Junge noch gar nicht lange in unsere Straße gezogen oder in das Haus, in dem wir
wohnen. Wir Eltern wissen also noch wenig von dem Jungen.
In derartigen Fällen verhalten wir uns zunächst ähnlich, wie im ersten Beispiel
beschrieben. Zugleich versuchen wir bei unserem Kind etwas mehr von Klaus zu
erfahren: in welche Klasse geht er denn; ist er größer und stärker; vor allem aber
wird es uns darum gehen, herauszufinden, ob unser Klaus Angst hat vor dem
anderen Jungen. Selbst wenn unser Junge es nicht zugeben möchte: manchmal
erfahren wir von seinen Ängsten, weil er von nun an zu vermeiden sucht, mit dem
gefürchteten Buben zusammenzutreffen. Wenn unser Kind aber tatsächlich Angst
hat, dann müssen wir etwas tun. Aber was? Da ist guter Rat teuer.
80
Grundsätzlich gilt: alles, was meinem Kind hilft, aus seiner Angst
herauszukommen und auch dem anderen Kind keine Angst macht, ist nützlich.
Wie ging die Geschichte nun weiter?
Die Mutter von Klaus hielt es für das Beste, die Familie von Karl zu besuchen.
Mit ihrem Klaus klingelte sie an der Wohnungstür, nachdem sie sich vorher
vergewissert hatte, dass auch die Mutter von Karl daheim war. „Guten Tag,
sagte sie, „ich bin die Mutter von Klaus. Bitte entschuldigen sie die Störung! Ich
möchte gern sie und Karl kennen lernen, weil unser Klaus Angst hat vor Karl
und das finde ich schade.“ Freundlich-sachlich und ohne vorwurfsvollen Ton
wurden mit diesen wenigen Worten Anliegen und eigene Position vorgetragen.
Die Mutter von Karl spürte zuerst etwas wie Abwehr (hier will jemand mein
Kind angreifen / ihm etwas am Zeuge flicken). Aber sie bat die beiden herein
und rief nach Karl, der gerade an seinen Hausaufgaben saß. Etwas erstaunt,
verwirrt und ein bisschen verlegen wurde er, als er die beiden Besucher sah.
Auch Klaus hat die Situation zunächst nicht behagt. Bevor Karls Mutter ihren
Sohn befragen konnte, hatte die Mutter von Klaus die Situation insofern
entspannt, als sie Karl freundlich begrüßte und ihm das gleiche sagte: „Ich
finde es schade, dass ihr euch auf dem Schulweg gestritten habt. Ich wollte dich
gern kennen lernen.“ Beide Buben wussten nicht, was sie nun sagen, wie sie
sich verhalten sollten. Karls Mutter bat Ihre Gäste, sich zu setzen und hielt sich
mit Bemerkungen zurück. Weder suchte sie, ihren Sohn zu verteidigen noch
forderte sie von ihm Rechenschaft. Da die Besucherin das ganze Thema
offensichtlich fallen ließ und das Gespräch mit der Frage eröffnete, woher sie
denn zugezogen seien, konnten die beiden Frauen zunächst einmal über ein
neutrales Thema miteinander reden.
Nach wenigen Sätzen, die Buben hatten verlegen aneinander vorbeigesehen
und sich nur verstohlen den einen oder anderen Blick zugeworfen, forderte die
Mutter von Karl ihren Jungen auf, Klaus sein neues Spielzeug zu zeigen.
Tatsächlich gingen beide Jungen aus dem Zimmer. Keiner brauchte Angst zu
haben, dass die Mütter über sie zu Gericht sitzen würden. Was die Buben taten
und sprachen, wissen wir nicht. Die Mütter aber redeten noch ein bisschen
miteinander über Wohnung und Teuerung. Natürlich sprachen sie auch über
ihre Kinder - aber eher allgemein: „es ist nicht einfach mit den Buben... es hat
gar keinen Zweck, nach Gründen für Streitigkeiten zu fragen oder sich
einzumischen ... ja, meine beiden (es gab also Geschwister) streiten sich immer
wieder, weil sie Angst haben, sie kämen zu kurz ...“. Nach einer halben Stunde
verabschiedete sich die Mutter von Klaus wieder, bedankte sich dafür, dass sie
angehört worden ist und bat abschließend darum, Karl nun keine Vorwürfe zu
machen. Ihr Anliegen war es, ihre und ihres Kindes Sorgen mitzuteilen in der
Hoffnung, dass, wenn sich alle Beteiligten erst kennen gelernt haben, derartige
Konflikte nachlassen. Die Buben wurden gerufen. Klaus und seine Mutter
verabschiedeten sich, ohne den Anlass ihres Besuches noch einmal zu
erwähnen und gingen.
81
Klaus hatte seitdem keine Angst mehr vor Karl und Karl gab ihm auch gar
keinen Grund mehr dazu.
Ein interessantes Beispiel, das uns Mut macht - wenn wir den Mut haben und so
handeln, wie die Mutter von Klaus. Auch die Mutter von Karl blieb gelassen und
wusste sehr gut, dass Vorwürfe oder gar Schimpfen oder Strafen gar nichts
verändern. Im Gegenteil: hätte sie Karl für sein Fehlverhalten bestraft, hätte dieser
einen Grund gehabt, sich an Klaus für diese Demütigung zu „rächen“. So erhielten
sie die Chance, ohne Gesichtsverlust, einander näher zu kommen.
Erfolgversprechend sind derartige Verhaltensweisen dann, wenn es den Müttern
und Vätern der verängstigten Kinder gelingt, ohne Zorn und in freundlicher
Gelassenheit auf die Eltern jenes Kindes zuzugehen, das durch sein Verhalten, die
Angst verursachte. Da wir nicht wissen können, ob das Kind überhaupt gemerkt
hat, was es mit seinen Attacken angerichtet hat, ist es auch sinnlos, mit Vorwürfen
zu kommen. Es ist eine alte Erfahrung, dass es Menschen schwerer fällt
gegeneinander loszugehen, die sich näher kennen gelernt haben und davon
überzeugt sind, dass die anderen einem nichts tun wollen. Darum war die
Entscheidung von der Mutter von Klaus richtig, bevor sie sich beschwert, erst
einmal das Kind und die Familie kennen zu lernen. Bekanntheit schafft Nähe und
Nähe kann hilfreich sein.
Geschwister streiten gern miteinander
Geschwister streiten besonders häufig. Der Grund liegt auf der Hand und ist für
alle,
die
selbst
Geschwister
haben,
leicht
nachvollziehbar:
Die
Geschwistereifersucht, auf deren Normalität u. a. Wolfgang Endres (Weinheim
4/1994, S. 106) hingewiesen hat, ist allgemein verbreitet. Allerdings finden wir die
darauf zurückzuführenden Symptome nicht nur bei Geschwistern. Auch Kinder in
Kindergruppen in Kindergarten, Schule oder Heim neigen dazu, eifersüchtig
darüber zu wachen, dass alle das „gleiche“ bekommen, niemand sich bei
gemeinsamen Mahlzeiten ein größeres Stück nimmt, als man selbst es hat. Ich
denke da zum Beispiel an den Nachtisch am Familientisch. In der Küche wurden
die Portionen abgefüllt. Kommt dann das Tablett mit den Schüsselchen auf den
Tisch, misst jedes Kind - zumindest mit den Augen - ob auch überall gleich viel
drin ist. Unsere Geschwister daheim halten sogar Schokoladenriegel
nebeneinander und prüfen, ob auch wirklich jeder ein gleich langes Stück
bekommen hat. Sogar bei Erwachsenen kann man derartige, im Grunde
ichbezogene Verhaltensweisen beobachten. Bei Familie Ypsilon war es der Vater,
der für sich das größte oder das beste Stück Fleisch, Kuchen u.a.m. beanspruchte.
Er hatte es so von seinem Vater gelernt. Und außerdem war er der jüngste von drei
Geschwistern. In der Entwicklungspsychologie spricht zum Beispiel Anton
Busemann vom Entwicklungsimpuls „Rivalität“, das ist für Luitgard Brem Gräser
„der Kampf um das Oben sein“ 18.
82
Die natürliche soziale Umwelt des Kindes ist zunächst die Familie, vor allem die
Geschwisterschar. In ihr muss das Kind seinen Platz verteidigen, der ihm durch
die Altersrangfolge zugeschrieben ist. Dies ist die Vorschule aller späteren
Selbstbehauptung in der sozialen Ebene, sie prägt den sozialen Charakter meist bis
ans Lebensende. Ob man mit jener Selbstverständlichkeit Geltung beansprucht, an
die man sich als Ältester in der Geschwisterschar gewöhnte, ob man ewig
selbstunsicher und auf kämpferische Durchsetzung bedacht bleibt, weil man ein
mittleres Kind war, oder ob man immer fremde Hilfe und ein Gegängelt-werden
erwartet, weil man Letztkind war, das lässt sich oft noch am Erwachsenen
eindeutig ablesen. Der Platz in der Geschwisterreihe wirkt sich also aus. Jedes
Kind fühlt sich durch ein nachfolgendes Geschwisterchen aus seinen Rechten
verdrängt und reagiert darauf mit Eifersucht beziehungsweise mit Ängsten (vgl.
weiter dazu unten, S. 95 f.) die sich jedoch nicht immer in Aggressionen gegen den
Eindringling äußern muss. Es gibt Kinder, die fallen in bereits überwundene
frühkindliche Verhaltensweisen zurück, wenn sie wieder am Daumen lutschen,
einnässen oder unruhiger und widersetzlicher werden. Wenn dann noch die Eltern
die Situation missverstehen und das Kind bestrafen, dann fühlt es sich bestätigt in
seiner Vermutung, dass das neue Kind ihm die Liebe von den Eltern
weggenommen hat. Wenn ein Kind befürchtet, die Liebe und die Beachtung seiner
Eltern zu verlieren, dann wird es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln
um elterliche Zuwendung kämpfen. Und wenn das nicht durch Wohlverhalten
geht, dann eben im Bösen. Aggressivität und Zerstörungswut haben nicht selten
darin ihre Ursachen. Und wenn die Mutter hundertmal sagt: „Ich habe dich genau
so lieb, wie deine Schwester, deinen Bruder...“, reden nützt nicht viel. Beweise
braucht das Kind.
Erstgeborene sind im Allgemeinen eifersüchtiger als Zweitgeborene und in einer
Familie mit zwei Kindern kann die Situation in dieser Beziehung zeitweise
ungünstiger sein, als in einer mit drei oder mehr Kindern. Das mittlere von drei
Kindern freilich kann durchaus Mühe haben, ebenso viel Beachtung zu finden, wie
das älteste oder das jüngste Kind.
Im Umgang mit Geschwistern, hier bezogen auf die Situation nach der Geburt
eines Geschwisterchens, sind Eltern besonders gefordert. In dieser Phase können
wir recht wirkungsvoll die Beziehungen zwischen den Geschwistern positiv
beeinflussen, wenn wir einige Hinweise beachten:
1.
Auf Vergleiche verzichten:
„Sieh mal, wie brav der Kleine ist; nehme dir daran ein Beispiel“
„Selbst das Baby isst/trinkt alles auf/aus; das wirst Du doch auch können“
Wenn wir uns darum bemühen, das ältere Kind und eventuell später die älteren
Kinder, mit dem jüngeren nicht zu vergleichen, kommen die älteren besser mit
dem Jüngsten zurecht.
2.
Bei Bestrafungen doppelt zurückhaltend sein!
83
Alle Kinder empfinden Bestrafungen als Liebesentzug oder ein Signal dafür: „Die
Eltern mögen mich nicht“. Bestrafungen in kritischen Phasen, zu denen zweifellos
die Konkurrenzsituation durch Neugeborene zählt, bestärken die Vorstellung
älterer Kinder, weniger geliebt zu sein als die jüngeren. Wenn sie sich dann gegen
die Eltern nicht wehren können, kriegen es „die Kleinen“ ab. Dieser Zank und
Streit ruft die Eltern wieder auf den Plan: „Lass den Kleinen in Ruhe, sonst...!“
Diesen Konfliktkreis können nur die Erwachsenen durchbrechen, in dem sie in
solchen Situationen zum Beispiel ihre (n) „Großen“ in den Arm nehmen..
3.
Die direkte Beschäftigung mit dem Baby fördern!
Eifersucht wird geschürt, wenn wir das ältere Kind vom Baby oder von dem
jüngeren Kind fernhalten. Ermahnungen oder Gebote wie: „Nicht anfassen! Jetzt
nicht stören! Nun lass doch endlich das Kind in Ruhe!“ eignen sich nicht dazu,
beide Kinder aneinander zu gewöhnen. Nicht mit Anna zum Beispiel über Stefan
reden, sondern Anna ermuntern selbst mit Stefan zu reden. Wir tun das ja auch,
obwohl wir wissen, dass der Säugling noch nicht antworten kann.
4.
Der Vater wird besonders wichtig.
Ist ein zweites Kind geboren, kann der Vater sich stärker dem Erstgeborenen
widmen und auf diese Weise den Zuwendungsverlust durch die Mutter etwas
ausgleichen. Der Vater braucht sich gar nicht sehr um seine Älteste/seinen
Ältesten zu bemühen. Sie/er kommt von ganz alleine und stellt seine Ansprüche.
Darauf sollten die Väter vorbereitet sein und sich einlassen wollen.
5.
Wir wollen uns um relative Gleichbehandlung bemühen!
Natürlich können wir Eltern von älteren Kindern mehr erwarten als von Jüngeren.
Wandeln sich unsere Erwartungen aber in Forderungen um, die bei Nichtbefolgen
bestraft werden, dann müssen wir uns auf erhebliche Auseinandersetzungen
einstellen.
Das geht schon los mit dem „Trocken-sein“. Fällt nach der Geburt des Jüngsten ein
älteres Kind zurück in Baby-Gewohnheiten, dann ist das ein ganz verständliches
Signal - aber kein Trotz. Es will uns nicht ärgern, sondern appelliert an uns:
behaltet mich lieb, kümmert Euch um mich!
Bekommt es deswegen Ärger, wird von uns ausgelacht oder sonst wie herabgesetzt,
fühlt es sich ungerecht behandelt.
Später will es vielleicht das Geschirr nicht abtrocknen oder sauber machen helfen,
weil ja das Geschwisterchen das auch nicht tun braucht.
Eine hohe Sensibilität ist also von uns gefordert. Dennoch lassen sich viele in der
Geschwisterrivalität begründete Konflikte, nicht vermeiden. Wir müssen uns
damit abfinden und sie aushalten. Nur wenn wir die Nerven behalten, ruhig und
bestimmt die Unterschiede leben und vertreten, die nun einmal
84
entwicklungsbedingt vorhanden sind, lernen die Geschwister mit den Jahren, dies
auch zu akzeptieren.
Bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Problematik im Familienalltag ist also
zunächst noch einmal darauf hinzuweisen, dass Eifersucht unter Geschwistern,
genauso wie Rivalität unter Kindern überhaupt, normal ist. Für das Einzelkind tritt
unter Umständen ein Elternteil an die Stelle eines fehlenden Geschwisterchens.
Eltern, die wissen, dass Eifersucht mit all ihren Folgen normal ist, stellen sich
darauf ein und betrachten eventuell auftretende Verhaltensänderungen ihres
älteren Kindes nicht als gegen sich gerichtet.
Außerdem gilt auch hier alles, was für den Umgang mit Aggressivität und Gewalt
gültig ist: Ruhe, Gelassenheit und Neutralität sind immer noch besser, als sich bei
jeder Gelegenheit einzumischen. Auch eine gemeinsame Festlegung von Regeln
und Pflichten des Zusammenlebens unter Beachtung der unterschiedlichen Alter
hat sich bewährt. Sobald wir Erwachsene uns am Geschwisterstreit beteiligen, wird
es Sieger und Verlierer unter den Geschwistern geben. Und dies wäre keine
Lösung, sondern nur die Wurzel neuer Konflikte. Vertrauen wir unseren Kindern,
dass sie ihre Probleme, die sie miteinander haben auch selber lösen können19. Es
ist zwar leichter gesagt als getan: „Behalte immer die Nerven!“ Nur, wenn wir sie
verlieren und dazwischenfahren, schimpfen, drohen oder gar schlagen, dann ist
das unser Problem. Verwechseln wir also nicht Ursache und Wirkung. Wenn
Kinder sich streiten, so lautet unsere Erkenntnis, dann ist das normal. Wenn wir
uns darüber aufregen, dann ist das eine Angelegenheit unserer eigenen nervlichen
Belastbarkeit in dieser Situation.
Im Vorschulalter macht uns der kindliche Trotz zu schaffen
Auch dieser Abschnitt soll mit einem Erlebnis begonnen werden, über das ein
Elternpaar berichtete.
An einem verkaufsoffenen Samstagnachmittag im August überquerte
Familie Müller, so berichteten sie, mit ihrer zweieinhalbjährigen Eva im
Zentrum der Stadt die Kaiserstraße am Bertholdsbrunnen, als sie sich
plötzlich weigerte, weiterzugehen. „Den Grund haben wir vergessen, nicht
aber das laute Geschrei des Kindes, die teils empörten, teils belustigten
Blicke der Passanten, die zu dieser Zeit in großer Zahl auf der Straße waren.
Natürlich bemühten wir uns zunächst, unser Kind zu bewegen, mit uns
mitzukommen. Je mehr wir uns aber um sie bemühten, umso lauter schrie
sie. Ihr Kopf und unsere Köpfe wurden immer röter. Evas Gesicht aber
färbte der Trotz - unsere Gesichter ein Gefühlsgemisch von Peinlichkeit,
Scham, Hilflosigkeit und aufkommender Wut. Was tun?
Ohne darüber erst groß zu diskutieren, einigten die beiden Eltern Müller
sich kurz, einfach weiterzugehen und das schreiende Kind stehen zu lassen.
Sie erklärten ihr in das brüllende Gesicht hinein, wenn sie gern schreien und
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stehen bleiben wolle, dann möge sie hier am Brunnen warten. Nicht ganz
freiwillig ließ sie die Hand los, an der sie ihren Vater festzuhalten suchte
und die Eltern strebten eilig hinüber unter die Arkaden. Dort, wo Herr K.
von seinem Rollstuhl aus jahraus jahrein Heftle verkauft, blieben sie hinter
einer Säule stehen, schauten zurück und beobachteten sie. Das Kind war
nicht stehen geblieben, sondern ihnen langsam nachgekommen. Sehen
konnte sie uns nicht mehr, wegen der Säule und der vielen Menschen, die
vorbeiströmten. Das Schreien war in Weinen übergegangen und Tränen
liefen ihr die Backen herunter. Was hat den Eltern in diesem Moment ihr
Kind leidgetan! Sie aber hielten sich noch zurück und gingen ihr nicht
entgegen. Stattdessen traten sie hinter der Säule hervor, so dass sie die
Eltern sehen konnte und warteten. Als sie sie erblickte - seit ihrem
Entschluss einfach weiterzugehen waren inzwischen keine drei Minuten
vergangen - lief sie rasch die paar Schritte zu ihnen hin und verbarg ihr
Gesicht im Kleid der Mutter und schluchzte erbärmlich. Die drei gingen
gemeinsam weiter und verloren über den Zwischenfall kein Wort mehr;
weder an diesem Tag noch an einem anderen. Eine solche Szene hat sich
dann auch nicht wiederholt. Jedenfalls nicht auf offener Straße.
Bevor wir uns der Überlegung zuwenden, ob denn das immer so klappt, wie bei
diesem Beispiel und wir es verantworten können, ein Kind einfach stehen zu lassen
mitten im Großstadtgewühl, schauen wir erst einmal auf die Lebenssituation eines
Kindes in diesem Alter. Die Kenntnis von Lebenssituationen - also die Antwort auf
die Frage, was für ein Kind in diesem Alter entwicklungstypisch ist - ist eine
wichtige Voraussetzung für unser erzieherisches Verhalten.
Eva reagierte, das konnte jeder Ohren- und Augenzeuge unschwer feststellen,
trotzig. Mit Trotz bezeichneten bereits unsere Großeltern und deren Großeltern
jenes Verhalten ihrer Kinder, bei dem die Kinder nicht das tun wollten, was die
Eltern erwarteten und ihre Weigerung durch schreien, schimpfen, mit den Füßen
auf den Boden stampfen, das Spielzeug an die Wand werfen oder gar an den
eigenen und den Kleidern der Eltern herumreißen, unterstrichen. Heinz Remplein,
ein Psychologe, beschrieb den Trotz als die Sperre eines Kindes gegen fremden
Willen (1965, S. 247). „Es sperrt sich“, sagen auch wir, wenn unser Kind nicht so
will, wie wir wollen oder etwas unbedingt haben oder erreichen will – ertrotzen -,
was wir ihm verwehren.
Woher kommt aber nun plötzlich dieser Trotz? Unser Kind war doch bisher relativ
pflegeleicht und machte uns mehr Freude als Kummer?
Nun, einiges hat sich schon verändert. Ein Kind wird größer, entwickelt sich weiter
und ist längst kein Baby mehr. Mit zweieinhalb Jahren ist die Sprache häufig
soweit herausgebildet, dass sich unser Kind gut verständlich machen kann. Doch
noch sagte zum Beispiel Eva „Eva“, wenn sie von sich sprach. Eines Tages aber und das lag vor dem Auftritt in Freiburg gar nicht solange zurück - da sagte sie
nicht mehr: „Mama, Eva möchte auch trinken“. Stattdessen sagte sie: „Ich möchte
trinken!“ Eva hat zum ersten Mal „ich“ gesagt. Eigentlich gehört dieser Moment
86
festgehalten. Wir müssten ihn rot im Kalender eintragen. Es ist das für uns
erkennbare Zeichen, dass sich unser Kind als eine eigenständige Persönlichkeit
entdeckt hat!
Doch meistens merken wir Eltern das gar nicht. Unauffällig gleitet für uns das
Kind von der dritten Person in die erste; von „Eva will, hat, kann...“ zu „ich will,
habe, kann...“. Auffällig und nicht mehr zu übersehen aber wird dieser Prozess
dann, wenn wir spüren, dass mit der Entdeckung des „Ich“ zugleich der eigene
Wille entsteht. Die Entwicklung des Ich - Bewusstseins bedeutet eine Trennung
des Kindes von der Mutter. Es erlebte sich bis zu dieser Zeit sozusagen als Teil der
anderen Menschen um sich herum, insbesondere der Mutter. Unschwer ist das an
der Tatsache nachzuweisen, dass es sich ja genauso ansprach, wie die anderen es
taten: mit dem Namen. Obwohl unser Kind das Wort „ich“ längst kannte, weil wir
Erwachsenen ja auch nicht ständig zu dem Kind sagen: „Gib Mama das...“ sondern
„Gib mir das...“, war es erst in der Lage, dieses Wort auf sich selbst anzuwenden,
als es begriff, dass es „selbst-ich“ war. Nun erst kann sich unser Kind als Zentrum
eigenen Erlebens begreifen: mir tut etwas weh, ich freue mich, ich bin traurig aber
auch: ich will etwas...
Der Psychoanalytiker Siegmund Freud ging von der Annahme aus, dass diese
Erkenntnis, die ein Kind gleichsam von der Mutter löst, recht schmerzlich für ein
Kind sei und es darum besonders empfindlich reagiert. Diese Empfindlichkeit
wäre aber umso geringer, je mehr das Kind in seinem Leben bisher erfahren hat,
dass die Mutter es liebe und berge und immer da war, wenn es sie brauchte, so
dass das Kind keine Verlassenheitsängste entwickelte.
Und noch eine Einsicht gehört hierher. Rudolf Dreikurs (z. B.: Freiburg 11/1994, S.
17), hat in seinen Forschungen nachgewiesen und wie das bereits erwähnt wurde,
dass jeder Mensch danach strebt, in einer sozialen Gruppe, also zum Beispiel in
der Familie, geborgen zu sein, angenommen zu sein, etwas zu gelten, Macht und
Einfluss zu haben. Mit diesem Streben nach Geltung, Einfluss und Macht lassen
sich recht gut die uns provozierenden, gleichsam einen „Machtkampf“
herausfordernden Verhaltensweisen unseres Kindes deuten. Ulrich Diekmeyer
(Hamburg 1992, S. 108 ff) hat eine weitere Erklärung gefunden. Er schreibt, dass
unser Kind eigentlich schon immer trotzig war und zum Beispiel bereits als
Säugling krebsrot wurde und aus Leibeskräften schrie, wenn es sich unbehaglich
fühlte. Nur war – und das deuteten ja bereits das Beispiel oben (S. 63) bereits an in den früheren Entwicklungsphasen das Bewusstsein noch nicht beteiligt und wir
Eltern haben dieses Verhalten noch nicht als Trotz empfunden. Erst in dem Maße,
in dem wir selbst auf die Wünsche des Kindes achteten, ihm zuhörten, wenn es uns
sagte, was es will oder was es nicht will, lernte unser Kind zu versuchen, uns
gegenüber seinen Willen durchzusetzen.
In dieser Zeit, in der sich in unseren Kindern dieser Wandel vollzieht, beginnt die
Herausbildung des Gewissens: Nun erst wird unser Kind begreifen lernen, was Gut
und Böse ist, wenn es über die Begegnung mit den Eltern und anderen Menschen
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erfährt, wann es mit seinem Tun und Lassen auf Anerkennung oder Ablehnung
stößt. Es ist dem Kind so nicht bewusst, aber es erkundet seine Grenzen und fragt
uns gleichsam durch sein Verhalten: „Wieweit kann ich gehen? Was darf ich? Was
darf ich nicht?“ Und unser Kind will und braucht auf alle seine Fragen, die es über
sein Verhalten an uns richtet, eine klärende normsetzende Antwort!
Eine andere Erfahrung illustriert, wie derartige Antworten aussehen und was sich
hinter unserem Elternverhalten für Motive verbergen können.
Hans, ein stolzer Vater einer fast dreijährigen Tochter, bekam kürzlich beinahe
Streit mit seiner Frau. Er hatte mit der Tochter auf der Terrasse gespielt. 17,30
Uhr aber - so ist es in dieser Familie an arbeitsfreien Tagen üblich - bereiten
sich alle aufs Abendessen vor. Bisher hat das auch stets geklappt und Karla ist
brav mit ins Bad gegangen, um sich die Hände zu waschen und ist dann auf
ihr Stühlchen am Esstisch geklettert. Doch an diesem Abend wollte Karla nicht
mit hinein. Sie weigerte sich, wollte weiterspielen und auf alles Zureden
antwortete sie mit zornigem und immer lauter werdendem Gebrüll. Hans, der
an Karla herumzerrte und sie reinziehen wollte, hätte seiner Tochter eine
kräftige Ohrfeige gegeben, wenn seine Frau nicht hinzugekommen wäre: „So
geht das nicht“, sagte sie. „Lass das Kind dort stehen und komme rein! Wir
essen.“ Und so geschah es auch. Nachdem die Mutter dem Kind in aller Ruhe
und Gelassenheit und ohne jede Ironie in der Stimme erklärt hatte, dass es nur
draußen bleiben und weiterschreien solle, hörte das Gebrüll rasch auf als
Karla tatsächlich draußen auf der Terrasse alleine stand und durchs Fenster
sah, wie die Eltern ohne sie anfingen, zu essen. Bald darauf kam das Kind,
ging sich die Hände waschen und kletterte auf sein Stühlchen und alles war
vorbei. Auf dem Gesicht des Kindes schien wieder die Sonne.
Eine Antwort haben sowohl Eva als auch Karla erhalten, als sie erfuhren, dass der
von ihnen lauthals demonstrierte Durchsetzungswille nicht die erwünschten
Folgen hatte. Beide Kinder vermochten es nicht, den Eltern ihren Willen
aufzuzwingen. Hans erklärte in einem anschließenden Gespräch, dass er dem Kind
einen „Klaps“ gegeben hätte, weil es doch nicht sein dürfe, dass ein Kind seinem
Vater vorschreibe, was er tun oder lassen solle oder gar, dass es selbst machen
könne, was es wolle. „Das wird ja total verzogen, wenn man es nicht frühzeitig
spüren lässt, dass es so nicht geht. Und außerdem, setzte er hinzu, wäre es ja noch
schöner, wenn das Kind dem Vater seinen Willen aufzwänge.
Und genau mit dieser Bemerkung zeigt der Vater sein wahres Gesicht. Es ging
unserem Vater Hans nicht allein um die Sorge, dass sein Kind verzogen werden
könnte. Ihm ging es auch um die „Machtfrage“. Ohne dass er es in dem Moment so
gedacht hatte, wollte er seinem Kind seinen Willen aufzwingen. Es ging ihm dabei
gar nicht allein, vielleicht nicht einmal in erster Linie, um sein Kind, sondern um
seine Rolle als Vater und Hausherr. Der hat zu bestimmen, wo es lang geht - allein
darum, weil er zu bestimmen hat und allein weiß, was gut und richtig ist.
Das Kind wollte erfahren, was es darf und was nicht. Wenn die Antwort aber heißt,
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du darfst keinen eigenen Willen haben – nur ich entscheide, weil ich dein Vater /
deine Mutter bin! Und wenn du dich nicht fügst, dann werde ich dich zwingen!“ dann wird die kleine Karla sich am Ende fügen, weil und solange sie tatsächlich
kleiner und schwächer ist. Sie wird aber nicht verstehen und schon gar nicht
einsehen können, dass es um sie selbst und darum geht, ihr zu helfen, frühzeitig zu
lernen, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Und ein Gefühl der
Niederlage, der Ohnmacht wird sich in das Kind einschleichen. Wenn die Eltern
sich stets in dieser Art und Weise durchsetzen, wird es sich anpassen - weil es
Angst hat vor Strafe, Gewalt und Liebesentzug - sich aber als Persönlichkeit
abgelehnt fühlen. Und immer wieder aufs Neue wird das Kind eine derartige
Situation, in der es um Sieg oder Niederlage geht, heraufbeschwören und die Liebe
seiner Eltern auf die Probe stellen. Im schlimmsten Falle kommt am Ende ein
Duckmäuser oder ein Gewalttäter dabei heraus.
So wie dem Vater in unserem Beispiel ging es, folgen wir Dreikurs, auch der
kleinen Karla um ihren Einfluss, ihre Macht. Wenn sich aber Mütter und Väter auf
diesen Machtkampf einlassen, müssen sie nicht immer - um den Preis der Gefahr
einer Fehlentwicklung des Kindes - einen Sieg erringen. Wenn ein Kind erlebt hat,
dass es mit Hilfe seines Trotzes oder anderer, die elterliche Aufmerksamkeit
herausfordernder Verhaltensweisen Beachtung und Zuwendung erfährt, wird es
diese seine „Macht“ über die Eltern, immer wieder einsetzen.
Es geht aber dem Kind nicht darum, sich seine Eltern zum Feinde zu machen.
„Eltern und Kinder - Freunde oder Feinde?“ fragen Rudolf Dreikurs und Erik
Blumenthal im Titel eines Buches (Stuttgart 1973) ; denn es ist keineswegs
selbstverständlich, dass Kinder ihre Eltern lieb behalten. Wenn Eltern den eigenen
Willen ihres Kindes brechen wollen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn
sich Aggressivität und Gewalt ihrer Kinder am Ende gegen sie selber richtet. Das
aber will das Kind gerade nicht! Es will - und hat einen Anspruch darauf, so hieß es
bereits oben, von seinen Eltern eine Antwort zu erhalten auf die Fragen:
Wieweit darf/kann ich gehen?
Was darf/kann ich den anderen zumuten?
Wo sind meine Grenzen?
Es kommt also darauf an, unserem Kind in einer derartig kritischen Situation in
der richtigen Art und Weise zu antworten. Was aber ist richtig?
Schieben wir vor die Antwort auf diese Frage noch einige Informationen: Wenn
wir das von uns als trotzig empfundene Verhalten unseres Kindes gleichsam als
„Auskunftsverhalten“ auffassen müssen, dann ist damit bereits geklärt, dass uns
unser Kind nicht ärgern will. Es verweigert sich also nicht oder versucht seinen
Willen durchzusetzen, damit wir dann zornig werden. Auf diesen Gedanken
kommt unser Kind zunächst gar nicht!
Natürlich - und dieser Impuls ist unserem Kind ebenso wenig bewusst, wie jener,
den wir als „Wunsch nach einer klärenden Antwort“ kennen gelernt haben - ist
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dem Kind in dieser Phase zeitweilig sehr unbequem, sich den Wünschen und
Vorstellungen der Erwachsenen oder der älteren Geschwister fügen zu müssen. Es
hat ja begonnen, sich von der Mutter zu lösen. Also möchte es sich auch gern aus
jeder „Fremdbestimmung“ lösen. Wenn wir das, was in dem Kind vorgeht, in
unsere Erwachsenensprache übersetzen, dann müssten wir sagen: das Kind lehnt
sich auf gegen jeden fremden Willen; es möchte selbst über sich bestimmen.
Insofern lebt es also in einem Widerspruch: Einerseits braucht es Gewissheiten
darüber, was es in unserer Kultur tun und lassen soll. Andererseits strebt es nach
völliger Unabhängigkeit aus fremder Bevormundung.
Und schließlich möchte sich das Kind Einfluss sichern und beachtet werden. Wie
jeder von uns möchte es „jemand“ sein und in seiner Gruppe etwas gelten.
Dies aber kann es noch nicht denken. Wir Erwachsenen können das und tun das
auch. Leiden wir zum Beispiel nicht darunter, dass uns bestimmte Vorgesetzte
herumkommandieren? Möchten nicht auch wir lieber selbst an unserem
Arbeitsplatz entscheiden, was gut und richtig ist und reagieren wir nicht mit
Abwehr und Trotz, wenn andauernd jemand kommt, der über uns bestimmen will?
Leiden nicht auch wir darunter, wenn wir das Gefühl haben, dass unser Wort,
unsere Meinungen und Erfahrungen in unserer Gruppe, sei es in Familie, Verein
oder am Arbeitsplatz, nichts gelten und wir den Eindruck haben, nicht so beachtet
zu werden, wie wir meinen, dass wir es wert sind?
Während wir in derartigen Situationen genau wissen, woher unsere „schlechte
Laune“ kommt, kann sich unser Kind noch keine Rechenschaft darüber ablegen,
warum es jetzt trotzig wird. Und damit zugleich die zweite wichtige Information,
die eigentlich überflüssig ist, aber dennoch erwähnt werden soll: unser Kind denkt
noch nicht rückblickend oder vorausschauend in den Ursache-WirkungsZusammenhängen wie wir. Es plant also sein Verhalten nicht und überlegt sich
nicht zum Beispiel: heute fahren wir in die Stadt; dort werde ich meine Eltern
tüchtig plagen und ihnen meinen Willen aufzwingen. Mal sehen, wer hier der
Stärkere ist .
So etwas können wir Erwachsenen uns vorstellen und vornehmen. Keineswegs
aber ein dreijähriges Kind. „So ein Unsinn“, werden Sie sagen, liebe Leserin, lieber
Leser, „das versteht sich doch von selbst. Ein Kind handelt vielfach spontan aus
einer plötzlichen Eingebung, einer Laune, einem Gefühl heraus“. Richtig!
Wir Eltern aber tun in derartigen Situationen so, als richte sich das Verhalten des
Kindes gegen uns und nicht als Frage an uns.
Und an noch etwas ebenso Selbstverständliches sollten wir uns erinnern: Unser
dreijähriges Kind hat noch keine Ausdauer. So rasch, wie ein Gedanke, ein Wunsch
aufleuchtet, so rasch erlischt er wieder. Wir gehen mit dem Kind zum Einkaufen,
weil wir daheim gesehen haben, dass das Brot zur Neige geht. Unser Kind wird im
Regelfalle aber erst dann etwas haben wollen, wenn es das sieht.
Werbepsychologen haben darum auch das Süßigkeiten Angebot an die Kasse und
auf Augen- und Greifhöhe von Kindern stellen lassen. Vor einhundert Jahren
schon stand genau aus diesem Grund das Glas mit den Bonbons auf der Theke des
Lebensmittelladens. Und es lässt sich hinzufügen „aus den Augen, aus dem Sinn“.
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Denn wenn es uns gelingt, unser Kind an dieser Verführung vorbeizulotsen und es
abzulenken, wird es bald aufhören zu quengeln und uns zu drängen, das zu kaufen,
was wir nicht kaufen wollten. Oder denken wir an eine andere Erfahrung mit
unserem kleinen Kind: Soeben noch weint es zum Gotterbarmen, weil es
hingefallen ist. Doch rasch lässt es sich trösten und kann bald wieder lächeln, auch
wenn der Schmerz noch nicht vorüber ist. An uns Eltern und Erzieher richtet sich
in den Lebensphasen eines Kindes ab drei Jahren geradezu die Aufforderung,
unser Kind allmählich zu Ausdauer und Konzentration zu führen, weil es beide
Eigenschaften erst erwerben muss. Folglich wird es sich auch schnell aus seiner
Verstrickung lösen, in die es durch den plötzlichen Trotz hineingetrieben worden
ist, wenn wir Eltern es nicht noch tiefer hineintreiben. Auch hierzu ein Beispiel:
Frau Richter erzählt von ihrem David, der sie in dieser Entwicklungsphase in
einer Bäckerei in Verlegenheit gebracht hatte. Weil er nicht bekam, was er
wollte: „Mama, ich will diesen Kuchen!“, verließ er den Laden nicht, sondern
setzte sich unmittelbar hinter die Eingangstür mitten auf den Fußboden. Da
die Tür mit einer automatischen Öffnung versehen war, ging sie nicht mehr zu.
In dieser offenen Tür hockte das Kind und schrie aus Leibeskräften. Je nach
der persönlichen Einstellung zu Kindern und Kindererziehung lachten oder
murrten die Kunden, die ein- und ausgingen. „Ganz gleich, was ich gemacht
hätte, die anderen hätten was auszusetzen gehabt“, meinte Frau Richter.
„Hätte ich David mit Gewalt von der Türe weggeholt oder gar geschlagen,
hätten sich die einen empört. Wenn ich ihm seinen Wunsch erfüllt hätte, hätte
ich mir auch kritische Bemerkungen anhören müssen. Also machte ich gar
nichts. Ich stand draußen vor dem Schaufenster und wartete. Es dauerte keine
fünf Minuten und mein David hörte auf zu schreien, stand auf und kam zu mir.
Wir gingen weiter und David zeigte mir einen Traktor, der dahinten um die
Ecke fuhr.“
Unser Kind will also weder trotzig noch „böse“ sein. Jedes Kind muss einfach seine
Einflussmöglichkeiten ausloten, erproben, was es wie erreichen kann. Denn es
gehört zur natürlichen Entwicklung von Menschenkindern nun einmal immer und
überall dazu, dass sie in dieser Phase ihr Ich durchzusetzen suchen, dass sie etwas
gelten wollen, dass sie etwas haben und besitzen wollen, als mein Eigentum, das
nur mir gehört, dass ihr Bedürfnis nach Macht und Einfluss geboren wird. Das
sind wichtige innerseelische Antriebe in dieser Zeit und keine bewusst eingesetzten
Strategien, um etwas zu erreichen oder gar um uns zu tyrannisieren.
Die Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen sind eigentlich recht einfach:
Wenn wir Trotz und Eigenwillen erleben, dann freuen wir uns ganz im Stillen über
das um seine Selbstbehauptung ringende Kind. Je stärker der „Eigensinn“ in
dieser Zeit, umso ausgeprägter können wünschenswerte Tugenden im Jugendund Erwachsenenalter sein, wie Selbstbehauptungswillen, Überzeugung von den
eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten u.a.m. Wir stehen ihm bei und führen es in
unsere Kultur ein, in der jedermann lernen musste, dass nicht alles nach seinem
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Kopf geht. Wenn wir einerseits ruhig und gelassen bleiben, aber andererseits dem
Kind die Erfahrung vermitteln, die es braucht, um zu lernen, dass es nicht alles
haben oder nicht alles durchsetzen kann. Oder anders gesagt: wir geben die
klärenden Antworten, wenn wir dem Kind die entsprechenden Erfahrungen
ermöglichen.
An zwei Beispielen ist das bereits veranschaulicht worden: Wir sagen dem Kind
laut und deutlich und ohne Aggression in der Stimme: „Nein“. Bei diesem,
gelegentlich etwas erläuterten „Nein“ - „nein, das darfst du nicht tun, weil du dir
weh tun wirst ...“- bleibt es. Dann folgt unsere handelnde Reaktion. Das ist
wichtig! Es gibt Eltern, die meinen in dieser Konfliktsituation mit ihrem Kinde
diskutieren zu müssen. Vielleicht denken die Eltern dann an Demokratie und
Mitbestimmung oder etwas Ähnliches. Mit dem Kind zu reden und gemeinsam zu
Verabredungen zu kommen oder auf diesem Wege Einsichten vermitteln zu
wollen, ist sicher sehr notwendig und haben ehrenwerte pädagogische Motive. In
einer durch trotzigen Eigenwillen bestimmten gefühlsbetonten Situation aber
führt langes Hin- und Herreden nicht weiter. Hier hilft nur kurz entschlossenes
und aggressionsloses Handeln des Erwachsenen. Wohlgemerkt: des Erwachsenen,
denn unser Kind ist in seiner Erregung handlungsunfähig. Weil es in seinen
Gefühlen von einem trotzig-aggressiven „Ich-Impuls“ überschwemmt wird,
reagieren wir mit aller uns möglichen Gelassenheit und Festigkeit
situationsentsprechend. Situationen kann es viele verschiedene geben. Sie lassen
sich nicht voraussehen und planen. Wir können aber nichts verderben, wenn es
uns gelingt,
ruhig und konsequent zu bleiben und
aus der Erkenntnis heraus handeln, dass unser Kind klärende Antworten
braucht und keine erbosten Eltern.
Eva Madelung schildert in ihrem Buch über den Trotz (München 1989) etliche
Situationen, die uns sehr anschaulich die Folgen unseres Verhaltens den Kindern
gegenüber vor Augen führen. Wir sollten im Grunde immer das Kind seine selbst
verursachte Misere spüren lassen aus der es dann ganz schnell wieder
herauskommen will. Und zwar allein:
„Wenn Du nicht weitergehen willst, weil Du Dir das Schaufenster noch anschauen
möchtest, erklären in diesem Büchlein Eltern ihrem trotzigen Kind, dann bleibe
hier. Wir müssen weitergehen und holen Dich später wieder ab...“
Natürlich bleibt das Kind nicht stehen. Wenn es den Eltern wirklich ernst ist und
sie tatsächlich weitergehen, wie die Eltern von Eva in unserem ersten Beispiel,
dann erkennt das Kind von alleine, das es zu weit gegangen ist. Und weil Eltern,
die konsequent genug sind, wissen, dass sich ihr Kind aus dieser Erfahrung einen
„Witz gekauft“ hat, brauchen sie hinterher gar nicht mehr darüber zu reden. Das
Kind wird sich, wenn der Trotz abgeklungen ist, wieder an uns schmiegen - und
alles ist wieder gut. Bis zum nächsten Mal.
Bei einigen Kindern aber gibt es gar kein nächstes Mal. Da reicht eine Erfahrung
aus und sie trotzen nicht mehr. Bei anderen dauert es noch lange und gelegentlich
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haben wir dann den Eindruck, dass der Eigensinn unseres Kindes unendlich groß
ist. Tatsächlich erleben wir das gleiche in verschärfter Form in der zweiten
Lösungsphase, in der Pubertät, wieder. Sie beginnt bei Mädchen um das zehnte,
bei Jungen um das zwölfte Lebensjahr. Nur in dieser Phase können unsere
Mädchen und Jungen denken; da ist ihnen - zumindest nach einem trotzigen
Willensimpuls - sehr klar, um was es geht. Nun geht es nicht mehr allein um die
elterlichen Reaktionen allein. Nun geht es auch um überzeugende Begründungen.
Jetzt sind nicht überwiegend die Gefühle im Spiel. Nun kommt auch der Kopf
hinzu: Wissen und Denken, Planen und vorausschauendes Handeln. Hier sind wir
Eltern in besonderer Weise gefordert. Uns fallen aber die erzieherischen Aufgaben
in dieser Entwicklungsphase leichter und die zu erwartenden Konflikte werden
keine so tiefen Wunden in die Beziehungen zwischen uns und unsere Kinder
schlagen, wenn sie in der ersten Lösungsphase erfahren haben, dass es uns nicht
um Macht und Herrschaft über unser Kind geht und dass wir die Persönlichkeit
unseres Kindes stets respektiert und geachtet haben auch dann - und gerade dann
- wenn es uns am meisten nervte.
4
Über die Ängste von Kindern
Einführung
Angst gehört zum Wesen des Menschen und begleitet unser ganzes Leben. Von den
vielen Ängsten, die uns mal mehr mal weniger zu schaffen machen, sind die, die mit
der kindlichen Entwicklung verbunden sind, die prägendsten. Die analytische
Psychologie, denken wir an Siegmund Freud, C. G. Jung oder Alfred Adler, hat sich
mit dieser Erscheinung ebenso befasst wie andere Richtungen in den
Humanwissenschaften. Darum wissen wir auch, dass Angst eigentlich etwas ganz
Normales ist. Sie dient uns mit ihren körperlichen Erscheinungen wie Herzklopfen,
feuchte Hände, weiche Knie, Zittern oder Magenbeschwerden und warnt uns vor
Gefahren. Sofern wir in entsprechenden Situationen nicht vor Angst „wie gelähmt
sind“, tragen Angsterregungen dazu bei, uns vor Gefährdungen zu schützen, realen
Gefahren zu begegnen. Bei einer Wanderung in den Bergen zum Beispiel kann es uns
durchaus passieren, dass wir, weil der Weg an einem Abgrund vorbeiführt, nicht
mehr weitergehen können. Wir müssen dann selbst wissen, ob und wie wir in dieser
Situation die Angst überwinden und sicher weitergehen können oder aber umkehren
müssen.
Im Leben haben wir uns immer wieder derartigen angstauslösenden Situationen zu
stellen. Denkbare Beispiele können weiter sein: uns bellt ein fremder Hund an, wir
befinden uns in einer fremden Stadt oder in einer Tiefgarage20.
Es gibt aber auch Ängste, die sich nicht auf derartige konkrete Objekte oder
Situationen beziehen, sondern eher grundsätzlicher Natur sind. Sie haben ihre
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Ursachen in der Bedrohung von Grundlagen unserer Existenz wie Krankheit und Tod
oder Krieg und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
Endlich kennen wir eine Gruppe von Ängsten, die nicht weniger elementar sind und
sich eher auf das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen beziehen
beziehungsweise auf die sozialen Dimensionen unserer Existenz. Zu denken ist an
Verlassenheits- und Trennungsängste, Ängste, von den anderen Menschen abgelehnt
zu werden, sich nicht behaupten zu können oder zu versagen. Wenn wir diese
Angstformen prüfen, dann erkennen wir den Zusammenhang mit den Bedürfnissen,
die wir im ersten Kapitel erwähnten: Je mehr wir das Gefühl haben, dass
Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, umso größer die jeweiligen Ängste.
Die Verlassenheitsangst
Kindern allerdings sind diese Zusammenhänge keineswegs bewusst. Sie erleben
ihre Ängste und können deren Ursachen, soweit sie nicht auf konkrete Objekte und
Situationen zurückgeführt werden können, nicht immer benennen. Einige typische
Ängste, die in Entwicklung und Erziehung von Kindern eine wichtige Rolle spielen,
sollen hier unter die Lupe genommen werden. Am Anfang der kindlichen
Entwicklung lässt sich die Angst vor dem Verlassen werden erkennen. Allein aus
der Tatsache, dass ein Kind, um sich dereinst lösen und selbständig werden zu
können, sich in der ersten Lebensmonaten an seine Mutter oder eine andere
Bezugsperson „binden“ können muss, ist diese Urangst erklärlich.
Ein Kind, das in der Sicherheit und Verlässlichkeit elterlicher Zuwendung
heranwächst, wird sich unbefangen und wenig ängstlich seine Umwelt aneignen.
Hierzu ist geforscht worden. Sie können das folgende harmlose Experiment
daheim ausprobieren. Wenn sie ihrem sieben oder acht Monate alten Kind
Gesellschaft leisten, während es unbekümmert - vielleicht im Wohnzimmer auf
einer Decke sitzend - spielt, dann dürfen sie sich mit etwas anderem beschäftigen
ohne dass sich das Kind in seinem Spiel stören lässt. Vielleicht will es gelegentlich
der Mutter etwas zeigen und macht auf sich aufmerksam. Wenn die Mutter aber
den Raum verlässt, wird es nicht lange dauern und das Kind spielt nicht mehr
weiter. Wenn die Mutter nicht wiederkommt, wird es über kurz oder lang anfangen
zu weinen. Dann ist es höchste Zeit, wieder zum Kind zurückzugehen. Ein Kind ist
in dieser Lebensphase also nur in dem Ausmaß frei und aktiv, in dem es sich
beschützt und geborgen weiß. Wird es in solchen Situationen und in diesem Alter
allein gelassen, wird es vor Angst "wie gelähmt" sein und sein Spiel- und
Erkundungsverhalten einstellen. Einige solcher Erfahrungen genügen und das
Kind geht der Mutter nicht mehr vom Rockzipfel. Je mehr wir es dann
wegschieben wollen: nun spiel endlich mal allein! umso mehr wird in ihm die
Vorstellung genährt, wir wollten es nicht mehr haben. Darum nehmen wir diese
Ängste ernst und tun sie nicht als „kindisch“ beiseite.
Ob das Weinen des kleinen Kindes, das noch nicht laufen kann und in seinem
Bettchen liegt ein Zeichen dafür ist, dass es Hunger und Durst hat, oder eine
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Unmutsäußerung darüber, dass die Mutter nicht mehr da ist oder
Verlassenheitsangst, das hört die Mutter an der Art des Weinens.
Besonders wichtig ist dieses Signal nachts oder abends. Oft fragen wir uns "Soll/darf
man ein Kind allein lassen?". Die Antwort lautet: "Ja, aber nur wenn wir dann auch
wieder da sind, wenn das Kind uns braucht". Da wir aber bei einem Säugling zum
Beispiel vorher nicht genau wissen können, wann wir gebraucht werden, bleiben wir
besser daheim, wenn niemand zur Verfügung steht, den das Kind kennt und dem es
ebenfalls vertraut. Wie es sonst nachts gehalten wird, ob Eltern ihr Kind zu sich ins
Zimmer nehmen oder später, wenn es laufen kann, zu sich ins Bett kommen lassen,
das müssen Eltern für sich selbst entscheiden. Wenn immer aber ein Kind in der
Nacht Angst bekommt und nach uns ruft, dann darf es nicht sich selbst und seinen
Ängsten überlassen bleiben. Dies ist die Zuwendung, die unser Kind braucht, um sich
geborgen und sicher zu fühlen.
Die Ängste von Kindern sind andere Ängste als unsere. Wir Erwachsenen können
uns selbst Angst machen, wenn wir uns zum Beispiel ausmalen: „was wäre, wenn ...“.
Die Ursachen der Ängste von Kindern sind uns vielfach verborgen und auch die
Kinder selbst können sie kaum benennen. Verlieren können sie die Ängste aber nur
mit unserer Hilfe. Wir lassen darum ein Kind erst dann bei Tag und Nacht und nur
so lange allein, wenn und wie lange es das Alleinsein von seiner Entwicklung her
auch wirklich gut verkraftet.
Von der Angst, nicht beachtet zu werden
Eng verwandt mit der Angst, verlassen zu werden, ist die Angst, übersehen zu
werden. Unsere Phantasie reicht sicher aus, uns vorzustellen, wie groß unsere
Panik wäre, wenn uns kein Mensch in unserer Umgebung mehr wahrnähme.
Nichtbeachtung widerspricht dem natürlichen Streben nach Geltung, also danach;
anerkannt, gemocht oder gar geliebt zu werden. Das Geltungsstreben, so sieht es
Alfred Adler (Frankfurt/M 1981, S. 170) ist die Kraft in uns, die in ständigem
Kampf mit unserem Minderwertigkeitsgefühl liegt. In dem Ausmaß, in dem das
Minderwertigkeitsgefühl die Oberhand gewinnt, nimmt unsere Ängstlichkeit zu.
Darum auch birgt zum Beispiel die Strategie, einen anderen Menschen oder gar
ein Kind mit Nichtbeachtung (nicht mehr mit ihm sprechen, wegschauen u. ä.)
bestrafen zu wollen, die Gefahr seelischer Beschädigung des Betreffenden, die
umso größer ist, je geringer sein Selbstwertgefühl ist. Und weil sich bei unseren
Kindern das Selbstwertgefühl erst allmählich entwickelt, will es durch uns gehegt
und gepflegt werden. Nichtbeachtung oder die Haltung, du bist ja nur ein Kind
werde erst mal erwachsen, dann kannst du mitreden, beschädigt die
Herausbildung eines gesunden Selbstwertgefühls. Eine derartige Nichtbeachtung
oder Missachtung führt zu Minderwertigkeitsgefühlen und den sie begleitenden
Unterlegenheitsängsten.
Das was hier angesprochen ist, erleben wir zum Beispiel auch im Verhältnis von
Geschwistern zu ihren Eltern. Hinter den Aggressionen oder Machtkämpfen, die zum
Beispiel ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisterchens früher oder später
mit der Mutter beginnen können, verbirgt sich die Angst, für die Mutter nichts mehr,
oder weniger als vorher, zu bedeuten beziehungsweise zu gelten. Im Extremfall lässt
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das Kind auch mal die Äußerung fallen: „Du hast mich nicht mehr lieb“ und lüftet
damit ein Stück den Mantel hinter dem sich seine Ängste verbergen. Mit der
Bemerkung, dass das Kind Unsinn daher schwätzt oder mit der Beteuerung, dass
man alle seine Kinder gleich lieb habe, ist das Problem nicht vom Tisch. Wir sollten
die Ängste unseres Kindes ernst nehmen und nach Ausgleich suchen und alles
vermeiden, was die Rivalität der Kinder untereinander verstärken könnte (vgl. dazu
auch oben die Ausführungen über den Streit unter Geschwistern!). Die Ängste aber
werden sich erst verlieren, wir sagen: wenn sein Selbstwertgefühl entwickelt ist.
Wenn das Kind aus sich heraus und für sich selbst seinen „Wert“ erkennt. Der Weg
dahin ist mit viele Provokationen gepflastert, die unsere Liebesfähigkeit, unsere
Geduld und unsere Nerven auf die Probe stellen.
Die Versagens- oder Leistungsangst
Am Beispiel unserer Ängste lässt sich recht gut erkennen, wie alle Elemente unserer
Existenz miteinander verwoben sind und einander beeinflussen. Ein Kind, in dem
große Verlassenheitsängste lebendig sind, wird Probleme mit seinem
Selbstwertgefühl haben und damit wiederum gekoppelt kann die Angst sein, den
Anforderungen, die von außen kommen, nicht gewachsen zu sein. Oder wie wir zu
sagen pflegen: Die Angst zu versagen. Es kränkt uns zutiefst - und ist von unserem
Nächsten auch so gemeint - wenn sie/er zu uns sagt: „Du bist ein Versager.“
Eine derartige Feststellung löst bei uns Erwachsenen Angst und - je nach
Temperament oder Charakter - Depressionen oder Aggressionen aus. Bei unseren
Kindern wirken sich Versagenserlebnisse ähnlich aus.
Knüpfen wir zum Beispiel an die Empfehlung an, sich für die Arbeitsergebnisse
unserer Kinder zu interessieren, wie es im Kapitel über die Bedürfnisse erläutert
wurde. Kinder, die nicht erleben, dass Ihre „Leistungen“ - und dazu gehört zuerst
und vor allem das Bemühen! - auf Interesse stoßen oder gar anerkannt werden,
strengen sich nicht mehr an. Mit der Zeit verlieren sie die Lust, sich zu bemühen.
Und wenn dann etwas nicht gleich klappt, heißt es rasch: „Das kann ich nicht“. Die
Anerkennung und das Interesse an kindlichem Leistungsstreben durch jene
Personen, die für ein Kind wichtig sind, sind eine bedeutsame Quelle der
Leistungsmotivation, die in Schule und Beruf gebraucht wird.
Mäkeln wir aber ständig an dem herum, was unser Kind als Ergebnis seiner
Anstrengungen vorweist oder schimpfen und strafen sogar, wird es am Ende
resignieren und in seinem Verhalten zeigen, dass ja „alles keinen Zweck“ hat. Angst
und Resignation sind Geschwister und wer sich über Leistungen die Anerkennung
und Geltung nicht verschaffen kann, die doch zum Leben gehören, sucht nach
Ausgleich. Verweigerungen, Aggressionen gegen andere Menschen oder Sachen und
am Ende Aggressionen gegen sich selbst vom Einstieg in die Sucht bis zum
Selbstmord können dann die Folgen sein.
Auch Strafen, also Reaktionen von Erzieherinnen und Erziehern, Eltern oder
Lehrerinnen und Lehrern, die als Strafe beabsichtigt waren und auch so vom
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betreffenden Kind erlebt wurden, erreichen nur selten den beabsichtigten Effekt.
Vielleicht entlasten sie für einen Moment die Situation. Doch eine andauernde
Verhaltensänderung, die obendrein noch auf einer Einsicht des Kindes beruht: „das
war jetzt falsch, das darf ich so nicht machen“, ist kaum zu erwarten.
Vor allem angstauslösende Erlebnisse im Zusammenhang mit Leistungserwartungen, die an uns herangetragen werden, können zu ausweichenden
Verhaltensweisen führen.
Friedhelm besucht die Vorschule. Obwohl er das einzige Kind seiner sehr um ihn
besorgten Eltern ist, war er zum Zeitpunkt der Einschulung noch nicht schulreif.
Ihm mangelte es an der Fähigkeit, sich in einer Gruppe sozial angemessen zu
verhalten. Im Kindergarten befand er sich stets in Rivalitätskonflikten, die er mit
Gewalt zu lösen suchte. Nun sollte er in der Vorschule noch etwas Zeit erhalten.
Vielleicht verlieren sich die Aggressionen, hofften Eltern und Lehrer.
Auf dem täglichen Weg zur Vorschule hin aber begegneten Friedhelm andere
Schulkinder. Einige von diesen, die nun schon in der ersten Klasse waren,
hänselten ihn. Da diese Kinder stärker und außerdem in der Überzahl waren,
vermied Friedhelm es, ihnen zu begegnen. Er machte einen Umweg. Dort auch
traf ihn seine Mutter eines Tages und fand heraus, warum er diesen, von ihr
verbotenen Weg entlang einer verkehrsreichen Straße bevorzugte. Nun hatte sie
auch eine Erklärung dafür, dass seine aggressiven Ausbrüche daheim und in der
Vorschule eher zu- als abgenommen hatten. Denn die Angst und Wut
auslösenden Begegnungen mit den anderen Kindern musste Friedhelm
irgendwie verarbeiten. Ihm stand zur Verarbeitung nur seine ihm vertraute
Strategie, selbst gewalttätig zu sein, zur Verfügung. Damit wiederum löste er
strafende Erzieherreaktionen aus. Es vergrößerten sich Frust und Angst und
verbanden sich in der Seele des Kindes eng mit den Erwartungen der
Erwachsenen an ihn, Leistung zu zeigen und sich angepasst zu verhalten...
Diesen Teufelskreis können allein die Erwachsenen durchbrechen. Ein Kind findet
schon darum nicht heraus, weil ihm Ursache und Wirkung nicht bewusst werden.
Nicht einmal die Tatsache, dass Friedhelm selbst die Hänselei seiner ehemaligen
Kindergartengefährten durch sein aggressives Verhalten verursacht hatte, die sich
nun, Monate später, dafür „rächen“, könnte er erkennen. Und Bemerkungen von
Seiten der Eltern wie, „siehst du nun, was du davon hast“ oder „bist selbst schuld“
würden die Ängste des Jungen nur vergrößern. Stattdessen wäre Verständnis,
guter Zuspruch und viel Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit eher geeignet,
Friedhelm aus seinen Verstrickungen herauszuhelfen. Das erfordert von den
Eltern viel Kraft und Geduld. Insofern, und das war in unserem Beispiel auch der
Fall, brauchten die Eltern und die Lehrerin Hilfen für sich, um dieser Aufgabe,
Friedhelm aus seinen Ängsten herauszuhelfen, über einen längeren Zeitraum
hinweg gewachsen zu sein.
Die Angst auch künftig zu versagen, die Angst die Zuneigung der Eltern zu verlieren
und die reale Angst vor anderen Kindern, kamen in unserem Beispiel zusammen.
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Dass Leistungsschwächen weniger ein Zeichen mangelnder Fähigkeiten als vielmehr
die Folgen von Entmutigungen und Ängsten sind, ist vielfach belegt worden.
Jeder, der schon einmal vor einer Prüfung gestanden hat, wird nun entgegenhalten,
dass Angst nicht immer zu Versagen führt. Prüfungs- und Leistungsängste begleiten
unser Leben zwangsläufig ebenso, wie alle anderen Formen der Angst. Doch nur im
Ausnahmefalle sind Prüfungskandidaten in entsprechenden Situationen „vor Angst
wie gelähmt“ und bringen kein Wort heraus. In den meisten Fällen „vergessen“ die
Prüflinge ihre Angst sehr rasch, die Erregung klingt ab und sie sind wieder voll
handlungsfähig. Wer freilich unter diesen Prüfungsängsten besonders gelitten hat
und sich für seine Ängste sozusagen „vor sich selber schämt“ oder gar Angst kriegt
vor der Angst, wird derartige Situationen zu vermeiden suchen und Prüfungen, wann
immer es geht, aus dem Wege gehen. Die Ängste aber bleiben. Stärke und
Auswirkungen derartiger Prüfungsängste sind nicht zuletzt abhängig von den
bisherigen Lebenserfahrungen. Auch hierzu ein Beispiel:
Ernst war in der Schule ein guter Schüler. Er blieb auch in seiner
Berufsausbildung vor allem in den theoretischen Fächern ein Musterschüler.
Seine Abschlussprüfungen bestand er mit sehr gutem Erfolg. Vor den Prüfungen
hatte er zwar „Lampenfieber“, aber keine Angst zu versagen.
Im gleichen Lebensabschnitt, in den die Berufsabschlussprüfungen fielen,
besuchte er eine Fahrschule. Ernst aber war daheim überbehütet
herangewachsen. Seine Mutter hatte ihm zum Beispiel nicht erlaubt, mit anderen
Kindern ins Schwimmbad zu gehen; er konnte also nicht schwimmen. Wenn
immer er Fahrrad fahren wollte, waren es die Eltern, die Panik machten und
ihm einredeten, dass er zu unsicher sei und im Verkehr gefährdet. „Der Junge ist
ja so unpraktisch“ erzählten sie jedem und redeten das auch ihrem Sohn ein. Als
er sich bei der Fahrschule anmeldete, rieten ihm die Eltern ab: „das schaffst du
sowieso nicht“.
Je näher der Prüfungstag heranrückte, umso höher stieg die Angst in Ernst hoch.
Am Vorabend der Prüfung bekam er Fieber. Die Prüfung wurde ausgesetzt. Beim
nächsten Termin erging es ihm nicht viel besser. Immerhin trat er an, schaffte
die theoretische Prüfung locker und fiel in der praktischen Prüfung durch. Auch
die Wiederholungsprüfung verpatzte er. Da gab er auf. Erst zehn Jahre später,
längst stand er auf eigenen Füßen und kannte sich und seine Möglichkeiten und
Grenzen besser und konnte vor allem mit seinen Ängsten umgehen, versuchte er
es noch einmal. Da bestand er die Führerscheinprüfung sofort und nach relativ
wenigen Fahrstunden.
Die Geschichte von Ernst bestätigt, dass Versagensängste gleichsam anerzogen
beziehungsweise erlernt werden können. Sie weist aber auch daraufhin, dass wir
nicht unser ganzes Leben mit einer solchen Hypothek herumlaufen müssen. Ernst
war unter anderem über berufliche Erfolge und einer guten Partnerbeziehung genug
Selbstvertrauen zugewachsen. Er erkannte die Ursachen seiner Ängstlichkeit und
überwand sie.
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Vom Umgang mit Ängsten
Gerade weil Urängste wie die Verlassenheitsangst, die Angst nichts zu gelten oder zu
versagen, so stark sein können, sollten wir Erwachsenen unseren Kindern nicht noch
wie im Falle von Ernst künstlich Ängste vermitteln.
Mit Sprüchen wie "sei doch kein Angsthase", "nun stell dich nicht so an", "du bist
doch kein Baby mehr" oder gar "Feigling" bringt man kein Kind ins Wasser, das am
Ufer steht und schreit, weil seine Mutter ihm davon schwimmt. Ängste lassen sich
durch derartige Bemerkungen nicht beeinflussen. Im Gegenteil: versuche ich ein
Kind zu zwingen seine Angst zu überwinden indem ich seine Abwehr mit Gewalt zu
brechen suche, kann ich es dauerhaft schädigen. Auch Drohungen können Angst
machen: "Wenn du nicht aufisst, dann ist Mama traurig", "wenn du nicht lieb bist,
werde ich krank", sind Äußerungen, die Schuldängste entwickeln können, die
wiederum in extreme Scheu vor sozialen Kontakten, aber auch in hemmungslose
Aggressivität einmünden können.
Angst kann aber auch eine lustvolle Komponente haben. Denken wir an das Spiel:
"Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" "Niemand“ antworten alle Kinder. Und
dann kommt er/sie herangestürmt und versucht ein Kind zu fangen. Alle kreischen
vor Vergnügen laut auf und rennen davon. Bei dieser Art von Spielen gruselt es
einem so schön. Nicht selten sind unsere Entdeckungsreisen in unbekannte Bereiche
wie der Keller eines Hauses im Rohbau oder der Straßenzug nebenan von einer
Mischung zwischen Angst und Spannung und Erregung verknüpft. So befähigt diese
Lust an der Angst, die wir aber auch gern als „sich gruseln“ bezeichnen, Kinder, sich
die Welt anzueignen, und Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstständigkeit zu
gewinnen. Auch beim Lesen kann ein Kind gut mit- und nacherleben, wie Ängste
verarbeitet werden und sich auflösen. Gelegentlich kommt man ihnen mit Humor
und einem befreienden Lachen gut bei. Hier erinnern wir uns unwillkürlich an das
Märchen bei den Gebrüdern Grimm: „Von einem, der auszog, das Fürchten zu
lernen“. Dieses Märchen verrät uns zugleich, dass sich auch unsere Vorfahren
immer wieder mit ihren Ängsten herumschlugen und nach Wegen suchten, mit
ihnen umzugehen.
Aber diese Prozesse spielen in fremder Umgebung oder das Lesen gruseliger
Geschichten werden vom Kind selbst in Gang gesetzt. Es steuert sich selbst und muss
sich in kritischen Situationen selbst überwinden oder es später noch einmal
probieren oder aufgeben.
Doch wehe, einem Kind wird mit dem schwarzen Mann gedroht, der in der Nacht um
die Häuser schleicht und die unartigen Kinder holt. Gerade wenn Kinder sich im
Vorschulalter, also in der „magischen Phase“ befinden, in denen Märchen und
Wirklichkeit ineinander fließen, können Eltern und Großeltern mit derartigen
Drohungen Ängste entfachen, die ein Leben lang erhalten bleiben und nicht selten
seelische Störungen begründen. Prüfe sich jeder von uns selbst sorgsam daraufhin,
ob nicht ihre/seine Ängste und Unsicherheiten auf derartige reale Erlebnisse aus der
Kindheit zurückgeführt werden müssen. Die Ursachen zu erkennen ist der erste
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Schritt zur Überwindung. Gewiss gibt es noch andere denkbare Auslöser von
Ängsten. Nicht immer stehen Drohungen oder Bestrafungen am Anfang. Doch sind
Diskriminierungserfahrungen, also solche, bei denen ein Kind sich in seiner
menschlichen Würde verletzt fühlt, häufig beteiligt.
Ängste lassen sich beeinflussen beziehungsweise entwicklungsfördernd verarbeiten,
wenn wir sie im Spiel erfahren oder über das Märchen miterleben. Gerade in den
Grimm’schen Märchen werden Ängste gestaltet, von denen das Kind ohnehin - oft
unbewusst - umgetrieben wird. Die Ängste werden überwunden, aufgelöst, besiegt,
die Geschichte zu einem guten Ende geführt. In der Geborgenheit der vertrauten
Umgebung, eng an die Mutter/den Vater gedrückt, können Angst und Spannung
verarbeitet und mit Hänsel und Gretel getanzt und gesungen werden. Allein dieses
Beispiel weist aber auf die Gefahren, die von Medienangeboten wie Fernsehen oder
Video-Filmen ausgehen können, die Eltern nicht ausgewählt haben und die sie nicht
begleiten.
Einige Hinweise zum Schluss
„...das Gefühl der Angst ist eigentlich die Erscheinung der gesamten IchEntwicklung“ schreibt Michaela Glöckler (1992, S. 147). Die Ängste beginnen mit
Formen der Trennungsangst bis hin zur Angst vor Krankheit und Tod. Insofern
gehören Ängste zur menschlichen Existenz. Können diese Ängste überwunden
werden? Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich selber finden. Michaela
Glöckler weist in ihrem Buch auf die christliche Botschaft: „In der Welt habt Ihr
Angst, aber seid getrost, Ich aber habe die Welt überwunden“ (Evangelium des
Johannes).
In unserer Eigenschaft als Erziehende sind zunächst wir es, an die sich unsere
ängstlichen Kinder, Trost und Hilfe suchend, anlehnen. Sind wir selbst so genannte
„ängstliche Naturen“ wird unser Kind möglicherweise wenig Hilfe erwarten dürfen
oder gar erst von uns einige Ängste erlernen. Unser Vorbild wirkt auch hier. Das
kann im Einzelfall heißen, dass erst einmal Mutter und Vater die eigenen Ängste „in
den Griff“ bekommen müssen, um ihren Kindern bei der Angstbewältigung zur Seite
stehen zu können. Die existentiellen Ängste aber werden wir ihnen auf die Dauer
nicht nehmen können. Wir können ihnen jedoch die Fähigkeit mitgeben, so mit ihren
Ängsten zu leben, dass sie von ihnen nicht zerstört werden. Diese Fähigkeit erwerben
sie am ehesten, wenn wir unsererseits die Ängste unserer Kinder nicht vergrößern
oder gar mit Angstmachen erziehen.
Eva Leupold gibt Eltern und Erzieherinnen/Erziehern in der Zeitschrift
„kindergarten heute“ (Dezember 1994, S. 12) folgende Hinweise, die die bisherigen
Ausführungen in einigen Punkten zusammenfassen:
„Angst hat, wie wir sahen, oft etwas mit neuen und unbekannten Situationen zu
tun. Derartige Ängste klingen von allein ab, wenn sich ein Kind an diese bisher
unbekannten Situationen gewöhnt hat.
100
Wenn nicht auch die Eltern zu viel Angst haben oder Ängste zeigen, dann wird
auch ein Kind weniger ängstlich sein. Das Vorbild von den für ein Kind wichtigen
Bezugspersonen, das können natürlich auch andere Kinder sein, spielt eine
wichtige Rolle. Darum dürfen wir unser Verhalten nicht unterschätzen. An
unserem Beispiel erlebt unser Kind, wie wir mit angstauslösenden Situationen
umgehen. Lernen durch Beobachtung und Nachahmung ist ein wichtiger Motor
der kindlichen Entwicklung. Das haben wir bei allen Themen bestätigt gefunden.
Wenn wir Ängste bei unseren Kindern oder uns in bestimmten Situationen
feststellen, dann sollten wir uns ihr auch stellen. Wenn wir angstauslösende
Situationen meiden, dann haben wir vielleicht eine augenblickliche
Erleichterung, die Angst kann aber langfristig größer werden. Haben wir also
den Mut und stellen uns der Situation immer wieder, dann werden unsere
Ängste abnehmen und mit der Zeit verschwinden.“
5. Sexualität und Erziehung
Einführung
Heute ist es selbstverständlich, dass Sexualität oder Geschlechtlichkeit öffentlich
diskutiert werden. Prostituierte treten öffentlich auf und immer weniger Menschen
machen davon Aufhebens. Über Bildschirmmedien werden Transvestiten-Shows
ebenso in unsere Wohnstuben gesendet, wie - mal mehr mal weniger deutlich sexuelle Kontakte beziehungsweise Pornographie selbst. Insofern kommt der Gag in
einer "Ketchup"-Sendung der Realität sehr nahe, wenn darin der Vater den Sohn
über die Fortpflanzung aufklären soll und hierbei auf die gemeinsamen Erlebnisse in
einem Pariser Bordell verweist. Im Grunde will uns dieser Gag darauf hinweisen,
dass unsere Heranwachsenden der Aufklärung durch uns nicht mehr bedürfen und
dass sie früher und mehr über Sexualität wissen, als wir annehmen.
Die Frage ist lediglich, ob wir Eltern uns auch noch die Sexualerziehung aus der
Hand nehmen lassen wollen oder dürfen. Nach dem von Eltern selbst mit großem
Engagement vertretenem Verständnis von erzieherischer Verantwortung muss diese
Frage eindeutig verneint werden. Darum ist vorab festzuhalten:
Die Erziehung zu Liebe und Sexualität ist wichtiges Element einer Entwicklung
hin zu einer erfüllten menschlichen Existenz.
101
Es war die schwedische Pädagogin Ellen Key, die bereits in ihrer wegweisenden
Schrift „Das Jahrhundert des Kindes“ (Berlin 2/1902, S. 46 f) forderte, auf falsche
Prüderie und Verlogenheit in der Geschlechter- und Geschlechtserziehung zu
verzichten. Sie schrieb im Sprachstil ihrer Zeit:
„Nur dadurch, dass jeder von frühester Kindheit an auf jede seiner Fragen über
diesen Gegenstand ehrliche, dem betreffenden Stadium seiner Entwicklung
angepasste Antworten erhält und so volle Klarheit über seine eigene Art als
Geschlechtswesen empfängt, sowie ein tiefes Verantwortlichkeitsgefühl in
Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe als solches , eine Gewöhnung an ernstes
Denken und ernstes Sprechen über diesen Gegenstand, nur dadurch kann ein
vornehmeres Geschlecht mit höherer Sittlichkeit hervortreten.“
Es sollte aber noch mehr als eine Generation darüber hinweggehen, bis nach 1970
auch in der Pädagogik – nun unter der Überschrift „Sexualerziehung“ – diese
Thematik in der Familienbildung und in den Ausbildungsstätten für Erzieherinnen
und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer einen angemessenen Platz erhielt.
In drei Schritten wollen wir uns in gebotener Kürze mit diesem Problem befassen.
Zunächst werden einige Informationen über die sexuelle Entwicklung gegeben. Dann
werden drei Positionen zur Geschlechtserziehung vorgestellt, aus der die praktischen
Konsequenzen zu ziehen sind.
Sexualität ist natürlich
Sexualität ist ebenso natürlich, wie die anderen existentiell notwendigen Bedürfnisse.
Denken wir zum Beispiel an Essen, Trinken, Schlafen, oder Bewegung. Der
Geschlechtstrieb freilich dient nicht in erster Linie beziehungsweise ausschließlich
der Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses. Von der Natur her hat er den
Zweck, für die Fortpflanzung zu sorgen. Und dazu gehört jeweils ein
andersgeschlechtlicher Partner. Insofern ist Sexualität sozusagen von Natur aus ein
Element sozialer Beziehungen und hier wieder in erster Linie zwischen Frau und
Mann. In der Lebenspraxis freilich, so der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau,
nimmt Sexualität keine herausragende Stellung ein. Es wollten zum Beispiel siebzig21
Prozent aller Jugendlichen, die dazu befragt wurden, lieber ihr Smartphone als ihre
Partnerin oder den Partner.
Die Phase zwischengeschlechtlicher Sexualität, die mit der Zeugungs- und
Gebärfähigkeit beginnt, bezeichnen wir als Pubertät oder Geschlechtsreife. Weil wir
über Generationen hinweg so taten, als wäre mit Beginn dieser Phase Sexualität
überhaupt erst ein Thema in unserer Persönlichkeitsentwicklung, ist für unser
pädagogisches Anliegen die Erkenntnis wichtig, dass sie unser ganzes Leben begleitet
von der Geburt bis zum Tod. Niemand käme zum Beispiel auf die Idee zu behaupten,
dass mit der Zeugungs- und Gebärfähigkeit die Sexualität erlischt.
Mehr als alle anderen natürlichen Erscheinungen ist dieses Element unserer Existenz
kulturell überformt. Allein der Gedanke an die Schöpfungsgeschichte deutet an, was
102
gemeint ist. Und schauen wir in unseren Alltag oder in den unserer Vorfahren, so
ließe sich etwas schablonenhaft darauf verweisen, dass alles seine Zeit hatte:
Schlafen, Mahlzeiten, Arbeit und Erholung - aber auch die Sexualität. Und selbst in
Zeiten großer Freizügigkeiten, wie wir sie jetzt erleben, kommt der sexuellen
Beziehung zwischen Frau und Mann und ihrer ethischen Dimension eine besondere
Bedeutung zu.
Die Scheidungszahlen steigen. Zu den häufigen Gründen gehört die Untreue. Und in
noch mehr Fällen, als es die Scheidungsstatistik verrät, bildet der Ehebruch den
Grund für schwere Beziehungsstörungen zwischen Frau und Mann. Das war in
vergangenen Generationen so und blieb es bis heute. Es ist gerade diese Erkenntnis,
die auf die Notwendigkeit verweist, Sexualerziehung als einen wichtigen Teil der
Sozialerziehung zu verstehen, also der Erziehung auf den richtigen zwischenmenschlichen Umgang hin. Wie sollte das praktisch geschehen?
Sexualität als soziales Verhalten
Menschliche Sexualität ist nicht nur triebgesteuert. Der Mensch kann sich, und
darin unterscheidet er sich vom Tier, von seinen Trieben distanzieren, sie bewusst
wahrnehmen und steuern. Menschliche Sexualität ist weiter soziokulturell bedingt.
Das heißt zum Beispiel, dass menschliches Sexualverhalten davon abhängt, in
welcher Zeit und Kultur welche ethischen Normen gelten und als Angehöriger
welchen Volkes ein Mensch heranwächst. Für die Pädagogik ist hierbei die
Erkenntnis bedeutsam, dass das Sexualverhalten vor allem von der sozialen
Umwelt anerzogen wird.
Als Sexualverhalten sind hier alle der Sexualität dienenden beziehungsweise
bewusst auf sie hinsteuernden verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen der
einzelnen Person in der Begegnung mit anderen gemeint. Sexualverhalten ist also
Teil des sozialen Verhaltens, Sexualerziehung ein Teil der Sozialerziehung.
Martin Buber unterscheidet in der zwischenmenschlichen Begegnung zwei
Grundhaltungen:
Die eine ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person eine andere vorwiegend
als "Es", als Objekt betrachtet. Im Alltag heißt das zum Beispiel, dass bei einer
solchen Einstellung ein anderer Mensch an seinem Nutzen gemessen wird,
etwa an der Frage: was bringt es mir, wenn ich mich dem anderen zuwende?
Für das Sexualverhalten eines Menschen mit dieser Haltung würde das heißen,
dass sein Sexualpartner ein Objekt seiner Triebbefriedigung wäre.
Die andere Grundhaltung ist die, nach der eine Person die andere als "Du"
anerkennt, nicht also als Objekt, sondern als ein personal-agierendes Subjekt.
Im beruflichen und außerberuflichen Alltag heißt das nichts anderes, als dass
einer den anderen in seiner Persönlichkeit wahrnimmt und akzeptiert und
dass die Beziehungen zwischen den Menschen auf gegenseitiger Achtung und
auf Anerkennung der Menschenwürde beruhen. Auf das Sexualverhalten
103
übertragen kann eine "Du-orientierte" Haltung als die Fähigkeit beschrieben
werden, die emotionale, soziale und motivationale Situation des Partners
wahrnehmen, akzeptieren und sich entsprechend verhalten zu können.
Beide der hier angedeuteten Grundhaltungen können in ein und derselben Person
zeitweilig oder dauerhaft vorhanden sein. Jede dieser Grundhaltungen kann sich
aber auch zu einer überwiegenden Eigenschaft verfestigen, das heißt, jede dieser
Haltungen hat die Möglichkeit sich in einer Person als die bestimmende
durchzusetzen. Ob ein Mensch eher ein triebhaft-objektorientiertes oder eher ein
kulturell überformtes subjektorientiertes Sexualverhalten realisiert, liegt in der
Verantwortung der ihn erziehenden und bildenden Kräfte: also seiner Eltern,
seiner Erzieher und Lehrer, den Freundeskreisen oder Kameraden innerhalb und
außerhalb von Vereinen, aber auch den "geheimen Miterziehern", wie zum Beispiel
den Massenmedien.
Sexualität und Entwicklung
Ulrich Diekmeyer spricht in seinem dritten Elternbuch (1992, S. 113) von der "ersten
kritischen Phase", wenn unser Kind im dritten Lebensjahr deutlich wahrnehmbare
sexuelle Neugierde zeigt. Kritisch ist diese Phase unsertwegen: Es kommt darauf an,
wie wir auf kindliche Interessen oder Äußerungen reagieren. Wir brauchen uns also
nicht zu wundern, dass ein Kind im dritten Lebensjahr eines Tages entdeckt, dass
Menschen verschieden sind. Lebte unsere Tochter/unser Sohn während der ersten
beiden Lebensjahre noch ohne Bewusstsein der eigenen spezifischen
Geschlechtlichkeit, so bemerkt unser Kind, dass das andersgeschlechtliche
Geschwisterkind oder Elternteil im Genitalbereich anders aussieht. Und prompt
können sich entsprechende Fragen einstellen: "Mama, bekomme ich auch ein Glied?"
wird das kleine Mädchen fragen. Vorausgesetzt natürlich, es sind zuvor von den
Eltern die begrifflich zutreffenden und völlig neutralen naturkundlichen
Bezeichnungen verwendet worden. Mädchen haben eine Scheide, Buben ein Glied.
Diese Benennung ist korrekt und sollte stets und ohne Scheu und Untertöne so
verwendet werden. Es gibt keine Legitimation, außer unserer eigenen
Unzulänglichkeit im Umgang mit Sexualität, Körperteilen und Körperfunktionen
andere Bezeichnungen oder Gehalte zuzuordnen als eben die natürlichen. Was
natürlich ist und selbstverständlich, wird auch nicht mit Geheimnissen umgeben.
Wir können davon ausgehen, dass überall dort, wo auf die Kinderfragen und
kindliche Verhaltensweisen im hier vorgetragenen Sinne reagiert wird, sexueller
Missbrauch erschwert ist. Kinder - zumindest die, die älter sind als drei Jahre und
104
über die entsprechende Ausdrucksfähigkeit verfügen, können sich leichter mitteilen,
wenn ihnen die Benennungen vertraut sind und sie wissen, dass sie darüber
sprechen können ohne dass ihre Umgebung abweisend reagiert. Unser Kind beginnt
ab dem dritten Lebensjahr sich für seine Geschlechtsorgane zu interessieren. Wir
sprechen von einer "Schau- und Zeigelust". Wir können beobachten, wie unsere
Kinder feststellen, dass sich Bube und Mädchen beim Urinieren anders verhalten
und entdecken zum Beispiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst den
kleinen Unterschied. Das löst wiederum Fragen aus "Mami, kriege ich auch noch so
ein Glied?" fragt die Schwester. Aber auch Vater und Mutter werden nun mit etwas
anderen Augen angeschaut. Sogar die ersten Doktorspiele mit den Untersuchungen
am anderen Kind, dem gegenseitigen Betasten und Betrachten nehmen in dieser
Phase ihren Anfang.
Alle diese Verhaltensweisen gehören zur normalen Entwicklung unserer Kinder. Und
je selbstverständlicher wir Erwachsenen damit umgehen und je weniger wir eine
Staatsaktion aus unseren Beobachtungen machen, umso eher geht unser Kind zur
Tagesordnung über.
Sexualität und Erziehung
Es lassen sich drei Formen von Sexualerziehung unterscheiden:
1 Die tabuisierende Sexualerziehung.
Von tabuisierender Sexualerziehung wird gesprochen, wenn Eltern und
Erzieher Probleme des sexuellen Verhaltens aus ihrem Erziehungsalltag
ausklammern. Etwa nach dem Motto: "Darüber spricht man nicht". Das
Thema ist in den betreffenden Lebensbereichen "tabu". In derartigen Fällen
bleiben die Heranwachsenden mit ihren Triebempfindungen sich selbst
überlassen und damit auf die indirekten Erziehungseinflüsse aus der näheren
und weiteren sozialen Umwelt her angewiesen.
2 Die animierende Sexualerziehung.
Die animierende Sexualerziehung wird überall dort praktiziert, wo aus einem
entsprechenden Menschenbild heraus der Sexualität eine dominierende
Funktion in der Entwicklung des Menschen eingeräumt und die kulturelle
Überformung des Sexualtriebes als Triebunterdrückung, ja als Unterdrückung
des Menschen überhaupt betrachtet wird. Nach diesem Konzept ist ein Mensch
frühzeitig an Sexualität und entsprechende Haltungen und Verhaltensweisen
heranzuführen. Kindliche Sexualität wird von Eltern und Erziehern gefördert.
Und aus Gründen von Gewinnstreben ist die Sexualisierung heute bis in die
Bereiche Kindermoden und Kinderspielzeugeingedrungen.
105
3 Die akzeptierende Sexualerziehung.
Hierunter lässt sich verstehen, dass Eltern und Erzieher um die
Triebbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen wissen, jedoch deren mögliche
Erscheinungsformen in den verschiedenen Entwicklungsphasen nicht fördern
oder gar erst "animieren", sondern sie, sofern sie auftreten, verantwortlich
(das heißt zum Beispiel: gesprächsbereit und offen) begleiten. Menschliche
Sexualität wird akzeptiert und pädagogisch verantwortlich begleitet, nicht
verdrängt, verboten, stimuliert oder gar gefordert.
Von herausragender Bedeutung in der Erziehung zu einem guten Umgang mit der
eigenen Geschlechtlichkeit und in Bezug auf die Vorbereitung zur zwischenmenschlichen Sexualität als Teil sozialer Kontakte ist wiederum das Vorbild der Älteren
beziehungsweise der Eltern. Je mehr die Eltern die eigene Sexualität in all ihren
Erscheinungen positiv leben oder erlebt haben, umso eher sind sie in der Lage, jene
natürliche Haltung ihren Kindern gegenüber zu wahren, von der hier die Rede ist.
Wer in dieser Beziehung mit sich selbst nicht zurechtkommt, Hemmungen hat oder
eine Scheu, sich diesen Themen offen und unbefangen zu stellen, dem wird es
schwerer fallen oder gar unmöglich sein, den Kindern gegenüber jene akzeptierende
Haltung einzunehmen, die für die kindliche Entwicklung förderlich wäre.
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Sexualerziehung zugleich Sozialerziehung ist. In unserer Kultur ist Sexualität ein Teil der Partnerschaft und in
unserer Vorstellung Ausdruck der Liebe zwischen zwei Menschen. Diese Liebe
sollten unsere Kinder miterleben. Am Beispiel der alltäglich gelebten liebevollen
Beziehung zwischen Mutter und Vater beziehungsweise zwischen Frau und Mann,
verinnerlichen unsere Kinder jene Haltung und Verhaltensweisen, die ihnen später
in der eigenen Partnerbeziehung Orientierung geben. "Liebe" in einem
humanistischen Verständnis drückt sich aus in der Achtung mit der wir unserem
Partner begegnen, in der Beachtung seiner Würde und eigenen Bedürfnisse. Zu
einem liebevollen Umgang gehören auch Zärtlichkeit und Zeit, wie im
Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis nach Liebe bereits ausgeführt (vgl. oben,
S. 19 f.). Eltern zeigen ihren Kindern, dass sie sich mögen, wenn sie sich küssen, bei
den Händen halten oder sich gelegentlich gegenseitig eine Freude bereiten.
Zu einer geglückten beziehungsweise beglückenden und das Leben erfüllenden
Partnerschaft und Sexualität gehören sowohl die Abwehr negativer Einflüsse wie das
Vorleben guter, auf Achtung, Akzeptanz und Zuneigung beruhender Beziehungen
zwischen Mutter und Vater.
Eine Frau oder ein Mann sind nicht "Objekte" unserer eigenen Wünsche, Bedürfnisse
oder Begierden, sondern Persönlichkeiten, mit denen wir in besonderer Weise
verbunden fühlen. Um das Gemeinte deutlicher zu machen: Eine Vergewaltigung,
also Sexualität gegen den Willen eines Partners, oder andere Formen unwürdigen
Verhaltens (flegelhaftes Verhalten, Schlagen oder Beschimpfen) sind nicht Ausdruck
zwischenmenschlicher Liebe, sondern Ausdruck von Gewalt, Brutalität oder
106
Missachtung menschlicher Würde. Wir Erwachsenen können nicht so tun, als hätten
die menschlichen Grundrechte innerhalb unserer vier Wände keine Gültigkeit. Wer
seinen Partner schon nicht lieben kann, der sollte wenigstens seine Persönlichkeit
achten. Das Verfassungsgebot „die Würde des Menschen ist unantastbar..." füllen wir
mit Leben, wenn wir die Würde unserer Nächsten nicht verletzen.
Für Kinder, die Zeugen der Verletzung der Menschenwürde in der eigenen Familie
werden, sind die Folgen katastrophal. Zu den schwierigsten, verstörtesten und
aggressivsten Kindern, mit denen Sozialarbeiter und Therapeuten zu tun haben,
gehören jene, die eine Vergewaltigung ihrer Mutter durch deren Partner miterlebten.
Sei es, dass sie Augenzeugen oder Ohrenzeugen (draußen vor der verschlossenen
Schlafzimmertür) waren. Und ein Mann, der seine Frau missbraucht, schlägt und
beschimpft sie auch.
In den meisten Kulturen vollzieht sich der Zeugungsakt von alters her in einer von
Dritten abgetrennten Sphäre, die wir heute zur Intimsphäre von Ehepaaren
beziehungsweise Liebespaaren zählen. Im Gegensatz hierzu kennen wir die
Pornographie, die inzwischen über Internet, Video- und Fernsehfilme auch in
Wohnungen - also in die Intimsphäre von Familien Einzug gehalten hat. In der
Sprache unserer Kinder, vor allem jener, die selbst derartige Filme sahen, hören wir
Worte, wie sie bisher überwiegend in Kneipen, an Arbeitsplätzen, beim Militär oder
im Zuhälter-Milieu als Zeichen von Männlichkeit oder als subkultureller Sprachcode
gebraucht wurden. Auch während der Pubertät ist der Gebrauch ebenso anrüchiger
wie kräftiger Begriffe und Flüche durchaus nichts Ungewöhnliches. Wir sagen darum
auch gelegentlich, dass ein Erwachsener, der sich gern dieser Sprache bedient, „nicht
aus der Pubertät herausgekommen ist“.
Noch einmal sei daran erinnert, dass dies nicht erst eine heute auftretende
Zeiterscheinung ist! Neu - und darum bemerkenswert bis störend - kommt uns der
Gebrauch durch Kindermund vor. Und Eltern wie Erzieherinnen und Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrer klagen über diese Erscheinung und fragen danach, wie sie zu
verändern wäre.
Überall dort, wo sich Eltern und Erzieher Sorgen über diese Entwicklung machen,
wäre zunächst eine Verständigung darüber zu erreichen, welche Sprache wir als
Umgangssprache zwischen Menschen akzeptieren wollen und welche nicht. Am
Anfang stünde also eine Wertentscheidung. Haben wir uns entschieden, dass wir
keine Wörter aus der „Gossensprache“ akzeptieren wollen, dann haben wir die
Konsequenzen zu leben. Das heißt, wie in anderen pädagogischen Feldern auch, mit
gutem Beispiel voranzugehen.
Erst dann ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, mit welchen Strategien
wir den sprachlichen Entgleisungen unserer Kinder begegnen. Im Grunde gelten hier
die gleichen Verhaltensempfehlungen wie sie unter den Stichworten „Grenzen
setzen“, „Drohung und Strafe“ oder „Aggression und Gewalt“ in dieser Schrift zu
finden sind.
107
6.
Kinder werden selbständig
Einführung
Vom Tage der Geburt an, „wachsen die Kinder von uns weg“. So waren
Elternseminare überschrieben, in denen es um die Phasen der Verselbständigung
unserer Kinder ging und darum, wie wir sie auf diesem Wege begleiten können.
"Hilf mir, es selbst zu tun!" Diese Bitte legte einst Maria Montessori den Kindern in
den Mund und forderte alle Eltern und Erzieher auf, die Kinder in ihrem Bestreben
nach Selbsttätigkeit und im Streben nach Eigenständigkeit zu unterstützen. Im
Kindergarten bereits lässt sich beobachten, welches Kind längst daran gewöhnt ist,
sich selbst an- und auszuziehen und welches auf die Hilfe Erwachsener oder anderer
Kinder wartet. Nicht immer sind es Entwicklungsunterschiede, die Kinder mehr oder
weniger selbständig handeln lassen. Unschwer finden sich Beispiele dafür, dass
Eltern ihren Kindern nicht viel zutrauen oder gar Angst haben, dass ihr Kind sie gar
nicht braucht. Wenn unsere Kinder von uns wegstreben, sich nichts mehr sagen
lassen wollen, es überall schöner finden, nur nicht bei uns, dann werden wir
unsicher. Andere Kinder oder andere Erwachsene scheinen dann mehr Bedeutung
für unser Kind zu haben als wir. Und eines Tages sind die Kinder groß und gehen von
uns weg.
"Früh übt sich, wer ein Meister werden will". Was aber sollte wie früh geübt
werden?
Eigentlich alles, so ließe sich pauschal antworten, was einem Kind in der jeweiligen
Entwicklungsphase zugemutet werden kann. Dabei berücksichtigen wir Eltern
selbstverständlich die alte Erfahrung, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln
und zum Beispiel nicht alle Kinder einer Familie exakt im gleichen
Lebensabschnitt gleiche Formen selbständigen Verhaltens praktizieren.
Wie werden wir Eltern mit der wachsenden Selbständigkeit und Autonomie unserer
Kinder fertig? Sind wir bereit, diesen Prozess zu akzeptieren? Haben wir den Kindern
die Wege geebnet? Können wir darauf verzichten, sie zu bevormunden? Finden wir
eine neue Form der Beziehung?
Diesen und anderen Fragen kommt umso mehr Bedeutung zu, als sie nicht nur in
Bezug auf unsere Kinder beantwortet werden müssen. Auch in anderen
zwischenmenschlichen Beziehungen haben sie ihre Berechtigung.
Und noch eine weitere verallgemeinerbare Erfahrung ist zu berücksichtigen: Beim
ersten Kind sind Eltern gelegentlich noch unsicher in Bezug auf Entscheidungen
darüber, was sie dem Kind zumuten dürfen und was nicht. Mit der Anzahl der
Kinder wird die Sicherheit größer und Eltern lassen eher Selbständigkeit zu.
Obwohl es sich von selbst versteht, soll noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam
gemacht werden, dass die mit einer erfolgreichen und entwicklungsangemessenen
Selbständigkeit, die Eltern ermöglichen beziehungsweise zu der Eltern ermuntern,
jene Voraussetzungen gehören, die zu Beginn als „Bedürfnisse“ unserer Kinder
betrachtet worden sind. Bei einem Kind beispielsweise, das in jungen Jahren hat
108
mehrfach Trennungserfahrungen machen müssen, ist eher damit zu rechnen, dass es
sich von seiner Mutter oder von seinem Vater nicht lösen will und ihm darum alle
Verhaltensweisen schwerer fallen, die in die Selbständigkeit führen. Es wird sich
länger „bemuttern“ lassen wollen als jenes, das sich der fürsorglichen Zuwendung
seiner Eltern jederzeit sicher war. Es ließen sich auch alle anderen Bedürfnisse
gleichsam als Prüfsteine verwenden, wenn wir uns bei dem einen oder anderen Kind
fragen, warum es ihm so schwer fällt, für sich selbst und seine Handlungen die
Verantwortung zu übernehmen.
Die Verselbständigungsphase „Pubertät“
„Sie scheinen ... das Wohlleben zu lieben, haben schlechte Manieren und verachten
die Autorität, sind Erwachsenen gegenüber respektlos und verbringen ihre Zeit
damit, herumzulungern und miteinander zu plaudern. Sie widersprechen ihren
Eltern, nehmen Gespräch und Gesellschaft für sich allein in Anspruch, essen gierig
und tyrannisieren ihre Lehrer“. Dies wusste Sokrates22 über die Jugend seiner Zeit
zu berichten.
Zu jeder Jugendgeneration gehörte eine/einer von uns Eltern, genauso, wie unsere
Heranwachsenden heute zu ihrer Generation gehören. Und damit haben wir ein
erstes Merkmal, das für unsere jetzigen und die nachwachsenden Mädchen und
Jungen zutrifft: sie gehören alle den kulturellen, den sozialen, den politischen und
wirtschaftlichen Situationen beziehungsweise Strömungen ihrer Zeit an. Elemente
dieser Strömungen tragen sie in unsere Familie mit hinein und konfrontieren uns
mit ihnen auch und gerade dann, wenn wir Älteren nicht gerade davon begeistert
sind.
Hier einige Informationen zu diesen Pubertätsphasen:
Als „Pubertät“ wird ein von physiologischen Entwicklungsgesetzen zwingend
vorgegebener Prozess der Reifung bezeichnet. Biologisch angeregt wird dieser
Wachstumsschub von Geschlechtshormonen die der Körper zu produzieren beginnt.
Männliche Geschlechtshormone (Androgene) und weibliche Geschlechtshormone
(Östrogene) werden massenhaft ausgeschüttet und bewirken erhebliche
Veränderungen in Körper und Seele. Körperlich zeigen sich derartige Veränderungen
in einem disharmonischen Erscheinungsbild wie zum Beispiel relativ große Füße,
lange dünne Gliedmaßen, picklige Haut. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste und
erste Regelblutungen treten auf u. a. m. In Bezug auf die seelische Entwicklung
erleben wir eine ganze Abfolge von Veränderungen, die nicht selten krisenhaften
Charakter annehmen. Gebräuchlich ist der Begriff „Adoleszenz“ für die seelische und
soziale Entwicklung im Jugendalter (von adoleszent - heranwachsend). Es wird
unterschieden nach
Frühadoleszenz, mittlere Adoleszenz, späte Adoleszenz,
ca. 11 bis 14
ca. 14 bis 17
ab 17 bis ...
Jahre
Jahre
Jahren
109
Die Frühadoleszenz, sie tritt vor allem bei Mädchen in unserer Zeit (seit etwa dem
Beginn des 21. Jahrhunderts) immer häufiger früher ein, ist eine Zeit der Trauer, in
der sich das Verhältnis zu Körper, Sexualität, zu sich selbst, den Gleichaltrigen und
den Eltern zu wandeln beginnt. Verwirrt und orientierungslos will der
Heranwachsende die Eltern behalten und sich doch von ihnen lösen. Einerseits gibt
er sich erwachsen, stark und klotzig, andererseits trennt er sich noch nicht von
seinem Schmusetier. Gedanken an Selbstvernichtung können auftreten, wenn der
junge Mensch keinen Sinn an diesen Widersprüchen erkennt und sich von allen
verlassen fühlt. Darum ist es in dieser Phase besonders wichtig, in Gruppen
Gleichaltriger eingebunden zu sein und sich dort gebraucht zu wissen. Bereits im
vorangegangenen Abschnitt wurde darüber berichtet, dass sich gerade
Heranwachsende in dieser Phase durch ein betontes Engagement auszeichnen –
wenn sie auch noch nicht auf die Anleitung und Unterstützung durch Erwachsene
verzichten können. Zu denken ist da zum Beispiel an die Trainer in Sportgruppen,
die Jugendleiter in Jugend- und Kindergruppen, die Dirigenten von Kinderchören u.
a.
In der mittleren Adoleszenz fühlt sich ein junger Mensch zeitweilig total überfordert.
Dieses Gefühl hat gute Gründe, wenn wir daran denken, dass er ja nicht nur mit
seinem Körper und seiner erwachten Sexualität zurechtkommen muss. Es ist die
gleiche Zeit, in der Weichen für die Zukunft gestellt werden, wenn es um
Berufswahlentscheidungen, Schulabschlüsse und Praktika geht, in denen sie/er sich
bewähren sollen. Viele eigene Wünsche und eigene Vorstellungen bauen sich auf, die
von den Erwachsenen nicht geteilt oder verstanden werden, da sie nicht selten keine
Realisierungsmöglichkeit haben. Der Drang, frei zu sein, keine Einschränkungen (er)dulden zu müssen, kann übermächtig werden. Konflikte, die sich zu richtigen
Machtkämpfen ausweiten, können an der Tagesordnung sein. Marianne Arlt
beschreibt die entsprechenden Erfahrungen mit ihrem Sohn recht anschaulich
(Freiburg 1992). Die Heranwachsenden ziehen sich in sich selbst zurück.
Wunschgebilde, Träume und Phantasien bestimmen die Innenwelt. Die Flucht aus
der Wirklichkeit führt gelegentlich zu Drogen wie Alkohol, Zigaretten oder gar „harte
Drogen“. Begleitet wird diese Phase von Bemühungen um Abgrenzung einerseits und
Anpassung andererseits. „Zu sein wie kein anderer - zu sein wie alle anderen“, so
bezeichnet Erikson die Suche nach Identität als Aufgabe der Pubertät. Wie kein
anderer - das heißt vor allem, nicht so sein, wie die als spießig erlebten Eltern oder
Erwachsenen überhaupt. Zu sein, wie alle anderen, das heißt vor allem „cool“ sein
und „trendy“. Da werden Sänger und Musiker, Sportler oder andere in der jeweiligen
Szene gültigen Vorbilder für die Heranwachsenden wichtig. Sie wollen dazu gehören
und sich dadurch von der Erwachsenenwelt unterscheiden.
Je problematischer im Erleben des Heranwachsenden und seiner Eltern diese
Phase verläuft, umso größer die Gefahr der Regression: Schule schwänzen,
weglaufen, aber auch dissoziale Verhaltensweisen als Probierverhalten und/oder
Protest, sind Anzeichen krisenhaft verlaufender Lösungsprozesse. Neben Unfällen
und bösartigen Tumoren sind Selbstmorde die häufigste Todesursache in dieser
110
Altersgruppe. Nicht selten verlassen sie die Schulen oder Ausbildungsstätten,
Jugendgruppen oder Vereine, in denen sie sich bisher engagierten und suchen
nach neuen Orientierungen in anderen, vor allem eher informellen Gruppen. Von
den vielen biografischen Zeugnissen, die uns über diese kritische Phase vorliegen
und die uns zeigen, dass es auch in früheren Generationen nicht anders war als
heute, sei das von Hermann Hesse ausgewählt. Ohnehin ein Junge, der seinen
Eltern und Erziehern viel zu schaffen machte, erreichten die Konflikte mit den
Eltern 1892 einen Höhepunkt, als der damals fünfzehnjährige Hermann an seinen
Vater schrieb und ihn bezeichnender Weise sogar mir „Sie“ ansprach:
„Sehr geehrter Herr! Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie
vielleicht um 7 M oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur
Verzweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner
rasch zu entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren sollen...“
(Nina Hesse, Frankfurt a. M. 1966, S. 268)
Späte Adoleszenz
Nach und nach treten im Regelfalle die als krisenhaft erlebten Erscheinungen zurück
und öffnen einen Weg in ruhigere Gefilde. Die Kämpfe zwischen den Generationen
lassen an Heftigkeit nach, die Eltern werden wieder mehr und mehr geduldet und
zunehmend wieder geachtet. Statt Resignation kommt Aufbruchsstimmung auf, die
Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten wächst und Lebenspläne
nehmen eine realistischere Gestalt an.
Hilfreich sind in dieser Phase Kontakte mit Gruppen junger Menschen, die einen
eigenen Stil, eine eigene Kultur entwickeln und in der sich unsere Heranwachsenden
angenommen und geborgen fühlen können. Was zunächst bleibt, ist der
Widerspruch zwischen innerer Unabhängigkeit und äußerer wirtschaftlicher
Abhängigkeit von den Eltern. In einer Zeit, in der immer mehr junge Menschen
immer später in das Erwerbsleben treten, ist das ein Thema. Bedauerlicher Weise
treten auch immer mehr junge Menschen in gar kein Erwerbsleben ein, das ihnen ein
angemessene wirtschaftliche Selbständigkeit durch eigene Leistung ermöglicht. Die
Folgen einer derartigen Entwicklung sind noch nicht abzusehen. Sie deuten sich aber
an in zunehmender Gewaltbereitschaft und Kriminalität.
Ob die jungen Menschen noch mehr oder weniger von den Einkünften der Eltern
abhängen oder nicht: nach Abschluss der Adoleszenz, gehören sie „entlassen“. Eltern,
so meinen wir das, halten sie nicht fest, wenn die jungen Frauen und Männer
ausziehen bzw. an einem anderen Ort ihre Ausbildung abschließen wollen.
Da jeder Heranwachsende in diesen Phasen die gleichen krisenhaften Erscheinungen
durchlebt, wenn sie auch individuell unterschiedlich als „Störung“ nach außen treten,
haben wir Eltern sie als ganz normal einzuordnen. Die zentrale seelische
Konfliktursache ist im Grunde, wie bereits in der ersten Lösungsphase, die
Erkenntnis, sich nun „allein“ auf den Weg ins Leben machen und den Schutz und die
Geborgenheit des Elternhauses entbehren zu müssen. Verstärkt werden diese zumeist unbewussten Ängste - durch eine Fülle an Erwartungen, vor die sich der
111
junge Mensch gestellt sieht (oder auch nur gestellt meint). Erfolge in Schule und
Beruf, in sozialen Gruppen, in Bezug auf seine Geschlechtsrolle oder auf seine
Selbständigkeit und Eigenverantwortung bringen ihn immer wieder in
Stresssituationen.
Diese Zeit also durchleben alle mit all ihren Höhen und Tiefen, mit Momenten der
Verzweiflung aber auch Momenten herrlicher Unbekümmertheit und Zuversicht in
die eigene Zukunft.
Wenn wir Eltern diese gleichsam gesetzmäßig verlaufenden Lebensphasen
akzeptieren können, und wenn wir die gelegentlichen Kämpfe mit uns und gegen uns
nicht als gegen uns als Person gerichtet, sondern als Ausdruck des Ringens um
Lösung von uns betrachten, dann können wir etwas gelassener mit den uns daraus
erwachsenden Problemen umgehen.
Selbständigkeit als Erziehungsaufgabe
Zu den von Eltern meistgenannten Erziehungszielen gehören Selbständigkeit und
Eigenverantwortung. Selbständig ist in unser aller Verständnis ein Mensch dann,
wenn er unabhängig von seiner Herkunftsfamilie seinen beruflichen und
außerberuflichen Alltag gestalten und bewältigen kann, wenn er, wie der Volksmund sagt, "auf eigenen Füßen steht". Wir Eltern dürfen uns glücklich schätzen
und zufrieden sein, wenn unsere heranwachsenden oder herangewachsenen
Töchter und Söhne bereit und in der Lage sind, Verantwortung für sich selbst und
andere zu übernehmen und all ihr Tun und Lassen in die eigenen Hände nehmen.
Unsere Aufgabe ist es, unsere Mädchen und Jungen zu der hier angedeuteten
Selbständigkeit und Verantwortungsbereitschaft zu befähigen.
Hierzu zwei Beispiele.
Als Anita in den Kindergarten kam, wusste sie schon ganz genau, welches
Kleidungsstück sie an diesem Tag tragen wollte und welches nicht. Darf denn
aber ein dreijähriges Kind schon selbständig darüber bestimmen, was es
anziehen will?
Die Eltern von Karl (9 Jahre alt) halfen ihm nur dann bei den Schulaufgaben,
wenn dieser um Hilfe bat, weil er etwas nicht verstanden hatte. Im Übrigen
aber vertraten die Eltern des Jungen die Auffassung, dass die schulischen
Arbeiten eine Angelegenheit Karls seien. Er sei selbst verantwortlich für seine
schulischen Erfolge oder sein Versagen.
Dieses Beispiel aus dem Familienalltag weisen darauf hin, dass die Erziehung zur
Selbständigkeit eine Aufgabe ist, die uns unsere Kinder ständig abverlangen. Mut
brauchen wir und vor allem Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder, dass sie
das, was wir ihnen zutrauen, auch schaffen, dass sie „Verantwortung“
112
übernehmen können. Aber was dürfen wir und in welchem Alter von unseren
Kindern erwarten? Welche Gefahren sind möglicher Weise mit einer verfrühten,
welche mit einer völlig ungenügenden Bereitschaft von Eltern verbunden,
Eigenständigkeit zuzulassen? Wie können wir unserem Kind denn in einer
verantwortbaren Weise helfen, alles das selbst zu tun, was es kann oder was es
lernen soll? Das können Fragen sein, die unsere Überlegungen bei dem Gedanken
an die Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung begleiten.
Wenn ein Kind erkennt, dass sich Mutter und/oder Vater um seine alltäglichen
Angelegenheiten gar nicht kümmern kann, dann zeigt es gleichsam „automatisch“,
dass es bereit und in der Lage ist, ein Stück weit für sich selbst zu sorgen (vgl. auch
dazu oben, S. 26). Und „ein Stück weit“ heißt eben: soweit es das von seiner
körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung her kann. Eltern können von
einem Dreijährigen zwar nicht erwarten, dass er Kartoffeln schält und sie
zubereitet. Wohl aber wird er sich an- und ausziehen und seine Schuhe binden,
allein auf die Toilette gehen oder sich allein waschen können.
Kinder können und werden überall dort mithelfen, den Alltag zu bewältigen, wo
die Eltern berufstätig sind oder wo Erkrankungen unseren vollen Einsatz in
Haushalt und Erziehung erschweren. Jede/r von uns, die/der vorübergehend
wegen Krankheit oder aus anderen für Kinder gut einsehbaren Gründen ausfiel,
wird die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Kinder in erstaunlichem Ausmaß
darum bemühen, die entstandene Lücke zu füllen und zum Beispiel die Wohnung
pflegen oder einkaufen gehen.
Oder denken wir an eine weitere Bedingung selbständigen Handelns, die wir
Eltern selbst ständig zu schaffen haben, wenn unser Kind lernen soll, eigenständig
und eigenverantwortlich zu handeln: an unsere Bereitschaft, Selbständigkeit
zuzulassen!
Auch hierfür ein Beispiel:
Die neunjährige Elisabeth hat ein neues Fahrrad bekommen. Anlässe gab es
zwei: das Kind hatte Geburtstag und gerade in der Schule ihren
„Fahrradführerschein“ erworben und damit bewiesen, dass sie die
Verkehrsregeln kennt und sich im öffentlichen Straßenverkehr zurechtfindet.
Am Samstag der gleichen Woche erklärte sich Elisabeth bereit, Brötchen und
Brot zum Frühstück zu holen und bat darum, mit dem neuen Fahrrad fahren
zu dürfen. Die Eltern hatten das Kind bis dahin noch nie allein mit dem
Fahrrad ins Städtchen gelassen, da verkehrsreiche Straßen auf dem Wege
lagen. Mutter und Vater standen vor einer schweren Entscheidung. Sollten sie
das Risiko eingehen und Elisabeth fahren lassen? Wird das Kind
zurechtkommen?
Beide verständigten sich, wie stets in derartigen kniffligen Situationen, mit den
Blicken. Hier war es der Vater, der seiner Frau beruhigend zublinzelte. Die
Mutter sagte dann: „Ist gut. Du wirst schon zurechtkommen. Hast ja jetzt den
Fahrradführerschein.“
113
Glückstrahlend und stolz holte Elisabeth ihr Fahrrad und kam - während die
Eltern nicht ohne Bangen gewartet hatten - heil wieder nach Hause.
Eltern stehen häufig vor derartigen und ähnlichen Situationen. Dann geht es
darum, die eigenen Befürchtungen zu überwinden und sie sich nicht anmerken zu
lassen und zugleich dem Kind zu signalisieren, dass man ihm zutraut, die gestellte
Aufgabe zu lösen. Kaum hat ein Kind laufen gelernt, will es klettern und kennt
doch die Gefahren nicht. Hier haben wir in jeder einzelnen Situation abzuwägen:
Lassen wir Eltern zu, dass ein Kind selbst Erfahrungen sammelt - auch wenn
einmal etwas schief gehen kann?
Verbieten oder verhindern wir ein Verhalten, bei dem wir Risiken sehen?
Geht es uns dann in erster Linie um das Kind? Oder geht es uns darum, den
„Stress zu vermeiden, der zu den zu erwartenden Tränen eines von sich
selbst enttäuschten Kindes gehört?
Und wie ist das mit dem Risiko? Haben wir als Eltern nicht die Verantwortung und
die Pflicht dafür zu sorgen, dass unsere Kinder nicht in Gefahr geraten? Hier
besteht in der Tat ein Spannungsfeld, dem wir uns nun zuwenden.
Selbständigkeitsstreben und Elternverantwortung
"Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern ...... und die zuvörderst
ihnen obliegende Pflicht", so steht es in unserer Verfassung. Legen wir die Betonung
auf die Worte "ihnen" und "Pflicht", dann wird ganz deutlich, dass die Mütter und
Väter des Grundgesetzes von der ganz natürlich erscheinenden Selbstverständlichkeit ausgingen, dass es in erster Linie die Eltern sind, die für ihr Kind
Verantwortung tragen.
"Verantwortung" das heißt hier sowohl Rechte zu haben als auch Pflichten. Folgen
wir dem Wortlaut des Verfassungsartikels und halten uns vor Augen, was mit den
"Rechten" zu Pflege und Erziehung von Kindern gemeint ist. Wir gehen dabei von
einer Erfahrung aus, die alle Eltern kennen, deren Kinder bereits die Grundschule
verlassen haben.
Gegen Ende des vierten Grundschuljahres wurden einst von den Klassenlehrerinnen
und Klassenlehrern in den staatlichen Schulen die "Grundschulempfehlungen"
ausgesprochen. Die Eltern und ihre Kinder erfuhren auf diese Weise, für welche
weiterführende Schule die Lehrer ein Kind für geeignet halten: für die Hauptschule,
die Realschule oder das Gymnasium. Kein Elternteil aber musste sich an diese
Empfehlung halten. Nicht selten gehen bedeutend weniger Kinder zum Beispiel auf
ein Gymnasium, als empfohlen worden sind. In einer vierten Klasse waren es nur
zwei Buben, obwohl vier Buben und fünf Mädchen von den insgesamt
114
achtundzwanzig Kindern hätten gehen können. Alle Eltern der betroffenen Mädchen,
hatten sich also gegen das Gymnasium entschieden. Es ist das "natürliche Recht" der
Eltern, derartige Entscheidungen zu treffen und sie brauchen über ihre Gründe
niemanden darüber Rechenschaft abzulegen. Die Eltern haben also das Recht,
darüber zu entscheiden, welche Schule ihr Kind besuchen soll. Wenn allerdings
Eltern der Auffassung sind, ihr Kind müsse aufs Gymnasium, obwohl es keine
entsprechende Empfehlung erhalten hat, dann wird es schwierig. Dann zeigt sich
nämlich, dass noch andere Träger von Erziehung und Bildung - hier die Schule etwas zu sagen haben.
Eltern bestimmen also vom Tag der Geburt an über ihre Kinder. Rein formalrechtlich
bleibt dieses Elternrecht erhalten bis zur Volljährigkeit eines Kindes. Wann sind
unsere Kinder erwachsen? Nun, volljährig sind sie mit der Vollendung des
achtzehnten Lebensjahres. Bis dahin galten sie als Jugendliche und bis zur
Vollendung des vierzehnten Lebensjahres als Kinder. Als Kinder sind sie überhaupt
nicht und als Jugendliche sind sie beschränkt strafmündig. Mit achtzehn Jahren
dürfen sie z.B. wählen, den Führerschein erwerben, ohne Zustimmung der
Vormünder heiraten u. v. a. m. Lediglich strafrechtlich genießen sie noch einen
gewissen Schutz bis zum 21. Geburtstag. Solange gelten sie als „Heranwachsende“. Je
nach Reife in der geistigen und seelischen Entwicklung werden sie in der Regel noch
nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt.
Außer diesen rechtlichen Gesichtspunkten gibt es kaum klare Abgrenzungen
zwischen Heranwachsenden und dem Erwachsenenalter. Allein unser gelegentlicher
Eindruck, dass wir uns genau so verhalten, wie Pubertierende, zeigt uns, dass wir alle
diese Zeiten in uns tragen und bei uns selbst die entsprechenden Einstellungen ab
und zu herausschauen. Dann sagte man früher über eine Frau zum Beispiel, dass sie
sich wie ein „Backfisch“ verhalte oder über einem Mann, dass er noch immer ein
„Lausbub“ sei.
Wenn wir das Erwachsenenalter und damit das Ende der Jugend bestimmen als den
Beginn der Lebenszeit, in der wir uns aus dem Elternhaus gelöst haben und in jeder
Beziehung relativ selbständig leben, dann sind unsere Kinder gelegentlich zwar noch
jung, aber eben, weil sie Verantwortung für sich und eventuell eine eigene Familie
übernommen haben, erwachsen. Und schauen wir auf die Zahl der Lebensjahre, so
kann die/der eine schon mit achtzehn Jahren so weit sein, ein/e andere/r zehn Jahre
später noch immer nicht. Bei diesen Betrachtungen denken wir an körperlich,
seelisch und geistig gesunde Menschen, die nicht auf Hilfe angewiesen sind.
Was die nach Alter gestaffelte Mündigkeit für Auswirkungen haben kann, zeigt uns
ein Beispiel: Eine Sechzehnjährige möchte ausgehen. Die Eltern sagen: "Aber um
zehn Uhr bist Du wieder daheim". "Ich geh doch aber nur zu Katharina zum
Geburtstag und nicht in die Disco." "Ist uns egal. Um zehn bist du zuhause und damit
basta." Die Tochter muss um zehn Uhr abends daheim sein. Die Eltern haben dies zu
bestimmen. Ob sie ihr Gebot auch durchsetzen können und wie sie das tun, das steht
auf einem anderen Blatt.
Oder nehmen wir an, das gleiche Mädchen möchte am Samstagabend in die
Diskothek zum Tanzen. Die Eltern haben nichts dagegen. Was aber die Ausgangs-
115
dauer angeht, haben nun nicht mehr allein die Eltern zu entscheiden. Das
Jugendschutzgesetz verbietet Minderjährigen unter 14 Jahren den Aufenthalt in
öffentlichen Lokalen generell. Wenn sie älter sind aber noch nicht volljährig, mit
Einschränkungen. Diese Bestimmungen zum Schutze der Jugend haben ihre guten
Gründe. Und jetzt erweist sich die Bedeutung des anderen Teils des Grundrechts: es
ist zuvörderst die Pflicht der Eltern dafür zu sorgen, dass Gesetze, die auch zum
Schutzes ihres Kindes verkündet worden sind, einzuhalten. Es ist also nicht in erster
Linie Aufgabe des Veranstalters oder der Polizei darüber zu wachen, ob die
Jugendschutzbestimmungen eingehalten werden. Vielmehr ist es die "zuvörderst"
den Eltern obliegende Pflicht dafür zu sorgen, dass ihren Kindern nichts passiert.
Natürlich kann ein Gastwirt zur Verantwortung gezogen werden, der an
Minderjährige Alkohol ausschenkt. Dass aber die Eltern eigentlich die
Verantwortung dafür tragen, dass ihre minderjährigen Kinder vor Schaden, zum
Beispiel vor dem Weg in die Alkoholsucht, bewahrt werden, ist ebenso einsichtig wie
logisch. Eltern stehen in Bezug auf das Tun und Lassen ihrer Kinder in der
Verantwortung. Natürlich wird auch die Selbstverantwortung der Heranwachsenden
zu berücksichtigen sein. Die ist umso größer, je älter sie sind. Und sie wird in vielen
Fällen umso geringer sein können, je jünger ein Kind ist.
Nicht selten gibt es wegen dieses Grundsatzes der eingeschränkten Selbständigkeit
und Selbstbestimmung Konflikte zwischen den Kindern und ihren Eltern. Nur die
wenigsten Töchter und Söhne werden widerspruchslos die Einschränkungen
hinnehmen, die wir ihnen auferlegen, wenn wir auf die Jugendschutzbestimmungen
oder unsere Einsichten verweisen. Wir untersagen ihnen zum Beispiel, später als
Mitternacht daheim zu sein oder, um auf eine Gefährdung vor allem kleinerer Kinder
hinzuweisen, wir erlauben nicht, dass sie auf dem Beifahrersitz im Auto mitfahren.
Dass dies Kindern unter zwölf Jahren laut Straßenverkehrsordnung verboten ist, das
hat seine guten Gründe; sind doch Beifahrer bei Unfällen am ehesten gefährdet.
Es ist darum sehr wichtig, dass Kindern - sobald sie es verstehen können - stets
vermittelt wird, dass Einschränkungen ihrer Wünsche um ihrer selbst willen erfolgen
und nicht aus Lust oder Laune der Erwachsenen. Der noch heute übliche Satz:
"solange Du Deine Füße unter meinen Tisch setzt, hast Du zu tun, was ich sage" ist
freilich denkbar ungeeignet, Heranwachsende zum Verständnis unserer Sorgen um
sie zu bringen. Hier muss auch deutlich unterschieden werden: Einem Elternteil, der
dieses Argument bringt, dem geht es nicht um sein Kind sondern um seine Macht
über das Kind. Er will bestimmen, Macht ausüben, allein das Sagen haben.
Ein Elternteil, dem es in erster Linie um das Kind und dessen Wohlergehen geht, der
wird einen derartigen Konflikt anders lösen. Bestehen zwischen Eltern und Kindern
gute Beziehungen und werden ihnen zum Beispiel frühzeitig all jene
Selbständigkeiten eingeräumt, die sie bewältigen können, dann warten unsere
Mädchen und Jungen auch bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endlich mündig sind.
Wir sehen also, dass es in derartigen Situationen immer auch um die Frage geht:
Geht es mir
um meine Macht, meine Autorität, mein Selbstbild, meine Eitelkeit, meine
Interessen,
oder geht es mir um mein Kind?
116
Natürlich können wir unsere Kinder nicht überall und zu jeder Zeit vor Gefahren
schützen oder vor Schaden bewahren. Auch wir Erwachsenen können - trotz aller
Vorsicht - im Garten von der Leiter fallen oder in der Wohnung über den Teppich
stolpern und uns dabei jeweils den Arm brechen. Mit dem Hinweis darauf, dass wir
im Leben stets von ungezählten Risiken und Unwägbarkeiten umgeben sind, können
wir uns aber nicht davonstehlen, wenn es darum geht, durch uns beeinflussbare
Gefährdungen zu vermeiden. Der Alltag ist voll von Geboten und Versagungen
unseren Kindern gegenüber, die in erster Linie mit unserer Sorge um die körperliche
und seelische Gesundheit unserer Kinder begründet werden können. Und derartige
Begründungen kann ein Kind sehr gut verstehen. Auch wenn es zunächst mault und
voller Zorn die Tür zuknallt. Wenn wir ihm aber etwas verwehren, was es selbst tun
könnte, weil wir es ihm nicht zutrauen oder weil uns das zu erwartende Ergebnis
seiner Bemühungen nicht gut genug wäre, dann hätte es recht mit seinem Zorn.
Günstige Bedingungen auf dem Weg zur Selbständigkeit
Der zwölfjährige Anton war bereit, dem Vater im Garten zu helfen und wollte
den Rasen mähen. „Lass besser die Finger davon“, versuchte der Vater den
Eifer des Sohnes zu bremsen. „Lerne stattdessen Deine Vokabeln, damit Du
nicht wieder eine fünf schreibst!“ Doch Anton bettelte und versprach, hinterher
zu lernen. „Also gut“ willigte der Vater ohne Überzeugung ein. „Aber achte
darauf, dass ...“ und es folgten eine Reihe von Ermahnungen.
Als Anton fertig war, stellte er den Rasenmäher in den Schuppen und ging ins
Haus. Der Vater schaute nach und stellte fest, dass da und dort das Gras noch
hoch stand und auch der Rasenmäher war nicht gesäubert worden. Er holte
seinen Sohn und hielt ihm eine Strafpredigt: „Ich habe es ja gleich gewusst ... nie
machst Du eine Aufgabe ordentlich ... es ist besser, wenn ich alles selbst mache ...
so habe ich nur noch mehr Arbeit ... es ist ja kein Wunder, dass es auch in der
Schule nicht läuft...“
Beide waren nun verärgert. Anton zog sich zornig in sein Zimmer zurück und
dachte vielleicht: nichts kann man dem Alten recht machen, und statt zu lernen pah, wenn dem sowieso nichts recht ist - stellte er den Fernseher an.
Was hätte der Vater tun können? Am Abend zum Beispiel sagen: „Der Rasenmäher
muss noch gesäubert werden. Das Gras wird jetzt trocken sein und sich leichter
entfernen lassen“. Mit dem ersten Satz sagt der Vater dem Sohn, was noch zu tun ist.
Mit dem zweiten öffnet er dem Sohn mit dem Hinweis auf das getrocknete Gras eine
Möglichkeit „sein Gesicht zu wahren“.
Und bei der nächsten Gelegenheit wird der Vater nicht zögern und zaudern und wird
auf alle Ermahnungen verzichten, sondern stattdessen klare Bedingungen
aushandeln: Rasen mähen - selbstverständlich. Und vergiss nicht, heute Abend das
Gerät zu reinigen!
117
Wenn es dann wieder nicht klappt, dann kann das nur heißen, dass Anton erst im
nächsten Jahr wieder nachfragen darf. Vielleicht ist er dann reifer und eher in der
Lage, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Geschichte weist uns auf eine sehr wichtige Bestrebung hin, von der in anderen
Zusammenhängen (vgl. S. 24f) schon die Rede war: Kinder wollen aus eigenem
Antrieb heraus die Welt erkunden! Sie sind von Natur aus neugierig, probieren gern
etwas aus und möchten gern alles selber machen. Gelegentlich ärgern wir Eltern uns
darüber, dass unsere Kinder nur schwer dazu zu bringen sind, uns etwas zu helfen.
Das Beispiel mit dem Rasenmäher deutet an, woran die Unlust oder der Unwillen der
Kinder liegen kann. Je öfter wir Kinder daran hindern, etwas zu tun, wofür wir sie
noch für zu klein, zu ungeschickt, zu dumm oder zu unzuverlässig halten, und ihnen
das auch noch sagen (!), umso weniger werden sie bereit sein uns zu helfen, wenn wir
das wünschen. Selbst wenn ein Kind das so nicht sagen kann, dann reagiert es nach
dem Denkmuster: „Damals, als ich selbst tun wollte, habt ihr gesagt, dass ich die
Finger davon lassen soll. Heute will ich nicht mehr!“
An viele Beispiele können wir in diesem Zusammenhang denken. Irgendwann wollte
ein Kind zum ersten Mal den Staubsauger benutzen, selbst abwaschen, den Tisch
decken oder einkaufen gehen. Wir aber haben zu viel Bedenken oder Einwände
gehabt, und unser Kind gebremst. Dabei wollte es doch nur das Gleiche tun, wie wir
und den Vorbildern Mutter oder Vater nacheifern.
Verantwortung soll man nicht lehren sondern geben. Zeigt sich ein Kind der
zugelassenen oder ihm übertragenen Verantwortung noch nicht gewachsen, dann
versuchen wir es erneut.
Ein Kind sollte selber sagen oder am eigenen Leibe erfahren, was es leisten kann
und was noch nicht. Das Bewusstsein eigener Verantwortung macht ein Kind
eifrig, stolz und zufrieden. Wir Eltern erkennen sein Bemühen an - selbst wenn das
Ergebnis nicht unseren Maßstäben entspricht. Es ist von unschätzbarem Wert für die
Herausbildung eines echten Interesses, also: selbständig etwas leisten zu wollen,
wenn unser Kind erfährt, dass wir seine Bemühungen anerkennen.
Selbständigkeit wird gefördert
wenn Eltern und Erzieher das „Selber-machen-wollen“ nicht blockieren,
wenn Eltern und Erzieher Selbsttätigkeit anregen,
wenn Eltern und Erzieher Kindern Gelegenheit geben, selbst die eigenen
Möglichkeiten und Grenzen herauszufinden,
wenn Eltern und Erzieher ein Kind ermutigen, wenn es nicht gleich alles so gut
kann, wie es sich selbst das wünscht,
wenn Eltern und Erzieher ihrem Kind und seinen Fähigkeiten vertrauen und
damit den Grundbedürfnissen zu ihrem Recht verhelfen.
Je älter ein Kind wird, umso mehr trauen wir ihm zu. Dass Kinder, vor allem in der
Vorpubertät, also im Alter etwa zwischen zehn und vierzehn, gern und zuverlässig
Aufgaben übernehmen wollen und können, das beweisen uns unsere Kinder, wie
oben dargestellt, wenn wir Eltern abwesend sind. Sie kümmern sich mit großem
Eifer um den Haushalt, versorgen kleiner Geschwister, die Pflanzen und die Katze
118
oder den Hund. Aber auch bei Ferienunternehmen, zum Beispiel auf einer Radtour,
oder mit Booten auf einem Fluss: stets können die Erwachsenen auf die Kinder
zählen. Und je mehr Eigenständigkeit ihnen überlassen bleibt, mit umso größerem
Engagement tun sie mit. In unseren Jugendverbänden und den Kinderfreizeiten, die
die örtliche Jugendpflege veranstaltet oder bei Schullandheimaufenthalten sind die
Erfahrungen mit Kindern in Bezug auf deren Einsatzbereitschaft, und Zuverlässigkeit
ebenso positiv wie in Sportgruppen oder in den Musikvereinen. Einen zusätzlichen
Beleg dafür, dass Kinder zu bemerkenswerten Leistungen fähig sind, wenn die
Erwachsenen ihnen diese Möglichkeiten geben, zeigt uns ein Bericht aus den ersten
Nachkriegsjahren über Erfahrungen mit der Kinderorganisation der FDJ, den
Jungen Pionieren. Ein ehemaliger Pionierleiter berichtet über seine Erfahrungen aus
den Jahren 1949/50 an der Schule einer thüringischen Kleinstadt:
„...Die Verlässlichkeit, der Eifer und die rückhaltlose Offenheit im Umgang
miteinander waren weitere Eigenschaften der Mädchen und Jungen, die im
Schulalltag, in den beiden örtlichen Ferienlageraktionen, und die in den
Zeltlagern Mitverantwortung übernahmen. Wenn wir Erwachsenen Kindern
Eigenständigkeit und Verantwortung überlassen, die sie bewältigen können,
dann zeigen sie erstaunliche Leistungen. Ich denke, dass keines dieser
Mädchen und Jungen aus einer Hauptschule, die damals zwischen zehn und
vierzehn Jahren alt waren, einen Schaden in seiner Entwicklung nahm. Im
Gegenteil: diese Zumutungen förderten Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
und bereiteten den Boden für Eigenschaften wie Verantwortungsbereitschaft,
Teamgeist, Führungsfähigkeit und eine betont kritische Haltung sich selbst
und anderen gegenüber, sowie den Mut, sich entsprechend zu äußern. Im
Einzelnen beteiligten sich die Mädchen und Jungen der Klassen fünf bis acht
an
der Organisation von Lernaktiven, um allen Kindern gute Schulleistungen
zu ermöglichen; Kinder halfen also anderen Kindern beim Lernen,
der Vorbereitung von Festen und Feiern,
der Leitung von Spiel- und Tanzgruppen,
der Vertretung der Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder der ganzen
Schule und hierbei waren die gewählten Führungskräfte - heute heißen sie
„Klassensprecher“ oder „Schulsprecher“ - verantwortlich für eine gute
Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und der
Schulleitung. Besonders diese Aufgabe wurde sehr ernst und mit großem
Selbstvertrauen wahr genommen...“
Wer sich lösen können soll, muss sich gebunden haben
Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch in dieser Überschrift. Die große Bedeutung,
die einer positiven Entwicklung eines Kindes in den ersten Lebensjahren zukommt,
ist seit den Forschungsergebnissen von Selma und Bernhard Hassenstein (27/1978)
erwiesen. Eine wichtige Funktion dieser ersten Lebensphasen haben jene
119
Beziehungselemente, die als die „Bindung“ eines Säuglings und kleinen Kindes an die
Bezugspersonen bezeichnet werden. Und nur wenn ein Kind die Chance gehabt hat,
sich zu binden, dann kann es sich auch lösen. Schutz, Bindungsmöglichkeit,
Verlässlichkeit, diese Begriffe begegneten uns bereits bei den Grundbedürfnissen von
Kindern. Nun geht es um das Selbständigkeitsstreben, um das Streben eines Kindes
weg von Mutter und Vater. Zum Weiterdenken dazu folgende Ausführungen:
Es ist für ein Kind, das sich bis dahin nur über die anderen wahrnahm, nicht leicht,
sich „ausgesetzt“ zu fühlen und zu merken, dass es ja gar kein integrierter Bestandteil
der Anderen ist. Solange ein Kleinkind seiner sich selbst nicht in dieser distanzierten
Weise bewusst war, konnte es von sich selbst nur in der dritten Person sprechen.
Doch nun hat es ein „Ich“ und kann „ich“ sagen!
Darauf ist es stolz und erprobt diese neue Lebensqualität sofort und laut und
deutlich vor allem, wenn es um Verweigerungen geht. Nun heißt es nicht mehr
„Heinz will nicht“, sondern „ich will nicht“. Allerdings zeigt sich die von der
Entwicklungspsychologie unterstellte Not eines Kindes an der Schwelle zum
vierten Lebensjahr auch als Herausforderung an die Eltern. Es will sich mit diesem
seinem Verhalten einmal dessen vergewissern wollen, ob Mutter und/oder Vater
es noch lieb haben. Es fragt sogar immer wieder: „hast du mich noch lieb...?“
Andererseits aber wächst nun rasch seine Selbstständigkeit und es wird mehr und
mehr fähig, sich auf andere Kinder einzulassen, sich in andere hin einzufühlen,
kurz: soziale Verhaltensweisen entwickeln sich von nun an kräftig weiter. Darum
auch kann es jetzt in den Kindergarten gehen und dort die vielen Kinder gut
verkraften.
Eine ganz entscheidender Gesichtspunkt ist - zunächst in den Kindheits- und
Jugendphasen - er bleibt aber auch später, wenn auch nicht so prägend erhalten - wie
uns unsere soziale Umwelt, also Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer,
wahrnehmen. Der Mensch wird durch das „Du“ zum „Ich“ sagt Martin Buber. Unser
Selbstbild, unser Selbstbewusstsein sind zunächst maßgeblich durch andere
Menschen beeinflusst worden. Und wenn nun die nächste, die schwierige zweite
Lösungsphase beginnt, die wir die Pubertät nennen, dann wird dieser Gesichtspunkt
mit darüber entscheiden, ob und wieweit dieser Lösungsprozess schmerzlich ist.
Ganz vereinfacht ließe sich sagen: Je positiver ein Heranwachsender sich sehen
gelernt hat, umso stärker sind die Fundamente, auf die er seine Persönlichkeit nun
beginnen kann selbst auszuformen. Und umso „schmerzfreier“ verlaufen für ihn
und seine soziale Umwelt die Lösungsprozesse.
Freilich wird und kann kein pubertierender Heranwachsender auf seine
„Trotzreaktionen“, seine Herausforderungen verzichten. Er braucht sie, um sich
der Zuneigung seiner Eltern zu vergewissern, die trotz aller Lösung für ihn wichtig
bleibt. Er braucht widerständiges Verhalten aber auch, um im vertrauten Kreis
seinen Frust loszuwerden, dessen Gründe draußen, in Schule oder Freundeskreis
zu suchen sind oder aber, um seine Grenzen zu erproben.
120
Erfahrungen von Eltern
Welche Bedingungen sollten geschaffen sein, die wir für die Heranwachsenden in
diesen schwierigen Jahren als förderlich erlebten. Hierzu einige Erfahrungen, die
Eltern mit folgenden Stichworten benannten:
Wir müssen gute Vorbilder sein; Idole brauchen unsere Kinder und verlässliche
Menschen.
Liebe, Zuneigung und Vorleben sind wichtig.
Freude zulassen; Vertrauen geben; in den Umgangsformen höflich bleiben, so
mit den Kindern umgehen, wie wir das uns gegenüber erwarten; wir sollten den
Mut haben, gegenüber unseren Mädchen und Jungen Fehler einzugestehen und
uns entschuldigen; sie ernst nehmen.
Wir selbst müssen uns an Regeln halten und Grenzen beachten.
Zuhören können, sich Zeit nehmen; das Gefühl vermitteln, zu verstehen,
Verstehen zu wollen; gute Beziehungen zu den Großeltern; gute Kontakte zu
Freunden und den Freunden der Eltern fördern, auch zu Lehrerinnen und Lehrer
und Lehrern.
Gemeinsame Aktivitäten mit Eltern; Freundschaften zulassen; gute Beziehungen
zu Erziehern und Lehrern pflegen; Tiere als Freunde zulassen; offene Türen für
Freunde sollten wir schaffen.
Der Familienzusammenhalt bietet eine feste Stütze an.
Es sind hier die Erfahrungen wiedergegeben, die von Eltern in Elternseminaren
jeweils am häufigsten genannt wurde. Eine sehr große Rolle spielen
Verhaltensweisen von Eltern ihren Heranwachsenden gegenüber. Und wenn
„Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit“ im Kapitel über die Grundbedürfnisse als die
drei „Z“ elterlicher Liebe benannt wurden, so fügen wir nun drei „V“ dazu:
verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen,
vorbildhaftes Verhalten und
väterliches Mittun.
Besonders dem Vater kommt, sofern er in der Familie mit lebt, in dieser Zeit ein
hoher Stellenwert zu. Ein erwachsener Mann, der ohne Vater aufwuchs, erklärte
einmal, dass es sein Großvater war, der ihm in diesen Jahren besonders wichtig
wurde. Ohne dass aus dieser Einzelerfahrung eine notwendige Bedingung abgeleitet
werden muss, so zeigt sie doch, dass man auf männliche Bezugspersonen bei
Heranwachsenden nicht ohne Not verzichten sollte. Vor allem dort, wo es Väter gibt,
sollten sie sich nicht ausklinken! Sie sind auch für die Töchter wichtig, deren
Vaterbild einen erheblichen Einfluss auf die eigene Lebensgestaltung mit Partnern
haben wird.
Weitere günstige Rahmenbedingungen für die Phasen der Pubertät, wie Eltern sie
selbst erfahren haben, sollen ergänzend genannt werden:
Wir sehen mit Verständnis, dass sich unsere Heranwachsenden
zurückziehen und zeitweilig in ihrer eigenen Welt leben wollen. Dazu
121
brauchen sie ihr eigenes Zimmer, ihr eigenes „Reich“ mit eigener Ordnung.
Sie brauchen aber auch das Recht, frei über ihr Taschengeld und andere
eigene Einnahmen verfügen zu können.
Wichtig ist, dass wir nicht nur diese Eigenständigkeiten zulassen
beziehungsweise akzeptieren, sondern auch ihre „Intimsphäre“ respektieren.
Wir klopfen an, bevor wir in ihr Zimmer treten oder fragen sie um
Erlaubnis. Das gegenseitige Respektieren eigener Bereiche, so wie es auch
für Ehepartner selbstverständlich sein sollte, ist ein bedeutsames, die
Eigenverantwortung stärkendes Signal an unsere Kinder.
In den Gesprächen mit den Heranwachsenden erfahren wir immer wieder, dass
ungefragter Rat nicht willkommen ist. Über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und
Weltanschauung sprechen wir darum, wenn wir nicht ausdrücklich gefragt
werden, nur beiläufig. Uns gegenüber unseren Mädchen und Jungen mit
missionarischem Eifer aufzuspielen und unsere Weisheiten oder Überzeugungen
zu verkünden, erregt in ihren Augen, wenn sie nichts davon hören wollen,
günstigenfalls nachsichtiges Kopfnicken oder Kopfschütteln. Gerade bei derartigen
sehr sensiblen Themen bewähren sich das Prinzip vom „Vor-Leben“ und der
Verzicht auf Einreden. Wir sollten die anderen Einstellungen, Neigungen und
Vorlieben unserer Mädchen und Jungen auch dann akzeptieren, wenn sie nicht
mit unseren eigenen übereinstimmen. Hier liegen nicht selten die Ursachen für
erhebliche Differenzen zwischen jungen Menschen und ihren Eltern. Unsere
Heranwachsenden fühlen sich ihrer Zeit verbunden und nicht selten auch mit
jenen Jugendgruppen, in denen sie Anerkennung und Gemeinschaft finden. Wenn
für derartige Gruppen Ideale oder Idole, gemeinsame Vorlieben und Bestrebungen
kennzeichnend sind, dann können diese, die jeweilige Gruppe kennzeichnenden
Besonderheiten unseren widersprechen. Ein Vater erzählte hierzu folgende
Geschichte aus seinem Leben:
„Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich durch Klassenkameraden in eine
Gruppe, die sich zur deutschen Linken rechnete. Die damals, zu Beginn der
siebziger Jahre, vertretenen Emanzipationsbestrebungen in dieser Gruppe,
kamen meinem eigenen Streben nach Freiheit von Bevormundung durch meine
Eltern entgegen. Meine Eltern waren aber in ihrer Kirchengemeinde
eingebunden und vertraten eine religiöse Richtung, die ich nicht mehr gut
heißen konnte. Es kam daheim zu sehr heftigen Auseinandersetzungen. Ich war
knapp achtzehn Jahre alt, da versuchte der Vater sogar, mich zu schlagen. Ich
war aber stärker und konnte ihn abwehren. Ich musste dann ausziehen und
sehen, wo ich bleibe. Bei Freunden kam ich dann unter, beendete meine
Ausbildung und blieb, auch wirtschaftlich, unabhängig.
Mit meinen Eltern kam es zur Annäherung, als ich heiratete und selber Vater
wurde. Meine Frau und ich wollen einen derartigen Konflikt später vermeiden
und uns nicht mit Verboten und Geboten in das Leben unserer Kinder, wenn
sie dann so weit sind, einmischen...“
122
In Lebensgeschichten können wir nachlesen, dass es derartige Störungen der
Beziehungen zwischen Eltern und ihren, im Jugendalter „unbotmäßig“
gewordenen Kindern immer wieder gab. Diese Störungen sind vor allem auf die
mangelhafte Einsichtsfähigkeit der Älteren, auf deren Starrsinn, deren
Rechthaberei – aber auch auf deren Ängste zurückzuführen. Nicht vom jungen
Menschen dürfen wir in der Pubertät „Reife“ und Verständnis erwarten. Dies
bleibt allein und zuerst unsere Aufgabe. Greifen wir die Anregungen der Eltern auf,
die oben aufgezählt wurden, bleiben höflich, haben Vertrauen und sind
konsequent freundlich-verstehend und tolerant. Genauso wichtig aber sind Zeit
nehmen und Zuhören wollen und können. Verzichten wir auf jede
„Geschwätzigkeitspädagogik“, mit der Mütter oder Väter einem Heranwachsenden
das „Ohr abschwätzen“. Stattdessen dürfen wir auch mal still sein und zuzuhören.
Dann kommt der Moment, wo auch er uns zuhören kann und wir ihm sagen,
welche Sorgen wir uns um ihn machen.
7
Der Umgang mit Geld
Einführung
Vom Geld ist eigentlich in der Pädagogik selten die Rede. Davon spricht man nicht.
Geld verdienen, Einkünfte haben, finanziell gesichert zu sein oder wie ein Mensch
mit Geld umgehen können sollte, ohne sich zu übernehmen: alles das sind keine
offiziellen Zielvorstellungen von Erziehung und Bildung. Was später in Beruf und
Privatleben selbstverständlich ist, fällt in der pädagogischen Literatur und
Ausbildung unter den Tisch. Dabei spielt das Geld in unseren, auf Geldwirtschaft
beruhenden gesellschaftlichen Systemen, im Leben des Einzelnen, wie für die
Gemeinschaft eine ganz zentrale, in nicht wenigen Fällen: die zentrale Rolle.
Übrigens auch in jenen sozialen Feldern, in denen das Heil des Menschen nicht in
materiellen Gütern, sondern in seiner Seele gesehen wird. Zu denken ist da zum
Beispiel an die Religionsgemeinschaften, die von alters her das Ausmaß der
Verbindung ihrer Glieder zur Kirche am Spendenaufkommen maßen. Kürzlich
sagte unser Bürgermeister in der Gemeindeversammlung, dass vom
Kirchensteueraufkommen auch unser Kindergarten mitfinanziert wird. Bei vielen
123
Gelegenheiten wird also an Geld gedacht und es ist ein allgemein anerkannter
Wert, Geld zu verdienen, Geld zu haben oder gar vermögend zu sein. Reichtum
(und Schönheit) sind gültige Ideale in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft.
Diese Ideale sind so absolut, dass es in der Regel gleichgültig ist, auf welche Weise
jemand zu seinem Reichtum kam, wenn er dabei nur nicht allzu offensichtlich
geltendes Recht verletzte.
In unserem Alltag verbringen wir viele Stunden damit, Geld zu verdienen und
andere Stunden, um Geld auszugeben.
Auf diese gesellschaftliche Wirklichkeit bereiten wir unsere Kinder
selbstverständlich vor: sie erleben tagtäglich, welchen Wert Geld hat. Ohne Geld
kann man nicht leben. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen schaffen wir uns,
in dem wir einmal Geld herbeizuschaffen suchen und es so verwalten, dass wir
keine Not leiden müssen. Kindern geht es in Bezug auf die Einkommensquelle
ihrer Eltern sowie den Erwachsenen in Bezug auf die Reichen in der Gesellschaft:
sie fragen nicht danach, auf welche Weise das Geld erworben wurde. Wohl aber
interessiert es unsere Kinder bereits, wie viel Geld vorhanden ist. Bevor sie
erfahren, auf welche Weise Mutter oder Vater Geld verdienen, erleben sie, dass
man nicht beliebig viel Geld zur Verfügung hat, dass man haushalten oder gar
sparen muss. Und es ist an dieser Stelle hinzuzufügen: hoffentlich erfahren das alle
Kinder und so früh wie möglich. Denn die Aufgabe der Erziehung in diesem Punkt
kann sich nicht mit der Vermittlung von Informationen darüber begnügen, dass
jedermann Geld gegen Leistung erhält.
In den Familien ist Geld immer ein Thema
Wir müssen unsere Kinder dazu anhalten, mit Geld wirtschaften zu lernen, also
mit einem bestimmten Betrag über eine bestimmte Zeit auszukommen. Wer den
Umgang mit Geld nicht gelernt hat, wer also nicht "wirtschaften" kann, dem helfen
keine Bildungsabschlüsse, nicht die Höhe seiner Einkünfte oder gar ererbte
Vermögen auf Dauer aus den Schwierigkeiten heraus, die er sich einbrockt.
Was heißt denn nun "wirtschaften lernen"? Das heißt, wie eben festgestellt,
1.
mit einer bestimmten Geldmenge eine bestimmte Zeit auszukommen. Bei
Gehalts- und bei Lohnempfängern beträgt diese Frist einen Monat. Das heißt zum
anderen,
2.
diese Geldmenge - also das Monatseinkommen - so aufzuteilen, dass es für
alle lebensnotwendigen Aufwendungen in zumindest diesem Zeitabschnitt reicht.
Wir alle kennen das und wissen, dass wir neben den Kosten für Lebensmittel, die
für Kleidung, Miete und Mietnebenkosten, Telefon, Auto u.a. zu kalkulieren haben.
Im Grunde braucht jedes Familienbudget seine eigene Ausgabenplanung und Kontrolle. Ausgaben für Kleider, Möbel oder andere größere Aufwendungen sind
124
aus ihrem Anteil in einem Monatseinkommen allein nicht finanzierbar. Das heißt
also
3.
hier müssen Anteile aus mehreren Monatseinkommen zusammenkommen
also zurückgelegt beziehungsweise gespart werden, um sich diese Ausgaben leisten
zu können.
Diese drei Elemente der Haushaltführung vermitteln wir Kindern dann, wenn sie
auf die gleiche Weise lernen, ihr Taschengeld zu verwalten. Sobald unser Kind in
der Lage ist, eine Woche zu überblicken, gleichsam sieben Tage planen zu können und das ist im allgemeinen so im achten Lebensjahr der Fall - erhält es ein eigenes,
das heißt frei verfügbares Budget. Wie viel Geld aber können wir den Kindern
geben? In der Taschengeldhöhe können wir uns nach den Taschengeldsätzen
richten, wie sie für Kinder in öffentlicher Erziehung gezahlt werden. Die Höhe ist
wie Löhne und Gehälter auch, verschieden. Sie beträgt zum Beispiel monatlich 23:
bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 9. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 11. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 13. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres
bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und danach
2
EURO wöchentl.
8
EURO wöchentl.
8-10 EURO wöchentl.
13-16 EURO
mtl.
18-22 EURO
mtl.
25-30
EURO
mtl.
35-45
EURO
mtl.
70,00
EURO
mtl.
Dieses Taschengeld erhalten in genau dieser Höhe alle Kinder regelmäßig. Auf
diese Weise erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihrerseits das Geld einzuteilen.
Wenn sie älter werden, können wir ihnen ihr Geld auch monatlich zahlen
beziehungsweise überweisen. Es hat sich im Rahmen der „Gelderziehung“ als
durchaus zweckmäßig erwiesen, Kindern ein eigenes Girokonto einzurichten. So
gewöhnen sie sich früh an den Umgang mit Banken oder Sparkassen und zum
Beispiel daran, Kontoauszüge lesen zu können. Natürlich entscheiden die Kinder
selbst, was sie mit ihrem Geld machen. Dies ist auch im Bürgerlichen Gesetzbuch
so verankert: Bei Beträgen, die sich im Taschengeldrahmen bewegen, sind
Minderjährige geschäftsfähig (vgl. § 110 BGB).
Zur eigenen Verantwortung gehört aber auch, Konsequenzen aus seiner
Haushaltsführung zu tragen. Das heißt unter anderem: wenn das Geld ausgegeben
ist, dann hat ein Kind nichts mehr. Wir Eltern dürfen ohne Not keinen Zuschuss
oder einen Vorschuss gewähren. Hier wird sich wieder einmal bewähren, wenn wir
uns daran gewöhnt haben, konsequent Grenzen zu setzen.
Als Druckmittel setzen wir Geld nicht ein. Das heißt, wir verzichten darauf, das
Taschengeld zu sperren oder gar Geldstrafen zu verhängen. Dagegen kann es im
Ausnahmefalle richtig sein, ein Kind dazu anzuhalten, sein Taschengeld oder Teile
125
davon zur Wiedergutmachung einzusetzen. Wenn es zum Beispiel einem anderen
Kind absichtlich oder leichtfertig einen Vermögensschaden zugefügt hat, sollte es
sich angemessen an der Wiedergutmachung beteiligen. Auch hierfür ein Beispiel:
Unser Kind leiht sich ein Fahrrad beim Nachbarkind aus, obwohl es von uns
immer wieder hörte, dass man nichts leihen oder verleihen sollte. Mit
diesem Fahrrad stürzt es. Unser Kind hat sich dabei verletzt, was wir, trotz
allem Schreck als hilfreiche Konsequenz ansehen dürfen. Das Fahrrad aber
war ebenfalls beschädigt und musste repariert werden. Wir Eltern oder
unsere Versicherung haben die Kosten zu übernehmen. Unser Kind aber
wird daran beteiligt. Der zu entrichtende Betrag wird vom Alter und der
Vermögenslage unseres Kindes abhängen. Einen Erstklässler werden wir
vielleicht mit einer oder zwei Euro beteiligen. Einen Achtklässler
entsprechend höher. Es hat sich für die Wirkung dieser Wiedergutmachung
als wertvoll erwiesen, wenn unser Kind seinen Anteil persönlich überreicht.
Es ist diesem Wiedergutmachungsprozess jede Anonymität zu nehmen!
Nicht in allen Familien reicht das Einkommen aus, um den Kindern regelmäßig
ein angemessenes Taschengeld zu bezahlen. Generell gilt, was schon in unseren
Kindertagen üblich war: wir Eltern sollten unseren Kindern oder Jugendlichen bei
der Suche nach kleinen Jobs behilflich sein. Gerade wenn Kinder wissen, dass die
finanzielle Not im Elternhause groß ist, könnten sie ein schlechtes Gewissen
bekommen, wenn sie von ihren Eltern Geld bekommen. Vielleicht fühlen sie sich
dann auch nicht frei genug, ihr Geld auch für sich auszugeben. Wenn sie aber ihr
Geld durch Hilfen beim Nachbarn oder in Ferienjobs verdienten, dann sind sie
zufrieden, weil sie ihre Eltern in Bezug auf das Taschengeld entlasten können.
Diese Überlegung aber darf nicht falsch gedeutet werden, wie am folgenden
Beispiel erläutert werden soll:
Ernst freute sich auf seinen sechzehnten Geburtstag. Er wollte diesen Tag mit
seinen beiden Eltern und mit der älteren Schwester verbringen, die ebenfalls,
wie er, in einem Heim lebte und dort eine Ausbildung machte. Mutter und
Vater, beide getrennt voneinander lebend und beide Sozialhilfeempfänger,
kamen auch in die nahe gelegene Kreisstadt, um dort, für drei Stunden vereint
mit ihren beiden Kindern, Ernsts Geburtstag zu begehen. Am Abend im Heim
zurück, erzählte er, wie es war. Mutter und Vater führten die Kinder in eine
Gaststätte. Als es ans Bezahlen ging, hatte, außer der neunzehnjährigen
Tochter, niemand Geld dabei. Sie musste nun die Zeche von ihrem Taschengeld
bezahlen, was sie auch gern und klaglos tat. Sie hatte auf Grund ihrer
Erfahrungen mit Mutter und Vater schon damit gerechnet. Und den Eltern
war das nicht ein bisschen peinlich.
Dieses Geburtstagsereignis war im Frühling 2012, also keineswegs in längst
vergangenen Zeiten. Möglicher Weise bedienen sich in unserer Gesellschaft auch
andere Eltern und durchaus nicht um ihnen eine Freude zu machen, aus dem
126
Vermögen ihrer Kinder. Dort wo das so ist, fällt es Kindern schwer, richtig mit
Geld umgehen zu lernen.
In vielen Familien besteht unter Umständen die Gefahr, dass Kinder zu viel Geld
zu ihrer freien Verfügung haben. Das kann eine Gefährdung für die Entwicklung
von Kindern bedeuten, wenn wir Eltern uns zuvor nicht erst davon überzeugt
haben, dass unsere Kinder mit Geld umgehen können und es ohne Schaden zu
nehmen, verwenden. Natürlich sind die Maßstäbe verschieden. Während ein
Elternpaar nichts dabei findet, wenn sich ein Achtjähriger einen Schokoriegel
kauft, möchten andere Eltern lieber, dass er sein Geld für eine Banane ausgibt.
Doch hierzu gibt es keine Regeln aus der Pädagogik, sondern allein das Gebot, dass
Kinder selbst entscheiden können sollten, wofür sie ihr Geld ausgeben! Es muss in
allen Fällen in diesem so wichtigen und für die Zukunft der Kinder so
bedeutungsvollem Gebiet, das Prinzip der Eigenverantwortung konsequent
angewendet werden, wenn sie lernen sollen, mit Geld angemessen umzugehen.
Die Rahmenbedingungen sind auch in diesem Bereich unseres Familienlebens
wichtig. Hierzu sind einige günstige Verhaltensweisen zu rechnen, die nachfolgend
genannt und erläutert werden:
Einige Rahmenbedingungen und Erfahrungen
1.
Selbstverständlichkeit:
Alle
hier
erwähnten
Einstellungen
und
Verhaltensweisen
werden
selbstverständlich im Alltag umgesetzt. Das heißt, dass sie nicht besonders betont
werden oder sonst wie aus dem üblichen Rahmen herausfallen. Wir geben ihnen
den Charakter der Selbstverständlichkeit über das sich gesondert zu reden nur
dann lohnt, wenn wirklich gravierende Ereignisse dazu auffordern: Solche
Ereignisse können sein: eine besonders große Ausgabe, das erste Taschengeld, das
erste selbstverdiente Geld.
2.
Offenheit:
Was Mutter und Vater verdienen ist zwischen ihnen kein Geheimnis. Wenn Kinder
sich dafür interessieren, wenn sie also von sich aus nachfragen (ernst zu nehmen
ist ein entsprechendes Interesse etwa ab der Pubertät), sollte offen darüber
gesprochen werden. Jüngere Kinder geben sich zufrieden, wenn ihnen gesagt wird,
dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, da es immer genug zu essen geben
wird und man über die Einkommenshöhe nicht sprechen möchte. Die
Finanzsituation einer Familie gehört zu deren Intimsphäre; es müsste also
sichergestellt sein, dass entsprechende Kenntnisse in der Familie bleiben und von
den Mädchen und Jungen nicht nach außen getragen werden. Unsere
Heranwachsenden haben, wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, hierfür
auch Verständnis.
3.
Gemeinsamkeit:
127
Gerade was Budgetverwaltung und Rücklagen für bestimmte Ausgaben (Miete,
Ferien, neues Auto, oder eine andere größere Anschaffung) betrifft, stellen wir in
Familien dann eine beiläufige Gemeinsamkeit her, wenn Vater und Mutter
derartige Probleme und Entscheidungen in Gegenwart ihrer Kinder besprechen.
Der beiläufige, selbstverständliche Charakter wird gewahrt, wenn solche
Gespräche bei Tisch oder während gemeinsamer Autofahrten stattfinden, die
Kinder also Zeugen dieser Gespräche werden, ohne daran teilnehmen zu müssen.
Kinder können bei derartigen Gelegenheiten sich in der Art und Weise an
Gesprächen beteiligen, die ihrem Reife- und Interessensstand entsprechen.
Gesonderte Familienkonferenzen zu diesen Fragen sind nicht nötig. Sie gäben den
entsprechenden Vorgängen und Entscheidungen eine Bedeutung, die sie
normalerweise im kindlichen Erleben nicht haben. Wenn Eltern freilich daran
denken, ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen, sind sie gut beraten, ihre Kinder
in diese Vorbereitungen einzubeziehen und es lässt sich als Faustregel festhalten:
je größer (einschneidender oder bedeutungsvoller) die Folgen von
Ausgabenanlässen voraussichtlich für die Kinder sein werden, umso eher sollten
die Kinder in Informations- und Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden.
4.
Konfliktfreiheit:
Überall dort, wo um das Geld herum im Lebensbereich der Kinder gestritten wird,
ist die Gefahr groß, dass Kinder bei dem Gedanken an Geld Ängste entwickeln. Der
Umgang mit Geld wird dann nicht von der hierfür notwendigen Gelassenheit
bestimmt, sondern von anderen Gefühlen begleitet. Es sind nicht zuletzt tief
verwurzelte, weil in der Kindheit aus der Umgebung aufgesogene Ängste und
Sorgen, die bei dem Einen später zu Raffgier bei einem anderen zu Geiz, bei wieder
anderen Personen zum Streben nach Sicherheit um jeden Preis führen können.
Sorgen um "das liebe Geld" kennen wir alle. Es wird wenige Lebensgeschichten
geben, in denen in dieser Beziehung immer alles glatt gegangen ist. Mancher von
uns kennt das bedrückende, in der Nähe panischer Angst angesiedelte Gefühl, das
dann auftritt, wenn man plötzlich ohne Geld dasteht, wenn man, im Regelfalle
selbstverschuldet, "pleite" ist. Doch wenn Erwachsene Probleme im Umgang mit
Geld haben, ist das ihre Sache. Sobald Kinder davon betroffen sind, ändert sich
das. Nirgendwo tritt die Elternverantwortung deutlicher zu Tage, als in diesem
Bereich. Das heißt, wenn Kinder zu versorgen sind, muss mit Geld so umgegangen
werden, dass es keine gravierenden Mangelsituationen und dass es deswegen keine
Konflikte gibt. Wer hier Probleme hat, tut gut daran, sich schleunigst nach Hilfe
umzutun. Alles ist erlernbar: auch eine richtige Haushaltführung.
6.
Geldschwierigkeiten:
In verschuldeten oder unverschuldeten Notsituationen - zum Beispiel
hervorgerufen durch Überschuldung und/oder Arbeitslosigkeit - ist es dringend
nötig, ebenfalls mit den Kindern offen die Verhältnisse darzulegen und sie nicht zu
verschleiern. Kinder verstehen unsere Sparsamkeit besser, wenn sie deren Gründe
kennen. Wenn sie nicht Bescheid wissen, kommen sie vielleicht auf die Idee, wir
128
würden ihnen ein neues Fahrrad darum nicht kaufen, weil wir sie nicht mögen
oder weil uns etwas anderes wichtiger ist, als sie es sind.
Das andere Extrem ist natürlich genauso schädlich: Wenn jemand nur wenig Geld
hat und eigentlich kaum über die Runden kommt und dennoch ein besonders
teures Fahrrad kauft und dabei Schulden machen muss, der handelt schlichtweg
falsch. Vielleicht meinen diese Eltern „aber mein Kind darf das nicht merken/soll
darunter nicht leiden“ und was es dieser Sprüche noch mehr geben mag. Unter
Umständen geht es überhaupt nicht um das Kind sondern vielmehr um das
Ansehen bei den Nachbarn: „die sollen nicht denken, dass wir uns das nicht leisten
könnten!“
Wer sich um derartiger Äußerlichkeiten wegen in Schulden und damit nicht selten
in große Not stürzt, der tut seinen Kindern keinen Gefallen. Kinder lieb haben, das
heißt nicht Kinder „kaufen“ sondern ihnen gegenüber offen sein, ihnen vertrauen
und mit ihnen Leid und Freud teilen. Natürlich können Kinder traurig sein oder
gar zornig, wenn wir ihnen erklären, dass wir ihnen ihre Wünsche nicht erfüllen.
Sind sie sich aber unserer Liebe gewiss, dann wird das unsere Beziehungen nicht
trüben.
Der Deutsche Caritasverband hat festgestellt, dass „Jugendliche immer häufiger
pleite“ sind. Neben Arbeitslosigkeit, Scheidung und Krankheit spielen bei jungen
Menschen Unerfahrenheit und übersteigerte Konsumansprüche eine große Rolle
bei der Überschuldung. Wo aber haben die Betroffenen Schuldner den Umgang
mit Geld und Bankgeschäften gelernt? Die Vermutung ist berechtigt, dass das
Vorbild von uns Älteren wirkt. Denn in der gleichen Zeitung und im Juni 2001 war
zu lesen, dass inzwischen sechs Millionen Haushalte zahlungsunfähig seien, so viel
wie noch nie nach der Wiedervereinigung. Gerade weil Kreditinstitute und
Kaufhäuser, Autohändler und Reiseunternehmer, um nur einige Branchen zu
nennen, unkritischen Kunden den Mund wässerig machen, lassen sich immer
mehr Frauen und Männer verführen.
Geldgeschäfte
kennen
keine
Moral
sondern
allein
rechtliche
Rahmenbedingungen. Die Pädagogik aber ist ohne Moral, ohne Werte und
Normen, undenkbar. Immer geht es in der Erziehung auch um Zielfragen.
Und wohin wollen wir unser Kind in Bezug auf den Umgang mit Geld führen? Zu
einem Schuldenberg? Leichtfertig übernehmen nicht wenige Eltern die Maßstäbe,
die von Bildschirmen und in aufwendigen Verkaufs- und Werbekatalogen in die
Wohnstuben hereinkommen. Von einem bekannten Kreditinstitut war zu lesen,
dass ihm es immer wieder gelingt, Menschen dazu zu verführen, viele Tausend
Euro Schulden zu machen. Nicht selten mit dem Versprechen: Sie können sich
heute
alle
Wünsche
erfüllen
wir
helfen
Ihnen
dabei.
Die
Schuldnerberatungsstellen landauf landab wissen ein Lied vom Leid all jener
Frauen und Männer zu singen, die nicht haben warten wollen, bis sie genügend
Geld erspart hatten.
Schulden kann nur jemand machen, der einen Gegenwert besitzt. Zum Beispiel ein
sicheres Einkommen oder - im Falle einer Hypothek - ein Haus. Und die Höhe der
129
monatlichen Verpflichtungen darf das tägliche Brot und alles, was dazu gehört, wie
das Taschengeld der Kinder, nicht gefährden.
Wir sollten im Alltag vorleben, dass man ruhiger schläft und ausgeglichener sein
kann, wenn man nicht mehr ausgibt, als man einnimmt.
7
Diebstahl:
Was tun, wenn wir entdecken, dass unser Kind heimlich Geld an sich genommen
hat? Zunächst einmal ist zu diesem Problem daran zu erinnern, dass es auch in
unserem Leben Phasen gegeben haben mag, in denen wir lange Finger hatten oder
mit dem Gedanken spielten, uns auf diese wenig akzeptierte Weise etwas
anzueignen.
Keine Sorge, liebe Eltern! Wenn Diebstahl nicht zu unserer Alltagsnorm gehört,
dann übernehmen unsere Kinder genauso selbstverständlich unsere Vorstellungen
von "Mein und Dein", wie sie die meisten unserer Wertvorstellungen bewahren.
Abweichungen oder Krisen auf diesem Wege gehören zu unserem Leben. Wie wir
damit umgehen können zeigt Ihnen das folgende Beispiel:
Beim Bettenmachen entdeckt die Mutter bei ihrer achtjährigen Tochter einen
Fünfzigeuroschein. Da das Kind über eine derartige Summe auf legale Weise
nicht verfügen konnte, musste der Geldschein aus einem der Elterngeldbeutel,
die stets offen in der Holzschale auf der Kommode liegen, stammen. Die
Familie gehört zu jenen, in denen man nicht unbedingt den Verlust eines
Fünfzigeuroscheins gleich bemerken muss, da einmal genügend Geld
vorhanden ist und zum anderen Vater und Mutter je nach Bedarf und ohne
vorherige Absprachen über das Haushaltsgeld verfügen. Wohl aber war den
Eltern aufgefallen, dass das Mädchen in den letzten Tagen stiller und
schlechter gelaunt war, als sonst üblich. Was tun? Zunächst ließ die Mutter den
Geldschein im Versteck und die Eltern berieten miteinander über ihr weiteres
Verhalten. Nur kein Drama daraus machen! Das war die erste Devise und die
zweite: wir müssen dem Kind helfen, aus seiner schwierigen Situation wieder
herauszukommen. Denn dass das Mädchen sich nicht wohlfühlt, zweifellos von
Schuldgefühlen geplagt wird, ist wegen der schlechten Laune ja offensichtlich.
Da die direkte Ansprache: „hör mal, ich habe da was bei Dir gefunden ..." wohl
auch nicht der richtige Weg war, verständigten sich die Eltern darauf, dem
Kind voll Vertrauen zu wollen.
Das heißt, darauf zu vertrauen, dass es selbst den Weg aus dem
selbstverschuldeten Dilemma findet.
Die einzige konkrete Hilfe hierzu ist der bewusst hergestellte persönliche
Kontakt. Da seit den frühen Kindertagen die Tochter gern vor dem
Schlafengehen der Mutter ihre kleinen und großen Sorgen anvertraut oder
ihre Tageserlebnisse berichtet hatte, blieb die Mutter am Abend etwas länger
als sonst üblich zum Gute-Nacht-sagen in der Nähe des Bettes. Vier Tage
mussten die Eltern warten. Noch immer lag der Geldschein in seinem Versteck.
Am fünften war es dann soweit: die Tochter zog den Schein heraus, gab ihn
der Mutter und erzählte ihr alles.
130
Die Mutter hörte die übliche Geschichte, die wir bei Kindern dieses Alters
immer wieder erleben können. Das Mädchen wollte für das Geld Süßigkeiten
und andere begehrenswerte Dinge kaufen und sie einem Nachbarskind
schenken, das entsprechende Zuwendungen mehr oder weniger direkt zur
Bedingung des Fortbestandes ihrer Freundschaft gemacht hatte. Etwa nach
dem Motto: wenn du mir keine Schoko gibst, spiele ich nicht mehr mit dir. Und
für die Wünsche der Spielgefährtin war das Taschengeld für die Tochter
natürlich nicht berechnet.
Die Mutter nahm ihr Kind in den Arm und tröstete es. Und damit war die
Angelegenheit erledigt und wurde nie wieder erwähnt. Das Mädchen wuchs
heran; im Umgang mit Geld war sie stets zuverlässig, ehrlich und sorgsam.
8. Soziale Einflüsse:
Es war im Zusammenhang mit den Bedürfnissen unserer Kinder die Rede vom
„Vertrauen“ und davon, dass wir ihnen etwas zutrauen müssten, wenn sie
selbständig und souverän ihre Angelegenheiten meistern lernen sollen. Besonders
in diesem Bereich - im Umgang mit dem Geld - haben diese Verhaltensregeln hohe
Bedeutung. Sogar sparen lernen unsere Kinder, wenn wir nur das Vertrauen in sie
setzen, dass sie verstehen, wenn wir nicht so viel Geld für sie ausgeben können,
wie wir es gerne täten.
Auf einem Elternabend klagte ein Großvater darüber, dass sein Enkelkind
Schwierigkeiten in der Schule bei seinen Klassenkameraden habe, weil er nicht
ebenfalls einen Schulranzen der Marke XY besäße. Die Ranzen der Marke XY seien
aber erheblich teurer als andere und es sei nicht einzusehen, dass das soziale
Umfeld ein derartiges „Diktat“ ausübe.
Der Großvater hat Recht: es ist tatsächlich nicht einzusehen, dass irgendwer
irgendeinen Druck auf mein Kind ausübt, nur weil ich nicht mehr Geld ausgeben
will, als ich für richtig halte. Und dem Druck beziehungsweise der Diktatur von
Marken und Trends beugen sich unsere Kinder umso eher, je mehr sie den
Eindruck gewinnen, nur auf diese Weise anerkannt zu sein. Die Eltern in der
betroffenen Klasse beschlossen, sich gemeinsam mit ihren Kindern und den
Lehrern einmal zusammenzusetzen und sich darüber zu unterhalten. Wenn sich
auf diese Weise auch nicht alle Eltern überzeugen lassen, sich weiterhin dem
Druck von Werbung und der Begehrlichkeit ihrer Kinder nachgeben, so kommt
doch ein Dialog darüber zu Stande. Wenn in Baden-Württemberg im Frühling
2001 darüber nachgedacht wird, ob man Kindern nicht eine Schuluniform
verpassen solle, um dies leidige „Marken-Thema“ in den Griff zu bekommen, so
träfe eine solche Regelung nicht den Kern. Bei den Familien und den Schülerinnen
und Schülern selbst wäre anzusetzen. Der Wirtschaftsmacht „Werbung“ können
wir nicht ausweichen. Sogar Schauspieler, Sportler oder Politiker reiten auf diesem
Goldesel mit. Der einzelne Bürger kann sich dem allen nur dann entziehen, wenn
er genug Selbstbewusstsein und Autonomie besitzt und außerdem die Kraft und
den Mut hat, sich mit anderen, die ebenfalls diesem Einfluss widerstehen wollen,
solidarisiert. Unsere Kinder aber sind dem hilflos ausgeliefert und meinen
131
tatsächlich, dass ein Produkt Kinder froh macht oder dass eine bestimmte JeansMarke oder der Schulranzen aus dem Hause XY ihnen Ansehen geben.
Gegen derartige Tendenzen ist unüberhörbarer Widerstand geboten! Dabei
bringt es nichts, über die Wirtschaftsunternehmen oder auf die Politik zu
schimpfen. Hier sind Gegenmaßnahmen vor Ort geboten: In Kindergärten und
Schulen, in denen derartige Unsitten um sich greifen, sind laut und
unmissverständlich andere Signale zu setzen. Und das umso deutlicher, je
mehr unsere Kinder oder einige von ihnen zu leiden beginnen.
Sobald wir uns mit diesem Problem, das viele angeht, konfrontiert sehen, wird uns
die Bedeutung ökologischen Denkens vor Augen geführt, wie wir es im Kapitel
über die Übereinstimmung in der Erziehung kennen gelernt hatten.
Gerade wenn es um Themen geht, die Eltern und Kindern gleichermaßen großen
Kummer bereiten und Auslöser vieler Familienkonflikte sind, wäre eine
angemessene Öffentlichkeit in den Exosystemen „alle Eltern und Kinder einer
Klasse oder Schule“ und darüber hinaus „alle Bürgerinnen und Bürger eines
Gemeinwesens“ herzustellen.
Hier sollten wir ansetzen und nicht bei Regierungen, Parlamenten oder
Verwaltungsbehörden. Diese Exosysteme haben vielmehr die Verantwortung
dafür, derartige Bestrebungen vor Ort anzuregen und zu unterstützen.
Bei Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrern laufen Eltern mit
derartigen Anliegen offene Türen ein. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere
Kinder wegen Normen, die nicht von uns akzeptiert werden, in Not geraten. Oft
aber steht eine einzelne Familie all diesen sozialen Zwängen hilflos gegenüber.
Und aus Sorge, dass ihr Kind zum Außenseiter werden könnte, geben sie dem
Drängen ihres Kindes nach. Diesmal aber geht es nicht um die Frage: können wir
uns das leisten oder nicht? Es geht immer auch darum, ob wir diese Geldausgaben
wollen oder nicht wollen. Als Maßstab dienen uns die Bedürfnisse unserer Kinder.
Darum hilft in diesen Situationen, vor allem wenn sie sich zu Gefährdungen für
unsere Kinder auswachsen können (z.B. weil sie die Maßstäbe verlieren ...) nur
gemeinsames Handeln. Überall, wo es zweckmäßig erscheint, endlich etwas zu
verändern, sind die folgenden Schritte zu gehen:
1. Kontaktaufnahme mit anderen Eltern/den Elternvertretern: geht es Ihnen
genauso?
2. Kontaktaufnahme mit der Erzieherin/der Lehrerin/dem Lehrer: ist Ihnen
das auch schon aufgefallen? Ich/wir möchten das Problem in einem
Elternabend ansprechen.
3. Elternabend zum Thema: Soziale Zwänge in dieser Gruppe/Klasse/Schule
Auf dem Elternabend austauschen, überlegen und sich verständigen, welche
Schritte eingeleitet werden.
132
Zum Beispiel: eindeutige Absprachen treffen über das, was alle wollen und
was alle nicht wollen; mit Kindern sprechen;
4. in die Öffentlichkeit gehen (Gemeindeblatt); Elternbriefe verfassen;
gemeinsam handeln und nach einer bestimmten Zeit in einem weiteren
Elternabend schauen, was aus den Absprachen geworden ist.
Nur wenn in einer Gemeinde beziehungsweise in dem Einzugsbereich eines
Kindergartens oder einer Schulklasse/einer Schule über diese Probleme öffentlich
gesprochen wird oder sogar Übereinstimmung in der Vorgehensweise zwischen
allen Betroffenen erzielt wird, besteht Aussicht etwas zu verändern. Wir brauchen
dieses Zusammenwirken, denn Eltern erziehen nicht allein!
8.
Kinder spielen und lernen
Erfahrungen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischem
Lernen
Einführung
In diesem Kapitel geht es in der Hauptsache um das Lernen. In einer Zeit, in der das
lebenslange Lernen als Voraussetzung für ein berufliches Überleben in unseren
westlichen Industrienationen gilt, kommt dieser Thematik eine besondere
Bedeutung zu. Gewiss meinen Unternehmer, Bildungspolitiker, Lehrer oder wir
Eltern, wenn sie im Zusammenhang mit der Zukunft und dem beruflichen Erfolg
unserer Kinder vom „Lernen“ sprechen, eher das gezielte, geplante und von Experten
begleitete Lernen, wie es im Kindergarten beginnt und über Schule und
Berufsausbildung bis hin zu Fort- und Weiterbildung immer wieder gefordert oder
angeboten wird. Doch nicht dieses gleichsam instrumentalisierte Lernen steht im
Vordergrund unserer Ausführungen. In den folgenden Abschnitten geht es vielmehr
um eine Besinnung auf jene Voraussetzungen, die ein optimales Lernen in allen
denkbaren Bereichen unseres Lebens ermöglichen. Selbstverständlich stehen unsere
Kinder im Mittelpunkt. Dennoch lassen sich eine ganze Reihe der hier
vorzutragenden Erfahrungen und Erkenntnisse auf alle unsere Lebensphasen
übertragen. „Man lernt nie aus“ sagen wir gern, wenn wir wieder etwas Neues
entdecken. Das sagten Eltern häufig, die an Veranstaltungen teilnehmen, in denen
das Lernen, vor allem das Lernen für die Schule thematisiert wird. Doch wir können
davon überzeugt sein, dass die meisten von uns, die diese Abschnitte lesen, meinen,
dass sie das selbst gesagt haben könnten, weil wir unsere eigenen Erfahrungen
wieder finden! Denn die Ansichten und Erfahrungen jener Eltern, die an diesen
Texten durch ihre Beiträge mitgewirkt haben, entsprechen unseren allen
Erfahrungen. Es gilt aber, daraus Schlussfolgerungen für den Alltag zu ziehen und
alles das umzusetzen, was im Interesse optimaler Lernbedingungen für unsere
133
Kinder von uns für wichtig erkannt worden ist. Die folgenden Abschnitte werden
dabei helfen.
Zunächst wird das Lernen an sich dargestellt und danach gefragt, wie Kinder
lernen.
Dann steht das Spiel als der natürliche Einstieg in lernende Verhaltensweisen
im Mittelpunkt.
Im dritten Abschnitt werden einige Erfahrungen und Schlussfolgerungen für
schulisches Lernen vorgetragen.
Die kindliche Neugier
Am Anfang allen Lernens steht ein uns Menschen angeborener und lebensnotwendiger Trieb: Wir wollen und müssen alles erkunden, was uns neu
beziehungsweise fremd ist. Auf diese Weise erschließt sich uns unsere nähere und
weitere Umgebung. Bei nicht wenigen von uns ist es dieser Trieb, wir sagen in Bezug
auf uns Erwachsene auch gern: es ist unser Bestreben, möglichst viel von der Welt
kennen zu lernen. Und zwar selbst und nicht allein durch Dritte - also nicht über
Texte, Bilder, Erzählungen oder Filme. Die Reise- und Wanderlust hat in diesem
Bestreben eine ihrer Ursachen. Ohne sie hätte Kolumbus nicht versucht, den Seeweg
nach Indien zu finden und Amerika wäre damals unentdeckt geblieben. Die
Ferienreiseagenturen unserer Tage gäbe es überhaupt nicht, wenn wir kein
„Fernweh“ hätten.
Aber auch daheim können wir unsere Wissbegierde manchmal nicht bremsen.
Ausgesprochen interessiert schauen wir aus dem Fenster (vielleicht auch nur durch
einen Spalt im Vorhang), wenn der Möbelwagen am Haus gegenüber vorfährt und
ein neuer Nachbar einzieht. Selbst wenn wir nicht die Absicht haben dort gleich
Kontakte zu knüpfen, möchten wir doch zu gerne wissen, wer denn da nun einzieht.
Diese Neugierde ist also eine wichtige Triebfeder unseres Verhaltens.
Die Neugier, oder, wie wir besser sagen können, die Wissbegierde bzw. das
Erkundungsverhalten des Menschen, ist geradezu der zentrale Motor, der die
Motivation antreibt. Der Reiz des Neuen ist sozusagen der Treibstoff unseres Motors.
„Kinder erspielen sich die Welt“ hieß es in einem Rundfunkbeitrag über den Sinn des
Spielens24. Hierzu die folgenden, den meisten von uns wohlbekannten Erfahrungen:
Entdeckungsfreude können wir bei unserem Kind bereits im Kinderwagen
beobachten, wenn der Säugling vor Vergnügen strampelt, wenn wir ihm etwa ein
kleines Püppchen vor die Augen halten. Noch kann unser Kind nicht gezielt
zugreifen. Doch die Finger gehen auf und zu und wenn wir das Püppchen hineinlegen, wird es festgehalten.
In den Wohnräumen wird unser Kind versuchen an alles heranzukommen, was sein
Interesse weckt. Vor allem vertrauten Gegenständen nähert es sich ohne Scheu. Zum
Beispiel dem Küchenschrank. Die Küchenunterschränke kennt es gut, wenn die
Mutter das Kind auf einem Teppich auf dem Küchenfußboden hat spielen lassen, als
134
es noch nicht krabbeln konnte. Der sieben Monate alte Heinz rollte sich über die
linke oder die rechte Seite, um an einen begehrten Gegenstand heranzukommen.
Noch scheiterten seine Bemühungen, vorwärts zu krabbeln. Er richtete sich zwar auf,
fiel aber beim Versuch vorwärts zu kommen, stets auf sein Kinn. Eines Tages aber
kann es sich auf allen Vieren fortbewegen und zu seinen ersten Zielen gehörten die
Türen der Schränke. Sind die erst einmal geöffnet, dann muss auch nachgeschaut
werden, was sich im Schrank befindet. Und so treffen wir unser Kind inmitten von
Tüten und anderen Behältern an, deren Inhalte es genau untersucht. Wie schon
vorher wird es seinen Mund als Prüflabor verwenden und auf diese Weise lernen,
was schmeckt oder was nicht genießbar, was rund oder eckig, was weich oder hart,
was heiß oder kalt ist. Wenn es sich aufrichten kann, wird es nach allem greifen, was
in Reichweite ist und sogar in Schubladen steigen, um etwas höher hinauf gelangen
zu können.
Alle diese Verhaltensweisen sind ganz normal, ja ausgesprochen wichtig für eine
gesunde - vor allem geistige und motivationale Entwicklung. Eltern, die ihrem Kind
bei derartigen Gelegenheiten auf die Finger schlagen und ständig "ba" oder „pfui“
rufen: "das fasst man nicht an", „das darf man nicht“, „nicht in den Mund nehmen“,
werden zwar erreichen, dass die infrage kommenden Gegenstände nicht mehr
berührt werden. Da ein so kleines Kind aber noch nicht unterscheiden und die
Gründe der Eltern durchschauen kann, wird es bald meinen, dass es nicht gut sei,
überhaupt noch etwas zu erkunden - und wird es einschränken oder gar die Finger
von allem lassen, was es nicht kennt. Damit aber hätten wir die natürliche
Entwicklung der Motivation gebremst oder gar abgebrochen und unserem Kind
unnötig Angst gemacht und eingeschüchtert.
Eine besorgte Mutter mag einwenden:
„Aber wenn ich erlaube, dass mein Kind alles in die Hand oder in den Mund nehmen
darf, dann kommt es doch leicht zu Schaden!“ Gewiss - wenn wir schädliche Dinge in
seiner Reichweite lassen. Das heißt also, dass wir alles das für ein Kind unerreichbar
aufbewahren, was ihm schaden könnte. Nur dort, wo das nicht geht (zum Beispiel
Bügeleisen oder Herdplatten und heiße Töpfe), da bringen wir dem Kind frühzeitig
bei, dass hier Gefahr droht. Im Grunde aber lernen die wenigsten Kinder
"theoretisch". Um zu erfahren, was "heiß" bedeutet, mussten wir uns wohl alle in
unserem Leben erst "den Mund verbrennen". Ganz ohne Risiko wachsen unsere
Kinder also nicht heran. Wir Eltern aber vermeiden Risiken und schränken sie ein,
wenn wir das Tun und Lassen unseres Kindes im Auge haben und wenn wir das aus
der Wohnung verbannen, was unserem neugierigen Kind schaden könnte.
"Messer, Gabel, Schere, Licht - dürfen kleine Kinder nicht" - das war der Spruch, den
unsere Großeltern stets im Munde führten. Dort, wo diese Regel heute noch gelebt
wird und Kinder nicht frühzeitig an den Umgang auch mit gefährdenden
Gegenständen gewöhnt werden, entwickeln sich Hemmungen, werden Lernchancen
verpasst und Unselbständigkeit gefördert.
Kinder brauchen andere Kinder
135
Ein hochbedeutsames Neugier Verhalten richtet sich auf andere Kinder. Bereits die
Kleinsten krabbeln aufeinander zu, betasten sich, greifen zu, ziehen sich an den
Haaren und Kleidungsstücken und werfen dabei stets einen Blick hinauf zur Mutter.
Aus ihrer Nähe wächst ihnen gleichsam der Mut zu diesem „Kontaktsuchverhalten“
zu.
Für Kinder sind andere Kinder so wichtig, dass sie sich auch zu den
Grundbedürfnissen zählen ließen (vgl. dazu auch S. 34) Soziales Verhalten lernt zum
Beispiel ein Kind am besten in einer Gruppe mit Kindern, die zunächst altersmäßig
nicht gar so weit auseinander sind. Natürlich müssen sie nicht gleichaltrig sein, so
wie das in den Klassen öffentlicher Schulen meistens der Fall ist. Worauf kommt es
denn an? Kinder sollen erleben können, dass der Umgang mit ungefähr gleich alten,
gleich starken und gleich schwachen, gleich geschickten und ungeschickten Kindern
anders ist, als der mit den Eltern und Großeltern oder mit dem älteren oder jüngeren
Geschwisterchen. Darum ist es für die soziale Entwicklung von Kindern so wertvoll,
dass sie mit anderen Kindern spielen können, sei es drinnen in der Wohnung, wo
einsichtige Eltern hierfür Raum geben und Kinder aus der Nachbarschaft zulassen.
Draußen, in Garten und Hof oder im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder auf
Spielstraßen begegnen unsere Kinder ebenfalls anderen Kindern.. Dort sammeln sie
Erfahrungen - das heißt also: sie „lernen“ - die wir ihnen so gar nicht vermitteln
können, wie zum Beispiel
Wettbewerb
wer ist am schnellsten, am mutigsten...
Eigentum
meine Puppe, deine Puppe...
Teilen
darf ich mal abbeißen? gibst du mir ein Stück ab?
Zuneigung (und deren Wechselhaftigkeit)
Peter/Petra mag ich am liebsten...
Streit
ich spiele nicht mehr mit dir, weil...
Kampf
ich bin genauso stark wie du!
Hilfe
machst du mir bitte hinten den Knopf zu?
Noch einmal sei betont: Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Kind diese
Erfahrungen im Umgang mit anderen Kindern seiner Entwicklungsstufe als im
Umgang mit den von ihm als übermächtig erlebten Erwachsenen oder
Jugendlichen macht. Wir Erwachsene können ein Kindergartenkind auch gegen
seinen Willen hochheben und woanders hintragen, wenn wir das aus irgendeinem
Grunde so wollen. Umgekehrt geht das nicht. Und steht unserem Kind ein anderes
Kind im Weg, dann muss es sich mit ihm irgendwie verständigen, wenn es vorbei
will: wegtragen kann es das andere Kind nicht.
136
Einige Informationen über das Lernen
Schicken wir voraus, was eigentlich unter dem Stichwort „Erkundungsverhalten“
bzw. „Neugierde“ bereits ausgeführt worden ist: Kinder wollen von Natur aus gern
lernen und etwas leisten. In diesen Ausführungen stehen die biologischen
Grundlagen des menschlichen Denkens und die Lernbedingungen im
Vordergrund, so wie sie Frederic Vester (Stuttgart 15/1986 und Stuttgart 4/1986)
und Jean Piaget (Stuttgart 1975) in ihren Schriften so anschaulich und einprägsam
darstellen.
Dass all unsere Denkvorgänge und hier vor allem die Aneignung neuer
Erfahrungen eine materielle biologische Basis haben, ist jedermann geläufig. Über
unsere Sinnesorgane, über die Ohren, die Augen, den Tastsinn nehmen wir
Eindrücke wahr und in unserem Gehirn werden sie verarbeitet. Obwohl wir alle
über die gleichen Eingangskanäle verfügen, über die wir unsere Umwelt
wahrnehmen und neue Eindrücke aufnehmen, begreifen wir zum Beispiel einen
Lerninhalt nicht alle gleichermaßen auf die gleiche Weise. Der eine versteht einen
neuen Lerninhalt, wenn ihm der Gegenstand im Gespräch vermittelt wird
(auditiv); ein anderer erfasst diesen Lerninhalt am ehesten durch Beobachtung
und Experiment (visuell), einem dritten prägt sich dieser Lerninhalt am besten
ein, wenn er ihn betasten oder fühlen kann (haptisch) ein vierter endlich erfasst
den Lerngegenstand rein durch den Intellekt abstrakt-verbal.
Diese, ebenfalls recht abstrakte und grobe Einteilung nach "Lerntypen", finden wir
in Wirklichkeit nicht in absoluter Einseitigkeit wieder. Es ist vielmehr so, dass wir
umso eher etwas verstehen und behalten, je mehr Kanäle bei der Aufnahme in
Anspruch genommen werden. Ausgehend von dieser Erkenntnis müsste jeder
neue Lerninhalt in unseren Schulen mit Hilfe verschiedener beziehungsweise
multimedialer Methoden vermittelt werden. Das hätte einmal den Vorteil, dass alle
Lerntypen, die in einer Schulklasse vertreten sind, angesprochen werden können.
Das hätte zum anderen aber den unschätzbaren Effekt, dass bedeutend mehr
Schüler als bisher üblich, den Wissensstoff begreifen und im Gedächtnis behalten.
Hier soll zur Illustration auf den Anfangsunterricht in der Grundschule verwiesen
werden. Wenn eine Lehrerin / ein Lehrer diese Erkenntnisse ernst nehmen, dann
vermitteln sie die Schriftsprache (also Lesen und Schreiben) nicht allein über das
Ohr und die Augen. Da werden im Unterricht Buchstaben gemalt und geknetet,
aus Teig geformt, gebacken und dann gegessen. Silben werden zu Takt und
Rhythmus, um Worte und Begriffe entstehen Geschichten und Spiele. Wenn in
dieser Beziehung im Unterricht auch schon viel getan wird und es Lehrer gibt, die
diese lernbiologischen Erkenntnisse umsetzen, so werden doch, vor allem in den
weiteren Schuljahren mehr und mehr, alle Lerninhalte überwiegend akustisch und
zunehmend abstrakt vermittelt und sprechen darum im wahrsten Wortsinne
lediglich eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler an.
137
Nicht wenige reagieren auf abstrakt-verbale Vermittlungen mit völligem
Unverständnis oder, wie wir umgangssprachlich zu sagen pflegen: „sie begreifen
schwer oder überhaupt nicht, was der Lehrer erzählt“. Das Bruchrechnen zum
Beispiel hat ein Kind erst als Jugendlicher in der Berufsausbildung begriffen, als
ein Berufsschullehrer die Grundregeln dieser Rechenart über einfachste, vom
Schüler selbst zu bastelnde Hilfsmittel vermittelte. Hier könnten jede Mutter und
jeder Vater aus eigener Erfahrung einige Beispiele hinzufügen. Wichtig bleibt in
diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass ja auch unser eigenes Kind eigene
Fähigkeiten des Lernens besitzt, die herauszufinden und zu berücksichtigen mit
Hilfe einer/s kundigen Pädagogin / Pädagogen nicht allzu schwierig sein dürfte.
Wann wissen wir denn, ob ein Kind etwas „gelernt“ hat? Nun, die Antwort auf
diese Frage können wir wieder am eigenen Beispiel geben. Wir haben etwas
gelernt, wenn wir das Neue wissen und wiedergeben und anwenden können.
Autofahren zum Beispiel haben wir in der Fahrschule gelernt, unser Wissen und
(Anfangs-) Können in der Fahrprüfung nachgewiesen und mit zunehmender
Fahrpraxis gingen uns Theorie (Verkehrsregeln z.B.) und Praxis (Beachten der
Verkehrsregeln) „in Fleisch und Blut“ über. Ein fünfzehnjähriger Junge, der vier
Jahre Englisch gehabt hat, zeigt uns, dass er etwas gelernt hat (im Sinne von
Wissen), wenn er mit einer guten Klassenarbeit nach Hause kommt. Sein Können
aber zeigt er erst dann, wenn er seine Sprachkenntnisse auch anwendet; beim
Schüleraustausch zum Beispiel.
Und wie sieht es mit Lernprozessen durch Fernsehen aus? Darüber gibt es einige
Informationen im Kapitel über den Umgang mit elektronischen Medien.
Was das Lernen fördert oder behindert
Bei den eben angedeuteten Beispielen kommen noch andere Gesichtspunkte in
den Blick, die für das Lernen, das Behalten und Vergessen wenigstens ebenso
wichtig sind, wie die Vermittlungs- und Aufnahmetechniken. Zu Recht werden
Eltern vielleicht sagen: es ist ja ganz klar, dass der oben erwähnte Lehrling schon
darum ganz anders an eine Sache herangeht, als ein Fünftklässler, weil er ja weiß
worum es geht; er ist ja in ganz anderer Weise betroffen. Und dann spielt das Alter
noch eine Rolle, so ließe sich weiter argumentieren aber auch die Atmosphäre und
andere Begleiterscheinungen. Vielleicht mochte der erwähnte Fünftklässler seinen
Rechenlehrer nicht; der Berufsschullehrer dagegen war ihm sympathisch.
Um die Bedeutung von Gefühlen für Lernvorgänge noch einmal zu betonen, sei auf
die Ängste verwiesen. Im Kapitel über die Kinderängste wurde an Beispielen
138
gezeigt, welche verheerenden Folgen Druck durch Drohungen und Bestrafungen
im Zusammenhang mit kindlichen Lernbemühungen haben können. In dem Maß,
in dem ein Kind bei seinen Lernversuchen entmutigt wird, wird es unsicher und
ängstlich und verliert am Ende die Lust, etwas zu tun.
Für die Richtigkeit dieser Feststellung brauchen wir nur unsere eigenen
Erfahrungen zu befragen. Nichts ist mehr geeignet, das Lernen zu verlernen, als
wenn wir einem Kind dauernd zu verstehen geben, dass es „noch zu klein“, „viel zu
dumm“ oder gar zu „blöd“, zu „ungeschickt“, „tolpatschig“ oder „faul“ und „träge“
ist. Ein Junge, dem sein Vater stets versichert, dass er „zwei linke Hände“ habe,
wird es zunächst sehr schwer haben, wenn er einen praktischen Beruf erlernen
will. Da braucht es bei einem Heranwachsenden viel Mut und Kraft, das eigene
negative Selbstbild „ich kann ja nichts“ zu überwinden.
Dass ein Kind ein von den Angehörigen vermitteltes negatives Selbstbild in Bezug
auf seine Lernfähigkeiten durchaus überwinden kann, zeigt uns folgendes
Schicksal:
Ein achtjähriges Mädchen wurde von seinen Eltern dem Leiter eines
Kinderheimes mit den Worten übergeben: „Hier isch unser Dubele“ (hier ist
unser Dummerle).
Das „Dubele“, ein stilles, verschüchtert wirkendes Mädchen, hatte sich
tatsächlich in den Monaten vor der Aufnahme in diesem Kinderheim in einer
Einrichtung für geistig- und mehrfach behinderte Kinder und Erwachsene
befunden. Dort war es zur Beobachtung hingebracht worden, weil alle Tests
auf eine Schulunfähigkeit des Kindes deuteten und dennoch der „allgemeine
Entwicklungsstand“ altersentsprechend war. In der Behinderteneinrichtung
stellten die Fachleute rasch fest, dass die von den Eltern vermutete geistige
Behinderung in Wirklichkeit gar nicht bestand. Sorgsame Recherchen ergaben
endlich, dass dieses Mädchen von seinen Eltern und den sechs Geschwistern
vom Kleinkindalter an für geistig behindert (dubelig) gehalten und
entsprechend behandelt worden war. Nicht einmal einen Kindergartenbesuch
wollte man dem „Dubele“ zumuten.
Wie das alles begonnen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Warum alle
Beteiligten nichts dabei fanden und niemand auf die Idee kam, die Richtigkeit
der Unterstellung (wir haben ein geistig behindertes Kind) von
Sachverständigen (zum Beispiel einem Kinderarzt oder Psychologen)
überprüfen zu lassen, ist eine Geschichte für sich.
Die Sonderschule für Lernbehinderte, die das Mädchen vom Heim aus
zunächst besuchte, stellte bald eine normale Begabung fest. Diese normale
Begabung war während der Jahre im Elternhaus dem Kind sozusagen
ausgeredet worden. Niemand hatte ihr zugetraut, dass sie etwas würde lernen
und leisten können.
Als die Achtjährige in die erste Klasse einer Grundschule umgeschult wurde
und sich die Anforderungen an sie innerhalb relativ kurzer Zeit normalisierte,
unterschied sie - außer der Körpergröße - bald nichts mehr von den anderen
139
Kindern. Stets im oberen Leistungsdrittel ihrer Klassen und ohne
Schwierigkeiten durchlief sie die Schulzeit, erwarb einen mittleren
Bildungsabschluss, erlernte einen Beruf und hatte auch als Erwachsene,
gemessen an Maßstäben unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft, Erfolg
im Leben.
Gewiss ist das ein extremes Beispiel und wird eine Ausnahmeerscheinung sein.
Aus Pflegestellen und Heimen aber wissen wir, dass sich ein Wechsel der sozialen
Umgebung auf die Entwicklung von Kindern dann günstig auswirken kann, wenn
das alte Umfeld die Bedürfnisse von Kindern nach Förderung und Ermutigung
sowie nach einem positiven Selbstbild grob vernachlässigte.
Diese Geschichte belegt aber noch eine andere Bedingung von Lernprozessen:
Anregung heißt zugleich auch Anforderung. Die Motivationspsychologie hat den
Zusammenhang zwischen herausfordernden Anreizen aus der Umwelt und dem
Interesse eines Menschen, diese Herausforderungen zu meistern, nachgewiesen
(Heinz Heckhausen, Weinheim 1972 oder Josef Keller, München 1981). Denken
wir an ein Kind, das sich darum bemüht Fahrrad fahren oder Schwimmen zu
lernen. Stellen wir Eltern nicht gelegentlich erstaunt fest, wie „zäh und verbissen“
unser Kind übt, bis es endlich auf dem Fahrrad sein Gleichgewicht halten kann
oder im Wasser nicht mehr untergeht sondern sogar vorwärts kommt. Manchmal
beobachten wir, dass es auch ganz für sich allein um eine Fertigkeit ringt, etwas
bastelt oder baut und dabei eine uns erstaunende Ausdauer und Geschicklichkeit
entwickelt. Es sind also Gegenstände und Spielsituationen, die ein Kind
herausfordern, etwas zu leisten und es sind wir Eltern, Erzieherinnen und
Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, die dem Kind etwas abverlangen
beziehungsweise ihm Anforderungen stellen. Es ist nicht einfach, hier ein für jedes
Kind angemessenes Maß an Anforderung zu finden. „Ach, das ist ja babyleicht“
mögen wir Erwachsenen dann gar nicht gerne hören, wenn sich tatsächlich eine
Unterforderung hinter der gestellten Aufgabe verbirgt. Manchmal freilich macht
sich ein Kind mit diesem „Spruch“ nur Mut.
Andererseits wissen wir auch, dass eine Überforderung, also eine Aufgabe, die ein
bestimmtes Kind einfach noch nicht bewältigen kann, Resignation und Lernunlust
fördern. In der Schulpraxis gibt es darum „Tests“ mit Hilfe derer eine Lehrerin
oder ein Lehrer Wissen und Können eines jeden Kindes in einem bestimmten Fach
mit ziemlicher Genauigkeit feststellen kann. Ob eine Information von unserem
Gehirn so gespeichert wird, dass sie sich als Erinnerung fest verankert und in
neuen (neu erlernten) Einstellungen und Verhaltensweisen niederschlägt, hängt,
wie hier dargestellt, ganz wesentlich von den Begleitumständen und von allen
während des Aufnahmevorgangs ablaufenden bewussten und unbewussten
Wahrnehmungen, den sogenannten "Sekundärinformationen" ab. Sind uns zum
Beispiel diese Begleitumstände rein gefühlsmäßig unangenehm (Beispiel: die
Lehrerin/der Lehrer ist einem zuwider, weil sie/er uns abfällig behandelt), wird
unser Aufnahmevermögen blockiert: Biochemische Prozesse verhindern die
Weiterleitung der Information an das Langzeitgedächtnis. Es gibt noch weitere
140
„Pförtner“, die darüber entscheiden, ob eine Information in unser
Langzeitgedächtnis weitergeleitet oder abgewiesen wird. Genannt werden sollen:
der Grad der Aufmerksamkeit, die wiederum abhängt vom Ausmaß positiver
Assoziationen;
bereits vorhandenes Wissen zu diesem Gegenstand, mit dem sich die neue
Information nun leichter verbindet, als wenn noch gar keine Verknüpfung
möglich wäre;
die Erfolgszuversicht, die wir aufgrund unserer Erfahrungen mit diesem
Gegenstand verbinden.
In der Familie und in der Schule kommt es also darauf an, alles zu vermeiden, was
eine "negative Hormonlage" auslöst und damit den Zugang zum
Langzeitgedächtnis versperrt. In besonders dramatischer Weise erleben wir die
Folgen der Missachtung dieser biologisch begründeten und damit naturgesetzlich
verankerten Einsicht bei den Kindern, die zwar eine gute Intelligenz besitzen,
durch ungünstige äußere Umstände aber daran gehindert werden, diese Intelligenz
in Lernerfolge umzumünzen.
Auch zu dieser Aussage ein Beleg. Alexander erzählt seine Geschichte selbst.
„Ich bin 1966 geboren, lebte zuerst bei meiner Mutter und deren Partner und
ab meinem vierten Lebensjahr im Heim. Als ich schulpflichtig wurde, war ich
gerade in einem Heim mit einer Sonderschule für Lernbehinderte. Also kam ich
in diese Sonderschule. Als das Heim 1978 schloss, wurde ich von dem
Sozialarbeiter Herrn D., der auch mein Vormund war, in ein anderes Heim
gebracht. Von dort aus besuchte ich die Sonderschule in der Kreisstadt. Ich
wurde der beste Schüler in der Klasse. Als ich die neunte Klasse der
Sonderschule abgeschlossen hatte, empfahlen mir der Heimleiter und mein
Klassenlehrer, die neunte Klasse an einer Hauptschule zu wiederholen und
dort die Hauptschulabschlussprüfung zu machen. Die Frau vom Heimleiter,
die Englischlehrerin ist, gab mir Nachhilfeunterricht in dieser Sprache, weil
ich
an
der
Sonderschule
kein
Englisch
gehabt
hatte.
Die
Hauptschulabschlussprüfung bestand ich und bekam sogar einen Preis für den
besten Aufsatz. Ich wollte gern einen technischen Beruf lernen. Also ging ich
zur Zweijährigen Berufsfachschule Metall und erwarb dort mit achtzehn
Jahren die Mittlere Reife. Anschließend erlernte ich den Beruf eines
Maschinenschlossers. In dieser Zeit verließ ich das Heim und nahm ein eigenes
Zimmer, das mir mein Lehrmeister vermietete, der zugleich Fußballtrainer in
meinem Verein war. Nach der Lehrzeit leistete ich den Wehrdienst bei der
Bundeswehr und lernte dort Auto fahren.
Nach der Bundeswehrzeit ging ich zunächst in den Ausbildungsbetrieb zurück.
Wenig später zog ich nach S. und erwarb dort an einer Fachhochschule die
Hochschulzugangsberechtigung. Ich studierte ein Jahr auf einen
Ingenieurberuf hin, wechselte dann aber an eine Fachhochschule für
Sozialwesen. Heute bin ich Diplomsozialpädagoge und habe in diesem
141
Berufsfeld eine anspruchsvolle Aufgabe gefunden. Vor sieben Jahren
heirateten meine Freundin, eine Diplomsoziologin, und ich. Wir haben zwei
prächtige Kinder...“
Schaffen wir also eine der kindlichen Entwicklung förderliche Umgebung und
lassen uns nicht von anderen Personen und Institutionen ins Boxhorn jagen: Zwar
wird nur im Ausnahmefalle ein zunächst als lernbehindert geltendes Kind später
die Hochschulreife erwerben. Behinderungen in den ersten Schuljahren können
aber durchaus auf eine Fehleinschätzung - und entsprechender Fehlplatzierung
zurückzuführen sein.
Es gibt noch andere Einflüsse, wie die sozialen, also über zwischenmenschliche
Kontakte laufende Anregungen und die materialen, die natürlichen und
gegenständlichen Umwelteinflüsse. Beide sind von erheblicher Bedeutung für alle
Bereich der Entwicklung. Und zwar von dem Moment an, in dem das Kind "das
Licht der Welt erblickt". Vor dreißig Jahren hörten wir von Eltern noch die
Redewendung vom "dummen viertel Jahr". Gemeint war etwa der Zeitraum, in
dem das neugeborene Vater oder Mutter noch nicht erkennbar deutlich anlächelt
oder sonst einen Kontakt mit ihm aufzunehmen scheint. Diese Zeit aber ist, wie die
Gehirnforschung unserer Tage nachgewiesen hat, für die Endphase der im
Mutterleib begonnen Herausbildung grundlegender Hirnfunktionen von ganz
entscheidender Bedeutung. Die verschiedenen Anregungsbedingungen der
Umwelt sind für die ebenso verschiedenen "Anlagen" unserer geistigen
Entwicklung verantwortlich zu machen. Die Fähigkeiten zum Sehen, Hören,
Riechen, Sprechen, zum Denken erhalten in den ersten Lebenswochen eine
elementare Grundlage, die nach dem dritten Lebensmonat ihre endgültige und
nicht mehr beeinflussbare Gestalt angenommen hat. Zudem bringt jedes Kind
seine eigenen, unverwechselbaren individuellen Anlagen mit. Sie beeinflussen zum
Beispiel das jeweils unterschiedliche Erkundungsverhalten was darf/soll ich – was
darf/soll ich nicht? Wie weit darf/kann ich gehen?
Auf diese "Hardware" baut alle weitere Entwicklung auf. Diese Entwicklung ist
nach wie vor in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht von der sozialen und der
dinglichen Umwelt abhängig.
Machen wir uns den Wert positiver sozialer Kontakte am Beispiel der
Sprachentwicklung deutlich
Ein Kleinkind wurde gebadet und liegt nun auf einer Decke im warmen Bad;
Mutter oder Vater beugen sich über ihn und freuen sich an dem munteren
zufriedenen Kind, dessen Augen alle Gegenstände abzutasten scheinen und das
dabei laut und fröhlich vor sich hin lallt. Plötzlich formt es zum ersten Mal die
beiden Silben, die ihm die Eltern so oft vorgesagt haben: "Mama". Die Reaktion
der Eltern ist ganz natürlich: sie freuen sich und wiederholen ihrerseits das Wort.
Das Kind weiß zu dieser Stunde noch nicht, was dieses Wort bedeutet. Aber es
spürt mit allen seinen Sinnen das positive Echo, das es auslöst. Der Fachmann sagt
dazu: das Kind wurde "sozial verstärkt". Je deutlicher und zuverlässiger das Kind
im weiteren Verlauf seiner Sprachentwicklung derartige gute Erfahrungen macht:
142
es sagt etwas - Eltern, Geschwister, Großeltern (kurz: die soziale Umwelt) freuen
sich und wiederholen bekräftigend das Gesagte, umso lieber und
selbstverständlicher wird das Kind sprechen. Damit es von Anfang an richtig
sprechen lernt, wiederholt die soziale Umwelt nicht etwa den vom Kind oft
mühsam genug gesprochenen Begriff, so wie das Kind es vermag, sondern in
seiner sprachlich korrekten Form. Also nicht "Lala", wenn das Kind "Schokolade"
meint, aber das schwierige Wort noch nicht zu sprechen vermag, sondern wir
sagen dann zum Beispiel: „Hier bekommst du die Schokolade“. Wir brauchen
keine Sorge zu haben, dass wir das Kind damit überfordern. Wir erwarten ja nicht,
dass es den Begriff richtig ausspricht, denn das wird es eines Tages von alleine tun.
Wir korrigieren nur und das gleichsam nebenbei und wie selbstverständlich und
ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Würden wir die kindliche Sprache dagegen
nachahmen, in der falschen Annahme, dass das Kind uns sonst nicht versteht,
verzögerten oder verhinderten wir, dass unser Kind seine Muttersprache korrekt
sprechen lernt. Hüllen wir also unsere Kinder in Sprache und zwar von Anfang an
in die, die wir selber sprechen.
An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, welche Rolle das Vorbild spielt.
Erziehung realisiert sich, wenn die „Menschen in der Umgebung des Kindes das
vormachen, was es nachahmen soll“ (Rudolf Steiner 1983, S. 17). Ein Vorbild ist
für ein Kind vor allen anderen jede Person, die für das Kind aus irgendeinem
Grund eine besondere positive Bedeutung hat: Die Menschen, die das Kind lieb hat
und von denen es sich geliebt weiß, stehen an erster Stelle. In der weiteren
Entwicklung kommen Menschen hinzu, die es mag oder verehrt aus welchen
Gründen auch immer. Kindergärtnerinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrer
und Lehrer, ältere Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft, später sind es
vielleicht Idole aus Film oder Musik und viele andere mehr. Von entscheidender
Bedeutung, weil in den ersten Lebensjahren prägend, aber sind die Vorbilder in
der unmittelbaren sozialen Umwelt des Heranwachsenden. Wie stark sich
derartige Prägungen auf die Leistungsbereitschaft von Kindern auswirken, soll die
folgende Geschichte veranschaulichen, die ein Lehrer erzählte:
„Als ich vor vielen Jahren Schulanfänger unterrichtete, fiel mir in einer Klasse
der Peter dadurch auf, dass nichts von dem, was ich vermittelte hängen blieb.
Er kam weder in Deutsch noch in Rechnen richtig voran und gehörte bald zu
den Schlusslichtern der Klasse. In jenen Jahren war es noch üblich gewesen,
die Kinder vor der Einschulung auf ihre Schulreife hin zu untersuchen. Den
Testunterlagen zufolge aber war das Kind normal entwickelt und voll
schulreif. Bevor ich mich mit den Eltern über diese mir, bei diesem ansonsten
lebhaften und aufgeschlossenen Jungen unverständliche Entwicklung Klarheit
verschaffen konnte, lieferte Peter in einer Unterrichtsstunde selbst eine
Erklärung. Bei einer passenden Gelegenheit meldete er sich zu Wort und
verkündete laut und unbekümmert in seiner Muttersprache: "Mei Papa sagt
immer: wer schafft isch e Dubel" (ins Hochdeutsche übersetzt: wer arbeitet ist
dumm). Als ich dieser Äußerung nachging und mit der gebotenen Vorsicht in
der Familie recherchierte, bestätigte es sich: der Papa hatte zwar ein
143
Handwerk gelernt, hielt aber nichts von regelmäßiger Arbeit, stattdessen mehr
von Wirtshausbesuchen. Da er seine Lebensweise in der Familie und außerhalb
als alleinseligmachende Tugend verkündete, blieb dem Jungen gar nichts
anderes übrig, als seinem Vorbild zu folgen. Denn Vater und Sohn liebten sich;
die Mutter hatte in dieser Familie nicht viel zu sagen.“
Doch auch in abgeschwächter Form können sich Vorbilder nachteilig auf das
Interesse von Kindern an schulischer Arbeit auswirken. Da ist nur daran zu
denken, dass alle Vorbilder in der Umgebung des Kindes, die unzufrieden sind
mit ihrer Arbeit oder gar an ihr leiden, keineswegs das Interesse ihrer Kinder an
Arbeit oder die für die Hausaufgaben notwendige Arbeitshaltung fördern. Im
alltäglichen Zusammenleben fügen sich viele unbedachte Kleinigkeiten zu
Grundhaltungen der Unlust und Verdrossenheit zusammen. Beispiele gibt es so
viele, wie es alltäglich notwendige Tätigkeiten gibt. Die Kinder registrieren sehr
genau, wer in der Familie mit welcher Haltung welche Arbeiten macht. Betten
beziehen und sauber machen, abwaschen, aufräumen, Briefe schreiben,
Rechnungen bezahlen, einkaufen gehen und vieles andere mehr begleitet unser
Leben und wir können sagen: das ist unsere Privatsphäre; es geht niemanden
etwas an, wie wir sie gestalten. Jeder fühlt sich auf seine Weise wohl. Und das ist
sein gutes Recht. Doch niemand sollte vergessen, dass die Kinder von uns, von
Eltern, älteren Geschwistern, Großeltern und den Erzieherinnen und Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrern lernen, ob sich die Mühen des Lernens lohnen.
Über das Spiel und seine Bedeutung
Alles wird dem gesunden Kind zum Spiel. Das Spiel ist die Existenzweise unserer
Kinder, das „eigentliche Feld kindlicher Tätigkeit ... im Spiel vollziehen sich
wesentliche Teile kindlichen Lernens und kindlicher Lebenserfahrung“ (Andreas
Flitner, München 1972, S. 76), Kinder sind Meister des Konjunktivs“ schreibt
Klaus A. Daigl (Freiburg 1988, S. 9) und bestätigt unsere eigenen Erfahrungen:
„ich wäre jetzt die Mutter, du wärst das Kind, das wäre unser Haus, das wäre ein
Teller...“. So verteilen unsere Kinder ihre Rollen untereinander, sie verwandeln
144
Menschen und Gegenstände und ihre Vorstellungskraft erlaubt ihnen, alle
möglichen Lebenssituationen zu erproben. „Du tätst mich besuchen, du tätst mit
dem Auto kommen, du tätst Kaffee machen ...“
Zeitdimensionen haben für Kinder ebenso eine andere Wirklichkeit, wie Räume
und Zustände. Kinder spielen Blinde und Kranke, versetzen sich in Tag und Nacht,
ihr Spielzimmer oder die Puppenecke im Kindergarten werden zu Straßenbahnen,
Autos, Schulen oder Krankenhäusern. Jeder von uns hat an diese Periode seiner
Kindheit eigene Erinnerungen. Da ist zu denken an die Schilderung eines
Großvaters, der noch gern an das Gefühl der Geborgenheit und eigener Allmacht
(Zauberkraft, Stärke) zurückdachte, wenn er zwischen den vier Beinen eines
umgedrehten Tisches sitzend, manches Abenteuer erlebte. Dieser Zwischenraum
wurde ihm zum Flugzeug, war Kinderzimmer (das er in den beengten
Wohnverhältnissen nicht hatte), zum Auto, in dem auch seine Spielgefährten Platz
fanden vor allem aber zu einem Rückzugsraum, wenn er - nach Ärger oder
Enttäuschungen - seine Ruhe haben und allein sein wollte.
Diese Kraft und Fähigkeit, Phantasie mit Erfahrungen zu mischen und daraus in
einem in erster Linie gedanklich schöpferischen Akt etwas ganz Neues zu schaffen,
fördert die Entwicklung von Kindern in hohem Maße.
Erwachsenen muss diese Fähigkeit zur Phantasie nicht verloren gehen. Wir sagen
dann gern: „Wir träumen“; zum Beispiel davon, was wir mit dem vielen Geld täten,
wenn wir es denn gewinnen würden. Allerdings brauchen bereits viele von uns
Hilfen, sozusagen Krücken, die uns beim Träumen Inhalte vorgeben. Früher
sprach man sogar von Traumfabriken, und meinte damit die Filmstudios von
Hollywood oder Babelsberg bei Berlin. Heute kommen die Traummuster über den
Bildschirm in die Wohnungen. Und mehr und mehr auch nutzen Heranwachsende
mit Hilfe von Programmen in I-pads, sich aus der jeweiligen Realität – wenigstens
ein Stück weit – auszuklinken.
Gelegentlich bringen sie auch Anregungen und den Kindern neue Spielfiguren,
zusätzlich zum Teddybären, zum Stoffhund oder anderen Tieren. Und dies ist eine
weitere typische Normalität im Kindesalter: die Vorliebe für Puppen und
Stofftiere, die dann, wieder durch die Kraft kindlicher Vorstellung und
Zuschreibung, zum Spielgefährten oder Tröster werden.
Die Bedeutung des kindlichen Spiels kann nicht hoch genug angesetzt werden.
Hans Zulliger (Frankfurt 1970) konnte nachweisen, dass im Spiel heilende Kräfte
wirken, die das Seelenleben von Kindern günstig zu beeinflussen vermögen.
Kinder können das, was ihnen auf der Seele lastet, herunterspielen. Und das, was
sie im Alltag ständig tun, ermöglicht seelisch kranken Kindern ein Therapeut und
hilft ihnen dabei, sich selbst zu heilen. Also gehört zu den Hauptaufgaben einer
Erziehung im Elternhaus, den Kindern spielen zu ermöglichen, Spiele anzuregen
und - nicht zuletzt - mit Kindern zu spielen.
Gesellschaftsspiele zum Beispiel, die wir mit unseren Kindern spielen, schaffen
Bindungen, lassen unsere Kinder sich in der Familie wohlfühlen, rücken die
Eltern, vor allem den hier und da als übermächtig erlebten Vater, näher an die
Kinder heran und beeinflussen und trainieren nicht zuletzt wichtige Eigenschaften,
wie zum Beispiel Neugierde, etwas durchhalten und zu Ende spielen,
145
zusammenhalten
aber
auch
Reaktionsvermögen
oder
Merkund
Unterscheidungsfähigkeit. Eltern von Kindergartenkindern oder von Kindern in
der Grundschuleingangsstufe, äußern gelegentlich die Sorge, dass ihre Kinder
nicht genug „lernen“ und „zu viel spielen“. Spielen aber ist keine Spielerei! Alles,
was ein Kind an seiner natürlichen Existenz- und Lernweise hindert und ihm die
Möglichkeiten nimmt oder einschränkt, sich die Welt spielerisch anzueignen,
schadet seiner Entwicklung. Das Spiel, so können wir ohne jede Übertreibung
festhalten, ist der Schlüssel zu einem aktiven Leben und eine elementare
Voraussetzung allen Lernens.
Spielen muss möglich sein
Das, was hierunter zu verstehen ist, lässt sich recht einfach beschreiben. Jedes
Kind braucht Platz zum Spielen. Auch unter recht beengten Wohnverhältnissen,
werden Kinder ein Eckchen für sich finden. Einsichtige Eltern helfen ihnen dabei
und bieten Gestaltungsräume für die Kinder an. Urgroßmutter nahm die
Tischdecken vom Wohnzimmertisch und das gelbe Wachstuch kam zum
Vorschein. Darauf konnten die Kinder malen oder mit Holzbausteinen Häuser
oder Burgen errichten. Oder der gleiche Tisch wird, wie oben Großvater erzählte,
umgedreht. Zwischen den Tischbeinen entstand die eigentliche Kinderwelt.
Wenn auch heute Hof und Straße Kindern nicht mehr überall zur Verfügung
stehen, wie in früheren Generationen, so sind doch an deren Stelle
Kinderspielplätze oder unbebaute Grundstücke getreten. In den großen
Parkanlagen oder anderer, hierfür ausdrücklich ausgewiesener Grünflächen
Münchens, Frankfurts, Düsseldorfs oder anderer Großstädte, können sich viele
Kinder tummeln. In unseren Tagen reichen die zur Verfügung stehenden
Kinderspielflächen aus, kommen meistens in ihrer Gestaltung den Bedürfnissen
unserer Kinder entgegen und bieten ihnen Anregungen und neue Erfahrungen an.
Nehmen wir noch hinzu, dass heute mehr als achtzig Prozent aller Haushalte über
gesonderte Kinderzimmer verfügen, die, wenn auch nicht selten im Vergleich zu
den anderen Räumen recht klein, den Kindern ungestörtes Spielen ermöglichen,
dann sind die Rahmenbedingungen für viele Kinder in unserem Lande nicht
schlecht. Auch die Ausstattung mit Spielzeug ist enorm. Selbst ein flüchtiger Blick
in die Kindergärten und Kinderzimmer kann uns schwindlig werden lassen: so
groß ist das Angebot an vielfältigen Spielzeugen. Schwierig ist es zu entscheiden,
was gutes Spielzeug ist und was nichts taugt. Zur Illustration ein
Erfahrungsbericht:
Heinz bekam zum achten Geburtstag von seiner Tante einen großen Karton.
Freudig erregt, machte er sich ans Auspacken. Die Familie schaute zu und
auch die Tante saß strahlend dabei. Ihre Mimik verriet allen, dass sie stolz war
auf ihre Auswahl und dessen sicher, mit ihrem Geschenk den Vogel
abgeschossen zu haben.
146
Bald stand das Geschenk vor aller Augen: Ein bunt bemaltes Blechungeheuer eine Art „Außerirdischer“ stand im Raum. Groß wie ein Fußball mit vier Füßen
und mehreren Greifarmen von denen einer eine menschliche Gestalt hielt.
Diese Gestalt konnte Heinz aus der Greifhand lösen und in eine andere
hineintun. Und noch etwas konnte Heinz mit dem Blechungeheuer machen: es
mit Hilfe eines kleinen Schlüssels aufziehen. Dann lief drinnen ein Uhrwerk ab,
dabei entstand natürlich ein blechernes Getöse und die Arme und Beine
bewegten sich hin und her. Der Blechball drehte sich dabei ein wenig auf der
Stelle.
Heinz war ein sehr höflicher Junge. Er gab seiner Tante den erwarteten Kuss
zum Dank, griff sich seine Blechmaschine und verschwand Richtung
Kinderzimmer, wo seine Gäste warteten. Nun durfte jeder mal aufziehen und
sich das Geräusch anhören und das Blechmännchen umstecken. Am Abend
prüfte Heinz, was er denn noch mit diesem Spielzeug anfangen könnte. Und
weil er ebenso geschickt wie erfinderisch war, zerlegte er den Blechmantel und
baute den Aufziehmechanismus aus. Die Blechhülle verschwand im Müll und
der Motor wurde auf ein Brettchen montiert, von wo aus er über die
Antriebswelle irgendwelche Lego- Konstruktionen bewegte.
Nur gut, dass dies die Tante nicht mehr sah!
Wir können diesem Beispiel entnehmen, dass für die meisten Kinder ein Spielzeug
dann gut ist, wenn mit ihm etwas angefangen werden kann und zwar im Sinne von
Kreativität, Aktivität und Konstruktivität. Fehlen diese Elemente und nimmt die
Gestalt oder Gestaltung des Spielgeräts auch noch die Möglichkeit, die eigene
Phantasie spielen zu lassen, wird es für ein Kind rasch langweilig, es wird
beiseitegelegt oder, wie in unserem Beispiel, zerstört bzw. „umgebaut“.
Sogenanntes „wertloses Material“ wie zum Beispiel Papprollen, Kartons,
Holzstücke, alte Kisten oder bunte Stoffreste können gelegentlich mehr Freude
bereiten, als perfekte technische Spielzeuge. Gewiss träumen viele Mädchen und
Jungen von Puppenhäusern oder Eisenbahnen. Es reicht aber den Kindern nicht,
wenn sie das Puppenhaus nur anschauen und Püppchen nur hierhin oder dorthin
setzen oder das Geschirr aus- und einräumen können. Es genügt bei der Eisenoder Autobahn auch nicht, wenn nur der Trafo bedient werden kann. Der Spaß,
einen Zug im Kreis herumfahren zu lassen, muss durch Variationsmöglichkeiten
ergänzt werden. Und wenn ein Kind nur den Zug entgleisen lassen darf!
Die Ausdauer unserer Kinder ist altersbedingt verschieden. Insofern hat auch eine
Eisenbahn, mit der, ist sie einmal aufgebaut oder gar fest auf einem Untergrund
montiert, ein Kind eigentlich nicht mehr konstruktiv umgehen kann, nur einen
zeitlich begrenzten Reiz. Dann wird sich ein Kind anderen interessanten Spielen
zuwenden.
Und wie sieht es mit den Kinderwünschen aus? „Was wünschst du dir denn zu
Weihnachten?“ wird ein Kind gefragt. Hier sind die Augen sehr groß und die
Wünsche können in’s Unermessliche steigen. Gewöhnen wir unsere Kinder
frühzeitig daran, dass sie nicht alles Spielzeug haben können. Lassen wir uns mit
unseren Kindern Zeit, in den Spielwarenabteilungen herumzulaufen und sich all
147
die Herrlichkeiten zu betrachten. Dort haben wir die Gelegenheit ihnen
nahezubringend, dass man nicht alles haben kann, sondern auswählen und sich
entscheiden muss. Was dann auf den Gabentisch kommt, das freilich entscheiden
wir. Wir auch können beurteilen, welches Spielzeug einem Kind in seiner
Entwicklung schadet oder nützt. Und in unseren Entscheidungen lassen wir Eltern
uns nicht von sozialem Druck oder gar Prestigevorstellungen leiten. Nicht weil es
„andere auch“ haben, schaffen wir Spielzeug an, sondern, weil wir von dessen Wert
für unser Kind überzeugt sind.
Übrigens ein Tipp aus der elterlicher Trickkiste: wenn unser Kind sich mal gar zu
sehr etwas wünscht, was wir Eltern für ebenso überflüssig wie kitschig halten (im
Grunde aber die Entwicklung unseres Kindes nicht beeinträchtigt), dann können
wir den Kinderwunsch an Oma und Opa herantragen. Wir bleiben zwar bei
unserem „Nein“ und unseren Prioritäten; unser Kind aber wird seine Freude
haben, ohne dass wir unser Gesicht verlieren.
Einen besonderen Anstoß zum Spielen braucht kein Kind. Alles wird ihm zum
Spiel. Eltern und Erzieher haben darum eigentlich mehr darauf zu achten, dass sie
das Spiel des Kindes nicht unnötig einschränken. Eine unnötige Einschränkung
wäre zum Beispiel die Behinderung des Kinderspiels in Wohnzimmer oder Küche,
wenn kein Kinderzimmer zur Verfügung steht und Kinder nicht draußen spielen
können. Die Älteren unter uns werden sich noch daran erinnern, dass es in der
ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hier und da noch eine „gute Stube“
gab. Das war ein Raum, der nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet wurde.
Selbst wenn Kinder keinen Raum für sich hatten: dort durften sie nicht hinein. Die
gute Stube (der Salon) musste aufgeräumt und sauber bleiben. Die Zeiten haben
sich geändert. Und trotzdem gibt es Wohnungen, in denen Kinder nicht ungeniert
spielen können. Mal sind die Möbel zu teuer gewesen und könnten beschädigt
werden, mal sind sie für Kinder gefährlich, wie Möbel aus Glas oder Metall. Oder
es ist einfach nicht genügend Platz da. Und wenn Mutter und Vater abends nach
Hause kommen, dann soll Ruhe sein. Der Fernseher wird dann zum Kompromiss.
Er schafft die Ruhe, die die Eltern brauchen und „stellt die Kinder ab“. Auch in
Wohnquartieren, die an verkehrsreichen Straßen liegen, weichen die Eltern auf
den Fernseher aus. Dort ist es für Kinder viel zu gefährlich, draußen zu spielen.
Kinder aus Wohngebieten mit starkem Autoverkehr verbringen darum deutlich
mehr Zeit vor dem Bildschirm, als Kinder aus verkehrsberuhigten (vgl. die Studie
von Mario Hüttenmoser, Zürich 1995).
Spielen wir gern mit unseren Kindern?
So verschieden wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind die Gründe, die wir
haben, nicht zu spielen. Sobald wir, wie zum Beispiel in einer Gruppe oder beim
Kindergeburtstag, sozusagen „gezwungen“ sind, zu spielen, macht es ja auch Spaß.
148
Es lässt sich immer wieder feststellen, dass viele von uns Erwachsenen bestimmte
Spiele eigentlich recht gern spielen. Dennoch schaffen wir es oft nicht, aus dem
Alltagstrott herauszukommen und mit den Kindern oder mit allen
Familienmitgliedern zu spielen. Das Fernsehen frisst freilich viel Zeit überall dort,
wo die Geräte nicht ausgeschaltet werden. Der Zusammenhang zwischen
schädlichen Auswirkungen eines passiven Medienkonsums und der seelischen,
geistigen und sozialen Entwicklung unserer Heranwachsenden ist uns allen, auch
ohne genaues Detailwissen, klar. Abschalten ohne attraktive Alternativen ist aber
vielfach nicht mehr möglich. Zu den besonders attraktiven Alternativen gehört für
unsere Kinder, vor allem für die jüngeren Kinder, das Spiel mit den Eltern.
Nun gibt es Familienmitglieder, die spielen bestimmte Spiele nicht, weil sie ungern
verlieren. Häufig gehören unsere Kinder dazu. Es gibt aber Spiele oder es lassen
sich Spielregeln erfinden, bei denen es keine Verlierer gibt.
Es gibt auch Familienangehörige, die nie Zeit haben oder lieber etwas anderes
machen. Denken wir an Vereine, an Sport oder das Lesen. Hier sorgt dann der
Elternteil, der diese Hobbies nicht pflegt oder der die größere Einsicht hat, für den
Ausgleich und spielt mit den Kindern. Gelegentlich erschweren zu große
Altersunterschieden zwischen den Kindern das gemeinsame Spiel.
Eine Lösung bietet sich an, für alle, die die Notwendigkeit gemeinsamen Spielens
einsehen, aber denen die Spielideen ausgehen: sie können sich darüber
informieren, welche Spiele es gibt! So, wie es Spiele gibt ohne Verlierer, gibt es
Spiele, die sich für verschieden Altersstufen eignen und Spiele, die Bildungseffekte
haben, also Wissen vermitteln. Es lässt sich sagen, dass es im Land der Spiele für
jeden etwas gibt. Eine wertvolle Hilfe sind Spiele-Bücher, die, je anschaulicher in
ihren Darstellungen, umso bereichernder in Ihren Anregungen sind. Sie sind nicht
einmal sehr teuer und in Kaufhäusern ebenso zu finden, wie in Buchhandlungen
oder bei Buchclubs. In jedem Falle aber empfiehlt es sich dringend, erst einmal
hineinzuschauen und zu prüfen, ob man sich leicht und rasch in Bild und Wort
orientieren kann.
Zu den Hindernissen, in der Familie miteinander zu spielen, gehören aber auch
Stimmungen oder unterschiedliche Arbeitszeiten. Manchmal mag es auch
aufreibend gewesen sein, bis sich alle auf ein Spiel geeinigt hatten. Und weil dieser
Entscheidungsprozess dann so „nervig“ ist, mag man es gar nicht mehr probieren.
Auch hierzu eine Empfehlung: Wenn jemand in der Familie oder aus der
Kindergruppe mit der Frage beginnt. „Was wollen wir (was wollt ihr) spielen?“,
dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn es oft keine Einigung gibt und am Ende
möglicherweise alle im Streit auseinander gehen. Zwei können sich eher einigen.
Dann beginnt zum Beispiel der Vater mit einem Kind oder mit der Mutter ein
Würfelspiel. Und dann kommt das eine oder andere Familienmitglied und möchte
auch mitspielen. Wer nicht will, muss ja nicht mitspielen. Das Spiel verliert seinen
Charakter und seinen Wert, wenn es zur Pflicht wird. Auch in der Kindergruppe beim Kindergeburtstag zum Beispiel - werden von bestimmten Kindern oder von
den teilnehmenden Erwachsenen einfach Spiele begonnen. Wer mitmachen will ist
willkommen. Kinder, die dann beiseite stehen – „so ein Babykram, da mache ich
nicht mit“ - sperren sich selber aus. Ruhig weiterspielen und neue Ideen umsetzen
149
- also nicht vorschlagen, sondern praktisch zu spielen beginnen, - ist der
zweckmäßigste Weg, Kinder zum Mitspielen zu gewinnen.
Eine ebenso gefährliche wie schlichtweg dumme Argumentation ist die, darum
nicht zu spielen, weil das Spiel als nicht nützlich, als „Nichtstun“ oder als
Zeitverschwendung betrachtet wird. Wir treffen Bürgerinnen und Bürger an, die
darum die Arbeit von Erzieherinnen in Kindergärten nicht zu würdigen wissen,
weil die ja „nur“ spielen. Die „Spieltanten“, so werden Erzieherinnen gelegentlich
von Stammtischpolitikern abfällig bezeichnet, leisten nichts. Gerade in ihrer
beruflichen Fähigkeit, Spiele entwicklungsfördernd auswählen und einsetzen zu
können, liegt die besondere Kompetenz dieser Berufsgruppe. Erzieherinnen in
Kindertagesstätten sind die „Expertinnen“ für das Kinderspiel in unserer
Gesellschaft. Wir Eltern sollten ihr Expertenwissen nutzen und uns von ihnen bei
Gelegenheit beraten lassen, wenn wir uns über den Wert eines Spiels nicht im
Klaren sind.
Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die vom Spiel nichts wissen wollen, dann
offenbaren sich mit derartigen Argumenten sehr unglückliche Naturen. Ihnen wird
das Lachen, vor allem das Lachen über sich selbst, das wir als Humor und damit
als ein Kennzeichen menschlicher Reife einzuordnen haben, schwer fallen. In
diesem Zusammenhang ist an die Bemerkung vom „Nicht-verlieren-können“ zu
denken. Vielleicht ist ein Merkmal dafür, dass sich die betreffenden
Persönlichkeiten für besonders wichtig nehmen? Heranwachsende erlangen
frühestens mit der Pubertät jene Fähigkeit der Selbstdistanzierung, die sie
erkennen lässt, dass sie nicht der Nabel der Welt sind25. Kindern freilich ist das
noch nicht möglich und darum verstehen wir auch, dass sie so schlecht verlieren
können und jedes Mal unseren Trost brauchen.
Es ist sehr schwer, etwas gegen das Argument einzuwenden: „nach Feierabend
sind wir einfach zu müde; dann haben wir keine Lust mehr, mit unseren Kindern
zu spielen; wir wollen nur noch unsere Ruhe haben“. Eltern, die an einem Seminar
über das Spiel teilnahmen, haben zu diesem Problem ein Gedicht verfasst, das
wiedergegeben wird, weil es genau das trifft, was hierzu gesagt werden kann:
„Nach des Tages Mühen,
woll’n Eltern nicht mehr spielen!
Sie wollen nur noch ihre Ruh’
und nicht „Mikado“ oder „Blinde Kuh“.
Doch, liebe Eltern, seid nicht dumm,
Kinderjahre geh’n schnell rum!
Gebt Euren Kindern Eure Zeit,
sie danken’s mit Anhänglichkeit!“
Formen des Spiels
150
Die Aufteilung der schier unerschöpflichen Fülle von Spielen ist nicht leicht. Es
lassen sich zum Beispiel Brettspiele, Bewegungsspiele, Kartenspiele oder
Konstruktionsspiele voneinander unterscheiden. Bei den Bewegungsspielen
wiederum gibt es viele, die wir früher spielten und die unseren Kindern heute noch
vertraut sind: da gibt es Kreisspiele, Hüpfspiele, Versteckspiele oder eine ganze
Reihe von Ballspielen. Man kann die Spielformen auch nach der Anzahl der
möglichen Spielteilnehmerinnen und Spielteilnehmer unterscheiden. Diese
Systematik ist den tatsächlichen Spielsituationen bei Kindern und Erwachsenen
nachempfunden und hat sich in Veranstaltungen mit Eltern, in denen es um die
Spielpraxis ging, bewährt.
Es können hier beileibe nicht alle Spielformen erwähnt werden, die sich in
Spielkarteien und anderen Spiele-Sammlungen befinden. In Kinder- und
Familienfreizeiten kann man Spiele einführen, die man zu zweit spielen kann und
für die es keinerlei besonderer Vorbereitung braucht und nur geringfügiges
Spielmaterial vorhanden sein muss: kariertes Papier und einen Bleistift. Wo zwei
beieinander sind, ist das „Schiffe versenken“ ein spannendes und faszinierendes
Spiel in dem sich ein bisschen Glück und viel Kombinationsgabe miteinander
verbinden. Eltern, die an einem Spielseminar teilnahmen, meinten zu diesem
Spiel:
„Dieses Spiel schafft Ruhe, es lässt sich in jeder Situation verwenden, die
Spielregeln lassen sich variieren und außerdem fördert es die Kontakte zwischen
den Spielern. Dieses Spiel ist überall spielbar; sogar in der Schule „unter der
Bank“.
Ein weiteres Spiel, bei dem wir überhaupt keine Materialien brauchen, ist das
Knobeln. Jenes Spiel mit den Händen, in dem die beiden Partner symbolisch
Papier, Schere, Stein und Brunnen darstellen und das ebenfalls überall gespielt
werden kann. Da in der Regel auf diese Weise etwas ausgeknobelt wird, hat dieses
Spiel von diesem Ziel her seinen Sinn.
Darüber hinaus gibt es ein reiches Angebot an Spielen, die ohne großen Aufwand
daheim in der Familie, an Kindergeburtstagen oder anderen Anlässen unter
Kindern, Kindern gemeinsam mit Erwachsenen und unter Erwachsenen gespielt
werden können. Da wird man bald nach Spielen Ausschau halten, an der auch
mehrere Spielerinnen und Spieler teilnehmen können. Stadt - Land - Fluss oder
Mikado sind ebenfalls ebenso einfach wie lehrreich.
Unter den Tischspielen an denen zwei oder mehrere Spielerinnen und Spieler
teilnehmen können, gibt es sehr viele, die von großen Spieleherstellern angeboten
werden und weite Verbreitung gefunden haben. „Sagaland“, „Monopoly“,
„Scotland Yard“, „Hase und Igel“, „Deutschland-Reise“ gehören dazu. In vielen
Familien wird vor allem mit jüngeren Kindern gern ein Bilder-Lotto und Memory
gespielt. Ständig kommen neue Spiele auf den Markt. Wichtig ist, dass wenigstens
eine(r) die Spielregeln bereits gut kennt und rasch vermitteln kann. Irgendwann
nehmen wir alle ein Spiel zum ersten Mal in die Hand. Und darum ist eine gute,
verständlich geschriebene Anleitung unverzichtbar.
Spielleidenschaft
151
Obwohl es manche Erwachsene gibt, die mit ihren Kindern nicht spielen wollen,
haben sie aber selbst Freude an Spielen sowohl in passiver Weise, wie in aktiver.
Zu den passiven Spielfreunden gehören zum Beispiel alle Zuschauer. Gäbe es sie
nicht, wären Fußball und Tennis kein so gutes Geschäft für alle, die beteiligt sind.
Damit lässt sich zugleich eine Wertung verbinden: wer nur zuschaut und wenig
oder überhaupt nicht selbst spielt, befindet sich im Grunde in der gleichen
Situation, wie ein Fernsehgucker. Er ist ein passiver Empfänger und kein aktiver
Erkunder. Was dabei herauskommen kann, wenn sich beim Zuschauen nur die
Gefühle beteiligen dürfen, die gelegentlich mit Alkohol noch etwas aufgewärmt
werden, das zeigen uns die leidigen Fußballkrawalle im In- und Ausland.
Neben
dieser
passiven
Spiel(er)-Leidenschaft,
die
der
eigenen
Persönlichkeitsentwicklung umso mehr schadet, je weniger sie in eigenem aktiven
Tun (Spiel) außerhalb der Zuschauerrolle ihre Ergänzung findet, gibt es aktive
Formen bei Jugendlichen und Erwachsenen, die zur Leidenschaft werden und
sogar in eine Sucht einmünden können. Schädlich - zumindest in ihren
Auswirkungen auf das soziale Umfeld, wie Freunde, Eltern und Partner - sind alle
Suchterscheinungen, die uns unfähig werden lassen, den „normalen“
Anforderungen unseres Lebens gerecht zu werden. Wir alle kennen Menschen, die
sich und ihrer Umwelt wegen ihrer Süchte (Putzsucht, Fresssucht, Trunksucht,
Videosucht, Internetsucht...) zur Last fallen. Aus dem Bereich des Spielens ein
Beispiel:
„Der früher so ehrgeizige, jetzt vierundzwanzigjährige Andreas, der Schule
und Ausbildung problemlos durchlaufen hat und auch nahtlos in eine gute
Position einsteigen konnte, steckt bis zum Hals in Schulden. Seine Firma hat
sogar Pfändungsbescheide bekommen. Kündigungsgrund war dann aber
schließlich, dass er mit ersten Unterschlagungen - 3000,-- in vier Monaten aufgeflogen ist. Und das alles, weil er die Finger nicht von den Automaten
lassen kann.
Angefangen hat die ganze Misere vor acht Jahren. Andreas ist mit seinen
Klassenkameraden, auch mit Freunden aus dem Fußballclub, auf dem
Heimweg schon mal in einen Spielsalon gegangen. Nur so zum Spaß. Bei den
anderen ist es beim Spaß geblieben. Er aber ist nicht mehr losgekommen von
den klingelnden Geräten: „Da hörst und siehst du nicht mehr, was um dich
herum vorgeht, nimmst keine Menschen mehr wahr, bist nur noch high.“
Er hat bald täglich gespielt, meist gleichzeitig an mehreren Apparaten. Bald
reichte sein Taschengeld nicht mehr. Und der große Gewinn ist auch nie aus
den Automaten gefallen. So hat er Freunde angepumpt und schon mal ein paar
Mark aus Mutters Portemonnaie geklaut. Weil Andreas aber eigentlich ein
ehrgeiziger Mensch ist, hat er Schule und Ausbildung trotzdem durchgezogen.
Endgültig gepackt hat ihn die Spielsucht dann aber, als er eine gut bezahlte
Stelle und erstmals größere Summen in die Finger bekam.“ (aus: Südkurier,
Konstanz, vom 21.08.1993)
152
Ob an Spielautomaten oder in Spielclubs und Spielcasinos: die dem Glücksspiel
verfallenen Menschen sind seelisch krank und bedürfen der Hilfe. Die Ursachen
lassen sich in den meisten Fällen - genauso wie bei allen anderen
Suchterkrankungen - in Defiziten aus jenen Bereichen ausmachen, die wir als
Grundbedürfnisse im ersten Kapitel kennen gelernt haben.
Spielleidenschaft und Spielsucht auf der einen Seite und das Spiel um meiner Lust
und Freude, zu meiner Entspannung und Erholung auf der anderen Seite, haben
für gefährdete Menschen eine Brücke zueinander. Unser Beispiel wies darauf hin:
Mit dem Spiel an Fußball- und Billardtischen sowie an einigen Automaten und in
der Gesellschaft guter Freunde fängt es an. Doch bald stand Andreas einsam und
allein gegen die Automaten spielend tagaus tagein in den Spielsalons. Mit diesen
zerstörerischen Formen verwandt sind viele Spiele, die mit dem Gameboy oder am
Computer gespielt werden können. Da sie aber in den eigenen vier Wänden,
sozusagen in der Privatsphäre, ihren Platz haben, sind für deren Verbreitung und
Gebrauch allein die zuständig, die die erzieherische Verantwortung tragen.
Lassen wir dieses Kapitel aber nicht düster ausklingen und knüpfen an die
Ausführungen vom Anfang an: Das Spiel ist eine Tätigkeit, auf die der Mensch
nicht verzichten kann. Wenn wir zum Beispiel nach Frankreich in die Ferien
fahren, dann sehen wir in jedem Dorf Männer an der Boule-Bahn stehen und
gemächlich ihre Kugeln reiben und werfen. Oder denken wir an die vielen
Minigolfanlagen, die sich bei uns zu Lande, meistens in der Nähe von
Schwimmbädern oder Freizeitparks befinden und stets gut besucht sind. Und wenn wir wieder an unsere Kinder denken: sind nicht die Spielplätze stets
bevölkert? Wenn Familie M. mit ihren drei Kindern am Samstagnachmittag in die
Stadt fuhren, dann legten die drei Kinder im Alter von elf, sieben und vier Jahren
gleichermaßen großen Wert darauf, die Spielplätze im Stadtpark oder am Museum
zu besuchen. Die Kinder interessierten die Einkaufswünsche von Mutter und Vater
kaum! Allein der Besuch der Spielplätze, wo andere Spielgeräte als daheim, andere
Kinder und unbekannte Abenteuer auf sie warteten, war ihnen wichtig.. Bieten wir
sie ihnen an und besuchen Spielplätze, wo sie der Abgeschlossenheit unserer
Wohnungen und Einfamilienhäuser entrinnen können. Außerdem - nicht
entweder - oder! - erlauben wir unseren Kindern, dass sie ihre Spielgefährtinnen
mitbringen und schauen dabei nicht auf Herkunft oder Verdienst der Eltern.
Kinder müssen ihre Erfahrungen für das Leben selber machen. Das können sie nur
dann tun, wenn wir ihnen das ermöglichen; und zwar mit Hilfe des Spielens und
mit Spielgefährten. „Vielleicht bräuchten Kinder auch weniger Bewegungs- und
Sprachtherapeuten, wenn sie mehr Raum und Zeit zum Spielen hätt… Beim
Spielen lernen wir, eigene Möglichkeiten und Grenzen einzuschätzen, mit Anstand
zu verlieren und zu gewinnen, starre Gewohnheiten zu durchbrechen und unseren
Geist fit zu halten. Bis ins hohe Alter“26.
153
9
Lernen und Schule
Einführung
Was wird von Familien und Schule in unserer Gesellschaft erwartet? Es sind
tatsächlich nicht in erster Linie irgendwelche Abschlüsse und Prädikate, sondern
vielmehr Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mögliche Schul- und
Ausbildungsabschlüsse maßgeblich zu begleiten haben. Wir finden diese
Erwartungen an Frauen und Männer dann, wenn wir die Stellenanzeigen
durchsehen. Die folgenden Erwartungen waren die am meisten genannten in den
Stellenangeboten einer einzigen Wochenendausgabe einer großen Wochenzeitung.
Woche für Woche können wir uns alle überzeugen, dass diese Erwartungen nach
wie vor gelten. Wer sich der Mühe unterziehen würde, über einen längeren
Zeitraum hinweg die Stellenangebote auf derartige Erwartungen hin zu
analysieren, würde vielleicht die eine oder andere Akzentverschiebung feststellen,
nicht aber auffallend Neues. Auf der Grundlage von in Stellenanzeigen geäußerten
Erwartungen können wir festhalten, dass sie in dieser Gesellschaft gelten. Hier
sind sie genannt:
Initiative,
Verantwortungsbewusstsein,
Selbständigkeit,
Kooperationsbereitschaft, Offenheit und Neugier, Bereitschaft zum Lernen und
sich neuen Aufgaben stellen zu können, Kommunikationsfähigkeit,
Engagement
und
Kreativität,
Einsatzbereitschaft,
Flexibilität,
Einfühlungsvermögen und Leistungswillen.
Wer also im Berufsleben unserer Tage bestehen will, der braucht, neben einer
abgeschlossenen Berufsausbildung, vor allem:
Eine gute Motivation - zum Beispiel eine über die Berufsabschlüsse hinaus
andauernde Lernbereitschaft (Stichwort: lebenslanges Lernen);
Positive individuelle und soziale Eigenschaften - zum Beispiel
Selbständigkeit und Einfühlungsvermögen oder Teamfähigkeit;
Kognitive Fähigkeiten - zum Beispiel rasche Anpassung an neue Aufgaben
und kreatives Denken27.
In kaum einem anderen Bereich lässt sich die Erziehung zur eigenverantwortlichen
Persönlichkeit, wie sie als Ziel dem Menschenbild unserer Verfassung vorschwebt,
so gut in die Tat umsetzen, wie im Bereich der Arbeiten für die Schule. In keinem
anderen Bereich aber gibt es in unserem Lebensalltag größere Konfliktanlässe als
in diesem. Dabei wäre gerade hier alles so einfach...
154
Die Schule als Herausforderung
Nun, die Schwierigkeiten sollen nicht geleugnet werden. Unter den 355
schulpflichtigen Kindern, die im Verlaufe von fünfzig Jahren in ein Kinderheim
aufgenommen wurden, war kein einziges, dass nicht wegen der Schule Ärger
gehabt hatte; in den meisten Fällen entsprachen die Mädchen und Jungen nicht
den Ansprüchen der Lehrer und in vielen Fällen erwarteten die Eltern von ihren
Kindern mehr, als diese zu leisten in der Lage und bereit waren. Hier ein Beispiel:
"Mein Kind ist ein Versager." Das erklärte der Vater eines Zweitklässlers eines
Abends seinen Freunden. Was war geschehen? Anlässlich der Einschulung des
Kindes hatte er im gleichen Kreis verkündet, dass sein Sohn auch mal Zahnarzt
werden solle, wie ein Verwandter von ihm. Um Medizin zu studieren aber
muss man das Abitur haben. Also hatte der Vater die Schullaufbahn seines
einzigen Kindes für sich selbst schon geplant. Als sich während des ersten
Schuljahres herausstellte, dass der Junge Mühe hatte, die schulischen
Anforderungen zu bewältigen, war der Vater zutiefst enttäuscht. Er verlor das
Interesse am schulischen Lernen seines Kindes und überließ alles seiner Frau.
Nicht zuletzt deren starker Persönlichkeit und vor allem ihrem liebevollen
Verständnis war zu verdanken, dass der Junge die Hauptschule mit Erfolg
beendete und eine Lehre begann. Mit fünfundzwanzig Jahren war er ein
gesuchter Computer-Experte.
Elterliche Erwartungen belasten heute die Erziehung und Bildung von Kindern mehr
als in früheren Zeiten. Dabei lernen alle Kinder, wie im vorangegangenen Kapitel
geschildert, von Natur aus gerne - wenn wir Erwachsenen ihnen nur nicht die
Freude an Lernen und Leisten vermiesen würden. Falsche Erwartungen oder andere
Formen seelischen Drucks können Kinder in Familie und Schule lähmen (Heinrich
Kratzmeier München 1982, S. 133 ff). Unser Beispiel zeigt, dass sich unter
bestimmten Umständen im weiteren Verlauf des Lebens das natürliche Streben nach
Lernen und Leistung durchsetzt. Andererseits gibt es eine Fülle an Möglichkeiten
und guten Erfahrungen, wie Kinder dazu geführt werden können, auch unbequeme
Pflichten im Zusammenhang mit schulischem Lernen auf sich zu nehmen und hier
Eigenverantwortung zu lernen. Die Arbeit daheim für die Schule wie vor allem die
Erledigung der Hausaufgaben gehört dazu.
Sie sollen dazu dienen den in der Schule vermittelten Lehrinhalt zu vertiefen
und selbständig zu erweitern. Auf diese Weise sollen Konzentration, Ausdauer
und Durchhaltevermögen ebenso gestärkt werden, wie die Bereitschaft,
Pflichten zu erfüllen, gerade auch dann, wenn sie unbequem sind und
Anstrengung erfordern. Nicht zuletzt sollte neben der Selbständigkeit die
Eigenverantwortung gefördert werden.
155
Nur dann und in dem Ausmaß erfüllen Hausaufgaben - also arbeiten an
Lerninhalten außerhalb des Unterrichts - ihren Zweck, wenn und soweit sie
den hier genannten didaktischen Funktionen dienen und vor allem die auf die
Persönlichkeitsförderung gerichteten Absichten in einer überprüfbaren Weise
auch erreichen.
Die Befragungen des Professors Anton Bucher von der Universität Salzburg, die
am 15. November 2007 auf einer Fachtagung in Mainz vorgestellt wurden, gaben
Auskunft darüber, was Kinder glücklich beziehungsweise unglücklich macht
(Weinheim 2001) ergaben, dass Hausaufgaben "Glücksdämpfer" seien. Gerade,
wenn sie als "zu viel" empfunden werden, tragen Hausaufgaben dazu bei, das
Wohlbefinden von Kindern empfindlich zu stören. Hierbei sind es keineswegs die
zeitlichen Belastungen allein, die die befragten Kinder störten. Vielmehr sind es
die im Zusammenhang mit der Erledigung der Hausaufgaben entstehenden
Konflikte mit den Eltern, die das Glücksempfinden von Kindern beeinträchtigen.
Es gibt zweifellos eine große Anzahl unter unseren Schülerinnen und Schülern, die
in der Schule und daheim mit Interesse und Engagement arbeiten. Alle
Berufspädagogen wissen - und können das voll akzeptieren - dass es auch kaum
eine/n unter ihnen gibt, die in allen Fächern oder bei allen Lehrerinnen und
Lehrer und Lehrern gleichermaßen arbeiten können, da die Interessen ebenso
verschieden sind wie die zwischen menschlichen Beziehungen. Auch wir haben, als
wir noch Kinder waren, in der Schule bei jenen am meisten gelernt, zu denen wir
eine gute Beziehung hatten, sei es, weil wir ihre persönliche Autorität, ihre
Fachkompetenz oder die Art und Weise des Umgangs mit uns schätzten. Dies galt
vor allem für jene Pädagogen, die uns als Persönlichkeit wahrnahmen und
achteten.
Die Schule erschwert die Entwicklung zu einer selbstständigen, eigenverantwortlich
handelnden strebsamen und die Würde aller Menschen achtenden, Urteils- und
entscheidungsfähigen Persönlichkeit, wenn sie sich darauf beschränkt, eine
lebensferne Lernschule zu sein. Kennzeichen einer derartigen Lernschule ist unter
anderem die Betonung kognitiven Lernens und eine Schule, die alle Bemühungen der
Schülerinnen und Schüler, den Anforderungen der Schule gerecht zu werden, in das
System der Leistungsmessung zwängt. Man kann zum Beispiel heute als
nachgewiesen erachten, dass das Bewertungssystem der Schulen zwar unter
juristischen Gesichtspunkten wasserdicht unter pädagogischen jedoch absolut
dysfunktional ist. Zur Herausbildung einer lernbereiten und an schulischen
Unterrichtsinhalten interessierten Persönlichkeit trägt das Bewertungssystem nicht
bei. Dies zeigt sich besonders dann, wenn ein Kind nicht versetzt wird. Noten, so ist
erst kürzlich wieder herausgearbeitet worden, werden in Abhängigkeit von den
subjektiv geltenden Leistungsanforderungen eines Lehrers und dem Leistungsniveau
einer Klasse vergeben. Sie sind keineswegs ein objektives Kriterium für das
Sitzenbleiben. In einer Studie von Klaus Klemm (Gütersloh 2010) wurde
nachgewiesen, dass Klassenwiederholungen zu keiner Verbesserungen der
156
Leistungen führen. Sie sind unzweckmäßig, denn sie wirken eher demotivierend als
leistungsfördernd. Die Schulschelte ließe sich lange fortsetzen28.
Es gibt Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer, die gebildet und mutig genug sind, die
Chancen nutzen, die ihnen das Schulsystem bietet. Das in der staatlich verwalteten
und gelenkten Schule dem Lehrer Eigenverantwortlichkeit im Rahmen seiner
Fachlichkeit geltende Prinzip ist mit dem Begriff von der "Pädagogischen Freiheit"
(vgl. dazu § 38 SchGes. BW) angedeutet. Doch die Verwirklichung dieser Freiheit in
Verantwortung vor dem Kind einerseits und der Gesellschaft andererseits, setzt
bestimmte Kompetenzen voraus, über die die Schulpädagogen verfügen sollten. Zwei
besonders bedeutsame seien genannt:
Fachliches Wissen und Können, das sich sowohl auf die Sachkenntnis als auf die
Didaktik eines Unterrichtsfaches bezieht,
erzieherische Fähigkeiten in Verbindung mit den Eigenschaften, die sich als
Charakteristika einer "reifen Persönlichkeit" bezeichnen lassen.
Es entspricht aller Lebenserfahrung, dass eine derartige Lehrerpersönlichkeit nicht
aus den Ausbildungsstätten hervorgeht. Mit bestandenen Prüfungen erwirbt eine
Lehrerin/ein Lehrer, genau wie bei Berufsabschlüssen aller anderen Berufe, erst die
Möglichkeit des beruflichen Einstiegs. Wissen und Können wachsen im Laufe der
Berufsjahre. Darum ist Bescheidenheit auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer und
Lehrer angesagt, eine selbstkritische Haltung und der Verzicht auf Macht und
Arroganz gegenüber Schülern Eltern und Kollegen.
Und damit ist auf ein ganz wichtiges Detail verwiesen, das die schulische
Entwicklung unserer Kinder begleitet: die Beziehungen zwischen Elternhaus und
Schule. Erwarten Eltern, die sich um ihre Kinder bemühen, Hilfe, Rat und
Information von den Lehrern, so erwarten Lehrer ihrerseits, eine gute
Zusammenarbeit mit den Eltern. So jedenfalls sieht es die offizielle, in Schulgesetzen
und Verordnungen nachweisbare Schulpädagogik vor, wenn es heißt: Schule und
Eltern pflegen ihre Erziehungsgemeinschaft.
Man kann zur Schule oder einzelnen Lehrern stehen wie man will: Dass während der
Schulzeit unserer Kinder Pflege, Fürsorge, Bildung und Erziehung gemeinsame
Leistungen von Lehrern und Eltern sind, daran ist faktisch nicht zu rütteln. Jeder
Bruch dieser Selbstverständlichkeit,
jedes Gegeneinander, jede Form der
Diskriminierung des jeweils anderen, führt unweigerlich zu Störungen in der
Entwicklung unserer Kinder. Gewiss gibt es auch hier wie in anderen Bereichen
entwicklungsbedingte Grade von negativen oder positiven Auswirkungen der
gegenseitigen Beziehungen auf die Kinder. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da
wünscht der junge Mensch ausdrücklich, dass die Eltern sich heraushalten: er hat die
Schule zu seinem eigenen Lebensthema gemacht; und er ist in dieser Beziehung
selbständig geworden.
Je jünger ein Kind ist, umso gravierender sind die Auswirkungen des Charakters der
Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule. Je älter ein Kind ist, umso eher wird
es in der Lage sein, seine schulischen Angelegenheiten selbst zu regeln.
157
Die Bedeutung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen, die
durch ein Kind miteinander verbunden sind, sind für die Entwicklung eines jeden
Kindes ganz allgemein, in Bezug auf den Schulerfolg aber in besonderem Maße von
so großer Bedeutung, dass wir uns dieser Verbindung im folgenden Abschnitt erneut
zuwenden und die Ausführungen über die Notwendigkeit übereinstimmenden
Handelns in Erziehung und Bildung ergänzen.
Elternhaus und Schule müssen zusammenwirken
An den Anfang dieses Kapitels gehört der Verweis auf die Aussagen im Abschnitt
über das Zusammenwirken in der Erziehung von Kindern (oben, S.53 ff). Am
Beispiel des Verhältnisses von Schule und Elternhaus wird dessen Bedeutung für den
Schulerfolg eines Kindes hier noch einmal unterstrichen und konkretisiert.
Gelegentlich haben Eltern Streit mit den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und
umgekehrt deutet die Schule auf die Familie, wenn es um die „richtige“ Erziehung
und Bildung geht. Wenn ein Kind zur Schule geht, dann ist die Verantwortung für
Erziehung und Bildung geteilt. Die Verfassung räumt der Schule neben den Eltern zumindest für alles, was Leben und Lernen in der Schule und für die Schule betrifft gleiche Rechte und Pflichten ein. Diese Situation kann im Einzelfalle zu Differenzen
führen. "Ich lehne es ab, mich um die Schulaufgaben zu kümmern. Das ist schließlich
Sache der Schule". Diese Haltung wäre ebenso unverantwortlich wie die eines
Lehrers, der sagen würde: "Die Eltern haben dafür zu sorgen, dass die Hausaufgaben
so sind, wie ich das will. Sonst sollen sie zusehen, wo sie mit dem Kind bleiben".
Die gemeinsame Verantwortung für das gleiche Kind, zwingt beide, Eltern
und Lehrer, zu übereinstimmenden Handeln.
Das ist der rechtliche Gesichtspunkt, dessen praktische Konsequenzen jedermann in
den Schulgesetzen nachlesen kann. Danach sind Eltern
und Lehrer zur
Zusammenarbeit verpflichtet. Zu einem Team oder einer kooperierenden Gruppe
gehören alle, die an der Erziehung und Bildung eines Kindes mitwirken. Wir
wissen genau, dass das so ist. Nicht nur in der Phase des Handelns sollten wir
übereinstimmend vorgehen, sondern bereits in der Analyse des Einzelfalls und /
oder bei der Analyse bestimmter mit diesem Kind als typisch erlebten Situationen.
Wenn zum Beispiel Eltern wissen, dass ihr Kind in bestimmten Situationen
„zumacht“ und für sie vorübergehend nicht mehr erreichbar ist, wäre es hilfreich,
sich mit der Erzieherin oder der Lehrerin/dem Lehrer darüber auszutauschen. Wir
müssen ja mit ähnlichen Reaktionen in Kindergarten oder Schule rechnen.
Es könnten sich, um bei diesem Beispiel zu bleiben, alle in einer Familie, in einem
Team oder Eltern mit den anderen Erziehern über ihre Reaktionen auf das
Verhalten des Kindes verständigen und dann gemeinsam nach Strategien
Ausschau halten, einmal, wie die Ursachen vermieden werden könnten zum
anderen, wie dem Kind aus seiner Verweigerungshaltung herausgeholfen werden
kann.
158
Alle die in einem Boot sitzen, müssen auch in die gleiche Richtung paddeln und
sich gleichermaßen anstrengen. Wie bei Mannschaftssportarten oder in einem
Orchester gehören auch bei unterschiedlichen Erziehungsträgern kooperative
Arbeitsweisen zur Grundlage jedes Erfolges. Sie sind sozusagen die
Mindestleistungen, die erbracht werden müssen. Ist hier bereits Sand im Getriebe,
müssen z.B. ein Kindergartenteam oder die Lehrer einer Schulklasse mit den
Eltern erst einmal diesen Sand entfernen, wenn sie Problemsituationen mit
Aussicht auf Erfolg bearbeiten wollen.
Je weniger die an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten
übereinstimmend handeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das
Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird.
Diese Erkenntnis gibt uns das Ziel einer Zusammenarbeit vor: Wir müssen im
Interesse unserer Kinder positive Beziehungen zwischen Eltern und den anderen
an der Erziehung Beteiligten erreichen. Das vertrauensvolle Zusammenwirken von
Eltern und Berufspädagogen ist eine Grundbedingung dafür, dass ein Kind gern
lernt (Steiner, 1980 S. 68). Der langjährige Präsident des Deutschen
Lehrerverbandes Josef Kraus erklärte in einem Rundfunkvortrag, dass siebzig bis
achtzig Prozent unserer Eltern bodenständig, unkompliziert, kooperativ,
verantwortungsbewusst (sind)“ (SWR Aula vom 24.08.2014). Eltern fällt es jedoch
schwer, eine Beziehung positiv zu gestalten, wenn sie den Eindruck haben, nur in
ihrer Familie müsste sich alles ändern. Hier ist nicht an Verständnisfragen oder
eine helfende Kritik zu denken - die sollten von Seiten des Kindergartens oder der
Schule immer willkommen sein. Vielmehr geht es um jene Berufserzieher, die ein
anderes und ihrer Meinung nach besseres Erziehungskonzept vertreten und
durchsetzen möchten. Aber auch Eltern neigen dazu, bei Problemen, die unsere
Kinder mit anderen Kindern, mit dem Lernen oder mit sich selbst haben, mit dem
Finger auf andere zu zeigen. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte und weit
verbreitete menschliche Eigenschaft, nach der wir dazu neigen, die Schuld für
irgendein Problem immer zuerst bei anderen Menschen oder Einrichtungen zu
suchen. Unsere Kinder machen uns das ganz schnell nach. Dabei kann es zu ganz
absurden Begründungen kommen, wie uns das folgende Beispiel zeigt:
Ernst hat seine Hausaufgaben unvollständig, weil ihn ein Fernsehfilm
gestern Nachmittag mehr fesselte, als die lästige Pflicht. In der Schule
entschuldigt er sich mit der Ausrede: „meine kleine Schwester hat mir das
Aufgabenblatt zerrissen...“
Doch nicht immer sind Schuldzuweisungen mit Schwindeleien verbunden. Da
verschüttet Hans am Mittagstisch seine Suppe und bekleckert die neue Hose. Als
die Mutter ihn zurechtweist: „Sei nicht so schusselig“ regiert er mit einer
Schuldzuweisung: „Wenn die (Schwester) mich nicht so blöd angeguckt hätte,
wäre das nicht passiert ...“.
159
In derartigen Situationen ist es ganz gut, wenn Eltern und Berufserzieher ein gutes
Gedächtnis haben und an sich selbst denken würden: „Wenn Du nicht so viel
geredet hättest, sagt ein Mann zu seiner Frau (oder umgekehrt) im Auto, dann
wäre mir das (zum Beispiel ein Fahrfehler mit Blechschaden) nicht passiert!“
Achten wir also auf uns selbst und geben kein schlechtes Beispiel!
Ein weiterer Erfahrungsbericht soll noch einmal auf den Punkt bringen, welche
Gefahren der Entwicklung eines Kindes bei fehlender Übereinstimmung drohen
können:
Erichs Vater ist Lehrer für Mathematik an einem Gymnasium. Der Vater hält
von der Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen in der Grundschule nichts.
Misstrauisch prüft er jede Klassenarbeit nach, die Erich aus seiner vierten
Klasse mit nach Hause bringt. Immerhin geht es in diesem Schuljahr um den
Übergang in weiterführende Schulen. Eines Tages weicht seine Sichtweise bei
der Beurteilung des Lösungsweges einer Rechenaufgabe von der des
Grundschullehrers ab. Nun setzt er sich keineswegs mit dem Lehrer
zusammen. Nein, er nimmt seinen Rotstift und korrigiert die Arbeit noch
einmal durch und stellt in einem abschließenden Kommentar den Lehrer als
Dummkopf hin. Von diesem Tag an zog sich der arme Erich, dem das
ungeheuer peinlich war, immer mehr in sich zurück und getraute sich kaum
noch, seinen Lehrer anzuschauen. Der ließ diesen Zwischenfall dem Jungen
keineswegs entgelten. Doch nun bekam das Kind seine Klassenarbeiten immer
einen Tag später als die anderen Kinder der Klasse ausgehändigt. Da der
Vater des Jungen für die Grundschule nicht erreichbar (nicht ansprechbar)
war, legte der Grundschullehrer vorsorglich die Arbeit dieses Kindes jeweils
dem Schulleiter vor und ließ seine Bewertung gleichsam „absegnen“. Dagegen
ist aus der Sicht der Schule nichts einzuwenden, denn gegen Eltern, die in
dieser Weise die Schule als Erziehungs- und Bildungsinstitution infrage stellen,
müssen sich Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer schützen. Doch dem Kind ist
damit aus seiner Not, der vom Vater ungewollt geförderten sozialen Isolation,
nicht geholfen!
Darum bleibt es ein wichtiges Gebot: Übereinstimmend handeln das setzt voraus,
dass alle Erziehenden untereinander ein möglichst hohes Maß gegenseitiger
Information und Offenheit ermöglichen und alles fördern, was Vertrauen schafft.
Dann lassen sich Schuldzuweisungen vermeiden, Vorurteile und Misstrauen
verringern und zum Wohle eines Kindes und nicht gegen seine Bedürfnisse nach
Harmonie zwischen den für ihn wichtigen Bezugspersonen, handeln.
Eltern und Kinder berichten
Wenn Schulkinder verschiedenen Alters danach gefragt werden, was sie mit Schule
assoziieren, überraschen die Ergebnisse zunächst. Mädchen und Jungen
bearbeiteten an Familienwochenenden29 zum Thema „Schule“ die Frage:
160
"Was fällt mir ein, wenn ich an meine Schule denke? Sicher gibt es dabei Gutes
und nicht so Gutes. Unter diesen beiden Gesichtspunkten schreibt jede/jeder für
sich selbst auf, was ihr/ihm dazu einfällt. Anschließend tauschen wir aus und
reden darüber."
Was die Mädchen und Jungen an der Schule gut fanden sind:
1.
die Pausen
2.
die Ferien
3.
die Ausfallzeiten, Freistunden
4.
lustige, nette Lehrer
5.
wenig Hausaufgaben
6.
Wintersporttagen
Unterrichtsinhalte selbst, beziehungsweise bestimmte Fächer wurden nur von 10
Prozent der Kinder und jeweils nur ein Fach erwähnt.
Was die Mädchen und Jungen an der Schule nicht so gut fanden sind:
1.
die Hausaufgaben
2.
die Unterrichtsfächer:
In der Skala der negativen Äußerungen über die Schule tauchen alle
Unterrichtsfächer auf. Jedes Kind hatte an zumindest einem Unterrichtsfach
keine Freude. Und immer wieder sind es die Lehrer, die das Fach vermiesen.
Die Schülerinnen und Schüler begründeten ihre Abneigung gegen ein Fach
stets mit Personen und schrieben: "Musiklehrer, Sportlehrer, Bio-Lehrer" usf.
Was in der Häufigkeit folgte, überraschte: Viele Kinder erleben
3.
die Schulatmosphäre als unangenehm: "Unsere Schule sieht viel zu schwarz
aus" schrieb ein Kind. Ein anderes fand das Klassenzimmer "öd" und andere
verknüpften den Gedanken an ihr Schulhaus mit "langweilig" und "es riecht
nicht so gut".
4.
die (anderen) Kinder
5.
Die Schulnoten, Schulstrafen und die Länge des Unterrichts empfanden je etwa
gleich viele Kinder als Ärgernis.
In den sich anschließenden ausführlichen Gesprächen mit den Mädchen und Jungen,
an denen sie sich stets lebhaft beteiligten, stellte es sich heraus, dass es besonders die
die Schülerinnen und Schüler als Personen diskriminierenden Vorfälle sind, die
ihnen sehr zu schaffen machen:
Da hört zum Beispiel der Lehrer gar nicht zu, wenn "wir etwas fragen"; andere
Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer "brüllen" oder "schreien einem an"; sie
beschimpfen Kinder: "Motzkuh", "blöde Kuh" oder „Ochse“, sie ziehen an den
Haaren, an den Ohren oder werfen mit Kreide und - immer wieder - sie geben
Strafarbeiten auf. Zum Beispiel muss die Schulordnung abgeschrieben werden.
Diese belastenden Erfahrungen finden sich auch in den schriftlichen Auskünften
wieder, wenn ein Kind schreibt, dass "Lehrer (bringen) ein Kind in peinliche
Situationen", dass Lehrer "andere hänseln und fertig machen" oder dass "ein Lehrer
161
uns Kinderchen nennt". In den Auswertungsgesprächen wurden die Beispiele
erläutert und ergänzt. Alle Kinder hatten derartige Erfahrungen gemacht und alle
darunter gelitten.
Nun sind diese Erfahrungen weder repräsentativ noch wollten die Schülerinnen
und Schüler zum Ausdruck bringen, dass "die" Lehrer sich so verhalten. Doch
hatten alle in ihren jeweiligen Schulen entsprechende Erfahrungen gemacht.
Auch in Bezug auf sich selbst, also auf die Schülerrolle wird "nicht so Gutes" erlebt.
An vierter Stelle rangierten andere Kinder als nicht so gute Erfahrungen. Es wurden
besonders aggressive Schüler erwähnt, vor denen man Angst habe; wie sich
überhaupt die an den Gesprächen teilnehmenden Kinder ausnahmslos gegen Gewalt
und Aggression unter den Schülern aussprachen. Wer in der Schule zum Opfer wird,
zieht sich gekränkt zurück und wird dadurch erst recht zur Zielscheibe aggressiver
Kinder30.
Milderten die Auskünfte über das, was an der Schule gut ist, die negativen
Erfahrungen? Bezogen auf den Umgang zwischen Lehrern und Schülern keineswegs.
Während betont wurde, dass man froh ist, Eltern zu haben, die bei Hausaufgaben
"helfen" und "antworten, wenn ich etwas frage", fehlten entsprechende Äußerungen
über Lehrer. Niemand wollte zum Beispiel auf Nachfragen bestätigen, dass Lehrer
Verständnis für sie als Kinder oder als Schüler hätten. Dass die Kinder an der Schule
alles gut finden, was eigentlich "Nicht-Schule" ist, bestätigte sich auch im Gespräch.
Schulspezifische Vorteile erkannten Kinder, wenn sie erwähnten, dass der "Sport
mein Hobby fördert", dass sie in der Schule "Spielmöglichkeiten" hätten, die sie so
daheim nicht haben oder dass es Spaß bei "Schulstreichen" gäbe und die "Ausflüge
mit den anderen Kindern" und die Schullandheimaufenthalte gut seien.
Wie Eltern die Schule und die damit verbundenen Probleme erlebten, wurde
ebenfalls zusammengetragen. Hier wird zunächst berichtet, was Eltern am meisten
plagt, wenn sie an die Schule unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Bedingungen denken:
In Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Kinder, spielt auch im
Elternbewusstsein die Diskriminierung von Kindern eine große Rolle. Da wurden
Ängste angesprochen die Kinder (und Eltern) umtreiben,
weil "Erstklässler vor der ganzen Klasse bloßgestellt" wurden,
1
weil "Druck und Leistungszwang" zugenommen haben,
2
weil Kinder "Ängste vor einzelnen Lehrern" und "Fächern" haben
3
weil "Lehrer, vor allem die an Gymnasien, als ungenügend pädagogisch
„ausgebildet" erlebt werden.
Eltern berichteten von dem für die Lernmotivation und das Verhalten von Schülern
nachteiligem Wechsel von "starken und schwachen Lehrern". Die Schüler reagieren
auf wechselnde Unterrichts- (pädagogische) Stile mit besonderer Lebhaftigkeit: war
in der vorangegangenen Stunde ein besonders autoritärer Lehrertyp in der Klasse,
kann sich ein weniger autoritärer Lehrer kaum noch Gehör verschaffen, da die
Kinder ihren unterdrückten Bewegungs- und Mitteilungsdrang loswerden oder gar
162
sich an dem als schwächer erlebten Lehrer für die Unbill der vergangenen Stunde
rächen wollen.
Die Erwartungen aller Eltern an die Schulen waren eindeutig: im Vordergrund steht
die Hoffnung, dass Lehrer Kinder zum Lernen motivieren können sollten. Aber auch,
dass die Schule kindgerecht gestaltet werden sollte, ist ein wichtiges Anliegen und
begegnete sich, wie die Aussprachen zeigten, mit den Aussagen der Kinder über die
Schulatmosphäre. Soziales Verhalten sollte die Schule vermitteln und nicht nur
Wissen. Und statt Duckmäuser und Egoisten zu erziehen, sollte die Schule zur
Herausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins beitragen31.
Nicht geringen Kummer bereiten den Eltern die unterschiedlichen
Lehrerpersönlichkeiten. Es wurde sogar davon gesprochen, dass die Schulkarrieren
und Lebensläufe von Kindern von derartigen Zufällen abhängen: geraten sie an eine
für diesen Beruf ungeeignete Lehrperson (Indikatoren: Diskriminierung von Kindern
und ihrer Leistungen; physische oder psychische
Gewaltanwendungen; Repressalien; Verschleißerscheinungen bei Lehrern), würde
das die Lernmotivation zerstören.
Aber auch unterschiedliche Werthaltungen und pädagogische Konzepte und
Überzeugungen von Lehrern wirken verunsichernd und demotivierend. Hier wird
von den Schulen mehr Professionalität erwartet. Das heißt in diesem
Zusammenhang,
dass ein Schulleiter bzw. die Lehrerschaft einer Schule über ihre Konzeption
Auskunft geben kann und die eigene pädagogische Konzeption auch im
Schulalltag verwirklicht.
Eine Schulordnung zum Beispiel, kann nur aus einer bestehenden pädagogischen
Konzeption einer Schule abgeleitet werden. Die Eltern aber hatten den Eindruck,
dass es in den Schulen, die ihre Kinder besuchen, nur eine Hausordnung, nicht aber
ein, die Arbeit aller Pädagogen an dieser Schule verbindendes pädagogisches
Konzept gibt. Prinzipien wir Kooperation und übereinstimmendes Handeln
innerhalb eines Kollegiums sind keine theoretischen Orientierungen sondern
gleichsam einklagbare schulpädagogische Vorgaben (vgl. z. B. dazu u.a. §§ 6, 7 u. 8
sowie 44 SchGes. BW).
Vermisst wird in der Schulerziehung eine stärkere Betonung von Werten.
Übereinstimmend wurden die inoffiziell geltenden Realnormen wie Kleidermarken
und andere konsumorientierte Werthaltungen verurteilt. Hier sollte die Lehrerschaft
die Eltern stärker unterstützen und der Vorstellung offensiver entgegentreten, als
hänge der Wert eines Menschen von den Kleidern ab, die er trägt, der Ausstattung an
Phono- und Videogeräten, die er besitzt oder der Automarke, die er fährt. Es wäre
gut, wenn man in dieser Beziehung wieder mehr bewährte Werthaltungen, wie
Solidarität mit Armen und Schwachen, Achtung vor der Würde anderer Menschen,
vermittle und darauf aufmerksam machte, dass materieller Besitz und Konsum
nichts, aber auch gar nichts mit jenen Grundwerten zu tun hat, von denen im
Grundgesetz die Rede ist und die unsere Politiker auf allen Ebenen vollmundig
163
verkünden. In der pädagogischen Praxis wird offenbar unterschätzt, dass im Erleben
der Betroffenen Kindertagesstätte und Schule die beiden zentralen Instanzen der
Wertevermittlung und damit der Gewissensbildung sind.
Was Eltern im Zusammenhang mit der Schule innerhalb der Familie erleben,
rundete die Erfahrungsberichte ab. Hier einige Aussagen:
für Nebenfächer wird nichts getan;
bei der Unterstützung für die Hausaufgaben fühlen wir uns überfordert;
Hausaufgaben sind eine ständige Quelle von Konflikten und Krisen;
Kinder verschließen sich, beginnen zu lügen;
Ängste und schlechte Noten verführen zu Unterschriftsfälschungen;
es gibt Spannungen unter den Geschwistern;
Streit zwischen den Eheleuten wegen der Schule;
Mütter tragen die Hauptlast.
Soweit einige Mitteilungen aus Veranstaltungen mit Eltern und Schulkindern. Sie
zeigen uns ausschnitthaft, was Eltern und Kinder im Zusammenhang mit der Arbeit
für die Schule bewegt. Die Kinder und ihre Familien selbst kommen ganz aus dem
Blickfeld. Statt dessen schieben sich die Schule und die hinter ihr stehende
Gesellschaft, vertreten durch den Staat und seine Kultusbehörden als Institutionen in
das Bewusstsein von Eltern und Kindern, die Leistungsergebnisse verlangen, ohne
pädagogisch verantwortbare Rahmenbedingungen schaffen zu können oder zu
wollen.
Fassen wir die Erfahrungen dieser Kinder und Eltern zusammen, dann steht die
Schule mit ihren Lehrern, gemessen an ihrem offiziellen Selbstverständnis, sehr
schlecht da. Aus Gesprächen mit Lehrern wissen wir aber, dass diese den hohen
Erwartungsdruck in Bezug auf Leistungen und Disziplin, auf "Durchgreifen" und
"Anforderungen stellen", den Eltern anlasten. Hier ist dringend eine ebenso offene
wie innerhalb einer jeden Gemeinde beziehungsweise des Einzugsgebiets einer
Schule öffentliche permanente Aussprache gefordert. Ausgehend von den
Voraussetzungen unter denen Kinder gedeihen können, hätten Eltern, Lehrer und
die "Abnehmer" der Schülerinnen und Schüler, die weiterführenden Schulen oder
Ausbildungsstätten,
ihre
gegenseitigen
Erwartungen
abzuklären.
Die
Kooperationsgebote in Erziehung und Bildung beziehen sich nicht allein auf
Elternhaus und Schule, sondern ebenso auf alle anderen gesellschaftlichen Gruppen.
Und allen kulturpolitisch Interessierten, die an die Lehrerinnen und Lehrer und
Lehrer ihre Erwartungen herantragen, sollten zuerst Kooperationen leben und dann
reden (J. Rumpf 2009). Das gilt auch für uns Eltern.
Wir dürfen uns aber in Bezug auf die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer nichts
vormachen, denn alles das, was wir Eltern uns von der Schule wünschen, erwarten
die meisten Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer auch: von sich selbst und von den
Eltern. Wenn wir über einige Lehrer enttäuscht sind, dann haben wir möglicher
Weise nicht ausführlich genug miteinander gesprochen. Es gibt kaum einen
Schulpädagogen, der Kindern schaden will. Im Gegenteil: die Lehrerschaft vertritt
vielfach die Interessen von Kindern und Eltern – nur erfahren die nichts davon.
164
Diese Aussage kann zum Beispiel unschwer nachgewiesen werden, wenn man die
Publikationen von Lehrerverbänden in die Hand nimmt. Die guten Absichten sind
also auf beiden Seiten vorhanden. Es fehlt, das wurde allen Beteiligten in unseren
Elterngesprächen deutlich, an einer kooperativen Praxis, die diesen Namen verdient.
Pädagogische Einrichtungen sind Teil eines Gemeinwesens
Träger der Schulen sind die Städte und Gemeinden. Dort auch, also vor Ort, finden
die schulischen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsprozesse statt.
Darum auch sollte sich ein Gemeinwesen, vertreten durch gewählte Bürgerinnen und
Bürger in den Gemeinde- und Kreisparlamenten, mitverantwortlich wissen und
mitwirken.
Die Akzeptanz einer pädagogischen Einrichtung in der Öffentlichkeit einer
Gemeinde wächst in dem Maße, in dem sie am Gemeindeleben in positiver Weise
teilnimmt. Folglich sind von pädagogischen Einrichtungen entsprechende
Leistungen konzeptionell zu verankern, zu erbringen und ihre Ergebnisse zu
evaluieren.
Denken wir zum Beispiel nur an die Kindertagesstätten und Schulen in unseren
Gemeinden. Ein Erntedankumzug oder der Rosenmontagsumzug wäre ohne die
Teilnahme der Kinder und Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer nicht
denkbar. Seit Jahrzehnten bringen sie, gemeinsam mit den Eltern, Farbe und
Fröhlichkeit in die Veranstaltungen, an denen die Bevölkerung eines Quartiers
lebhaft Anteil nimmt. Die Kinder und Erzieherinnen aus Einrichtungen in
kirchlicher Trägerschaft gestalten kirchliche Festtage und Gottesdienste mit.
Überall dort, wo das so geschieht, erfreut sich die Institution als ganze des
Wohlwollens und der Unterstützung der jeweiligen Träger – also der politischen
oder der kirchlichen Gemeinde. Sich auszuschließen oder abzugrenzen und auf
Mitwirkung und Mitgestaltung von Festen, Feiern und anderen wichtigen, alle
Bürgerinnen und Bürger betreffenden Angelegenheiten zu verzichten, schadet dem
Ansehen der pädagogischen Einrichtung.
Nun beteiligt oder enthält sich nicht „die Einrichtung“. Konkret sind das stets die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich so oder so verhalten. Auf sie wird im
Wohnquartier geschaut. Sie repräsentieren mit ihrem Verhalten, mit ihrer
Abstinenz oder ihrem Engagement den jeweiligen Kindergarten oder die Schule.
Eine Erzieherin oder eine Lehrerin, die sich in einem Verein engagieren, verbinden
auf diese Weise die jeweiligen Lebensbereiche Verein und Kindergarten oder
Schule. Teams in denen erlebt wurde, dass Leistungen in der Gemeinde und für sie
gefordert werden, ist zu empfehlen, sorgfältig das Für und Wider unter dem
Gesichtspunkt einmal des Charakters der Beziehungen zwischen sich (dem Team)
und Träger und Eltern und zum anderen unter dem der Förderung der Arbeit mit
den Kindern zu prüfen und so in das pädagogische Konzept einzubauen, dass den
Interessen aller Betroffenen genüge getan ist. Wie immer sich ein Team oder die
165
einzelne Erzieherin entscheiden, ob und in welchem Umfang sie den Erwartungen
ihrer Träger und anderer sozialen Gruppen entsprechen wollen:
Es ist stets ein Höchstmaß an Transparenz zu empfehlen. Auch die Erzieherinnen
und Erzieher, die es vorziehen, gerade wegen der Erwartungen an ihr Engagement
oder an ihre persönliche Lebensführung im Einzugsbereich der Tagesstätte, in
einer anderen Gemeinde zu wohnen oder in der Anonymität einer großen Stadt
„untertauchen“ möchten, ist dringend zu raten, die entsprechenden
Entscheidungen offen zu legen und zu vertreten. Einsichtige Träger und Eltern
werden dies respektieren. Hier noch einige Einsichten:
1. In einer Zeit, die charakterisiert ist durch Wertewandel und
Erziehungsunsicherheit wachsen den pädagogischen Einrichtungen in
einem Gemeinwesen bedeutsame Funktionen zu: An ihrer pädagogischen
Arbeit orientieren sich die Eltern in dem Ausmaß, in denen sie ihnen
Kompetenzen zutrauen und ihnen vertrauen. Schule, Kindertagesstätten
und andere Jugendhilfeeinrichtungen sind bereits seit Jahrzehnten die
pädagogischen Institutionen, die ebenso zuverlässig wie systematisch
unsere kulturellen Eigenheiten weiterreichten. Insofern möchte ich sie als
Hüter und Bewahrer unserer kulturellen Identität betrachten. Häufig
verloren gegangen aber ist das Bewusstsein dieser Funktionen und das
Bekenntnis zu ihnen.
2. Elternhaus und Schule – von der Grundschule bis in die letzte Klasse eines
Gymnasiums! - tragen Verantwortung für die Erziehung und Bildung von
Kindern. Hierbei unterstützen sie sich gegenseitig und „pflegen ihre
Erziehungsgemeinschaft“, wie oben ausführlich begründet wurde.
3. Unerlässlich ist es, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer
gerade im Hinblick auf zunehmende Schwierigkeiten in ihrer Arbeit nicht
als pädagogische Solisten betrachten, sondern immer auch die
Gesamtverantwortung der Schule für die Erziehung und Bildung der
Schülerinnen und Schüler im Auge behalten und deshalb alle Möglichkeiten
der kollegialen Zusammenarbeit, der gegenseitigen Unterstützung und des
Erfahrungsaustausches nutzen. Gerade wenn es um Hilfen für bestimmte
Schüler und/oder unterrichtliche Problemsituationen geht, sind kooperative
Strategien und solidarische Haltungen wichtig.
4. Elternhaus, Jugendhilfeeinrichtung und Schule stehen in der Erfüllung
ihrer jeweiligen Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Gemeinde und Kreis
hierfür eingerichtete Institutionen zur Seite. Außerdem sollte, bezogen auf
den Einzelfall oder auf typische Problembereiche, nach Unterstützung und
Hilfe in einem Gemeinwesen Ausschau gehalten werden. Soziales
Engagement kommt nicht von allein. Es bedarf der Ideen und Impulse vor
Ort, um Fehlentwicklungen von Kindern vorzubeugen und Eltern und
Berufserziehern in diesem Bestreben zur Seite zu stehen.
166
5. Bei der Unterstützung und Förderung der Erziehung und
Bildungsaufgaben von Eltern, Kindergarten und Schule kommt allen
Gruppen, die in einer Gemeinde aktiv sind, große Bedeutung zu. Im
Interesse einer Überwindung der viel beklagten Isolation („Verinselung“)
von Einzelnen und/oder Familien, aber auch im Interesse guter
Entwicklungsbedingungen für alle Kinder sollten Erziehungsfragen nicht
vom Gemeindeleben abgekoppelt werden.
6. Eine besondere Mitverantwortung tragen Bürgermeister, Gemeinde- und
Pfarrgemeinderäte vor allem dann, wenn sie Träger von Kindergärten oder
anderer Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen sind. Aber auch die Vereine,
insbesondere die mit eigenen Nachwuchsgruppen, dürfen nicht isoliert
werden bzw. nicht jedes sein eigenes Süppchen kochen wollen.
7. Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen in ein Gemeinwesen hinein zu
integrieren, das heißt eben auch: Erziehung und Bildung zu einer
Angelegenheit aller zu machen, die in einer Gemeinde Verantwortung
tragen. Das bedeutet in der Praxis keineswegs, dass Verantwortungen
verwässert und Zuständigkeiten anders verteilt werden. Es geht vielmehr
darum, Erziehung und Bildung zu öffentlichen Themen werden zu lassen,
um Betroffenheit und ein Gefühl der Mitverantwortung zu erreichen. Es
geht damit zugleich darum, für die pädagogischen Leistungen in Familien,
Kindergarten, Schule und Vereinen insofern günstige Rahmenbedingungen
zu schaffen, als sie akzeptiert und anerkannt und unterstützt und gefördert
werden.
8. Um diese Anliegen mit Leben zu füllen, bewähren sich alle Formen der
gegenseitigen Information. Vor allem Druckerzeugnisse (Gemeindeblätter,
regelmäßige Informationen aus Tagesstätten und Schulen) sind geeignet,
die für eine Unterstützung und Förderung der Bestrebungen von Erziehung
und Bildung vor Ort notwendigen Verständnisse und Verständigungen zu
erreichen. Heute bietet das Internet zusätzliche Möglichkeiten der Öffnung
und des Dialogs.
9. Was sonst noch im Einzelnen dazu beigetragen werden kann, vor allem
die Entscheidungsprozesse in den pädagogischen Einrichtungen darüber,
wer was wie und wann tun sollte, das können nur die Beteiligten vor Ort
miteinander verabreden. Ein Anfang wäre getan, wenn sich Gemeindebzw. Stadträte, Vereinsvorstände, Kindertagesstätten- und Schulleitung mit
den Elternbeiräten und den Trägervertretern an einen Tisch setzten und
über diese Anregungen nachdächten. Natürlich muss ein derartiges
Gespräch, wenn es konstruktiv verlaufen soll, am besten mit Hilfe konkreter
Vorschläge, in denen Ziele und Zwecke eindeutig erkennbar sind, von den
Pädagogengruppen gut vorbereitet werden.
167
10. Das beste Vorhaben kann sich im Sande verlaufen, wenn nicht von
Anfang an vereinbart wird, dass die Ergebnisse der verabredeten,
schriftlich festgehaltenen Konzepte und auf welche Weise überprüft und
veröffentlicht werden. Auch diese Ergebnisse müssen diskutiert werden, um
mögliche Schwachstellen in den Kooperationsprozessen rechtzeitig
erkennen und ihre Ursachen bearbeiten zu können.
Lernmotivation und Schule
Sobald wir Kinder haben und die Kinder in den Kindergarten kommen und zur
Schule gehen, gelten noch andere soziale (und ungeschriebene) Gesetze als in
unseren Familien. Wir müssen sagen: je weiter die individuellen
Lebenseinstellungen und -Gewohnheiten in einer Familie von den Erwartungen
und Bedingungen abweichen, wie sie die sozialen Gebilde in unserer Gesellschaft
(Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätten) von unseren Kindern erwarten, umso
schwerer wird ihnen fallen, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden; umso
größer ist die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Die Probleme, die im
Zusammenhang mit der Integration einiger Einwanderungsgruppen entstehen,
führen uns deutlich vor Augen, was gemeint ist.
Eltern und Erziehern fällt es nicht leicht, sich aus den Angelegenheiten von
Kindern herauszuhalten, für die diese selbst verantwortlich gemacht werden
sollten. Dies gilt ganz besonders dann, wenn es um die Schule geht, in der, wie wir
am eigenen Leibe erfahren haben, so manche Weichen gestellt werden. Das Gebot
der Zurückhaltung meint keineswegs, dass wir uns überhaupt nicht um die
schulischen Belange kümmern sollten. Denn wenn unsere Kinder den Eindruck
erhielten, uns wäre die Schule gleichgültig, dann wäre sie ihnen auch bald
gleichgültig: denken wir nur an die Bedeutung vorbildlichen Verhaltens. Nein, wir
sind sehr interessiert an dem, was die Kinder tun. Unter den Stichworten
„Anerkennung“ und „Förderung“ fanden wir bereits einige Informationen hierzu.
Schon wenn unser Kind vom Kindergarten nach Hause kommt, dann würdigen wir
die mitgebrachte Zeichnung und hängen sie deutlich sichtbar auf. In der Küche
einer Familie waren über der Küchentheke mehrere DIN A 4 Blätter
hintereinander auf die Kacheln geklebt. Darauf war der lange Zug zu sehen, den
der Sohn im Kindergarten gemalt hatte. Frühzeitig erkennen wir also die
Leistungen unserer Kinder an; und zwar vorbehaltlos! Die anderen Kinder und die
Geschwister werden schon genug daran herummäkeln. Selbstvertrauen gewinnt
ein Mensch über die Anerkennung durch die Personen, an deren Anerkennung
ihm etwas liegt. Also freuen wir uns über die Leitungsbemühungen unseres Kindes
so, wie wir uns einst über sein erstes gesprochenes Wort freuten. Für die
schulischen Arbeiten gilt dasselbe. Kinder freuen sich im Allgemeinen auf die
Schule und sind sehr daran interessiert, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.
Wenn uns Eltern die ersten Schreib- und Rechenbemühungen unserer Kinder
unzureichend erscheinen, dann meckern wir nicht daran herum. Alles braucht
168
seine Zeit und wenn wir Geduld, Vertrauen und stets aufmunternde Worte und
Gesten haben, dann wird das Kind früher oder später alles lernen, was es in der
Schule braucht, um versetzt zu werden. Ebenso selbstverständlich stehen wir
bereit, wenn das Kind Hilfe braucht. Rechnen, Schreiben und Lesen können wir ja
auch, also sind wir in der Lage das eine oder andere zu erklären. Erst in späteren
Schuljahren wenn der Schulstoff über unseren Wissensstand hinausgeht, erklären
wir unseren Kindern freimütig, dass wir das nicht können und sie sich anderweitig
informieren müssen. Da gibt es Nachschlagewerke und - vor allem Klassenkameraden. Kinder, die frühzeitig gelernt haben, für ihre Arbeit selbst die
Verantwortung zu übernehmen, haben zwar nicht bessere Noten als andere, denn
Noten hängen nicht allein von Fleiß oder Begabung ab, wohl aber sind sie
unabhängiger und selbstbewusster. In den betreffenden Familien ist die Schule
nur selten ein Konfliktstoff.
In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema „Nachhilfeunterricht“. Diese
Unterstützungsleistungen, die in der Regel von älteren Schülerinnen und Schülern,
gelegentlich auch von Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern selbst, aber
inzwischen auch von gewinnorientierten Unternehmen angebotenen werden, sind
sowohl sinnvoll als auch unsinnig.
Sinnvoll ist Nachhilfeunterricht für unsere Kinder in folgenden Situationen:
1
2
3
wenn durch längere oder kürzere Schulausfälle, zum Beispiel durch
Krankheit, Stoff nachzuholen ist,
wenn sich nach einem Schulwechsel, zum Beispiel aus Anlass des Umzuges
an einen neuen Wohnort, herausstellt, dass man im Unterrichtsstoff
allgemein oder in bestimmten Fächern an der neuen Schule weiter
vorangekommen ist, als an der alten Schule. So etwas kann vor allem beim
Wechsel von einem Bundesland in ein anderes leicht vorkommen.
Bei vorübergehenden Problemen in Bezug auf das Verstehen bestimmter
Lerninhalte. Zu denken ist da zum Beispiel daran, dass einem Kind der
Zugang zu typischen Strukturen eines Wissensbereichs schwer fällt. Es kann
vorkommen, dass ein in sprachlichen Bereichen begabtes Kind - es liest
gern und gut - in mathematischen Verständnisschwierigkeiten hat oder
umgekehrt. Ist in derartigen Fällen durch eine hierfür kompetente
schulpädagogische Instanz wie Beratungslehrer/innen oder eine
Bildungsberatungsstelle, festgestellt worden, dass eine Förderung über
einen begrenzten Zeitraum hinweg hilfreich sein wird, dann hat eine für
dieses Kind und auf sein spezielles Verständnisproblem hin abgestimmte
Fördermaßnahme ihren Sinn.
Unsinnig bis unverantwortlich sind alle Bemühungen von Seiten der Eltern, ihr
Kind mit Hilfe von Nachhilfeunterricht zu schulischen Leistungen zu führen oder
ihr Kind in bestimmten Schulen zu halten, die das Kind von seiner geistigen
Entwicklung und/oder seinen Interessen und/oder seiner Begabung her nicht oder
nur sehr mühsam erbringt. Auch sogenannte Hausaufgabenkreise dienen
169
eigentlich nur jenen Eltern, die sich selbst um die schulischen Angelegenheiten
ihrer Kinder nicht in dem oben vorgetragenen Verständnis kümmern können oder
wollen.
Gelegentlich
bieten
aber
außerschulische
Förderoder
Nachhilfeeinrichtungen, meist von privaten Unternehmen betrieben, mehr als die
staatliche Schule. Das gilt besonders in all jenen Institutionen, in denen sowohl die
technische Ausstattung als auch die fachliche und persönliche Kompetenz der
Lehrpersonen denen an öffentlichen Schulen überlegen ist. Dann könnte ein
Besuch derartiger Bildungseinrichtungen zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz
für das staatliche Schulwesen heranwachsen. Auf das einzelne Kind gesehen, muss
das kein Schaden sein, wenn es dadurch Erfolge erlebt, die es sonst in der Schule
nicht hatte. Es muss aber auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse aus der
Leistungsmotivationsforschung davon ausgegangen werden, dass keine Hilfe
sinnvoll und nützlich ist, die nicht zu einem intrinsischen, also von innen heraus
kommenden, Interesse des Kindes am Lernen führt32. Kindern Eltern und älteren
Kindern geht es möglicher Weise nur darum, das Klassen- oder Schulziel zu
erreichen, ganz egal, ob ein Kind dabei etwas begriffen hat von dem was es gepaukt
hat oder nicht. Eltern und Lehrer bedauern dann gelegentlich, dass Kinder um der
Zensuren willen lernen und eigentlich wenig an den Unterrichtsinhalten
interessiert sind. Sie lernen zwar ein Gedicht - doch die Botschaft der Verse
erreicht sie nicht. Was diese Kinder zum Auswendiglernen motiviert, ist die
Zeugnisnote bis hin zum Notendurchschnitt im Abschlusszeugnis. Das heißt also:
nicht für das Leben, sondern für die Noten wird gelernt. Günstigenfalls werden nur
die Unterrichtsinhalte behalten, die in Neigungsfächern vermittelt werden. Dass
das so ist, können wir unseren Kindern nicht anlasten. Sowohl unser Schulsystem
als auch unser Berechtigungswesen wie die Zugänge zu Ausbildung und Studium
nötigen uns und unsere Kinder zu einem derartigen Verhalten.
Eine gute Schule?
„Ist das eine gute Schule?“ fragte mich 2011 eine Mutter aus Berlin und übersandte
mir einen Prospekt dieser Schule. Hier ein Auszug aus meiner Stellungnahme:
„…Die Grundkonzeption dieser Schule, die nach eigener Darstellung von den
Ideen Peter Petersens, Paolo Freires oder Maria Montessoris ausgeht, ist
recht sympathisch.
Die konzeptionellen Vorstellungen der Initiatoren einer Schule müssen aber
nicht immer auch mit der Praxis übereinstimmen. Der pädagogische Alltag
wird bestimmt
- von den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern und deren jeweiligen
Persönlichkeitseigenschaften, ihren fachlichen Kompetenzen - zu denen
nicht zuletzt ihr Interesse an der Arbeit mit Kindern gehört –
- von den Eltern und deren Menschenbildern und Erwartungen an die
eigenen Kinder und an die Schule und
- natürlich von den Kindern, von deren Eigenheiten und Motiven.
170
Befindet sich unter den Kindern einer Schule ein besonders hoher
Ausländeranteil und unter diesem Kinder aus Familien, die es ablehnen, sich
mit unserer Sprache und Kultur anzufreunden, wie es zum Beispiel in
bestimmten Schulen im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg der Fall ist, dann
dürfen in einer Klasse höchstens zwölf Kinder sein oder es müssen zwei
pädagogische Fachkräfte die betreffende Klassengruppe betreuen.
Um einen Eindruck darüber zu gewinnen, wie die Realität des Schullebens
an dieser Schule aussieht, würde ich Kontakt mit Eltern aufnehmen, die ihre
Kinder bereits in dieser Schule haben und mich mit ihnen unterhalten. Vor
allem würde ich herauszufinden suchen, ob ihr Kind gerne hingeht, sich auf
die Lehrer, den Unterricht, die Freizeitgestaltung, das Essen freut und gern
mit den anderen Kindern Kontakt hält.
Der
Austausch
mit
den
anderen
Kindern
(zum
Beispiel
Geburtstagseinladungen, gegenseitige Besuche) und mit jenen Eltern, mit
denen man sich gut versteht wird auch später, wenn Ihr Kind zur Schule
geht, wichtig.
Nicht verzichten sollten Sie darauf, einen Blick in die sanitären
Einrichtungen zu werfen und zugleich ihren Geruchssinn zu aktivieren.
Auch dort sollte sich Ihr Kind wohlfühlen dürfen und nicht, wie mein
siebenjähriger Neffe, die Schultoilette meiden, weil es dort so stinkt und
unsauber ist.
Gewiss, das sind dann alles subjektive, eher atmosphärische Eindrücke oder
Bewertungen. Wenn aber dadurch erreicht werden kann, dass Sie als Eltern
eine gefühlsmäßig positive Einstellung zu der von Ihnen gewählten Schule
bekommt, dann überträgt sich dies auf Klaus und kann seine Freude auf die
Schule verstärken und später erhalten…“
Die Beteiligung der Eltern am Schulleben ist hochbedeutsam. Insofern wird also
zum wiederholten Male auf die Grundbedingung eines optimalen
Zusammenwirkens aller an der Erziehung und Bildung eines Kindes Beteiligten
hingewiesen. Während an staatlichen Schulen Eltern sich in der Regel nur als
gewählte Elternbeiräte ins Spiel bringen können, bieten Schulen in privater
Trägerschaft, in unserem Raum sind das in der Regel die Waldorfschulen, den
Eltern an, mitzuwirken.
An diesen Schulen sind Eltern sogar verpflichtet sich einige Stunden im Monat
einzubringen. Wenn sich Elternbeteiligung nicht darauf beschränkt, das Frühstück
zuzubereiten oder die Schulräume zu putzen, sondern Eltern ermöglicht:
- sich im Freizeitbereich einzubringen,
- gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften in entsprechende Gremien
laufend über die pädagogische Praxis nachzudenken,
171
- an der Weiterentwicklung der pädagogischen Konzeption mitzuwirken,
- je nach Talent und Interesse musische Angeboten mitzugestalten
dann wäre das ein großer Schritt in die Richtung einer Schulgemeinde.
Allerdings kostet ein derartiges Elternengagement Zeit und Kraft. Und wenn man
sich vor Augen hält, dass ja der Besuch einer privaten Schule recht teuer sein kann,
dann muss die Schule schon die Gewähr dafür bieten, dass ein Kind sich darin
wohl fühlt. Und genau darauf kommt es an:
Ein Kind muss sich wirklich wohl fühlen. Das heißt, dass die Lehrer es gern haben,
annehmen, akzeptieren und als eigene Persönlichkeit achten.
Das Kind sollte nicht das Gefühl (oder gar das Wissen) haben, dass es dem
schulischen Ehrgeiz der Eltern oder gar deren Wunschvorstellungen (mein Kind
soll einmal… werden) dient.
Jedes Kind, so ist bereits ausgeführt worden, ist begierig zu lernen: neue
Erfahrungen zu machen, alles auszuprobieren, sich eigenständig und kreativ mit
den vielen Angeboten auseinanderzusetzen, die der Alltag vom Morgen bis zum
Abend anbietet. Und genau an diesen natürlichen Drang knüpfen Pädagogen ja
auch an. Und wir Eltern erfüllen diesen Wunsch, wenn wir unserem Kind genau
dies ermöglichen und ihm die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, auf
seine eigene Weise, die Welt zu erkunden, Gestalten, Lesen, Rechnen zu lernen
oder auch fremde Sprachen.
Ich möchte abschließend noch einmal darauf hinweisen, dass der Besuch einer
öffentlichen Schule unter den genannten Voraussetzungen genauso erfolgreich
sein kann, wie der einer privaten Schule. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht
oder nicht optimal, dann kann ein Kind das in der Regel gut kompensieren.
Zwei Beispiele:
Ich habe da einen Vater vor Augen, dem die Lehrer nie etwas recht machen
konnten. Er schimpfte lauthals daheim und in der Öffentlichkeit über die
Unfähigkeit der Lehrer und ließ kein gutes Haar an den Schulen, die seine
vier Söhne besuchten. Diese vier haben inzwischen öffentliche Grundschule
und Gymnasien mit Erfolg abgeschlossen, studieren längst an
verschiedenen Universitäten an ebenso verschiedenen Fakultäten mit der
gleichen Bravour, mit der sie durch die Schulen gingen, von denen ihr Vater
nichts hielt.
Die von mir angedeuteten „Kompensationsleistungen“ erbrachten die
Mutter und die Söhne selbst - je älter sie wurden, umso mehr.
Zwei Kinder lernte ich in den vergangenen Jahren kennen, denen die
jeweiligen Fachkräfte bei der Einschulung eine nur beschränkte
Bildungsfähigkeit testierten. Beide, ein Mädchen und ein Junge, kamen auf
Sonderschulen. Das Mädchen war neun, der Junge vierzehn Jahre alt, als
die Sonderschullehrer feststellten, dass sie doch begabter waren, als es bei
der Einschulung festgestellt worden war. Beide schlossen die Hauptschule
172
ebenso mit Erfolg ab, wie die darauf aufbauenden praktischen und
theoretischen
Ausbildungsgänge.
Beide
besitzen
inzwischen
Hochschulabschlüsse und sind erfolgreich in ihren Berufen. Der Junge ist
mittlerweile selbst stolzer Vater zweier Kinder, die mit der Schule keine
Probleme haben.
Und ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es umgekehrt ebenfalls gut gehen kann:
Es war ein zähes und langwieriges Ringen mit den Eltern, sie davon zu
überzeugen, dass ihre Tochter, die inzwischen bis in die dritte Klasse
gekommen war, besser in einer Sonderschule aufgehoben sei. Die Eltern
hatten gegenüber der Klassenlehrerin der staatlichen Grundschule
uneinsichtig gezeigt und sich bereits gegen Ende des zweiten Schuljahres
(Ende der Grundschuleingangsstufe) gegen ein Sonderschulverfahren
gestemmt. Endlich hatte es die Lehrerin geschafft und in zahlreichen
Gesprächen die Eltern zu einer Zustimmung bewogen.
Seither sind zwanzig Jahre ins Land gegangen. Befreit vom Druck der
„normalen„ Schule und ihren Leistungszwängen und Notendruck, konnte
das Mädchen in der kleinen Gruppe der Sonderschule und bei
individuellerer Zuwendung durch die Lehrer, ihr Potenzial entfalten. Sie
beendete den Besuch der Sonderschule mit einem Hauptschulabschluss,
machte eine kaufmännische Lehre und blieb bis zur Gründung einer eigenen
Familie erfolgreich im Beruf. Und die Mutter? Sie erklärte der inzwischen
pensionierten ehemaligen Klassenlehrerin des Mädchens: „Es war doch gut,
das mit der Sonderschule… sie hat einfach mehr Zeit gebraucht“.
Diese Beispiele nehme ich als einen Beleg dafür, dass auch dann, wenn nicht alle
Rahmenbedingungen für eine optimale Entwicklung eines Kindes stimmen,
keineswegs die Flinte ins Korn geworfen werden muss. Die guten Kräfte in einem
Kind – so möchte ich das einmal aus meiner Erfahrung heraus sagen – setzen sich
durch, wenn seine Grundbedürfnisse, vor allem im frühen Kindesalter, befriedigt
wurden. Vor allen anderen aber sind wir Eltern aufgerufen, auf unser Kind voll
Optimismus zu schauen und Vertrauen in seine Fähigkeiten haben, sein Leben
selbst zu meistern. Die Schule ist hierbei zwar ein unverzichtbarer, aber ein nicht
zu überschätzender Zwischenschritt.
Bewährte Haltungen und Strategien
Einige Haltungen und Strategien, die sich in Familie, Kindertagesstätte und Schule
bewährt haben, sollen dieses Kapitel über das Lernen abschließen. Die
Abschnittsüberschriften sind uns bereits vertraut, da sie auf das deuten, was wir als
Bedürfnisse von Kindern im ersten Kapitel und als Lernbedingungen in den
vergangenen Abschnitten kennen lernten. Nun werden wir diese Aussagen mit dem
173
Blick auf die Förderung des Lernens und der Leistungsbereitschaft ergänzen und
vertiefen.
1.
Zuerst das Kind
Wenn wir nach günstigen oder schädlichen Bedingungen für inner- und
außerschulische Lernprozesse fragen, haben wir – Eltern, Erzieher und Lehrer - stets
von unseren Kindern und deren Bedürfnisse auszugehen. Schaffen wir das nicht,
sondern räumen unseren eigenen (Erwachsenen-) Bedürfnissen Priorität ein,
brauchen wir uns über Ursachen von Lernschwierigkeiten weiter keine Gedanken zu
machen. Es gilt folgende Erfahrung:
Je mehr Eltern und andere an der Erziehung von Kindern Beteiligten mit sich
selbst, gemeint ist mit ihrer materiellen Situation oder ihrer seelischen oder
körperlichen Verfassung .u. a. m. zu tun haben, umso größer wird die Gefahr, dass
die Energien, die für Pflege, Fürsorge, Erziehung und Bildung eines Kindes
gebraucht werden, nicht ausreichen, und umso wahrscheinlicher werden die
Schwierigkeiten in der Entwicklung von Kindern zunehmen.
In derartigen Fällen brauchen in erster Linie die Erziehenden (die Eltern oder die
Lehrer) Hilfe. Darum richtet sich der Blick zuerst auf uns selbst, wenn unsere
Kinder Probleme mit der Schule haben.
2.
Wir interessieren uns
Vom ersten Schultag an interessieren wir uns für alles, was mit der Schule
zusammenhängt. Ist für uns wichtig, was uns unser Kind aus der Schule zu berichten
hat, dann behält es auch für das Kind seine Bedeutung. Wir freuen uns über seine
Fortschritte beim Lesen, Schreiben oder Rechnen und mäkeln nicht daran herum.
Wenn wir zweifeln, ob das denn so richtig und gut sein kann, was das Kind tut, dann
gehen wir erst einmal zur Lehrerin oder zum Lehrer und fragen dort nach. Im
Regelfalle erzählen die Lehrer gerade der Anfangsklassen in der Grundschule an
Elternabenden ganz genau, was die Kinder wie lernen werden und worauf Eltern
achten sollten. Man kann nicht alles behalten. Vor allem, wenn man nichts zum
Mitschreiben dabei hatte. Also ist es besser, wenn man sich vergewissert und
nachfragt, wenn man dem Kind nicht glaubt. Denn unser Kind erklärt uns bestimmt:
"Das habe ich so gelernt. Das muss ich so machen, hat die Lehrerin gesagt." Eines
dürfte ganz sicher sein: Das was wir gelernt haben und so, wie wir gelernt haben,
dass gilt bei unseren Kindern nicht mehr. Je länger unsere Schulzeit zurückliegt,
umso weniger.
Eltern sollten aufmerksam verfolgen, was das Kind an neuem Wissen oder
Wissensbruchstücken aus der Schule mit heimbringt. In den Elternversammlungen
erzählen uns die engagierten Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern auch, was sie
vorhaben und wie wir Eltern unseren Kindern helfen können. Nehmen wir an, die
Mondphasen oder der nächtliche Sternenhimmel sind Unterrichtsgegenstände. Das
kann bereits in der ersten Klasse so sein. Schulunterricht aber ist vormittags. Da
174
kann man Mond und Sterne nicht zeigen. Die Eltern aber können das tun und sich
mit ihrem Kind an einem sternklaren Abend ans Fenster stellen und ihnen die
Schönheit des Himmels zeigen. Und das können alle Eltern tun, ganz gleich, wo und
wie sie wohnen. So gibt es unendlich viele und täglich neue Themen, Gegenstände,
Begebenheiten - die meisten erscheinen uns Erwachsene angesichts unserer eigenen
aktuellen Lebensthemen ganz klein und nebensächlich - die von unseren Kindern an
uns herangetragen werden und die wir, gleichsam als ergänzende Anregung an
unsere Kinder zurückreichen. Die Kinder haben in der Schule Papier gefaltet: nun
falten wir mit ihnen Papier oder regen entsprechende Aktivitäten an. Die Kinder
haben etwas von Brüchen gehört: die nächste Tafel Schokolade lassen wir von
unserem Kind aufteilen oder es darf helfen Backzutaten auszuwiegen oder überhaupt
mit der Küchenwaage experimentieren, wenn es ums Zählen und Messen geht. Der
Alltag bietet vielfältige Erfahrungsräume und unsere Lehrerinnen und Lehrer und
Lehrer helfen uns, sie zu entdecken.
Aber auch vielfältige andere Unternehmungen und Aktivitäten weiten den
Erfahrungshorizont unserer Kinder: Reisen und Wanderungen mit den Eltern,
sportliche Aktivitäten, ein Instrument spielen, selber Einkaufen dürfen, und spielen,
spielen, spielen.
3.
Wir stärken die Eigenverantwortung
Wir haben Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu selbstständigem Handeln, das heißt,
Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie für ihre Leistungen im Guten wie im
Schlechten selbst verantwortlich sind. Natürlich dürfen wir dieses Gebot nicht so
auffassen, als müssten wir unsere Kinder sich selbst überlassen. Aber zwischen
einem anteilnehmenden, ermunterndem Begleiten kindlicher Bemühungen und
einer gleichsam gleichgültigen achselzuckenden Haltung: das ist Deine Sache/Dein
Problem, besteht ein beträchtlicher Unterschied. Natürlich fällt es den Kindern nicht
immer leicht, ihre Hausaufgaben gut und vollständig zu machen. Sollen wir dann
eingreifen und womöglich "Terror machen"? Gegenfrage: Haben bei uns Zorn und
Gewalt, Verbot oder Strafe je die Leistungsbereitschaft gefördert und das Gefühl von
Eigenverantwortung gestärkt? Nur wenn wir bei unserem Kind erfahren haben, dass
es unter "Druck" gern lernt und das, was es lernt auch erfolgreich anwenden kann,
dann bleiben wir dabei, denn dann ist dieses Verhalten das "Rezept" das unserem
Kind hilft.
Natürlich geht nicht immer alles glatt! Wir alle wissen von Kindern, die im
Zusammenhang mit schulischem Arbeiten lügen oder gar Hausaufgaben
"unterschlagen". Machen wir keine Staatsaktion daraus und verschlimmern die
Angelegenheit. Vertrauen, wenn es denn echt und ganz tief mit der Liebe zu unserem
Kind verwoben ist, hilft ihm mehr, als jede Bestrafung oder gar Bloßstellungen.
Eltern und Lehrer haben gerade bei derartigen Anlässen genau hinzuschauen:
sowohl in den Spiegel als auch auf das Kind. Wir müssen uns zum Beispiel fragen, ob
wir die guten Eigenschaften und Fähigkeiten zu eigener Verantwortung stets
angemessen gewürdigt haben oder ob wir nicht der Versuchung erlagen, die
positiven Bemühungen unseres Kindes für selbstverständlich genommen zu haben.
Hier gleichen wir Eltern gelegentlich jenen Vorgesetzten am Arbeitsplatz, die gute
175
Leistungen ihrer Mitarbeiter gleichgültig zur Kenntnis nehmen und nur dann
Anteilnahme zeigen, wenn etwas schief gelaufen ist. Es verletzt uns als Arbeitnehmer
dann sehr, wenn bei einem Fehler, der uns unterlief, die oft jahrelange fehlerfreie
Arbeit keine Rolle zu spielen scheint. Unseren Kindern geht es in derartigen
Situationen nicht anders als uns.
4.
Wir setzen Grenzen
Je selbstverständlicher von Anfang an die Pflichten für die Schule und das System
der eigenen Verantwortung hierfür in den Familienalltag integriert sind, umso
geringer wird die Mühe sein, mit der wir gelegentlicher Unlust unserer Kinder
begegnen müssen. Haben wir gelernt "nein" zu sagen und, unserer Überzeugung
nach, ungerechtfertigte Begehren von Kindern stets zurückgewiesen, so wird es uns
auch in Fällen von Arbeitsverweigerungen leichter fallen, auf die Einhaltung der
Norm: "Hausaufgaben sind Pflichten" zu achten und sie durchzusetzen.
Hausaufgaben stellen zum Beispiel ein Verbindungsglied zwischen Elternhaus und
Schule dar. An der Art und Weise der Erledigung der Hausaufgaben orientiert sich
der Lehrer bei seinem Bild über die Interesse des Kindes und die Haltung und
Einstellung der Eltern der Schule gegenüber. Wir setzen darum unsere Grenzen
beziehungsweise verwirklichen unseren Anspruch auf Eigenverantwortung im
Konfliktfalle sinnvoller Weise in einer vertrauensvollen Abstimmung mit dem
Lehrer. Ganz besonders gilt in derartigen Situationen, dass wir unser Kind daran
beteiligen und nicht über seinen Kopf hinweg oder hinter seinem Rücken mit dem
Lehrer kungeln. Zornes- und Wutausbrüche von Seiten der Eltern sind ungeeignet,
ein Kind zum Arbeiten zu bewegen.
5.
Wir helfen
Hilfe und Zuspruch gewähren wir unseren Kindern, wenn wir mit ihnen traurig
darüber sind, wenn mal eine Arbeit nicht so gut ausfiel, wenn sie selbst enttäuscht
darüber sind, weil sie meinen, versagt zu haben. Da jedes Kind in dieser Situation
genug an sich selbst zweifelt und leidet, setzen wir nicht noch durch unsere Vorwürfe
oder gar Strafen eins drauf. Wir vertrauen unserem Kind, dass es das nächste Mal
sicher besser wird. Und wenn es sein muss, wird es noch manch "nächste Male"
geben, auf die wir unser Kind vertrösten. Wie bereits erwähnt, reden wir am besten
selbst mit ihm darüber, wie wir ihm am besten helfen können und fragen bei der
Gelegenheit, ob es ihm recht wäre, wenn wir auch mal den Lehrer um Rat fragen. Je
älter ein Kind ist, umso weniger wird es Verständnis dafür haben, wenn wir hinter
seinem Rücken Kontakt mit der Schule aufnehmen. Die beste Hilfe wäre in dieser
Beziehung, wenn wir uns vom ersten Schultag an um eine vertrauensvolle, offene
und gleichsam selbstverständliche Beziehung zur Schule bzw. zu den Lehrern
bemühen. Ohne Scheu und Misstrauen sollten wir über die gegenseitigen
Erwartungen sprechen. Dann entsteht bei unseren Kindern gar nicht erst der
Eindruck, dass wir Eltern uns nur dann in der Schule blicken lassen, wenn es
klemmt. Es gibt immer etwas, worüber wir mit Lehrern reden können: Zum Beispiel
darüber, was wir in der Familien über die Hausaufgaben festgestellt haben.
176
6.
Wir haben Geduld
Unsere Geduld beziehungsweise Zeit braucht unser Kind besonders dann, wenn es
nicht immer gleich alles versteht, was in der Schule vermittelt wird. Nicht alle Kinder
sind gleich und können im gleichen Alter das Gleiche. Eines kann früher Laufen,
Sprechen, Schwimmen, Radfahren ... das andere später. Eines ist mit fünf Jahren
eigentlich schon "reif" für die Schule, ein anderes mit sieben Jahren noch nicht oder
nicht in allen Teilen. Entwicklungsunterschiede sind das natürlichste von der Welt
und liegen nicht in der Verantwortung (Schuld) von Kindern. Ebenso durchschaut
ein Kind einen Rechenprozess früher, das andere später oder das eine Kind braucht länger für die Erledigung einer Aufgabe, das andere Kind arbeitet schneller. Nicht an
jedem Tag haben die Kinder auch besondere Lust zum Arbeiten. Auch dann haben
wir Geduld und lassen den Kindern Zeit. Wir brauchen ja nur daran zu denken, dass
es uns auch nicht anders geht. Und genauso wie uns niemand die nun einmal
notwendigen Arbeiten abnimmt, ist das Kind darauf angewiesen, irgendwann seine
Arbeit selbst zu Ende zu bringen. Und das tut es auch - wenn wir nicht hektisch und
voller Ungeduld um es herumspringen.
7.
Wir erkennen an
Was sollten wir an Leistungen und wie anerkennen? Schenken wir unserem Kind ein
neues Fahrrad für ein gutes Zeugnis oder zahlen wir für eine gute Note einen
bestimmten Betrag? Sicher freut sich unser Kind auch über gemeinsame
Unternehmungen und andere Formen der Zuwendung. Bei außergewöhnlichen
Ergebnissen als Folgen intensiver und anstrengender Arbeit können für das Kind
attraktive Belohnungen zu weiterem Fleiß anspornen. Dass diese Formen des Lobes,
der Anerkennung und der Ermutigung schon lange bekannt – leider aber viel zu
wenig in der Praxis angewandt wurden – das zeigt uns das Werk des Tschechen
Johann Amos Comenius. Er empfahl bereits in seiner 1657 erschienenen „Großen
Didaktik“ den Eltern, sie sollten „...ihren Kindern ... schöne Bücher, Kleider oder
sonst etwas Hübsches versprechen, wenn sie sie zum Fleiß ermahnen...“ (1985, S.
99). Da brauchen wir heute nur noch zu ergänzen und feststellen, dass wir dann die
Lernmotivation unterstützen,
wenn wir in erster Linie des Kindes Bemühungen anerkennen und nicht allein die
Ergebnisse - also die Schulnoten!
Wie können wir das tun?
Von früh an, also bereits im Kindergartenalter, ihre Hervorbringungen, also das, was
sie selbst geschaffen haben, anerkennen und zwar ohne heuchlerische
Übertreibungen; ein anerkennendes Kopfnicken reicht oft aus. Auf diese Weise
erleben die Kinder ohne viel Gerede, dass sie uns etwas wert sind, dass wir sie als
Person anerkennen und ernst nehmen. Das gilt besonders dann, wenn es um das
Vertrauen in ihre guten Fähigkeiten und Eigenschaften geht.
Dieses Vertrauen und Zutrauen bewährt sich gerade dann, wenn wir um Hilfe
gebeten werden. Der vierzehnjährige Walter bat gelegentlich seine Mutter, ihm bei
den Mathehausaufgaben zu helfen. Doch unwirsch reagierte er, wenn sie sich
anschickte, ihn auf Lösungswege aufmerksam zu machen. Er wollte Lösungen gesagt
haben, nicht selber rechnen. Gerade in dieser Situation, wenn Walter verärgert seiner
177
Mutter den Rücken zukehrt und sich über sein Heft beugt, wäre es im Sinne von
Ermutigung und Anerkennung sicher zweckmäßiger, Mut zuzusprechen und nicht,
sich selbst nun verärgert abzuwenden und den Jungen sich selbst zu überlassen.
8. Wir geben Platz und Raum
Es soll Kinder geben, die können ganz gut auf einer freigeräumten Ecke des
Küchentisches ihre Hausaufgaben machen, wenn nur die Mutter um sie herum ist.
Wenn das so klappt, ist nichts dagegen einzuwenden. Alles, was unserem Kind hilft,
selbstständig und gut zu arbeiten, ist in Ordnung. Nicht unsere Maßstäbe sollten wir
dabei anlegen, sondern auf das Kind achten. Natürlich darf kein Fernsehen nebenher
laufen.
Auch zu viel ablenkende Aktivitäten (zum Beispiel spielende kleinere Geschwister)
können die nötige Konzentration behindern. Wir bieten darum unseren Kindern eine
ruhige Ecke oder Nische an, vielleicht sogar ein eigenes Zimmer mit einem
Arbeitsplatz. Es fördert Konzentration und Motivation, wenn es "seinen" Arbeitsplatz
hat, wo es verlässlich "seine" Arbeitsmaterialien vorfindet beziehungsweise
aufbewahren kann. In vielen Wohnungen drängt sich der Eindruck auf, dass die
Einrichtung in erster Linie auf die Bedürfnisse der Erwachsenen zugeschnitten und
für Kinder kaum Platz ist. Schulkinder aber brauchen "ihren" Arbeitsplatz in der
Schule genauso wie zuhause. Bei gutem Willen, lässt sich auch unter beengten
räumlichen Verhältnissen ein "Kinderbereich" schaffen.
Je älter Kinder werden, umso wichtiger werden derartige Arbeits-Inseln. Sie sind
Rückzugsräume, die der Konzentration aber auch dem Wunsch nach ungestörtem
Arbeiten (aber auch: Träumen, Spielen, Basteln u.a.m.) dienen. Manchen Kindern
hilft es, wenn sie Musik hören beim Rechnen. Reden wir ihnen nicht hinein, solange
es keine ernsthaften Probleme gibt. Wenn Schulschwierigkeiten auftauchen, werden
auch diese Rahmenbedingungen in unsere Gespräche mit dem Kind einbezogen und
geprüft.
Auf diese Weise können wir Grundlagen schaffen, sozusagen das Fundament
errichten helfen, auf das unser Kind sein Leben zunehmend eigenständiger aufbaut.
Staat und Gesellschaft, und das sei an dieser Stelle besonders betont, haben den
verfassungsmäßigen Auftrag, uns Eltern zu unterstützen und zu helfen. Finanzielle
Unterstützungsleistungen können nur ein Teil sein. Ebenso bedeutsam, wenn nicht
sogar wertvoller, sind Anerkennung elterlicher Erziehungsleistungen und die Hilfe
hierfür durch Aufklärung und Information. Die Einrichtungen der Jugendhilfe und
die Schulen mit ihrem pädagogischen Fachpersonal sind gerade im Zusammenhang
mit dieser Aufgabe die Partner der Eltern. Wir sollten im Interesse unserer Kinder
diese Partnerschaft sehr ernst nehmen und verantwortlich ausgestalten und sie in
einer guten, auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Achtung beruhenden
Beziehung verwirklichen. Eine gute Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und
Lehrer und Lehrern und den anderen pädagogischen Fachkräften ist eine günstige
Voraussetzung für eine erfolgversprechende Schullaufbahn und eine
verantwortungsvolle Pflicht - für die Partner in Erziehung und Bildung.
178
10
Unsere Kinder und die elektronischen Medien
Einführung
Was dürfen wir Erwachsenen Kindern an elektronischen Medien zumuten? Wie
geht man mit Fernsehen, Video, Computern oder Smartphone in einer für die
Entwicklung unserer Kinder förderlichen Weise um? Diese und viele andere
Fragen treiben uns Eltern und Berufserzieher um, seit es diese Medien gibt. Diese
Fragen würden sich nicht stellen, wenn Heranwachsende kein Interesse hätten an
dem, was auf dem Bildschirmen zu sehen ist oder was mit Hilfe entsprechender
Programme alles gemacht werden kann. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wir
wissen zwar, dass ein Kind von Natur aus ein aktiver Erkunder und kein passiver
Empfänger ist, wie bereits oben unter den „Grundbedürfnissen" (vgl. S. 16) festge
halten wurde,. Dennoch können Kinder viele Stunden vor dem Bildschirm hocken
und sich anschauen, was es da zu sehen gibt, selbst wenn sie das, was sie sehen,
von ihrem Alter her noch nicht einmal verstehen können. Wer seine Kinder vor
dem Bildschirm anbindet, so hieß es bereits vor dreißig Jahren, schadet ihrer
Entwicklung. Allein der mit diesen Gewohnheiten verbundene Bewegungsmangel,
der für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung so notwendig ist, führt
gegenwärtig bei Kindern zunehmend zu chronischen Krankheiten und psychischen
Störungen (Horst Hackauf und Heike Ohlbrecht 2013, S. 6).
Für alle, die derartige Schäden vermeiden möchten, hat Manfred Spitzer, der viel
darüber schrieb, eine radikale Empfehlung: Fernsehgeräte wegstellen und den
Zugang zu elektronischem "Spielzeug" unmöglich machen. So radikal sich das
ausnimmt, so richtig ist die Empfehlung. Richtig ist sie, wenn wir uns vor Augen
halten, dass ein Kind nur im sozialen Verband einer Familie gedeihen kann, denn
es braucht die ständigen Austausch mit seinen erwachsenen Bezugspersonen, mit
seinen Geschwistern und mit anderen Kindern so, wie die Nahrung, die Luft oder
die Bewegung. Dieser ständige Austausch ist die Voraussetzung und der ständiger
Begleiter aller Lernprozesse. Der angeborene "Trieb" zur Nachahmung ist, wie
bereits ausgeführt, ein entscheidender Motor der Entwicklung.
Aus dieser Erkenntnis heraus sagt also Manfred Spitzer zu Recht, wenn ein Kind in
einer Umgebung heranwächst, in der es die elektronischen Geräte gar nicht gibt
oder in seiner Gegenwart nicht benutzt werden, käme es gar nicht auf die Idee, sie
selbst benutzen zu wollen. Diese Erkenntnis ist so alt, wie Eltern über Erziehung
nachdenken:
179
Wer will, dass sein Kind etwas tut oder lässt, geht mit gutem Beispiel voran.
Und wer nicht will, dass Kinder im Familienalltag durch Fernsehen in ihrer
Entwicklung behindert werden, schaltet diese Geräte gar nicht erst ein.
Allerdings, und diese Feststellung muss angesichts unserer, der Erwachsenen,
Nutzung von Handys, Smartphones oder Computern getroffen werden, ist es
illusorisch geworden, von Kindern die elektronischen Medien fern zu halten oder
gar deren Gebrauch generell zu untersagen. Unsere Lebensrealität sieht anders
aus33. Stattdessen brauchen wir Auskünfte darüber, ob und wie eine für die
Entwicklung unserer Kinder sinnvolle Verwendung dieser Geräte gesucht werden.
Elektronische Medien und Erziehung
Wie immer, wenn sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, neue Medien
herausbildeten, gab es nicht wenige maßgebliche Kreise in Kultur und Politik, die
Gefahren heraufbeschworen und sogar das Ende der Kultur voraussahen (Bruno
Bettelheim 1998, S. 4-5). Über die erwarteten Gefährdungen schrieb Joseph
Weizenbaum zum Beispiel, dass die größte Gefahr für den Menschen darin
bestehe, sich selbst als Maschine zu verstehen oder gar den Computer
personifizieren und zu ihm eine emotionale Beziehung herstellen. Unversehens
schleichen sich auch in der Umgangssprache Begriffe aus der Computerwelt ein,
wie "abspeichern" oder "falsch oder richtig programmiert sein". Dass eine Kind zu
seinem Smartphone ähnliche Beziehungen heranbilden, wie einst zu seiner Puppe
oder
seinem
Teddybär,
das
berichtete
die
US-amerikanische
Wissenschaftssoziologin Sherry Turkle (Bd. Ztg. 05.08.2013, S. 19): „Mit ihm fühle
ich mich gut, ich nehme es mit ins Bett, es fühlt sich fast an, wie ein Teil des
Körpers, es macht mich quasi zu einem Maschinenmenschen“.
Noch lässt sich diese Erfahrung nicht verallgemeinern. Die bereits von
Weizenbaum befürchteten Folgen sind bisher ausgeblieben. Kinder ab der
Grundschuleingangsstufe benutzen Computer – und mit diesem vertrauten Begriff
sind hier zugleich auch i-Phones, Tabletts u. ä. angesprochen - als Werkzeug, also
ein Ding, mit dem sie viel machen können. Man kann damit schreiben, malen,
gestalten, rechnen oder spielen. Ein Computer ist also für Kinder ein interaktives
Spielzeug, vor dessen Bildschirm man nicht nur mehr oder weniger passiv
schauend sitzt (Daniela Braun, Freiburg 2000). Unbefangen gehen sie an die
Geräte heran und finden sich, sich selbst überlassen, bald zurecht. Natürlich
schauen wir Erwachsenen ihnen mit Interesse und Verantwortung über die
Schulter. Ein von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und
Lehrer und Lehrern begleiteter Einsatz dieses Mediums verringert zum Beispiel
Gefahren, die im Umgang mit Computern für die Persönlichkeitsentwicklung
bisher vermutet wurden. Stattdessen können unsere Kinder erfahren, dass
Computer auch sinnvolle Betätigungen anbieten. Hierbei ist vor allem an den
Einsatz von Lernprogrammen oder solche Spielprogramme oder Filme zu denken,
die sowohl unterhaltsam als auch lehrreich sind.
180
Schauen wir noch einmal auf die Einflüsse, die auf ein Kind aus den sozialen
Gruppen, in denen es heranwächst, einwirken.
Es ist leichter, ein Kind an die Musik heranzuführen oder gar an ein
Musikinstrument, wenn die für das Kind wichtigen Bezugspersonen selbst
musizieren. Gleiches gilt für alle anderen Tätigkeiten oder Unterlassungen in der
sozialen Umwelt. Und je kleiner Kinder sind, umso "prägender" können die frühen
Erfahrungen sein. Kürzlich schenkte zum Beispiel ein Vater seiner vierjährigen
Tochter sein I-Phone, weil er sich ein aktuelleres, leistungsfähigeres Gerät
angeschafft hatte. Dieses Mädchen war keineswegs erstaunt, sondern fuhr mit
seinen Fingern über den kleinen Bildschirm hin und her und holte sich die Bilder,
die es für sehenswert hielt. Insofern ahmte sie lediglich das Verhalten ihrer Eltern
nach, denn auch die Mutter hatte stets so ein Gerät bei sich und kommunizierte
unter anderem ständig mit ihrem Mann mit Hilfe dieses Minicomputers oder
fotografierte ihre Kinder u. v. a. m.
Dass unsere Kinder andere "alternative" Wege gehen, sie ausprobieren und sich
möglicher Weise ganz anders entscheiden, als wir Eltern es vorleben, das lernen
wir spätestens in der Pubertät unserer Heranwachsenden kennen. Und Manfred
Spitzer meint dazu auch, dass es später, also in Entwicklungsphasen, in denen ein
Kind rationeller mit der kritischen Kraft seines Verstandes mit elektronischen
Medien umgeht, weniger Schaden nehmen wird. Ob sich diese Meinung bestätigen
wird und auf welche Weise, das müsste die Zukunft erweisen.
Ich neige dazu, die jüngste Entwicklung in diesem Bereich unseres beruflichen und
privaten Alltags als eine „Revolution“ zu betrachten. Und in dieser Phase einer
schier unendlicher Fülle neuer Kommunikationsmöglichkeiten in Schule, Beruf
und Freizeit brauchen unsere Heranwachsende Orientierung. Die Vermittlung
eines verantwortbaren Umgangs mit Medien und die für unser Leben förderlichen
Möglichkeiten elektronischer Mediennutzung müssen Kinder ebenso lernen, wie
die anderen Kulturtechniken.
Während wir Erwachsene, die diese Entwicklung in unserer Generation mit
vollzogen und mit zu verantworten haben, uns allmählich an die neue Technik
gewöhnen konnten (denken wir nur an das Fernsehen und den Computer), finden
unsere Kinder diese unsere Medienwelt als gegeben vor. Und genau so, wie sie im
ständigen Austausch mit uns Erwachsenen leben lernen, so sollten sie auch in
einer verantwortbaren und das heißt vor allem: in einer ihrer Entwicklung
förderlichen Weise, mit elektronischen Medien umgehen lernen. Und das können
sie nur dort und dann, wo und wann jemand sie entsprechend unterweist.
So ist beim Adolf-Grimme-Institut eine Initiative „Eltern und Medien“ eingerichtet
worden, die in vielfältiger Weise Veranstaltungen zur Vermittlung von
Medienkompetenz unterstützt. Auch auf die Informationen und Tipps der „aktion
jugendschutz“ möchte ich aufmerksam machen. Von dort aus finden sich Links auf
weitere Internetseiten mit medienpädagogischen Inhalten. Eltern mit
Heranwachsenden ab zwölf Jahren möchte ich auf die hochinteressanten
Veröffentlichungen der Landesanstalt für Kommunikation Baden- Württemberg
181
hinweisen! Auch Fernsehanstalten selbst haben in enger Zusammenarbeit mit dem
Familienministerium in Berlin eine - recht umfangreiche und differenzierte Ratgeberhomepage eingerichtet. "So lernen Kinder richtig fernsehen" wurde in
einer Tageszeitung ein Beitrag überschrieben und auf die wertvollen Tipps, die
Eltern und Erziehern unter anderen für Vorschulkinder bei „Schau hin“
(http://www.schau-hin.info/) gegeben werden.
Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Umsetzung aller
medienpädagogischen Einsichten nur in ökologischen Zusammenhängen gedacht
werden können, dass wir also die auf jeden von uns einwirkenden und jeden von
uns beeinflussenden Umweltbedingungen berücksichtigen müssen. Von diesen
ökologischen Einflüssen, oder, wie ich sie nenne: "Wirklichkeiten", möchte ich
Einige nennen:
Die Wirklichkeit in unserer Welt ist beeinflusst durch den unverfrorenen
Zynismus aller jener für die Werbung verantwortlichen Personen, die den
Kauf elektronischer Geräte und Programme für Erwachsene und Kinder
anpreisen, ohne auf mögliche entwicklungsschädigende Auswirkungen durch
einen pädagogisch ungefilterten Gebrauch hinzuweisen.
Die Wirklichkeit in unserer Industriegesellschaft ist heute unter anderem
durch die alles beherrschende Rolle der Wirtschaft gekennzeichnet. Die
"Ökonomisierung" aller Lebensbereiche erfasst, um auf bisher weniger
bewusste Einflussbereiche zu deuten, nicht nur die Bildung vom
Kindergarten bis zur Universität, sondern auch den Familienalltag. Dahinter
wird sogar eine bewusste Steuerung von Seiten der Medien-Industrie- und
Kulturpolitik vermutet. Wer sich vor Fernseher und Computer "anbindet"
und seinen Alltag von dorther und / oder sogar von Laptops, Tablets oder
Smartphones beeinflussen lässt, leidet weniger an einer unbefriedigenden
Lebenssituation wie Schulversagen, Arbeitslosigkeit und der damit
verbundenen Lebensleere und Langeweile. Zu diesem Thema gab es schon
2005 eine aufschlussreiche Sendung im Zweiten Programm des
Südwestfunks in der Reihe "Wissen"34, in der von "Tittytainment" die Rede
war.
Tittytainment, so hieß es in der Sendung, sei eine Kombination von
"entertainment" und "tits", dem amerikanischen Slang Wort für Busen. Der
ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der diese Strategie bereits
1996 ausgedacht hatte, dachte dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der
Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender
Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der
Welt schon bei Laune gehalten werden. Nüchtern diskutieren die Manager die
möglichen Dosierungen. Die Einfünftelgesellschaft zieht herauf, in der die
ausgeschlossenen vier Fünftel mit Tittytainment ruhig gestellt werden müssen.
182
Ich dachte dabei unwillkürlich an das Schlagwort „Brot und Spiele“ aus der Zeit
des "Alten Rom". Im Rom des Altertums sorgten die Herrschenden dafür, dass die
unbeschäftigten römischen Bürger vom Staat unterstützt wurden (damals: Brot heute: Arbeitslosenhilfe) aber auch zur Unterhaltung und Ablenkung etwas
"geboten" bekamen (damals: Spiele im Zirkus - heute: Fußball und Familienserien
im Fernsehen und Spiele für die Computer). Und wenn sogar in Deutschland
bereits ein Institut eingerichtet wurde, in denen schreibgewandte Frauen und
Männer darin geübt werden, Familienserien (Telenovelas und Seifenopern)
gleichsam am Fließband herzustellen, um den Unterhaltungsbedarf eines
anspruchslosen Publikums ("kundenorientiert") zu befriedigen und dieses Niveau
gleichsam "festzunageln", dann dient dies - neben dem Profit für die
Verantwortlichen - der zynischen Weltsicht von Politikern wie dem o. g.
Brzezinski. "Die Daily Soap als Familienersatz", heißt es in dem Bericht von Antje
Hildebrandt über den "Grundy-UFA-Konzern" in Potsdam-Babelsberg (Badische
Zeitung v. 17. Januar 2006).
Dass in unseren Tagen die Spiele im alten Rom abgelöst werden vom "Caming",
das zeigt der Computer-Spieltrieb allein der Deutschen. Zwei Milliarden Euro
werden im Jahr für Spiele, darunter Konsolen- und PC-Titel ausgegeben. Sogar
eine Computerspielemesse "Gamescom" gibt es. Wenn man sich weiter
vergegenwärtigt, dass in Deutschland im Durchschnitt fünf Stunden und fünfzig
Minuten jede Person über fünfzig Jahren vor dem Fernseher sitzt und schaut
(Quelle: Dick, Alexander in der Badischen Zeitung vom 09.08.2011, S. 1), dann ist
unschwer zu vermuten, dass unter diesen viele Eltern und Großeltern sind, die auf
diese Weise ihren Kindern und Enkeln vermitteln, wie man den Tag ausfüllen
kann.
Zu dieser Wirklichkeit gehört weiter, dass immer mehr Eltern ihre
Verantwortung für das Wohl ihres Kindes, wie in den Ausführungen über die
Grundbedürfnisse dargestellt, nicht in erforderlichem Umfang wahrnehmen.
Das jedenfalls ist so lange zu unterstellen, solange es Kinder gibt, deren
soziale, geistige, emotionale und körperliche Entwicklung nachweislich durch
Fernsehkonsum und Computerspiele Schaden genommen haben 35.
Nachfragen der „aktion jugendschutz“ führten zu der Erkenntnis, dass
Schulversagen
mit
einem
unverantwortlichen
Medienkonsum
36
korrespondiert .
Trotz der hier - bewusst zugespitzt - dargestellten Situation in Familien und
Gesellschaft, kann nicht gesagt werden, dass alle Kinder, die Fernseh- und
Videofilme schauen, gefährdet sind. Auch nicht diejenigen, die gelegentlich
Gewaltdarstellungen
sehen.
Nach
dem
gegenwärtigen
Stand
der
Medienwirkungsforschung zu Aggressions- und Gewalt fördernden Auswirkungen
des Medienkonsums ist festzuhalten:
183
Die Aggressivität von Kindern wird durch Gewaltdarstellungen in dem
Ausmaß gefördert, in dem sie den kindlichen Lebensalltag widerspiegeln.
Insofern kann bilanzierend festgehalten werden: Ein Medium für sich genommen
wird weder einem Kind zu Höchstleistungen in der Schule verhelfen, noch es für
ein Leben in unserer Gesellschaft untauglich machen. Maßgeblich für Nutzen oder
Schaden sind die Lebensbedingungen beziehungsweise die Situationen in deren
Zusammenhängen Medien Anwendung finden (Sichtermann, München 1997,S. 14
ff) sowie die diesen Ausgangslagen entsprechenden Funktionen, die die Medien für
den Anwender haben.
Vor dem Bildschirm
Es soll zunächst einmal festgehalten werden: In der Zeit, die ein Kind vor dem
Bildschirm sitzt, spielt es nicht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich FernsehVideo- und Computernutzung auf bloßes Konsumieren beschränkt.
Diese Aussage ist insofern zu differenzieren, als die entsprechenden, die
Entwicklung beeinträchtigenden Auswirkungen je nach Alter und den sonstigen
personalen und sozialen Rahmenbedingungen unterschiedlich sind.
Kindern, die noch keine vier Jahre alt sind, ist es schwer möglich, Filme, die sie auf
dem Bildschirm wahrnehmen, zu verarbeiten. Für diese Altersgruppe gelten
Fernsehfilme, wenn diese nicht speziell für diese Altersgruppe bearbeitet wurden,
als sinnlos. Bis zum Ende des dritten Lebensjahres sollte eigentlich überhaupt
nicht ferngesehen werden. Dennoch schauen auch die kleineren Kinder gerne mit,
wenn die Eltern oder älteren Geschwister gucken. Es wird vermutet, dass sie
Freude an sich bewegenden bunten Bildern haben, auch wenn sie die Bildinhalte
noch nicht mit ihren Erfahrungen verknüpfen und die Abläufe nicht verstehen
können. Sofern Eltern oder ältere Geschwister fernsehen, findet das Bestreben der
jüngeren Kinder seine Erklärung allein schon aus dem Nachahmungsstreben: „Ich
will auch...“. Machen wir uns also nichts vor: Kinder, vor allem die kleineren
Kinder, würden weder etwas vermissen noch ginge ihnen etwas verloren, wenn sie
noch keine Fernsehfilme anschauen könnten. Sie brauchen und wollen für ihre
Entwicklung Aktivitäten. In der Praxis setzten sich Bewegungsdrang und
Kommunikationsbedürfnisse auch vor dem Fernseher durch. Da schauen zum
Beispiel jüngere Kinder die Teletubbies an. Die Kinder bleiben nicht still sitzen: sie
fragen die mit schauenden Erwachsenen, erklären, kommentieren, singen und
sprechen parallel zur Sendung, antworten auf Aufforderungen der Off-Stimme,
tanzen und bewegen sich nach der Musik u. a. m.37
Eine Bemerkung zur zeitlichen Dimension: Es gibt von Medienpädagogen und
Kinderpsychologen empfohlene Richtwerte, in denen die Obergrenze des
wöchentlichen Fernseh- bzw. Videokonsums angegeben werden. Danach gelten für
Sechsjährige eine, für Sieben bis Achtjährige zwei, für neun und Zehnjährige drei,
für Elfjährige vier, für zwölfjährige fünf, für Dreizehnjährige sechs und für
184
Vierzehnjährige sieben Stunden (Jörg Sommer in Südkurier v. 01.09.99). Diese
Empfehlungen spiegeln keineswegs die Realität wieder. In die negative Richtung
hin wurde beobachtet, dass schon 3 – 5- jährige Kinder durchschnittlich 80
Minuten täglich vor dem Fernseher sitzen – in die positive Richtung hin verkürzt
sich, nach Aussagen von Eltern, der Fernsehkonsum auf wenige, regelmäßig
geschaute Sendungen wie Pippi Langstrumpf oder Pumuckel, weil ihre Kinder viel
zu viel anderes zu tun haben und ständig in Bewegung sein wollen. Bei nur zwei
Stunden Fernsehen am Tag, hätte ein Kind bis es zwölf Jahre alt wird, ein ganzes
Lebensjahr seiner geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung verloren, so
sehen es Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler. Die Konsequenz aus einer
derartigen Perspektive wäre die, ganz aufs Fernsehen zu verzichten.
Kinder, die im Übermaß schauen - und das heißt im Grunde: ebenso viel oder gar
mehr Zeit für das Fernsehen aufwenden, wie sie allein oder mit anderen Kindern
und Erwachsenen spielen - lernen nicht die Welt kennen, wie sie ist, sondern so,
wie sie die Filme darstellen. Ein Horterzieher erzählt die folgende Geschichte:
Ein Achtjähriger weigerte sich, als wir mit der Kindergruppe in den Zoo
fahren wollten, in den Zug zu steigen: „Ich habe Angst. Da sind lauter Leichen
drin“. Niemand von uns Erziehern wunderte sich darüber. War der Junge
doch bis zur Einschulung in einer Umgebung herangewachsen, in der vom
Aufwachen bis zum Einschlafen ununterbrochen der Fernseher eingeschaltet
blieb, der den Lebensmittelpunkt für die Familie in der kleinen Wohnung
bildete. Es kostete uns und seinen Lehrerinnen und Lehrer und Lehrern viel
Mühe und Geduld, diesen im Grunde normal begabten Jungen zum
Hauptschulabschluss zu führen.
Einige von den Vielsehern erreichen zum Beispiel nicht oder nur zum Teil die
Fähigkeit zu - unter anderem - abstraktem und vorausschauendem Denken, also
jene Stufe der Intelligenzentwicklung, die Jean Piaget als die Stufe der "formalen
Operationen" bezeichnet und die sich mit etwa elf Jahren zu entwickeln beginnt.
Kinder, denen statt elterlicher Zuwendung und Ermunterung zu eigenem und
gemeinsamem Spiel der Bildschirm angeboten wird, haben schlechte Chancen in
der Schule. Misserfolge in der Schule aber behindern die Herausbildung von
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und damit Eigenschaften wie umfassendes
Interesse und Lernbereitschaft. Die können nur gedeihen, wenn ein Kind
Anerkennung und Erfolg erlebt. Misserfolgserlebnisse führen zur Flucht vor der
Realität. Die Kinder zieht es dann vermehrt vor den Bildschirm. Da haben sie
keinen Frust. Sie versetzen sich in die Rollen ihrer Bildschirmhelden und
begnügen sich damit. Der Teufelskreis schließt sich.
Nun könnte das hier angedeutete Gefährdungspotenzial eine zu vernachlässigende
Größe sein. Das ist aber nicht der Fall. Im Bundesdurchschnitt besaßen 2012/2013
rd. 45 Prozent der zwölf bis dreizehnjährigen und 63 % der achtzehn bis
neunzehnjährigen ein eigenes Gerät. (JIM-Studie 2013. Stuttgart 2013, S. 8); einen
eigenen Fernsehapparat hatten unter den Sechs- bis Dreizehnjährigen bereits 43
Prozent (KIM-Studie 2010. Stuttgart 2010, S. 69). Es ist eher unwahrscheinlich,
185
dass die Eltern dieser Kinder mit nachhaltigem Erfolg, Einfluss auf die
Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder nehmen. Als Gründe für diese hohe
Versorgung von Kindern mit Fernsehern und anderen Mediengeräten sind
anzusehen:
Eltern wollen Konflikten ausweichen; z.B. dem Streit um die Programmwahl,
Eltern wollen ihre Ruhe haben,
Eltern wollen gleichzeitig und ungestört ihre eigenen Fernseher nutzen,
Eltern wollen ihren Kindern eine eigenverantwortliche Nutzung ermöglichen.
Es sagen weder der Besitz derartiger Geräte noch die durchschnittliche
Nutzungsdauer von Kindern etwas darüber aus, ob geeignete Programme
ausgewählt und ob diese Kinder von ihren Eltern verantwortungsvoll begleitet
wurden oder ob irgendwelche entwicklungsschädigenden Auswirkungen
festgestellt wurden. Die Untersuchung aber zeigt, dass die technischen
Voraussetzungen für einen exzessiven und damit die Entwicklung von Kindern
gefährdenden Medienkonsum inzwischen in allen Haushalten geschaffen worden
sind. Je größer das Angebot an Video- und Fernsehgeräten oder
Computerprogrammen, umso mehr werden sie auch genutzt. Es ist zum Beispiel
nachgewiesen worden, dass der audiovisuelle Medienkonsum bei Vorhandensein
eines Recorders pro Woche um acht Stunden höher ist, als ohne Recorder. Und
aus eigener Erfahrung als Lehrer und Erzieher möchte ich hinzufügen: gerade die
Elf- bis Vierzehnjährigen sind besonders verführbar. Wenn sich in diesem Alter die
Eltern nicht um die Jugendlichen bemühen, dann werden die Filme auf dem
Bildschirm den Forderungen der rauen Wirklichkeit vorgezogen. Im Ergebnis
kann der Rückzug auf die Bildschirmmedien dazu beitragen, dass nicht
Erfolgszuversicht und Leistungswille wachsen, sondern persönliches Versagen und
Leistungsverweigerung. Statt Kooperationsfähigkeit entwickelt sich Aggressivität,
statt konstruktivem Engagement in Schule, Beruf und Freizeit Passivität und
Konsumhaltung und in extremen Fällen eine Aussteigermentalität gepaart mit
Missgunst und Hass gegen alle, die als erfolgreicher erlebt werden. Sogar eine
schwere seelische Erkrankung kann die Folge sein, wie es das traurige Beispiel
eines Sechzehnjährigen zeigt, der sich solange mit seinem virtuellen Helden
beschäftigt hatte, dass er sich schließlich selbst für einen Straßenkämpfer hielt und
in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden musste.
Eine seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von Psychologen aus
Beratungsstellen beobachtete Auswirkung des zunehmenden Medienkonsums ist
der Rückgang der Sprachkompetenz bei Kindern mit verheerenden Folgen auf die
Schullaufbahn. Wir hatten bereits darauf verwiesen, dass ein Kind aktiv, also
handelnd lernt und nicht allein durch hören, zuhören oder zusehen. Ein Kind lernt
gehen, indem es geht, Rad fahren, wenn es mit dem Rad versucht zu fahren,
Erwachsene lernen Auto fahren, wenn sie fahren (und nicht, wenn sie anderen
dabei zuschauen). Ein Mensch lernt sprechen, wenn er mit anderen spricht. Diese
Erfahrung ist so simpel, dass ich mich fast geniere, sie hinzuschreiben. Genau
186
diese schlichte Erkenntnis wird in mehr und mehr Familien übersehen. Eine
Studie von Psychologen an der Freiburger Universität kommen zu gleichen
dramatischen Schlussfolgerungen: “Fernsehen bedeutet Vernachlässigung der
Kinder“. (In: Badische Zeitung vom 27.09.2000 und vom 02. 06. 2001), und
„belastet seelisch deutlich mehr als die Schule“. Zwischen die Gespräche von
Eltern mit ihren Kindern, Kindern mit ihren Eltern oder Kinder mit ihren
Geschwistern tritt das „Schauen“. Günstigenfalls schauen Eltern und Kinder
gemeinsam einen Film an. Wird aber während eines Films oder hinterher nicht
darüber miteinander gesprochen, was einen bewegt, was man gesehen und
vielleicht nicht richtig verstanden hat, dann diente das Schauen nur der
Unterhaltung der Eltern. Sprachliche Kompetenz können Kinder so nicht
erwerben.
An dieser Stelle ist von an einem sieben Jahre alten Jungen zu berichten, der
als „lernbehindert“ vom Schulbesuch zurückgestellt werden musste. Eine
genauere Nachprüfung ergab, dass dieses geistig normale Kind darum nicht
eingeschult werden konnte, weil bei ihm die Sprachentwicklung um zwei Jahre
verzögert war. Die Ursache war bald entdeckt: Die Oma, die ihren Enkel zur
Pflege hatte, schickte ihn nicht einmal in den Kindergarten, um sich von ihm
nicht trennen zu müssen. Stattdessen stellte sie ihm ein Fernsehgerät und einen
Videorecorder in das Zimmer. „Der Junge guckt doch so gern“ begründete sie
ihr Vorgehen. Man könnte hinzufügen: wenn er guckt, vergisst er die Welt da
draußen und ich habe ihn für mich.
Zu den Folgen dieses Erzieherverhaltens gehörte, dass der eigentlich recht
intelligente kleine Kerl, außerstande war, sich sprachlich verständlich zu
machen oder gar mit anderen zu unterhalten. Seine Oma verstand ihn. Und
das reichte ihr.
Nachdem er aus diesem Umfeld herausgekommen war, hat er sprachlich rasch
aufgeholt und die Schule mit gutem Erfolg besucht.
Dieses Beispiel deutet aber auf die dramatischen Folgen unzureichender
sprachlicher Kommunikation in Familien. Schon immer waren die Kinder
benachteiligt, in deren Familien ein „restringierter Code“, also eine einfache,
begrifflich wenig differenzierende Umgangssprache, gesprochen wurde. Der
Kindergarten hatte die ergänzenden und ausgleichenden Leistungen zu erbringen,
um die Chancen von Kindern aus derartigen Sprachumwelten zu verbessern. Nicht
zuletzt deswegen wurde der Kindergarten in den letzten vierzig Jahren
flächendeckend ausgebaut. Inzwischen sind Kindergarten und Schule geradezu als
fernsehfreie „Gegenwelten“ zu einem, von Fernsehen und Videos beeinflussten
Familienalltag zu betrachten. Dort droht eine Spracharmut allen Kindern, wenn in
Familien weniger miteinander gesprochen als Fernsehen/Video geschaut wird.
Denn Eltern, die selbst schauen, können sich mit ihren Kindern nicht unterhalten.
Eine Mutter erzählt: Ich habe drei Fernseher zu Hause: einen in der Küche,
einen im Wohnzimmer und einen im Schlafzimmer. In allen läuft das gleiche
Programm, denn wenn ich putze, will ich doch trotzdem sehen, wies
weitergeht.“
187
Wann und was bespricht diese Mutter mit ihrem fünfjährigen Mädchen?
Nichts. „Mach das, lass´ das, sei ruhig, geh spielen...“ auf derartige
Anweisungen beschränkt sich die Kommunikation mit dem Kind. Auch dieses
Mädchen musste vom Schulbesuch zurückgestellt und einer Sprachförderung
zugeführt werden.
Dass auch Aggression und Unruhe wachsen und die Fähigkeit, sich zu
konzentrieren, durch die passiven Fernsehkonsumgewohnheiten bei Kindern
abnehmen, ist auf einem Psychologenkongress im Januar 1999 in Saarbrücken
bestätigt worden. Die Gründe für die steigende Zahl hyperaktiver und
konzentrationsschwacher Schülerinnen und Schüler ist nicht zuletzt auf den
Mangel an konstruktiver Bewegung und eigener Aktivität zurückzuführen. Wer
sich selbst vor den Bildschirm „anbindet“, dem fehlen Bewegung und aktive
Betätigungen mit Dingen und anderen Menschen.
Bei einigen Betreibern stehen nicht Information und Unterhaltung an erster Stelle,
sondern die Einschaltquoten und die Gewinn sichernden Werbeeinnahmen. Und
hierfür sind alle Mittel recht - auch wenn in Bezug auf Filmauswahl und
Gestaltung wenig auf u.a. positive ethische Orientierung Wert gelegt wird. Es sind
erwachsene mündige Bürger, die auch an der Produktion und dem Vertrieb jener
Programme einschließlich der Computerspiele ihr Geld verdienen, die die seelische
Entwicklung von Heranwachsenden beschädigen. Was kulturpolitisch,
wirtschaftlich und rechtlich nicht verhindert werden will oder kann, muss aber
gleichwohl unter pädagogisch-ethischem Gesichtspunkt als verwerflich bezeichnet
werden. Alle an diesen Prozessen beteiligten Personen und Institutionen handeln
verantwortungslos38. Dass es Eltern gibt, die Medienangeboten, die ihren Kindern
schaden, keinen Widerstand entgegensetzen können, ist zu bedauern.
Resignierend stellte eine Achtzehnjährige in einem Beitrag für eine unserer
Tageszeitungen fest:
„Heute besteht für viele Kinder ein schöner Nachmittag darin, vor dem PC
zu hocken und das neueste Hau-drauf- und weg- Spiel auszuprobieren oder
eines der unendlich vielen, stumpfsinnigen Horrorvideos zu schauen ... Wie
soll man Kinder dazu bringen, mehr Phantasie zu entwickeln oder sich mehr
mit natürlichen Dingen zu beschäftigen, wenn zuhause ... nichts Besseres
vorgelebt wird“ (Sina Plettenberg in der Badischen Zeitung v. 07.07.2000).
Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung dafür, was und wie viel in einer
Familie –auch von den Kindern - gesehen und gehört wird und was nicht. Ich
betrachte den Hinweis von Eltern darauf, dass ja „alle“ vor Bildschirmen sitzen
oder ihre Minicomputer benutzen, als Ausdruck der angesprochenen Hilflosigkeit
oder sogar der eigenen Bequemlichkeit. Gerade Erwachsene, die für sich selbst
Fernseh- und Videofilme nutzen, um die eigene innere Leere und die Unfähigkeit
zu kreativem Tun mit „irgendetwas“ anzufüllen, zeigen sich außer Stande, ihren
Kindern zu helfen, aus dem Fernseh- und Computerspielkonsum auszusteigen. Für
Eltern als Abnehmer gilt:
188
Nicht alles was gerade auf dem Markt (oder „in“) ist, muss gekauft oder
konsumiert werden.
Niemand zwingt uns dazu, dem Medienangebot gleichsam „bewusstlos“ zu
folgen und die Anbieter durch hohe Einschaltquoten in ihren Bestrebungen
nach Medienmacht und Gewinn zu unterstützen. Das ist allein unsere freie
Entscheidung.
Der Medienforscher und Familienberater Jan-Uwe Rogge hat in seinem Büchlein
„Kinder können fernsehen“ (Hamburg 1995) darüber berichtet, dass Sendungen
für Kinder wie „Pusteblume“ oder „Die Sendung mit der Maus“ dann und darum
zu Lerneffekten führen, wenn bzw. weil sie an kindlichen Wissensbeständen
anknüpfen.
Es sollte allerdings auch an dieser Stelle noch einmal eindringlich davor gewarnt
werden, Bildschirmmedien an die Stelle einer aktiven Auseinandersetzung mit der
Umwelt treten zu lassen. Die Feststellung „Fernsehen macht dumm“ hat dann ihre
Berechtigung, wenn den Kindern Anregungsbedingungen aus ihrer sozialen (zum
Beispiel die Eltern) und dinglichen (zum Beispiel Spielmöglichkeiten) Umwelt
fehlen und das Fernsehen zu einer Hauptbeschäftigung für Kinder wird. Hierbei ist
mit umso größeren Folgeschäden für die geistige Entwicklung von Kindern zu
rechnen, je jünger sie sind. Es gibt Beobachtungen, nach denen exzessives
Fernsehen dazu beiträgt, dass die zweite Objektivierungsstufe beim Kinde, so wie
sie in Jean Piaget’s Arbeiten über die geistige Entwicklung von Kindern dargestellt
erforscht ist, nur unzureichend oder gar nicht erreicht wird. Über die seelischen
und geistigen Schäden, die exzessiver Fernsehkonsum bei Kindern verursachen
kann, hat eine Forschergruppe in einer breit angelegten Untersuchung in den
Jahren 1999/2000 nachgewiesen.
Der Computer als Freund und Helfer ?
Wenn danach gefragt wird, wann bzw. in welchem Alter Kindern Computer in der
Familie ohne Beschädigung der kindlichen Entwicklung zur Verfügung gestellt
werden könnte, so ist es nicht leicht, darauf eine verbindliche Antwort zu geben.
Bekanntlich gibt es inzwischen schon Programme, die sich an Dreijährige wenden.
Bisher ist keine Studie bekannt, die über die Auswirkungen eines derartig frühen
Computereinsatzes oder über die Eignung entsprechender Programme Auskunft
gibt. Das Argument, man kann nicht früh genug damit anfangen, Kinder an diese
Technik heranzuführen, damit sie später (wann?) keine Probleme damit haben, ist
als Begründung unzureichend. Es sind nicht die Erfahrungen im Umgang mit
Computern, die maßgeblich den Lebens- und Berufserfolg eines Menschen
bestimmen, sondern die individuellen Persönlichkeitseigenschaften
Auch beim Einsatz von Computern in einem Kindergarten oder in der
Grundschule müssen Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Lehrerinnen und
Lehrer und Lehrer sehr sorgsam prüfen, was die Arbeit mit ihm bewirken soll und
189
was sie tatsächlich bewirkt. Auf dem Bundesgrundschulkongress 1999 wurde zwar
eine „vielseitige Nutzung der modernen Medien“ im Unterricht gefordert, zugleich
aber darauf verwiesen, dass Sinn und Zweck von PC und Programmen
verantwortlich geprüft werden müssten (aus: Grundschulverband aktuell, Heft Nr.
68 Nov. 99, S. 10 und 17)39.
Der Computer hat in Familien mit Kindern eine derartige Verbreitung gefunden,
dass diejenigen, die noch keinen besitzen, Ausnahmen sind. Gelegentlich müssen
Eltern einen Computer anschaffen, weil es zum Beispiel Lehrer in weiterführenden
Schulen gibt (besonders in den Gymnasien), die bereits heute Hausaufgaben
aufgeben, die nur dann erfolgreich bearbeitet werden können, wenn die
Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem Computer und Internetanschluss
haben. Es sind bereits in allen weiterführenden Schulen selbstverständlich
Computer vorhanden. Es gibt hier und da „Computer-Räume“, in denen
Schülerinnen und Schüler Aufgaben bearbeiten bzw. den Umgang mit diesem
Werkzeug üben können. Vor allem in den Sonderschulen setzen kundige
Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer den Computer im Unterricht ein. An einer
Schule für Lernbehinderte in Bad Säckingen zum Beispiel, stand den Schülerinnen
und Schülern bereits Ende der achtziger Jahre ein Gerät in wenigstens einer Klasse
zur Verfügung. Damals gab es noch gar keine Lernprogramme. Der Klassenlehrer
musste stattdessen alle Programme selbst entwickeln. Bereits in jenen Jahren
bewährte sich der Computereinsatz in der Förderschule, da die Mädchen und
Jungen hochmotiviert waren und der Lerneffekt entsprechend groß. Gerade im
Zusammenhang mit schulischem Lernen, sei es in der Schule selbst oder bei der
Bearbeitung von Hausaufgaben kann ein Computer, ausgestattet mit geeigneten
Programmen, die Lernprozesse fördern. In einer Werkrealschule war es mit Hilfe
eines eigenen, vom Schulleiter initiierten computerunterstützten Lernnetzwerkes
möglich, jeden Schüler nach seinen Fähigkeiten arbeiten zu lassen.
Drohen von Computerspielen Gefährdungen für unsere Kinder? Diese Frage
stellen sich alle verantwortungsbewussten Eltern zurzeit immer wieder. Die
Meldungen über Kinder, die Mitschüler und Lehrer in Schulen in den USA und in
Europa bedrohen oder sogar töten, beunruhigen in dieser Zeit uns alle. Und immer
wieder wird in Zeitungen, Illustrierten oder in Fernsehsendungen auf den
Zusammenhang zwischen der Zunahme gewalttätigen Verhaltens Minderjähriger
und den entsprechenden Trainingsmöglichkeiten in bestimmten Computerspielen
und in Spielhallen verwiesen.
Was passieren kann, wenn dieses "Spiel" - Verhalten in der Freundesgruppe oder
unter den Schülern einer Klasse zur Norm wird, das erzählt dem Redakteur des
"Hochrheinanzeigers", einige Lehrer:
"Mir ist eine ganze Klasse abgestürzt. Die Sucht erfasste binnen Monaten
fast alle Jungen dieser Klasse. Die Schulnoten brachen in den Keller und
Sitzen-bleiben stand ins Haus".
190
"Die interessieren sich für nichts mehr. Das einzige Thema ist der
Computer." Dabei berichten Informatiklehrer, dass der Computer als
Ganzes diese Schüler häufig gar nicht interessiert. Sobald es um ernsthafte
Anwendung geht, steigen sie geistig aus dem Unterricht aus"
"Die können sich kaum noch etwas merken. Der Unterricht geht einfach
an ihnen vorbei". (Soweit aus dem "Hochrhein-Anzeiger" vom 16.11.2005).
Mir erzählte der Klassenlehrer eines vierten Schuljahres aus einer Schule im
Hotzenwald im Juli 2007, dass immer mehr seiner Schüler nur noch
Computerspiele im Kopf und als Thema haben. Und wenn er mit den Eltern
darüber spricht, zucken die nur mit den Achseln. Aber wenn es um die
weiterführenden Schulen geht, dann nehmen sie uns persönlich übel, wenn wir
diese Kinder ihrer miserablen Leistungen wegen nicht empfehlen können. "Wenn
man diesen Kindern helfen wollte, dürften sie tagsüber nicht mehr nach Hause.
Denen täte die Ganztagesschule sicher gut."
Die "Interdisziplinäre Suchtforschungsgruppe Berlin (ISFB) im Zentrum für
Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin (Charite)
hat
in
einer
Studie
Computerspiel-Süchtige
Minderjährige
mit
Gelegenheitsspielern aus der gleichen Alters- und Bildungsgruppe verglichen.
Dabei sind die Forscher auf deutliche Unterschiede zwischen beiden Gruppen
gestoßen, die bestätigen, dass Computer-Spielsucht lebensuntüchtig macht. 40
191
Wann aber ist ein Kind oder Jugendlicher "Computerspielsüchtig"? Über
Symptome und über den Umgang mit dieser Erscheinung informiert ausführlich
das Buch von Sabine M. Grüsser und Ralf Tahlemann, das unter diesem Titel:
"Computerspielsüchtig. Rat und Hilfe" im Huber- Verlag erschienen ist. Dieser
Verlag stellt Arbeitsblätter zur Verfügung, die helfen können, Suchtverhalten im
Umgang mit Computerspielen zu erkennen41.
In der dritten Januarwoche 2007 sprach mich der Vater zweier Kinder an
und bat um Rat: sein achtjähriger Sohn sei "total heiß" auf bestimmte
Computerspiele und er fürchtet, dass der Junge Schaden nimmt.
In dieser Familie, die Mutter ist eine vierzigjährige Sozialpädagogin, die
Tochter ist zehn Jahre alt, gibt es keinen Fernsehapparat. Die Eltern sind
hoch motiviert und engagiert, wenn es um die Erziehung und Bildung ihrer
Kinder geht. Der Junge hatte sich das Spielgerät zu Weihnachten gewünscht
und von seinen Großeltern erhalten. Da er daheim bisher nicht am
Computer spielen konnte, war er häufig bei Schulkameraden zu Gast, wo
Computerspiele in der Freizeit selbstverständlich waren. Nun konnte auch
er daheim spielen. Um hier steuern und mitreden zu können, war der Vater
bereit, nach erledigten Hausaufgaben mit seinem Sohn eine halbe Stunde
mitzuspielen. Diese Zeit war, wie er mir berichtete, auf der CD-Hülle vom
Hersteller auch empfohlen. Vor einer längeren Spieldauer wurde
ausdrücklich gewarnt. "Was soll ich Ihnen sagen", so der Vater, "ich hatte
selbst Mühe, mich nach der halben Stunde loszureißen. Die Spielentwickler
hatten den Spielverlauf so spannend programmiert, dass man total in die
Spielsequenzen hineingezogen wird. Ich verstehe, dass mein Sohn davon
ganz angefressen ist. Aber das ist doch nicht gut für ihn! Wenn sogar der
Hersteller selbst auf die Gefahren, die drohen können, aufmerksam macht...
Was wird nur aus den Kindern, wenn man da nicht aufpasst?"
Die aggressionsverstärkende Wirkung Gewalt verherrlichender PC-Spiele ist
hinlänglich untersucht und belegt. Die Hemmschwelle wird unmittelbar nach der
Nutzung derartiger Spiele deutlich herabgesetzt. Bei häufiger Nutzung neigen die
Kinder eher zu Aggression und Gewalt „Das kann dazu führen, dass aus einer
harmlosen Rangelei unter Kinder und Jugendlichen eine schwere Prügelei wird“
sagt die Psychologin Rita Steckel von der Ruhr-Universität Bochum (Bad. Zeitg.
am 18.11.2001).
Wenn aber allein diese Zusammenhänge als ein Ursache-Wirkungs-Mechanismus
dargestellt werden, dann trifft das nicht den Kern der Ursachen. Wie oben im
Zusammenhang mit dem Fernseh- und Videokonsum bereits berichtet,
beschäftigen sich seit vielen Jahren Medienforscher, Psychologen und Pädagogen
mit diesen Problemen. Für den Umgang mit dem Computer und dem Einsatz von
Spielprogrammen gilt das gleiche, was zur Fernseh- und Videonutzung bereits
gesagt wurde und soll hier noch einmal bekräftigt werden: Nicht auf das Spiel, auf
die Spieler kommt es an. Natürlich darf aus dieser Kurzformel nicht geschlossen
werden, dass es bestimmte charakterliche Eigenschaften allein sind, die den einen
192
brutale und den anderen sanfte Spiele bevorzugen lässt. Mit einer so einfachen
Erklärung würden wir die Verantwortung leugnen, die das soziale Umfeld, wie die
Familie oder eine Gesellschaft hat, die ein entsprechendes Angebot überhaupt
zulässt. In Stichworten sollen die sich nachweislich schädlich auswirkenden und
im Zusammenhang mit dem Fernsehen bereits benannten Einflussfaktoren noch
einmal bekräftigt werden:
1 das Familienklima: in einer Familie, in der Gewalt gelebt wird, verstärken
gewalttätige Computerspiele die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu sein. Vorbilder
in der Familie und / oder die Überzeugung, dort nicht geliebt (nicht wichtig) zu
sein sind nicht selten die Ursache für eine ungünstige Persönlichkeitsentwicklung
zu der - als ein Beispiel - die Flucht in die Gewalt (z.B. gewaltverherrlichenden
Filme und Spiele) gehört.
2 je häufiger Frustrationserlebnisse (z.B. Versagen in der Schule,
Außenseiterpositionen in der sozialen Gruppe) auftreten und nicht kompensiert
werden können (z.B. durch Aussprachemöglichkeiten, Erfolge auf anderen sozial
anerkannten Gebieten wie dem Sport oder in der Familie selbst u. ä.) umso mehr
wachsen Aggressionen und die Bereitschaft, gewalttätiger Aktivitäten.
Entsprechende Spiele wirken sich auch hier verstärkend aus.
3 die Lebensperspektive: wenn ein junger Mensch seine Existenz als sinnlos
erlebt und (bzw. weil er) keine positive Zukunft für sich sieht, weil er z.B.
Berufsziele oder andere Wünsche und Träume als für sich selbst überhaupt nicht
realisierbar empfindet.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass Heranwachsende Video- und Computerspiele
auch darum nutzen, um die Flucht aus einer Angst auslösenden Umwelt
anzutreten. Ein nicht zu unterschätzender Reiz geht auch von der Tatsache aus,
dass sie mit Hilfe ihrer Computerwelt Kommunikationsbarrieren gegenüber ihren
Eltern errichten können, die umso höher sind, je weniger sich Mutter oder Vater
mit Computern und dem „Computerspeak“ auskennen. Diese Welt schafft ihnen
einen persönlichen Freiraum, der sie abgrenzt von der Welt der Erwachsenen.
Während der oft stundenlangen Spiele, kann man seinen ganzen Frust über das
unfriedliche Elternhaus und über andere ungünstige Lebensbedingungen
austoben. Leider hat dieses Austoben keine befreienden Auswirkungen sondern
verstärkt nur noch die Unzufriedenheit und den Verdruss. Ein Achtzehnjähriger
schreibt über seine Erfahrungen mit Computerspielen,
dass es viele gibt, bei denen er sich „köstlich amüsierte“. Es gibt aber auch
Spiele, „da sitzt man wirklich ohne Ende vor der Glotze, da man mindestens 60
Stunden braucht, damit man ans Ende kommt. Ich kann aus eigener
Erfahrung sagen: es gibt nichts Besseres, als wenn nach einem Wochenende man hat seit Tagen nicht mehr richtig gegessen und getrunken – die Bitte
kommt, die letzte CD einzulegen...“ (Mark Kästner: Moorhühner jagen, Feinde
auffressen. In: Bad. Ztg. Freiburg v. 12.07.2000, S. 29)
193
Es ist zu verstehen, dass dieser Zwang, sich vor den Computer zu fesseln und selbst
elementare Bedürfnisse zu vernachlässigen, Erschöpfungszustände zur Folge hat,
die sich nachteilig auf Schule und Berufsausbildung auswirken. Nicht selten
wachsen Aggression und Gewaltbereitschaft und werden mit hinaus genommen in
die Schule oder auf die Straße. Noch einmal ist an dieser Stelle darauf
hinzuweisen, dass allein schon das Angebot bzw. der Zugang zu Kriegs-, Tötungsoder pornografische Video- und Computerspiele aus ethischer und pädagogischer
Sicht als unverantwortlich zu betrachten ist. In unserer Gesellschaft besteht ein
erhebliches Spannungsfeld zwischen der Freiheit auf der einen und der
Verantwortung auf der anderen Seite. Bundes- und Landesbehörden bemühen sich
gemeinsam mit Medienkonzernen in entsprechenden Arbeitsgruppen und
Kontrollorganen darum, das jugendgefährdende Spiel- und Filmangebot zu
beeinflussen. Doch angesichts der Möglichkeiten, die inzwischen das Internet
bietet, sind diese Bemühungen fragmentarisch. Damit bleibt die Verantwortung
bei den Familien. Dort aber helfen im Familienalltag Verbote kaum. Die
betreffenden Heranwachsenden brauchen Alternativen, die ihnen jene Abenteuer,
soziale Anerkennung und Erfolge ermöglichen, die sie in ihrem Alltag vermissen.
Sie brauchen aber auch Lebensbereiche, innerhalb derer sie lernen können, den
Computer und seine Möglichkeiten zum Vorteil ihrer Entwicklung zu nutzen.
Unter diesem Gesichtspunkt sind Computer in Schule und Familie zweckmäßig.
Für sozialpädagogische Fachkräfte in den Kindertagesstätten und die Lehrerinnen
und Lehrer und Lehrer in den Schulen empfiehlt es im Zusammenhang mit der
Verwendung von Computern
- sehr genau zu prüfen, was die Kinder in einer Gruppe oder Klasse zu ihrem
Gedeihen wirklich brauchen. Möglicher Weise müssen sie erst einmal lernen,
sich zu bewegen, zu sprechen, zu singen, Bilderbücher anzuschauen bzw. zu
lesen oder in sehr praktischer Weise kreativ zu sein, also reichlich Gelegenheit
erhalten müssen, die Welt aktiv zu erkunden.
- konzeptionelle Übereinstimmung mit Eltern und Trägern anzustreben und – das
betrachte ich als besonders wichtig – eng mit den Eltern zusammen zu arbeiten
- kritisch nachzuschauen, welche Förderungspotenziale sich in welchen
Programmen nachweisen ließen.
Eltern denken beim Kauf von Programmen sowohl an die Wünsche ihrer Kinder
als auch an die Auswirkungen, die die Programme auf sie haben können. Also
müssten wir wissen, welche Programme was fördern und welche wie schaden. Was
tun, angesichts der großen schier unübersehbaren Angebots und dem Drängen
unserer Kinder, dies oder jenes Programm unbedingt zu kaufen? Obwohl es
ausgeschlossen ist, dass der Idealfall je erreicht wird und gleichsam jedes Kind ein
für seine spezifischen Möglichkeiten und Bedürfnisse zugeschnittenes Programm
erhält, haben wir die Programme, die bereits entwickelt worden sind, unter dem
Blickwinkel ihrer speziellen Funktionen im Zusammenhang mit der Förderung
ebenso spezieller Fähigkeiten zu prüfen.
194
Unsere Entscheidungen für ein bestimmtes Programm, z.B. ein Spielprogramm,
Rechnen, Sprachförderung, Sachkundefächer o. dgl., können sich stützen auf die
Anforderungen der Erzieherinnen und Erzieher oder auf die Empfehlungen der
Schule, die das betreffende Programm in dieser Klasse (bei diesem Kind) bereits
verwenden.
Es kann aber genauso gut ein Programm - also auch ein Computerspiel - von uns
ausgewählt werden, wenn wir es für den vorgesehenen Zweck für geeignet halten
und darum angeschafft oder selbst geschrieben haben. Soweit es
Unterrichtsinhalte berührt, ist der o. g. Kooperationsgesichtspunkt besonders zu
beachten. Jede pädagogische Institution kann bei der Bundeszentrale für
politische Bildung (Pf. 2325 in 53013 Bonn) die sehr informativen Blätter
„Computerspiele auf dem Prüfstand“ bestellen oder abonnieren. Zweimal im Jahr
kommt eine neue Sendung, die kostenlos abgegeben wird. Bei der Auswahl von
„Lernprogrammen“ wird es zweckmäßig sein, dass das Übungsprogramm für ein
Kind, zum Beispiel: das große Einmaleins, auch für die anderen Kinder in einer
Familie verwendbar ist. Um Eltern und Fachkräften raten und helfen zu können,
gibt es in jeder Region inzwischen Informationsstützpunkte. An Kreisbildstellen
und an den Schulen, in Baden-Württemberg sind das die „Multimediaberater“,
halten sachkundige Personen Informationen über Programme bereit. Nirgendwo
muss also beim gegenwärtigen Verbreitungsstand von Computern bei null
angefangen werden. Es fehlt lediglich noch an Interaktionsprozessen unter den
Computeranwendern und an Schnittstellen, die allen Interessierten ermöglichen
würde, vorhandene Erfahrungen zu nutzen und effektiv auszubauen. Allein schon
der Einsatz von Programmen, die in sozialpädagogischen Einrichtungen
schulfächerbezogene Lernprozesse unterstützen sollen, brauchte eigentlich die
Zusammenarbeit mit den Lehrern.
Wenn sozialpädagogische Fachkräfte oder Eltern Lernprogramme kaufen
wollen, dann sollten sie die Lehrer (z.B. Multimediaberater) in den Schulen
fragen!
Auskünfte über geeignete Programme geben darüber hinaus die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den Kreisbildstellen und die Berater in Spezialgeschäften, bei
denen sogar sogenannte „Demo-Versionen“ angeschaut werden können. Es braucht
also Zeit, wenn man für sein Kind das „richtige“ Lernprogramm kaufen will. Bei
Spielprogrammen sieht es nicht anders aus. Hier können Kinderwünsche besonders
weit von dem abweichen, was Eltern für verantwortbar halten.
Das Internet, das inzwischen ermöglicht, alle Programme bzw. Apps nicht nur dort
zu öffnen sondern auch in den eigenen Computer zu laden, erschwert eine elterliche
Kontrolle oder macht sie gar unmöglich, da ich sie bei Herannahen einer
kontrollierenden Instanz mit einem Finger sofort schließen oder löschen kann.
195
Mit den Fingern auf dem Smartphone
Ob sie stehen, gehen oder sitzen: viele unserer Kinder und Jugendlichen haben
nicht nur einen Stöpsel im Ohr, verbunden mit einem Empfangsgerät in der
Tasche, sie halten in ihren Händen auch ein Smartphone. „Jedes vierte Kind
zwischen sechs und dreizehn Jahren besitzt ein eigenes Smartphone“ ergab eine
Umfrage des Verlags „Egmont Ehapa Media“ im Jahre 201442. Ständig fahren sie
mit ihren Fingern darauf herum. Die vierzehnjährige Else verschickt und empfängt
über die mobile Nachrichtenplattform „Whatsapp“ ständig Kurzmitteilungen. „Hi,
wie geht‘s“ tippt sie an eine ihrer Freundinnen ein, und die antwortet: „gut, ich
bin grad bei ALDI. Kommst Du nachher an der Schule vorbei?“ „O.k. bis dann“.
Nein, etwas wirklich Wichtiges oder gar inhaltsreiche Texte werden nur selten
untereinander ausgetauscht. Kinder und Jugendliche erleben diese Technik als
Bereicherung, fühlen sich ohne diese Kommunikationsmöglichkeit abgeschnitten,
als nicht mehr erreichbar. Außerdem können sie ihre Lieblingsmusik hören. Sogar
wecken können sie sich lassen, und nicht selten ist es, dass sie dann erst einmal
checken, ob und welche Nachrichten sie inzwischen erhalten haben.
Selbst wenn sie sich in Gruppen zusammenfinden oder zu Hause vor dem
Fernseher sitzen, werden Kurzmitteilungen empfangen oder gesendet. Zum
Beispiel darüber, was man gerade tut und wie man das Gesehene oder Gehörte
bewertet und auch die Situation, in der man sich befindet, erlebt.
Ein Kommunikationswissenschaftler hat über die jungen Menschen und diese
aktuelle Form der Kontaktpflege geforscht. Er fand heraus, dass die meisten
Jugendlichen keine pathologischen Smartphone-Nutzer seien. Es werden vielmehr
statt der Briefe, die einander von der Elterngeneration noch geschrieben wurden,
Kurzbotschaften ausgetauscht. Allerdings ermöglicht die neue Technik, sehr viel
kürzere und sprachlich recht schlichte Rückkopplungsprozesse. Diese
Vereinfachung ist den Jugendlichen gerade recht. Weder auf Rechtschreibung
noch auf einen sprachlich guten Stil muss geachtet werden. „Schreib wie du
sprichst“ haben früher Eltern ihren Kinder gesagt, wenn sie nicht wussten, was
und wie sie den Brief an die Großeltern verfassen sollten. Und diese Empfehlung
wird heute tatsächlich im wahrsten Wortsinne realisiert.
Kritisch ist zu sehen, dass diese Form, mit Hilfe von Smartphone miteinander zu
kommunizieren die direkten zwischenmenschlichen Kontakte reduziert und
soziale Situationen schrumpfen lässt43. Denn die Top-Apps der Nutzer sind die
sozialen Netzwerke wie Whats-App und Face-book. Sie können die persönliche
Begegnung, die Beziehungen, die sich durch die gegenseitige Berührung, das
Erleben von Mimik und Gestik oder den stimmlichen Ausdruck des
Gesprächspartners zueinander entwickeln, nicht ersetzen. Insofern birgt die
Beschränkung auf diese Form der Kommunikation die Gefahr der Verarmung in
der Kontaktpflege und der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl.
dazu auch die Forschungen von Prof. Dr. Christian Montag. Hier:
http://www3.uni-bonn.de/Pressemitteilungen/009-vom 15.01.2014).
196
Den Umgang mit Handys, so ist Eltern dringend zu empfehlen, sollte nicht
ungeregelt und ohne Begleitung sein. Ein Handy, gleichsam ein Telefonersatz, ist
nützlich, wenn ein Kind seine Eltern mal schnell erreichen will oder muss. Da
können wir heute froh darüber sein, dass es diese unkomplizierte und rasche
Kontaktmöglichkeit gibt. Zu denken ist zum Beispiel, dass sich ein Kind auf einem
Ausflug, einer Schulwanderung zu Fuß oder mit dem Fahrrad befindet oder für die
Mutter einkaufen geht und bei dieser Gelegenheit eine Rückfrage hat. Also geben
wir Eltern, unserem Kind ein Handy mit.
Anders sieht es mit dem Kleincomputer, also einem Smartphone aus, der viele
zusätzliche Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Denken wir nur an die Möglichkeit,
dass ein Kind von sich selbst Bilder ins Internet stellt oder persönliche
Informationen über sich und seine Familie, Freunde, aktuelle Situationen und
Vorhaben auf diesem Wege veröffentlicht. Sogar kostenpflichtige Kontakte kann
ein Kind mehr oder weniger wissentlich realisieren und die Eltern stehen plötzlich
vor hohen Rechnungen.
Eine gleichsam unbegrenzte, von Regeln freie Verwendung dieses Mediums durch
unsere Kinder ist nicht zu empfehlen. Es könnten statt dessen Eltern festlegen
1. Kinder, die ein Smartphone von ihren Eltern erhalten, bezahlen die damit
verbundenen Kosten von ihrem Taschengeld.
2. Die Eltern, verhindern je nach Alter und Reife bestimmte
Nutzungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel den Zugang zum Internet mit
Hilfe hierfür zu erwerbender Programme.
3. Eltern stellen Regeln auf und beachten deren Einhaltung, wann und wo ein
Smartphone benutzt werden darf. Da ist zum Beispiel zu denken daran,
dass ein Smartphone im Bett oder während des Essens bzw. der
gemeinsamen Mahlzeiten nichts zu suchen hat.
In der Schule ist es Sache der Schule bzw. der Lehrerschaft ob und wie die Nutzung
von Smartphones geregelt wird. Vorbilder sind jene Schulen bzw.
Schulverwaltungen, die die Nutzung von Smartphones im Bereich von Schule und
Unterricht regeln und auf deren Einhaltung achten.
Jedes Kind braucht auch für die Nutzung von Smartphones einer sorgfältigen
Einführung durch seine Eltern, es muss also den Umgang damit lernen. Diese
Einführung durch und das Training mit den Eltern ist als Voraussetzung dafür zu
betrachten, dass einem Kind ein Smartphone zur zeitweiligen Verfügung
anvertraut wird. Hierfür müssten Eltern allerdings in der Lage sein. Eltern, die
sich selbst nicht auskennen, werden weder als Vorbilder wirken können noch ihrer
elterlichen Verantwortung gerecht werden.
Die Skepsis, die Manfred Spitzer mit der Nutzung von Smartphones bzw.
Kleincomputern durch Kinder verbindet, und die Gefahr einer „Digitale(n)
Demenz“ (so der Titel seines neuen Buches, München 2012) befürchtet, sollte
197
differenziert betrachtet werden. Ich möchte hierzu erzählen, was ich kürzlich
beobachtete:
Zum Geburtstagskaffee eines Sechsjährigen trafen auch Freunde von ihm ein.
Der Älteste war zwölf und die Jüngste seiner Gäste war sieben Jahre alt.
Während die Erwachsenen am Kaffeetisch mit einander redeten und schier
kein Ende fanden, saßen und lagen die Kinder im benachbarten Wohnraum
und waren, jedes für sich mit ihren elektronischen Spielgeräten beschäftigt.
Der Älteste zum Beispiel, hatte zwei Fußballmannschaften geladen, deren
Spiel er mit seinen Fingern tippend, steuern konnte. Und wie Spitzer in
seinem Buch richtig schildert, kamen die Kinder in dieser Zeit nicht
miteinander ins Gespräch. Nach etwa einer halben Stunde aber beendeten
alle Kinder ihre Computerspiele und gingen in die Kinderzimmer, um dort
miteinander zu spielen. Ich schaute mal nach, was sie trieben. Sie saßen auf
dem Fußboden und an Tischen, hatten zwischen sich Brettspiele aufgebaut,
dort auch Vater und Großeltern dabei („komm jetzt endlich, Opa“ hatte eines
den Großvater aus dem Kreis der Erwachsenen geholt und „spielst Du mit
uns, Papa“ ein anders Kind). Drei Mädchen widmeten sich ihren Puppen…
Ich schloss daraus, dass Kinder es zwar eine Weile interessiert, die
Spielprogramme auf ihren Smartphones zu bedienen, es sie aber nach einer
gewissen Zeit langweilt und sie dann – und viel länger – lieber mit anderen
Kindern und/oder mit den Erwachsenen spielen. Und zwar ohne Aufforderung
bzw. Anregung durch die Erwachsenen.
Und wenn Spitzer im Untertitel zu seinem Buch den Titel erläutert: „Wie wir uns
und unsere Kinder um den Verstand bringen“, wird der Eindruck erweckt, als
würde das neue Spielzeug gleichsam generell zur Verdummung führen. Mein
Beispiel deutet an, dass Kinder im Alltagsleben andere Prioritäten setzen können
und das auch tun, wenn wir Erwachsenen sie nicht daran hindern. Und so wird ein
Schuh draus: Kinder brauchen zu ihrem Gedeihen uns: die Eltern, die Großeltern,
die Berufserzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer, so wie im Abschnitt über die
Grundbedürfnisse beschrieben. Stehen sie den Kindern zur Seite, dann sind
unsere Kinder nicht gefährdet.
Anmerkungen zum Internet
Hier haben wir es mit einer zusätzlichen Dimension unseres Lebens zu tun, die
mehr ist, als die Nutzung von Computerprogrammen bzw. dem Smartphone.
Allein an der täglichen Nutzungsdauer der Onlineverbindungen von Mädchen und
Jungen lässt sich ablesen, welche Bedeutung diese Kommunikationsmöglichkeit in
den letzten Jahren erfuhr. Betrug die tägliche Onlinenutzung von Montag bis
Freitag nach Selbsteinschätzung in Minuten 2006 noch 99, so waren es 2013
bereits 179 (JIM-Studie 2013, S. 29).
Es nutzen fast ebenso viele Mädchen wie Buben das Internet. Internet ist
Topthema auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind Webseiten von bekannten
198
Kindermarken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der Kinder gehen einmal die
Woche ans Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in einem sozialen Netzwerk
wie z. B. Facebook. Sich mit der Internet-Nutzung – bezogen allein auf den
Freizeitbereich oder auf den Schulunterricht – auseinanderzusetzen, dazu braucht
jeder von uns viel Informationen aus den entsprechenden Forschungsbereichen
und sehr viel persönliche Erfahrung. Soweit aber sind wir noch längst nicht alle
und für viele von uns ist das Internet noch fremd.
Über die Internetnutzung im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung ist
bisher noch wenig geschrieben und kaum geforscht worden. Die Forschungen des
Instituts IconKids & Youth in München, von dem einige der hier genannten Zahlen
stammen
(vgl.
Bad.
Ztg.
Freiburg
v.
22.02.2011), arbeitet
als
Marktforschungsunternehmen in erster Linie für Anbieter im Internet und nicht
für die Nutzer und schon gar nicht für die Familienerziehung – es sei denn von
dort käme das Geld44. Es nutzten fast ebenso viele Mädchen wie Buben das
Internet. Internet ist Topthema auf den Schulhöfen. Am beliebtesten sind
Webseiten von bekannten Kindermarken und Kinderkanälen. Zwei Drittel der
Kinder gehen einmal die Woche ans Netz. Nicht wenige von ihnen sind Mitglied in
einem sozialen Netzwerk wie z. B. Facebook. Im Durchschnitt sind sie eine Stunde
online.
Bezogen auf unsere Kinder und Jugendlichen hier einige Stichworte, die zugleich
darauf deuten, womit wir uns gegenwärtig vertraut machen sollten:
„Kindersuchmaschinen, z. B. „blindekuh“, „Kinderseiten von Fernsehsendern“,
z.B. „kindernetz“ vom SWF, „Chatten“, z.B. „kindersache“ von der Infostelle
Kinderpolitik, Berlin, Kinderseiten und kommerz, z..B. „coole-schule“ von Kraft
Jacobs Suchard. (Christina Feil, 2000, S. 15 ff)
Unsere schulpflichtigen Kinder haben längst die Möglichkeiten des Internet
entdeckt, die sich für die schulische Arbeit anbieten und holen sich dort Hilfe für
ihre Chemieaufgaben, ihre Geschichtsarbeit, den Aufsatz oder zur Lösung
mathematischer Aufgaben. Kostenlos und kompetent, interessant und informativ
sind die entsprechenden Internetseiten. Die verschiedenen Hausaufgabendienste
und andere Anbieter lassen keine Fragen unbeantwortet und keine Wünsche offen.
Insofern hinken wir Eltern gewaltig hinter her, wenn wir uns noch nicht mit dem
Angebot vertraut gemacht haben. Uns Erwachsenen bleibt nur noch wenig Zeit,
wenn wir unseren Kindern zur Seite stehen und die Internetnutzung
verantwortungsvoll begleiten wollen. Für Berufspädagogen sind Voraussetzung
und Ziel allen Umgangs mit Computerprogrammen und dem Internet das, was in
der medienpädagogischen Literatur als „Kompetenz“ bezeichnet wird
(jugendschutz.net, Mainz). Bezogen auf das Internet als Informations- und
Kommunikationsmedium heißt das für ihre Nutzer:
1. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten das Internet als Werkzeug zu
erkennen, es selbst gestalterisch zu nutzen, als ein Instrument zur Optimierung
199
ihrer Informationsbedürfnisse und interaktiven bzw. kommunikativen
Möglichkeiten – sowohl als Einzelperson, als auch als Gruppe zu verwenden
und ständig zu erweitern.
2. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, Informationen zu sichten und zu
bewerten, z. B. unter den Kriterien der individuellen Zwecke und gezielt
auszuwählen.
3. Sie erwerben bzw. besitzen die Fähigkeiten, die Möglichkeiten des Internet
entsprechend kritisch wahrzunehmen und, wenn sie ihre Zwecke erreicht
haben, das Internet zu verlassen. Dieser Hinweis ist darum ernst zu nehmen,
weil im Zusammenhang mit der Internetnutzung Suchtgefährdungen, seelische
Erkrankungen bzw. Verstärkung seelischer Störungen und erhebliche
finanzielle Belastungen beobachtet wurden.
Wir sollten also die Kinder, die in unseren Familien heranwachsen und die wir in
Schulen und Tagesstätten betreuen, lehren, die Möglichkeiten des Internet zu
beherrschen und zu nutzen, ohne umgekehrt vom Internet beherrscht zu werden
und in die Rolle von „Medien-Analphabeten“ oder „chronischer Konsumenten“
abzugleiten.
Eltern und Erzieher helfen ihren Kindern, kompetente Mediennutzer
zu werden und orientieren sich an folgende Empfehlungen:
Programme auswählen bzw. auswählen helfen. Das heißt, dass Eltern wissen,
welche Filme ihre Kinder warum anschauen möchten. Fernsehgeräte werden nur
zu diesem Zweck eingeschaltet und wieder abgeschaltet, wenn der Film zu Ende
ist.
Gemeinsam schauen, das heißt, Eltern sehen sich den ausgewählten Film mit
ihren Kindern gemeinsam an. Dann können die Kinder mit den Eltern gleich über
Unverstandenes sprechen. Vergleichbares gilt für die Wahl anderer Apps.
Auch mögliche Ängste, die allein durch bestimmte Geräusche hervorgerufen
werden können, lassen sich mindern, wenn die elterliche Nähe gespürt wird.
Über das Gesehene sprechen: das heißt, auch wenn die Eltern nicht mitschauen
können, sollten die Kinder Gelegenheit haben, mit ihnen darüber zu sprechen. Je
mehr die Kinder erzählen und durch das erzählen „los werden“, umso geringer
wird die Gefahr, dass Filmszenen Kinder „umtreiben“. Gerade, wenn eine Sequenz
für ein Kind angstauslösend war, und was das ist, kann allein das Kind erleben,
will es darüber sprechen. Die Rolle der Gesprächspartner können natürlich auch
ältere Geschwister oder Verwandte übernehmen.
Die beste Alternative für alle Kinder und Jugendlichen sind nicht passives
Schauen, sondern Aktivitäten, die sie in besonderer Weise herausfordern, ihnen
Gelegenheit zum Erfolg durch eigene Leistung geben und die möglichst
gemeinsam mit Eltern und/oder in Kinder- und Jugendgruppen erbracht werden.
200
Musikalische Früherziehung, Sportgruppen, Radfahren, Wandern und
Schwimmen sowie viel Spielen, Erkunden und Entdecken im Freien, besondere
Angebote für Jugendliche auch außerhalb der Vereine wie Kanu- und Kletterkurse
- alles dies sind seit Generationen die besten „Miterzieher“. Überall dort, wo diese
aktiven Betätigungen im Vordergrund stehen, wo ein Kind etwas schaffen kann,
worauf es hinterher mit Stolz und Genugtuung weist, treten die Gefährdungen
durch Fernsehen und Video zurück. Wenn Eltern bei der Filmauswahl darauf
achten, dass die jeweiligen Freizeitaktivitäten eine mediale Unterstützung
erhalten, lassen sich Fernseher und Videogerät sogar in den Dienst einer das Kind
fördernden Entwicklung stellen45.
Die Schwierigkeiten, die in Familien dann entstehen, wenn Geschwister
heranwachsen und ihre altersorientierten unterschiedlichen Forderungen
anmelden, sind gelegentlich sehr groß. So, wie sich nicht alle Filme für alle
Altersgruppen eignen, so sind auch Zeit und Dauer von Fernsehkonsum zu
differenzieren. Für die Lösung des Geschwisterproblems gibt es kein Rezept.
Jüngere Geschwister werden immer danach streben, das Gleiche zu dürfen oder
mitzumachen, wie ihre Eltern oder die älteren Geschwister. Genau wie mit der
Taschengeld- und Ausgangsregelung werden sich aber in jeder Familie andere
Gepflogenheiten und andere Begründungen für altersangemessene Regeln finden.
Um extreme, den Familienfrieden nachhaltig beeinträchtigende Konflikte zu
vermeiden, empfiehlt es sich, immer dann und dort attraktive Alternativen
anzubieten, wann und wo sich die anderen Kinder benachteiligt fühlen. Wer an die
Stelle von Fernsehen und Video nichts anbieten kann, was die Kinder gern auf´s
Schauen verzichten lässt, hat es schwer. Allein mit Worten und Verboten sind hier
keine Erfolge zu erzielen.
Einige Bemerkungen zur Fernsehwerbung: Sie kann in Familien dann als Problem
erlebt werden, wenn Kinder sich von der Werbung dazu verführen lassen, ihre
Eltern mit entsprechenden Kaufwünschen zu nerven. Dass es auch uns
Erwachsenen nicht leicht fällt, sich von Werbesprüchen nicht für dumm verkaufen
zu lassen, beweist die Werbung selbst: wenn sich niemand daran orientierte, gäbe
es sie bald nicht mehr. Schon vor fünfzig Jahren hieß das Thema eines
Schulaufsatzes: „Reklame siegt auch dann, wenn man den Braten roch: Man denkt
man glaubt es nicht, und glaubt es schließlich doch.“ Wieweit Kinder sich durch
Werbung in Fernsehen oder Druckerzeugnissen beeinflussen lassen, hängt von
unserem Verhalten ab. Tun wir nicht selbst Werbung als das ab, was es in erster
Linie sein soll: Verleitung zum Kauf, dann können wir nicht erwarten, dass sie
erkennen, um was es Werbestrategen geht. Ganz lassen sich freilich Ärger und
Verdruss nicht vermeiden, weil gerade jüngere Kinder den elterlichen Argumenten
nicht folgen können. Die Beachtung folgender Tipps kann sich aber entlastend
auswirken:
Nehmen wir jeder Werbung den „Ernstcharakter“. Wir achten auf Widersprüche,
Albernheiten, Lächerlichkeiten oder baren Unsinn und machen uns gemeinsam
201
lustig über alles dies. Damit wird der unvermeidliche Werbebeitrag zu
unverbindlicher Unterhaltung. Diesen Prozess unterstützen wir durch unser
Kaufverhalten. Wir verzichten zum Beispiel ganz allgemein darauf, das zu kaufen,
was angepriesen wird. Wenn wir etwas kaufen, dann hat das seine guten Gründe,
die wir auch nennen können. Und wenn einmal eine Kaufentscheidung mit einer
Werbung übereinstimmt, was zum Beispiel beim Kauf eines Autos unvermeidlich
ist, dann können wir unseren Kindern gegenüber nachweisen, dass dieser Kauf
nicht von einem Werbespot angeregt worden ist. Nur wenn Kinder bei den Eltern
erleben, dass deren Kaufverhalten von Werbung unabhängig ist, lernen sie selbst,
unabhängig zu werden. Inzwischen sind das Internet und dessen
Nutzungsmöglichkeiten so verbreitet, dass es unter anderen fast hundert Prozent
aller 10 bis 13-jährigen anwenden. Ob mit diesem Verhalten und welche
entwicklungsfördernde Prozesse verbunden sind, ist noch nicht erforscht.
Einerseits werden Interaktionsprozesse bzw. zwischenmenschliche Kontakte
gefördert oder erleichtert, da auf diesem Wege auch sprachlich nur wenig
differenzierte Kontakte gepflegt werden können. Ich denke da zum Beispiel an die
Internetplattformen. Andererseits könnte die persönliche Begegnung und die
damit verbundene ganzheitliche Wahrnehmung des Gesprächspartners
zurückgedrängt werden.
Zusammenfassung:
1. Die Nutzung von Bildschirmmedien bergen Chancen und Gefährdungen.
Gefährdet sind unsere Kinder und Jugendlichen dann, wenn sie mit Hilfe von
Filmen, Spielen und der Internetnutzung versuchen Defizite auszugleichen, die
sich auf jene elementaren körperlichen und seelischen Bedürfnisse beziehen,
die in den betreffenden Familien nicht hinreichend befriedigt werden.
2. Die Nutzung von Bildschirmmedien einschließlich dem Internet bergen
vielfältige und heute noch nicht absehbare und noch kaum in ihren
Auswirkungen erforschte Chancen nur für die Kinder und Jugendlichen, für
die diese Medien in erster Linie ergänzende Funktionen haben. Die können
sich einmal auf Kommunikation, Unterhaltung und Entspannung beziehen und
zum anderen auf den Erwerb, die Ergänzung oder das Training von
Kenntnissen und Fertigkeiten unter anderem für die Bereiche Steckenpferd,
Schule, Berufsausbildung oder Berufsausübung.
3. Alle Personen und Institutionen, die für die Erziehung und Bildung in einem
Gemeinwesen Verantwortung tragen oder sich mitverantwortlich fühlen,
sollten gegen jene Erscheinungen eintreten, die als Ursachen für den
Missbrauch von Medien erkannt worden sind und im Interesse der
heranwachsenden Generationen, unserer Kultur und Gesellschaft alles tun, was
eine positive Entwicklung jedes Kindes mit Hilfe von Medien und orientiert an
den gültigen Erziehungs- und Bildungszielen fördert. Auf diese gemeinsame,
202
gleichsam „vernetzte“ Verantwortung deutet das Team „jugendschutz.net“ (in
der Zeitschrift „Diskurs“ Nr. 1/2000, S. 55). Vor allem aber, und das soll
abschließend noch einmal betont werden, brauchen unsere Kinder uns, ihre
erwachsenen Bezugspersonen als Ansprechpartner, verständnisvolle Begleiter
und als Vorbilder.
11
Schlussbemerkungen
Wie sehr uns Eltern die Elternschaft belasten kann, wird für die Älteren unter uns,
die schon erwachsene Kinder haben, im Rückblick deutlich. Viele von uns wissen
genau, und haben das auch als wichtiges Erziehungsziel verinnerlicht, dass ihre
Kinder dahin geführt werden sollen, ihr Leben in die eigenen Hände nehmen zu
können. Die „eigenen Hände“ das bedeutet aber zugleich in eigene Verantwortung
mit allen Risiken und Chancen. Diese Eigenständigkeit aber ist es, die uns zu
schaffen machte. Es fällt uns Eltern nicht leicht, einigen von uns ist es sogar
unmöglich, die eigenen Vorstellungen über das, was gut ist für unser Kind und das,
was ihm nach unserer Überzeugung schadet, beiseite zu stellen. Wir sind ja so viel
älter, meinen es so gut und wollen unserem Kind alles das ersparen, was wir einst
erlitten hatten.
Diese guten Absichten verwirklichen wir am besten dann, wenn wir – anders als
vielleicht unsere Eltern - unseren heranwachsenden Töchtern und Söhnen unsere
Bevormundung ersparen und ihnen ermöglichen, ihre eigenen guten und
schlechten Erfahrungen zu sammeln. Und lassen wir uns von der Erkenntnis des
Humanisten und Schriftstellers Leonhard Frank (1991) leiten, dass der Mensch
von Natur aus gut ist!
Unsere Ängste freilich kann uns niemand nehmen, wenn wir an die Gefährdungen
unserer Heranwachsenden denken. Haben wir aber bisher die Bedürfnisse unserer
Kinder beachtet, leben wir genug Selbstvertrauen, dann sollte der Lösungsprozess
gelingen. Dieser Prozess sieht bei jedem unserer Kinder jeweils anders aus und
sein Gelingen muss sich keineswegs daran messen lassen, ob ein Kind auszieht
und seinen Wohnsitz an einem anderen Ort nimmt. Selbst wenn unsere
herangewachsenen Mädchen und Jungen sich aus eigenem Willen und in völliger
Freiheit dazu entschieden haben, lieber noch daheim wohnen bleiben zu wollen,
auch wenn sie längst wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen, darf uns das nicht
beunruhigen. Die Lösung, von der hier die ganze Zeit die Rede war, vollzieht sich
in der ganzen Persönlichkeit und zeigt sich uns in recht verschiedener Gestalt.
Allgemein aber gilt, dass unser Kind dann selbständig geworden ist, wenn es uns
für ein eigenständiges Leben nicht mehr braucht.
Wenn dann unsere Kinder zu uns kommen, weil sie unseren Rat oder unsere Hilfe
wünschen oder uns von ihren Erfahrungen oder Plänen berichten, dann hat sich
die Eltern – Kind - Beziehung gewandelt. Die Alters- und häufig auch die
Erfahrungsunterschiede sind freilich geblieben. Doch nun sitzen sich
203
gleichberechtigte und gleich selbständige Persönlichkeiten am Tisch gegenüber.
Nun werden unsere Überlegungen und Erfahrungsberichte mit Interesse
aufgenommen. Und nun sind die Begegnungen mit unseren herangewachsenen
Kindern von stiller Freude und Genugtuung über diese neue Art und Weise der
Beziehungen angefüllt.
Anmerkungen
Gemeint sind Erwachsene, die in positiver Weise all jene Werte und Normen mit den Kindern
leben, die diese optimal auf das Leben vorbereiten, ihnen Orientierung und Halt anbieten, wie
„Autonomie, Selbstbewusstsein, Wissen um den eigenen Wert und den Wert für die Gesellschaft.
Common sense. Rücksichtnahme. Menschlichkeit.“ (Prof. Peter Paul Schnierer von der Universität
Heidelberg in der Sendung „Wissen“ am 16.10.2014: „Jugendgewalt im Roman. Von „Herr der
Fliegen“ bis zu „Nichts“ – Manuskript, S. 12)
1
Vgl. hierzu die Ergebnisse der Studie „Kinderwertemonitor“ vom Kinderhilfswerk Unicef und die
Zeitschrift Geolina im Jahre 2014. Im Internet unter http://www.unicef.de/presse/2014/kinderlegen-wert-auf-werte/56986
2
Uta Meier-Gräwe, Professorin für Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in
Giessen, in der Sendung „Aula“ des SWR II am 6. August 2006; vgl. auch Katja Bauer in ihrem
Beitrag: Wo stöckeln nur die Mädchen hin?...über die Gefahren der Pinkifizierung“ in: Badische
Zeitung am 23. 12. 2013, S. 31.
3
4
Vgl. dazu: John Bowlby: „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ , München 4/2001).
5
Hilfe bei der Sinnfrage. Philosophie als Lebenskunst. Vortragsmanuskript der Sendung SWR2
Aula vom 01.01.2007, S. 4,).
6
„Sozial und resonanzfähig – Warum der Mensch auf Kooperation geeicht ist“. Vortrag in der
Sendung "Wissen" des SWR 2 am 21. Januar 2007
Diese
Zusammenhänge
sind
durch
die
erziehungswissenschaftliche
und
motivationspsychologische Forschung mehrfach nachgewiesen. Zu verweisen ist z. B. auf die Arbeit
von Rolf Kühn: Bedingungen für Schulerfolg. Zusammenhänge zwischen Schülermerkmalen,
häuslicher Umwelt und Schulnoten. Göttingen 1983. Vgl. auch: Ralf Schwarzer: Schulangst und
Lernerfolg. Düsseldorf 1975; vgl. dazu weiter unten, S. 169 ff
7
Dieses Beispiel deutet darauf, dass die Wurzeln noch heute gültiger und von unterschiedlichen
Wissenschaftsdisziplinen bestätigter Bedingungen pädagogischen Handelns sehr weit zurück
reichen. Berufserzieher vor allem sollten sich unserer Denktraditionen bewusst sein und sie achten.
8
9
Hier ist zum Beispiel zu denken an die Schrift „Haben oder sein“ von Erich Fromm.
SWF 2 - Sendung vom 27.09.2004; 10,05 Uhr. Vgl. auch den Bericht von Anita Rüffer über die
Fachtagung in Freiburg über Interventionen gegen häusliche Gewalt: Badische Zeitung Freiburg v.
20.11.2006, S. 24
10
der Schiedsrichter-Obmann Matthias Scheibengruber am 14. Januar 2013 in der Badischen
Zeitung, S. 15
11
204
12
Mechthild Müser, SWR2; Sendung v. 16.04.2008; Manuskript, S. 4.
Es waren 234 Erzieherinnen und Erzieher aus Kindergärten und 115 Eltern in einer Großstadt
beteiligt.
13
vgl. dazu auch den Abschnitt über „Werte und Normen in der Erziehung“ oder das Buch von Hans
Janssen: Kinder wollen Klarheit. Regeln finden - Grenzen setzen. Zürich 1994.
15 So lautet der Titel eines lesenswerten Buches von Günter Pernhaupt und Hans Czermak in dem
die sorgfältig recherchierten Folgen einer schlagfertigen Strafpraxis von Eltern und Erziehern
dargestellt werden. Wien 1980
14
Reiner Funk, Hrsg.: Erich Fromm Gesamtausgabe Band VII. Aggressionstheorie, S. 194.
Erich Fromm hat sich sehr gründlich in seinen Schriften mit der menschlichen Aggression befasst
und darüber geforscht. Kritisch setzt er sich aus analytischer Sicht mit anderen
Aggressionstheorien auseinander. Fromm weist nach, dass die zerstörerischen Formen
zwischenmenschlicher Aggressionen bis hin zu Krieg und Zerstörung in den politischen und
wirtschaftlichen Verhältnissen eine Ursache haben.
16
Zu jenen Biologen und Ethologen gehören zum Beispiel Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse.
Wien 1963) Bernhard Hassenstein (Verhaltensbiologie des Kindes. München 1976), Felix v. Cube
u.a. (Fordern statt verwöhnen. München 8/1995 - Neubearbeitung) und Irinäus Eibl-Eibesfeld: Die
Biologie des menschlichen Verhaltens. Weyarn 3/1997 erweitert und neu bearbeitet. Die anderen
hier genannten Ansätze aus Psychologie und Soziologie finden wir sowohl bei Eibl-Eibesfeld als
auch in den Arbeiten von Thomas Elbert von der Universität Konstanz, der davon überzeugt ist,
dass Menschen von Natur aus darauf angelegt sind, Gewalt auszuüben und sogar zu töten. (vgl. z.
B. ein Interview in der NZZ am Sonntag vom 07.09.2014, S. 20-21)
17
18
Busemann, Andreas: Beiträge zur pädagogischen Milieukunde. o.O. 1970.
Luitgart Brem-Gräser: Familie in Tieren. München 1975, S. 81. Vgl. zu diesem Thema auch Bettina
Mähler: Geschwister. Hamburg 1995. Forer, Lucille K. und Still, Henry: Großer Bruder – kleine
Schwester. Die Geschwisterreihe und ihre Bedeutung. Köln 1979. Walter Tomann:
Familienkonstellation – ihr Einfluss auf den Menschen und sein soziales Verhalten. München 1980
Aus der Fülle der Schriften über Geschwister und einem wirkungsvollen Umgang mit diesen
Problemen hier noch zwei Titel: Endres, Wolfgang: Geschwister … sie haben sich zum Streiten
gern. Weinheim 5/1994, Hier: S. 39. Heinz Lothar Worm: 5 Fragen an den Elternberater. 8. Band
der Reihe „Kinder sind Kinder“. München 1984
19
William Stern sprach in diesen Zusammenhängen von „Furcht“ (Psychologie der frühen Kindheit.
Darmstadt 1993, S. 444). Umgangssprachlich meinen wir mit Befürchtungen gleichsam „geringere“
Ängste.
20
Zittau, Jörg: Wer braucht denn noch Sex? Güterloh 2014. Vgl. auch: SWR 2 Sendung Wissen
/immer weniger Sex vom 27.05.2014
21
22
Sokrates, wirkte im vierten Jahrhundert v. Chr. in Athen
Vgl. dazu: http://eltern.t-online.de/taschengeld-2013-taschengeldempfehlungen-fuer-jedesalter-/id_16514274/index
23
24
In: SWR 2 Wissen am 19. Januar 2013; Manuskript S. 4. Autorin: Ulrike Lückermann
Dass diese Überlegung kritisch gesehen werden muss, zeigt uns der Charakter Voltaires, des
französischen Philosophen und Dichters aus dem achtzehnten Jahrhundert Einerseits war er sehr
wohl in der Lage zu sich selbst auf Distanz zu gehen und sich über sich selbst kritisch zu äußern.
Andererseits ist überliefert, dass er gern Schach spielte aber sehr ungern verlor. Kluge Freunde wie kluge Eltern in unseren Tagen bei ihren Kindern- halfen darum etwas nach, um ihn gewinnen
25
205
zu lassen. Voltaire freute sich dann jedes Mal sehr (wie unsere Kinder auch). Und ist es nicht schön,
anderen eine Freude zu machen?
26
Lückemann, SWR2 Sendung Wissen am 19.01.2013; Manuskript, S. 13.
Über Eigenschaften und Verhaltensweisen, die gegenwärtig in den Erziehungswissenschaften
zur „Lebensvorbereitung“ favorisiert werden vgl.: Hans Werner Heymann: Bildung trotz oder mit
Internet? In: Pädagogik Nr. 9/00, S. 7
27
Die Literatur zum Thema Lehrer und Schule ist sehr reichhaltig. Hier sei stellvertretend für alle,
auf Veröffentlichungen der „Aktion humane Schule“ verwiesen, in denen sich Analysen und
Empfehlungen für eine kindgerechte Schule in großer Zahl befinden. Vgl. dazu: „Humane Schule“.
Mitteilungsblätter ..., die seit 1974 erscheinen.
28
Von mir ausgewertet wurde das Material von zehn Familienwochenenden mit insgesamt 253
erwachsenen Teilnehmern und 186 Schulkindern.
29
Matthias Pöhm hat über dergleichen Situationen gearbeitet und einen Ratgeber verfasst, wie
Kinder aus einer Opferrolle herauskommen können: „Schlagfertig auf dem Schulhof“ 2008
http://www.rhetorik-seminar-online.com/pohm-letter-archive/poehmletter91#1
30
Sowohl die Schulgesetze der Bundesländer erteilen den Lehrerinnen und Lehrer und Lehrer
gleichlautende Aufträge als auch die Mehrheit Eltern in der Bundesrepublik haben vergleichbare
Erwartungen an die Schule. Vgl. dazu Falko Rheinberg, Rainer Bromme und Bernd Weidenmann,
Weinheim 4/2001
31
Vgl. dazu auch das Manuskript der Sendung „Kindheit im Leistungswahn. Wenn Förderung zum
Zwang wird“ von Christina Bergengruen.SWR 2: Wissen vom 29.11.2013
32
Einen guten Überblick bieten die „Jugendmedienstudien“ an. So zum Beispiel die JIM Stuttgart
2012, die KIM Stuttgart 2013 und die miniKIM Stuttgart 2013 – Die Studienkonzeptionen und die
Ergebnisse der Untersuchungen stehen als PDF-Dateien zum Download zur Verfügung.
http://www.mpfs.de/?id=527
33
Auf eine mögliche Gefährdung der Geistigen und körperlichen Entwicklung von Kindern durch den
ständigen Umgang mit Handy, Smartphone u. ä. macht Manfred Spitzer in seiner Schrift über
„Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer, München
2014) aufmerksam.
Im Freizeitmonitor für 2014 wird nachgewiesen, dass Fernsehen das Freizeitverhalten der
Deutschen dominiert. http://www.stiftung fuerzukunftsfragen.de
Kurz, Robert: Bildungsproletariat und Elitenbildung. Anmerkungen zur Ökonomie des
kulturellen Notstands. Manuskript, S. 3
34
Vgl. dazu die Ergebnisse der Studie des Kriminologisches Forschungsinstituts von Niedersachsen
(KFN) unter der Leitung von Professor Christian Pfeiffer (SWR 2 / Aula vom 11. 02. 2007 und die
Veröffentlichung dieser Studien am 15. 02. 2008: Die Pisa-Verlierer - Opfer ihres Medienkonsums)
35
"Strukturellen Jugendschutz ausbauen". In: bildung und wissenschaft Nr. 7-8/2007, S. 30-31.
Vgl. dazu auch den entsprechenden Abschnitt im Kapitel über den Umgang mit dem Computer!
36
Vgl. dazu die Beobachtungsergebnisse von Maya Götz referiert von Sabine Riemann in: Die
Teletubbies. In: Grundschule Nr. 7-8/2000 S. 23
37
Über den „Ethikbedarf der Medien“ finden sich im Septemberheft der Fachzeitschrift der Aktion
Jugendschutz (III / 2000) einige Beiträge. Die sich eher an das Kommunikationssystem von
Wissenschaftlern richtenden Aufsätze von Stefan Aufenanger und Andreas Greis bieten dem
einzelnen Pädagogen allerdings keine Werthorizonte an, auf die er seine medienpädagogischen
38
206
Strategien beziehen könnte. Dagegen deutet der Verweis auf das bundesweite Medienprojekt
„Spitze Feder“ in dem Beitrag von Heike Mensing-Schauer auf Bemühungen, wenigstens in Bezug
auf das Fernsehen einen kritischen, wertorientierten Dialog zwischen „Fernsehmachern und –
konsumenten“ in Gang zu bringen.(S. 16 – 18 dieser Ausgabe).
Vgl. dazu auch die Mitteilungen der Landesbildstellen Baden-Württemberg „Analog und
Digital“. In der Ausgabe Nr. 2/1999 werden z. B. eine Reihe von Projekten vorgestellt, die in
Schulen durchgeführt werden und über die Funktionen eines Computer unterstützten Unterrichts
nachgedacht.
40
www.isfb.org/Forschung/Forschungsergebnisse; vgl. auch
http://www.urbia.de/magazin/schulkind/freizeit-und-medien/kein-eigener-computer-u...
39
41
http://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/verhalten/Dokumente/Ambulanz_Flyer.pdf
2014http://www.t-online.de/eltern/familie/id_70603878/kids-verbraucheranalyse-2014-jedesvierte-kind-hat-ein-smartphone.html
42
43
Drösser, Christoph veröffentlichte in der „ZEIT“einen Beitrag:
„Macht mal Pause!“ Die Soziologin Sherry Turkle über Kommunikation per SMS und Facebook,
Entfremdung und Verbindlichkeit in Beziehungen.
http://www.zeit.de/2011/09/Interview-Sherry-Turkle
44
Vgl. die jeweils aktuellen Informationen bei:
http://www.iconkids.com/deutsch/04publikationen/04_1/studien.html
Vgl. hierzu die Fachbeiträge von u.a. Sigrid Weber in: http://www.kindergarten-heute.de: „Wie was und
warum Kinder fernsehen. Oktober 1999 ff http://www.kindergartenheute.de/artikel/themenpakete/heft_inhalt.html?k_beitrag=3521070
45
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