Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 Interpretation von literarischen Texten (Beispiel: „Wachsfiguren“ von Gabriele Wohmann Schritt 1: Einleitung Eventueller kreativer Einstieg (z. B. Dialog, kurze Szene) Daten zum Text (Titel, AutorIn, Textsorte, …) Definition des Themas / zentraler Themen (z. B. Behinderung, Kommunikation, Isolation, …). (Anmerkung: Das Thema muss im Normalfall ein Begriff sein; eventuell eine Phrase („Es geht um ein Kind, das wegen seiner Behinderung diskriminiert wird“) Fabel (kurze Inhaltsangabe, redziert auf die ganz zentralen Handlungsschritte) Schritt 2: Beschreibender Hauptteil Beschreiben: „objektiv“, also am Text belegbar Beschreiben zentraler Textmerkmale (eventuell auch abhängig von der Interpretationsfrage): FORM: Wie wird erzählt Erzählperspektive („Wahrnehmungsfilter“): auktorialer Erzähler – personaler Erzähler – Ich-Erzähler (Achtung: der personale Erzähler und der Ich-Erzähler haben einen subjektiven und „eingeschränkten Blickwinkel“; als LeserInnen müssen wir uns von ihrer Wahrnehmungsweise eventuell distanzieren und eine eigenständige Außenperspektive entwickeln; personaler Erzähler und IchErzähler beschreiben Handlung und Figuren nicht so, wie sie „sind“, sondern so, wie sie sie selbst wahrnehmen) Erzählstruktur (Handlungschronologie Erzählchronologie): lineares Erzählen Rückblenden; ein Erzählstrang mehrere Erzählstränge Aufbau; Erzählabschnitte (Raum, Zeit, Handlung) Erzählzeit im Vergleich zur erzählten Zeit: zeitraffendes Erzählen zeitdeckendes Erzählen zeitdehnendes Erzählen (dann meistens: Dominanz der inneren Handlung) Formmerkmale (z. B. Kurzgeschichte: szenischer Ausschnitt, „Alltagssituation“ symbolische Bedeutung / Schlüsselsituation; typisierte Figuren, Alltagsfiguren, unmittelbarer Einstieg, offener Schluss, Symbolik, psychische / existentielle Grundsituation / Grundthemen) INHALT: Was wird erzählt Raum und Zeit als „Koordinaten“: WANN und WO spielt eine Geschichte? (konkreter Ort/Zeitpunkt mehr oder weniger grob bestimmbarer Handlungsraum / Zeitraum symbolischer Raum / „zeitlos“ Figuren 1: ProtagonistIn Persönlichkeitsmerkmale „von außen nach innen“: Daten (Geschlecht, Alter, soziale Position / Rolle, …) Verhalten („äußere Handlung“) Erleben („innere Handlung: Gedanken, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle, …) bekannte / im Text definierte Merkmale wahrscheinliche / aus dem Text ableitbare Merkmale unbekannt / unbestimmt 1 Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 individualisierte Figur typisierte Figur statische Figur (keine Entwicklung / Veränderung) dynamische Figur (Entwicklung, Veränderung) Figuren 2: Nebenfiguren Beschreibung nach denselben Kriterien; auf ihre wesentliche Funktion reduziert Figuren 3: Beziehung Protagonist – Nebenfiguren Soziale Beziehung zwischen Protagonist und Nebenfiguren Verhalten Protagonist Nebenfiguren Kommunikation Protagonist Nebenfiguren Wahrnehmung Schlüsselstellen Schritt 3: Interpretierender Hauptteil Interpretieren = „hineintragen“ / „dazwischentragen“ = subjektiv = persönlicher Zugang zum Text / Deutung / Verbindung von Text und „außertextlicher Wirklichkeit“ ---Die Frage: „Was wollte der Autor damit sagen?“ ist ausnahmslos verboten! --drei Ansätze, für uns ist der rezeptionsorientierte Ansatz zentral! produktionsorientierte Interpretation: Text AutorIn und seine / ihre Zeit (für uns eher nebensächlich; Ansatz der Literaturwissenschaft) motivgeschichtliche oder werkgeschichtliche Interpretation: Text andere literarische Werke zum selben Thema; Deutung eines Textes in unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten (z. B. „Faust“, „Nibelungenlied“ im NS) rezeptionsorientierte Interpretation: Text Erfahrungshintergrund des Lesers / der Leserin: Vergleich Handlungszeit heute: Wie aktuell ist der Text? Wie gehen wir mit den im Text angesprochenen Themen / Problemen heute um? Was hat sich verändert? Was ist gleich geblieben? Vergleich Lebenswelt des Protagonisten Lebenswelt realer Menschen in einer vergleichbaren Situation (Protagonist „Hase“ Kinder, die ausgegrenzt werden, weil sie „anders“ sind) Vergleich Schlüsselthema im Text außerliterarische Bedeutung des Themas (z. B. Behinderung) eigener / persönlicher Zugang zu diesem Thema Generell wichtig: Verbindung von Text und eigenen Gedanken auf eine nachvollziehbare und schlüssige Weise (sonst interpretieren wir am Text vorbei „ins Blaue“ Die Interpretation muss dem Text als Ganzem gerecht werden; wir dürfen nicht einfach einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang reißen, ohne den Kontext, in dem sie stehen, zu berücksichtigen. Schritt 4: Abrundung, Schluss Abrundung, „Türschließer“, z. B. persönliche Bewertung, persönliches Resümee Appell abschließende / abrundende Frage 2 Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 Analysebeispiel „Wachsfiguren“ Themen körperliche Behinderung eines Kindes („Hasenscharte“); Kommunikation / „Sprachlosigkeit“; Ausgrenzung, soziale Isolation, psychische Gewalt gegen Kinder Depression, Suizidalität bei Kindern „Angeblickt-Werden“ als Leitmotiv / Thema (Abwertung – neutraler Blick – Bewunderung) Perspektive Personale Perspektive Eingeschränkter Blickwinkel des Protagonisten (Kind, „blinde Flecken“: Protagonist kennt den eigenen Namen nicht; subjektive Wahrnehmung der anderen Figuren; Reduktion auf das für den Protagonisten Wesentliche, z. B. Lilia: Kleid; Tante Else: ihre zu eifrigen Arme; Onkel Willi: Stimme, „Sonntagsgesicht“) Wahrnehmung / Erleben / Fühlen „Hases“ (also die innere Handlung) ist für den Leser erkennbar, nicht aber für die anderen Figuren (Lilia, Onkel Willi, Tante Else) der Leser erkennt die sozialen Probleme des Protagonisten, sein Einfühlungsvermögen, seine „Sensibilität“, sein Scheitern im Bemühen, sich zu artikulieren, seine Suizidalität Distanzierende Betrachtung: Figuren (Onkel Willi, Tante Else, …) werden über ihr Verhalten und ihre Sprache „entlarvt“ (Tante Else: überbehütend, meint es gut, wird den Bedürfnissen des Kindes aber nicht gerecht; „entmündigt“ den Protagonisten, indem sie „für ihn spricht“ anstatt mit ihm z. B. Z 27: „Es tat ihm leid um Lilias Kleid, weil alle Aufmerksamkeit … wie immer auf ihn bezogen war.“ Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten, die er aber nicht äußert; weil der Protagonist nicht spricht, haben alle anderen Figuren zu dieser Gedankenwelt keinen Zugang; der Protagonist kann sich nicht mitteilen; z. B. Z. „Onkel Willi roch festlich nach den Blumen und Kräutern seiner Rasierpaste“ Onkel Willi wird so beschrieben, wie „Hase“ ihn erlebt / wahrnimmt; nicht so, wie er tatsächlich ist; Aussagen, die der Protagonist hört und deutet; z. B. „Was macht Hase für ein böses Gesicht, he“ Erzählstruktur Abschnitte: Gespräch in der Wohnung (Beengtheit; Stress für den Protagonisten); kurze Szene (Gespräch); zeitdeckend; Filterung der äußeren Handlung durch die Wahrnehmung des Protagonisten; Fragmentierung der äußeren Handlung Straßenbahnfahrt (stark gerafft; Verallgemeinerung; typische Situation, wie der Protagonist sie schon sehr oft erlebt hat; Angestarrt-Werden) Wachsfigurenkabinett (Weite, Wunsch nach Identität und Akzeptanz wird in die Wachsfiguren projiziert; Phantasie, selbst eine Wachsfigur zu werden und das Atmen einzustellen); Dominanz der inneren Handlung Einsträngige Handlung Chronologisches Erzählen; kurze gedankliche Rückblenden / reduziert auf Andeutungen (Operation; „nie war ein Friede stabil genug“) 3 Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 Raum / Zeit Raum: a) Wohnung der Familie: „privater Raum“; Vorraum, Enge einfache Wohnung, einfache soziale Verhältnisses, kleinbürgerliches Milieu b) Straßenbahn, Kassenraum (öffentliche Räume, nicht näher beschrieben; viele Menschen; Thema des „Angeblickt-Werdens“) c) Wachsfigurenmuseum; großer Saal; Weite, Platz, Raum Konkrete Bestimmung fehlt Allgemeingültigkeit / Beispielhaftigkeit Figuren wahrscheinlich 60er- oder 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts (einfache Wohnung ohne Bad; Museumsbesuch; misslungene Operation) Konstellation: Familie körperlich behindertes Kind typisierte Figuren aber: individuelle Unterschiede sind erkennbar; keine Entwicklung / Veränderung während der Handlung Lilia: „schön“, attraktiv, neues Kleid Bewundert-Werden // „Hase“ als Konkurrenz // Enttäuschung über sein Mitgehen Onkel Willi: normalerweise „hartes Gesicht“, am Handlungstag „Sonntagsgesicht“, oberflächlich jovial, unterschwellig aggressiv, wenig einfühlsam, verlangt von „Hase“ Dankbarkeit dafür, dass er mitdarf; missversteht „Hases“ Reaktionen als Undankbarkeit; wirkt auf das Kind bedrohlich und aggressiv; löst Angst aus; Tante Else: überbehütend / überfürsorglich / einengend; abwertende / infantilisierende Sprache („es“ // „Häschen“); „Hase“ fühlt sich von ihr nicht wirklich beschützt und bevormundet, „ihre Arme waren zu eifrig“ „Hase“: Protagonist körperliche Behinderung („Hasenscharte“) Beeinträchtigung beim Sprechen und in der Mimik // das Lachen schmerzt ihn sprachliche (verbale und nonverbale) Isolation kann sich nicht mitteilen / wird missverstanden / wird als geistig behindert betrachtet, obwohl er eine körperliche Behinderung hat / Isolation „Hase“ Verniedlichung, Entmenschlichung, Ignorieren der eigenen Identität (Name als Kern der Identität) fällt auf // zieht (abwertende) Blicke anderer Menschen auf sich innere Sensibilität / Einfühlungsvermögen (er versteht Lilias Wunsch, mit dem neuen Kleid bewundert zu werden) Auflösung: Wunsch, eine Wachsfigur zu werden (Verbindung von Tod / Aufhören zu atmen einerseits und Identität (haben einen Namen) und positvinteressiert Angeblickt-Werden Form Kurzgeschichte (unmittelbarer Einstieg, offener Schluss, Alltagsszene mit psychologisch-philosophischer Tiefenstruktur, Symbolik) Symbole Wachsfiguren (Titel!) Lilias Kleid versus Hases Behinderung Name „Hase“ 2. Interpretation Thema Behinderung Darstellung der Situation eins behinderten und der Reaktion / Haltung seiner Umgebung; Kritik an dieser Haltung Thema Identität Sein versus Wahrgenommen-Werden; Namenlosigkeit als Identitätslosigkeit; Angeschaut-Werden als Abgewertet-Werden / Bewundert-Werden / AkzeptiertWerden Unfähigkeit Hases, sich mitzuteilen // Missverständnisse aufzulösen Thema Isolation / Sprachlosigkeit Kindes 4 Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 Beispiel für eine Interpretationsarbeit (gekürzt, korrigiert, Schülerarbeit, alte Matura, deshalb zu lang) Interpretation: „Wachsfiguren“ von Gabriele Wohmann Die Kurzgeschichte „Wachsfiguren“ von Gabriele Wohmann handelt von einem Jungen, der durch eine „Hasenscharte“ behindert und entstellt ist. In der Kurzgeschichte geht es soziale Gewalt, um Ausgrenzung, aber auch um die Suche nach Identität. Zentral ist, dass das Bedürfnis des Protagonisten nach Akzeptanz missachtet wird. Tante Else und Onkel Willi wollen an einem Sonntag mit Lilia einen Ausflug in ein Wachsfiguren-Museum machen. Auch der Protagonist, ein körperlich behinderter Junge, der nur als „Hase“ angesprochen wird, darf mit. Er würde lieber zuhause bleiben, da er weiß, dass er durch sein entstelltes Äußeres überall die Blicke auf sich zieht. Aber er kann seinen Wunsch nicht mitteilen. Im Wachsfigurenkabinett bleibt er zurück. Er stellt sich auf ein freies Podest und wünscht sich, selbst eine Wachsfigur zu sein. Er entwickelt die Fantasie, das Atmen einzustellen. Die Handlung der Kurzgeschichte „Wachsfiguren“ findet an zwei Orten statt, nämlich in der Wohnung der Familie und im Wachsfigurenkabinett. Handlungszeitraum dürften die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts sein. Die Erzählperspektive ist personal. Die äußere Handlung ist nur fragmentarisch beschrieben und auf das reduziert, was dem Protagonisten wesentlich erscheint. Seine Gedanken- und Gefühlswelt, also die innere Handlung, ist in der Erzählung dominant und den LeserInnen unmittelbar zugänglich. So können wir – wenn wir uns in den Protagonisten und seine Wahrnehmungswelt hineinversetzen – erkennen, wie sehr er in einer sozialen Umwelt leben muss, in der seine Bedürfnisse nach Kommunikation, Anerkennung und Akzeptanz missachtet werden. Gleichzeitig lernen wir auch ein Kind kennen, das sich durch sehr hohe Reflexionsfähigkeit und Empathiefähigkeit auszeichnet. Den Menschen in der sozialen Umgebung des Protagonisten bleiben diese Bedürfnisse und Fähigkeiten des Protagonisten allerdings verborgen. Der Protagonist ist ein etwa achtjähriger Junge. Wir müssen aus dem Kontext rekonstruieren, dass er eine Behinderung durch eine „Hasenscharte“ hat. Eine Operation ist offensichtlich nicht wirklich geglückt. Deshalb fallen dem Protagonisten das Sprechen, vor allem aber auch mimische Reaktionen (Lächeln) sehr schwer. („Er sagte nichts, die Lippen ließen sich nicht bewegen.“ „Hase gab sich Mühe zu lächeln, aber das tat immer noch ein bisschen weh, fast zwei Jahre nach der Operation …“) Genau dadurch kann er sich seiner sozialen Umgebung nicht mitteilen. Sein Onkel macht ihm das zum Vorwurf: „Was macht er für’n böses Gesicht, wenn er mitgehen darf, he?“ Durch die personale Erzählhaltung wird deutlich, dass der Protagonist soziale Situationen und „Stimmungen“ sehr genau wahrnimmt und dass er sehr einfühlsam ist. So bemerkt er an Lilias Tonfall, dass Lilia über die Vorstellung, dass er ins Wachsfigurenkabinett mitgeht, nicht begeistert ist: „Ach so, Hase geht auch mit, sagte Lilia mit fallendem Ton.“ Er hat Angst vor der Aggressivität von Onkel Willi, obwohl er spürt, dass Onkel Willi gerade sein „Sonntagsgesicht“ hat. Er spürt auf eine unangenehme Weise, dass Tante Lilia ihn nicht nur in Schutz nimmt, sondern irgendwie auch „entmündigt“ oder einengt: „Ihre Arme waren zu eifrig“. Der Protagonist wird von den anderen mit dem Spitznamen „Hase“ bezeichnet. Das führt dazu, dass er seinen eigenen Namen nicht kennt. Darunter leidet er sehr. Und er wünscht sich sehnsüchtig, einen Namen zu bekommen. („Wie hieß er eigentlich wirklich? Hatte er einen Namen? Wie die andern: Willi, Else, Lilia. Kein Gesicht, keinen Namen“) Dabei ist offensichtlich, dass er sich vor allem deshalb „nach einem Namen“ sehnt, weil der eigene Name ein wichtiger Teil der eigenen Identität ist. Mit dem Namen angesprochen zu werden würde für ihn aber wohl auch bedeuten, als Mensch bzw. als Kind mit unterschiedlichen Eigenschaften wahrgenommen zu werden und nicht einfach nur auf seine Behinderung reduziert zu werden. Themen, die vor allem im Wachsfiguren-Museum offensichtlich werden, sind das Bedürfnis nach Identität und das Bedürfnis nach Akzeptanz. „Häschen“ macht sich Gedanken darüber, wie er eigentlich heißt. Alle anderen Menschen „haben einen Namen“; er nicht. („Willi, Else, Lilia. Kein Gesicht, keinen Namen“). Diese Namenlosigkeit, diese Identitätslosigkeit machen ihn „schläfrig vor Kummer“. Er bemerkt, dass die „Wachsfiguren, die lächelnd und steif und unantastbar dastehen, Schöne und Hässliche und Krüppel, Könige, Verbrecher“ alle einen Namen tragen. Sie werden so akzeptiert, wie sie sind. Er beschließt, sich zu den Wachsfiguren zu stellen. Wenn er dort lange genug steht, so überlegt er, stellt sicher jemand fest, dass da eine namenlose Figur steht. Vielleicht bekommt er auf diese Weise einen Namen, eine Identität. Im Thronsaal setzt er seine Überlegungen in die Tat um, er steigt auf ein Podest. Hier steht er, „ohne zu lächeln, wie angenehm“ und „spürt sein Gesicht, die Augen, die Nase, die Lippenwunde; er spürt das Licht.“ Zwischen all den Figuren, in der Anonymität, kann er sich plötzlich spüren, kann er selbst sein, ohne es jemandem Recht machen zu müssen. Von seinem Podest aus sieht er Lilia durch den angrenzenden Saal laufen und stellt fest, dass dies doch noch ein Tag für Lilias Kleid ist. Und er beschließt, „es nicht mehr lange hinauszuzögern, sondern so bald wie möglich das Atmen einzustellen.“ Die Beziehung der Nebenfiguren zum Protagonisten werden – trotz der Kürze der Geschichte – ziemlich deutlich: Der Protagonist spürt, dass er für Lilia vor allem ein Konkurrent ist, wenn es um die Aufmerksamkeit anderer Menschen geht. Wenn „Hase“ dabei ist, zieht er alle Blicke auf sich. Sie würde aber wohl gerne selbst im Mittelpunkt stehen, denn 5 Lösungsvorschlag: Interpretation „Wachsfiguren“ von Grabriele Wohmann; BRP Deutsch; Semester 2; 16. 12. 2015 für sie bedeutet Aufmerksamkeit Anerkennung oder Bewunderung. Sie trägt ein schönes, neues Kleid und sieht damit ganz erwachsen aus. Doch sie befürchtet wohl, dass niemand sie und das Kleid beachten wird, wenn der Protagonist mit seinem entstellten Gesicht dabei ist. Tante Else wiederum kauert so dicht neben Häschen, dass er ihre Wärme spüren kann. Sie stellt gleich klar, dass „es, das Häschen“ diesmal mitgehen soll. Sie scheint sich mit schützender Hand vor Häschen zu stellen. („Natürlich geht das Häschen mit“; „Na lass ihn doch“). Aber das Problem ist, dass sie den Protagonisten bevormundet, an seiner Stelle spricht, für ihn entscheidet. So „behindert“ auch sie den Protagonisten auf eine ihr selbst offenbar nicht bewusste Art. Onkel Willi spricht an diesem Tag mit seiner „Sonntagsstimme“, er „roch festlich nach den Blumen und Kräutern seiner Rasierpaste. Sein speckiges Gesicht war nicht hart wie an Werktagen, sondern vom heißen Wasser aufgequollen und rot“. Es wird nicht klar, wie Onkel Willi sich an Werktagen verhält, aber ganz offensichtlich ist er dann nicht so „weich und sonntäglich gestimmt“ wie an diesem ganz besonderen Tag. Immer wieder schimmert bei Bemerkungen von Onkel Willi – trotz dieses Festtages – Aggressivität und Grobheit durch („Was macht er für’n böses Gesicht, wenn er mitgehen darf, he?“; „Da, seht euch das an, da schleppt man ihn mit, und er hält es nicht für nötig, sich die Figuren zu betrachten. Der Eintritt hat Geld gekostet, hörst du?“) Gerade einem sensiblen Kind muss diese aggressive und teilweise auch abwertende Sprache Angst machen. Es wird sich noch mehr in sich selbst zurückziehen, als das wahrscheinlich ohnehin schon der Fall ist. All diese Details lassen den Schluss zu, dass „Häschen“ in einer äußerst lieblosen Atmosphäre aufwächst. Es wird für sein leibliches Wohl gesorgt. Auch sein Gesicht ist operiert worden. Er wird auch hin und wieder zu Ausflügen mitgenommen. Er wird aber nicht liebevoll behandelt, er wird nicht akzeptiert, und er wird nicht gefördert. Sein Bemühen, sich trotz seiner Schmerzen zu artikulieren, wird übersehen. So lernt er nicht zu sprechen und sich mitzuteilen. Er hat resigniert und sich in seine innere Gedankenwelt zurückgezogen. Außerdem wird er von seinen Verwandten auf sein entstelltes Äußeres reduziert. Sein Gesicht, „das kleine schreckliche Gesicht, schartig verzerrt und riesig rot geflügelt von den Ohrschalen“, scheint es ihnen unmöglich zu machen, einen Blick auf den kleinen Menschen, auf seine kleine Seele zu werfen. Seine Verwandten betrachten ihn nicht als Kind, sondern als entstellte Kreatur („Häschen mit der Hasenscharte, Mäuschen mit den Fledermäuschenohren“), die schon durch den Spitznamen auf ihre Behinderung reduziert wird. Ob er zusätzlich zu der seelischen Missachtung auch noch körperliche Misshandlungen erfährt, bleibt offen. Den Jungen beunruhigen jedoch Tante Elses körperliche Nähe und ihre allzu eifrigen Arme. Und vor der Aggressivität von Onkel Willi hat er offenbar Angst. Der Protagonist ist ein Kind, das durch das Umfeld, in dem er lebt, sehr viel stärker behindert wird als durch seine eigentliche körperliche Behinderung. Er hat eine zwar traurige und bedrückende, aber reiche Gefühls- und Gedankenwelt. Er leidet sehr unter dem Verhalten der anderen Familienmitglieder und unter der ihm aufgezwungenen Namens- und Identitätslosigkeit. „Häschen“ kann sich schwerlich als Mensch fühlen, wenn er nicht einmal von seinem engsten Umfeld, von seinen (wie es scheint) einzigen Bezugspersonen wie ein Mensch behandelt wird. Onkel Willi und Tante Else machen ihn zu einem Niemand, fördern und unterstützen ihn nicht und lassen ihm keine Chance, sich zu einem selbstbewussten und akzeptierten Menschen zu entwickeln. Leider wird der Wert eines Menschen oft daran gemessen, wie intelligent, leistungsfähig, schön, mächtig, jung oder gesund er ist. „Wachsfiguren“ ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Dabei verletzen wir nicht nur die Würde von Menschen, die bei diesem Wettkampf nicht mitmachen können. Wir übersehen auch, dass Menschen, die „anders sind“, oft sehr viele Fähigkeiten und Talente haben; manchmal trotz ihrer Beeinträchtigung; manchmal aber auch gerade wegen ihrer Behinderung. Ich selbst habe einen jüngeren Bruder mit einer Behinderung. Daher weiß ich, welch große Herausforderung es für Eltern und Geschwister ist, diesen Kindern und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Viele Ehen zerbrechen unter der Belastung. Viele „gesunde“ Geschwister kommen zu kurz, weil das behinderte Kind sehr viel Betreuung benötigt. Kinder mit einer Behinderung sind manchmal schwierig und überfordernd. Mein Bruder hat als Kind oft tagelang durchgeschrien. Er hat sich nur beruhigen lassen, wenn er getragen worden ist. Als größere Schwester musste ich sehr viel Rücksicht nehmen und vieles „mit mir selbst ausmachen“, weil meine Mutter kaum Zeit für mich hatte. Glücklicherweise gibt es für Familien mit einem behinderten Kind heute sehr viel mehr Unterstützungsmöglichkeiten als zur Zeit, in der die Geschichte spielt. Meine Eltern konnten sich mit Sozialarbeitern und anderen betroffenen Eltern austauschen, im Umgang mit einem Bruder bekamen sie Unterstützung durch eine Ergotherapeutin und eine Frühförderin. So hatte mein Bruder die Chance, sich trotz seiner Behinderung gut zu entwickeln und zu einer „interessanten Persönlichkeit“ zu werden. Der Junge in der Geschichte „Wachsfiguren“ hat diese Chance offensichtlich leider nicht. „Wachsfiguren“ spiegelt die sozialen Verhältnisse in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Bei uns hat sich seitdem vieles zum Besseren gewendet. Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch heute noch viele Kinder in Verhältnissen aufwachsen, in denen ihre Bedürfnisse nach Förderung und Akzeptanz missachtet werden. Insofern ist die Geschichte von zeitloser Aktualität. 6