Nils Berkemeyer Pädagogische Fallanalyse – Der Fall in der Pädagogik und der Fall der Pädagogik Eine Vorlesung über pädagogische Fallanalyse zu halten, kann im Grunde ein ganz einfaches Unterfangen sein. Wir beschäftigen uns zum einen mit dem Schüler, der Schülerin und fragen zudem ein wenig, nicht allzu intensiv, wie wir diese Beschäftigung möglichst sauber, was auch immer dies dann bedeuten mag, durchzuführen haben. Wir suchen also nach dem einen oder anderen Beobachtungsbogen, nach Formen der Gesprächsführung und einigen Instrumenten mehr, die uns einen wahren, durchdringenden, analytisch scharfen Blick auf unseren Schüler, den wir sodann ja als Fall auserkoren haben, ermöglichen. Warum aber interessiert uns der Fall? Spielt der Fall in der Schule eigentlich wirklich eine Rolle und wenn ja, in welcher Form und zu welchem Zweck? Haben sie sich jemals als Fall der Pädagogik gefühlt, welche Gefühle sind damit verbunden? Und wann ist man eigentlich Fall und wann nur Schülerin oder Schüler? Ich möchte hier ganz bewusst nicht mit einer trivialisierten Professionssemantik von individueller Förderung und der Notwendigkeit der Diagnostik beginnen. Erstens glaube ich, dass sie der Schule insgesamt fremd ist und womöglich auch bleibt und zweitens, dass sie eine Reformsemantik darstellt, die neue Versprechungen ins Feld führt, die letztlich und vielleicht vor allem als Ablenkungsmanöver des Gewöhnlichen zu verstehen sind. Ich möchte anders beginnen und zwar frei den eigenen Suchbewegungen folgend und die Errungenschaften der Disziplin der Erziehungswissenschaft und anderer vorerst beiseitelegen. Beobachtungen über das Entstehen eines Falls Es gibt einige recht alltagsweltliche und alltagssprachliche Verwendungen des Wortes „Fall“, welche vielleicht bekannter sein mögen als der Fall in der Pädagogik. Ich denke dabei zum Beispiel an den so lieb gewonnenen Kriminalfall, so er denn Fiktion und nicht Realität ist. Der Kriminalfall ist vielleicht der bekannteste Fall unter den Fällen. Wie kommt es zu einem Kriminalfall? Allgemeiner: Wie kommt es, das etwas der Fall ist oder wir von einem Fall sprechen? Im Falle des Kriminalfalles lässt sich sagen, dass er spätestens dann in die Welt tritt oder zum Fall einer sozialen Wirklichkeit wird, wenn er zur Anzeige gebracht wird; also etwa die Polizei gerufen wird oder sich jemand dem Finanzamt gegenüber offenbart. Es ist natürlich auch möglich, dass etwa die Polizei einen Täter inflagranti erwischt und so selbst zum Anzeigenden wird. Es gibt also, wenn man so will mindestens drei Formen des zur Anzeigebringens: 1. Die Anzeige, die aus einer zufälligen Beobachtung entsteht, 2. die Selbstanzeige, die aus Scham oder Selbstschutz- und Nutzenerwägungen entsteht und 3. die „Profianzeige“, jene also, die berufsmäßig zu verstehen ist. Alle drei dieser Anzeigetypen setzen voraus, dass die Personen, die Anzeige erstatten, einen Fall erzeugen wollen, vielleicht auch nur wollen müssen. Sie verheimlichen ihre Beobachtungen und ihr Wissen nicht, vielleicht auch nur nicht länger mehr. Der Kriminalfall setzt also einen Willen voraus, der den Fall erst zum Fall werden lässt. Dieser Wille wird strukturell durch Institutionen des Rechts und des Staates getragen, unterstützt, aber auch eingefordert und letztlich, wenngleich in sehr unterschiedlicher Form, belohnt. Es gibt dann noch eine vierte Form der Anzeige, die eng im Zusammenhang mit dem steht, was wir als Denunziation bezeichnen. Wenngleich es auch hier zur Auslösung von Belohnungsmechanismen kommen kann, ist sie der Definition nach jedoch gesellschaftlich verpönt, ja eine Form der Straftat, die keine staatliche Bestrafung erfahren kann und darf. Das Denunziantentum (Quelle???) ist eine schlimme Sache, je nach Standpunkt, allerdings. Und ich fürchte, dass die Schule von dieser Anzeigeform nicht verschont ist, ganz im Gegenteil, womöglich ist das Denunziantentum das „diagnostische Instrument“, welches in der Schule zu den meisten Fallanalysen führt, die im Modus dieses Anzeigetyps dann jedoch schon vorab entschieden sind im Kontext von Schule, da der Lehrer – politisch besehen – innerhalb der Schule die Gewaltenteilung aufhebt: Er erlässt die Regeln, überwacht ihre Einhaltung und sorgt für die Bestrafung. Vielleicht ist die hiermit in Verbindung stehende Gefahr/Verlockung eines Allmachtsgefühls, welches ja aus Formen der eigenen Schwäche und eben nicht Stärke entstehen, eines der immer noch vorherrschenden verdeckten und unbewussten Motive, den Lehrerberuf oder Professorenberuf zu ergreifen (vgl. hierzu auch Adorno, Tabus über den Lehrerberuf). Wir werden diesen Gedanken bei der weitergehenden Übertragung auf die Schule nochmals aufgreifen. Was allen Anzeigeformen jedoch gemeinsam ist, ist die Tatsache, dass die Anzeige die Anwesenheit des „Nicht-Normalen“ zur Sprache bringt oder weniger normativ, die Anzeige zeigt auf das Abweichende, also etwas was uns auffällt, weil wir es nicht gewohnt sind, wobei Gewohnheit nun leider einen höchst individuellen Prozess des Daseins beschreibt und insofern jede Gewohnheit auch ungewöhnlich sein kann. Was kann man nun sehen, nähert man sich so an den Fall? Nun zumindest eines, der Fall ist ein Resultat der Differenzproduktion und diese ist multifaktoriell prädeterminiert. Diese Mechanismen der Selektion sind nicht immer erkennbar, vor allem dann nicht, wenn der Fall „klar erscheint“. Der Fund einer Leiche muss zum Fall werden, und die Tötung von Mitmenschen anderer Herkunft? Natürlich wird auch dies zum Fall, hier ist nicht mehr die Fallselektion entscheidend, sondern der Umgang mit dem Fall, ein weiteres Thema. Ein anderer gesellschaftlicher Teilbereich befasst sich ebenfalls sehr ausgiebig mit Fällen und zwar das Gesundheitssystem. So sagen wir ja auch in förmlichen Zusammenhängen, dass es einen Krankheitsfall in der Familie gibt, der nun die eine oder andere Auswirkung nicht nur auf den Fallverursacher hat (doch wer ist das, der „Kranke“ oder der, der die Krankheit beobachtet?). In den meisten Fällen, vor allem denjenigen, die weniger dramatisch sind, bemerkt der „Kranke“ selbst sein Unwohlsein. Fällt dieses Gefühl des Unbehagens so aus, dass es uns beunruhigt, weil es uns unbekannt ist oder es aus einem ganz offensichtlichen Grund entsteht, etwa weil wir in einer bestimmten Hinsicht stark eingeschränkt sind, dann suchen wir von allein, aus freien Stücken einen Arzt auf. Also einen Spezialisten, der Abhilfe verspricht. Nur in den drastischen Fällen werden wir, wenngleich meistens wohl mit unserer Zustimmung, den Ärzten übergeben. In diesen Fällen spricht man dann ja auch von Notfällen, die keinen Aufschub dulden, da unser Leben in Gefahr ist oder aber bleibende Schäden bei Nichtbehandlung zu befürchten sind. Auch in diesem Bereich gibt es eine unerfreuliche Variante, dem Denunziantentum nicht vergleichbar, aber doch als Entartung des gewöhnlichen Verhältnisses der Akteure zu bezeichnen, nämlich den Hypochonder. Dieser wird von einer Allgegenwart des Unwohlseins gepeinigt und gleichsam befriedigt. Meine Vermutung ist, dass wir auch von einem schulischen Hypochonder ausgehen müssen, jene Erscheinungsform, die immer, ganz gleich zu welchem Anlass, das eigene Versagen fürchtet und ohne Hilfe und Beistand das, vielleicht nicht nur schulische Leben bedroht sieht. Im medizinischen Bereich entsteht der Fall also aus einer Verpflichtung zuHeilen (hippokratischer Eid, wir dürfen niemanden leiden lassen und schon gar nicht sterben lassen)oder aus einem Wunsch nach Heilung, dieser kann so groß werden, dass um ihn erfüllt zu wissen, die psychische Destruktion des Körpers vorangeht. Auch im Kriminalfall steckt ein solcher Wunsch, wenngleich nicht nach Heilung, so doch nach Wiedergutmachung und Genugtuung. Es gibt somit intrinsische wie extraindividuelle Ursachen der Fallentstehung und -bearbeitung. Dies bedeutet auch, dass Individuen lernen, zum Fall zu werden und Institutionen ihre Fälle suchen und definieren. Dabei spielt ganz selbstverständlich eine Reihe von Regeln eine bedeutsame Ursache, aber eben selbstverständlich. Die Normalität des Falls ist das eigentlich fallbedürftige. Sprich, die Fallwerdung bedarf der Legitimation und die Mechanismen der Legitimation bedürfen der Reflexion und Überprüfung. Diese Fallkritik darf dann nicht bei der Fallselektion stehenbleiben, sondern muss auf die Fallbehandlung ausgedehnt werden. Was hier somit für das erste behauptet wird, ist, dass der Fall als Einzelfall zu einer gefährlichen Singularität werden kann, eben nicht zur Würdigung des Besonderen, sondern zur Bestätigung des Allgemeinen. Wenn der Einzelfall zur Tradierung von Selektion und Bearbeitung wird, dann wird mit ihm unter dem Deckmantel der Würdigung des Individuellen eine perfide Legitimationsfigur der Massen (Sloterdijk). Eine solche Strategie passt vielleicht auch besser zur modernen Schule und wir müssen uns nicht länger über die Idee der individuellen Förderung wundern. Darum werde ich nachfolgend von der Annahme ausgehen, dass es für eine angemessene Idee und einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Fall in der Pädagogik einiger Vorarbeiten, Erinnerungsmarken bedarf, um der Verantwortung gerecht zu werden. Dabei soll es mindestens um die folgenden drei Punkte gehen: - - - Die Fallarbeit ist immer durch subjektive Anschauungen „gefährdet“. Darum ist es nötig, die eigenen Professionsvorstellungen zu thematisieren, Ziele zu explizieren, um sie so kritisch zu befragen. Wesentlicher Bestandteil sind anthropologische Grundannahmen über das, was der Mensch ist, wie er wird und geworden ist und was er sein soll. Die Fragilität all dieser Annahmen gilt es zur Kenntnis zu nehmen und sie in der Fallarbeit zu berücksichtigen. Schließlich müssen alle diese subjektiven Aspekte der eigenen Professionsidentität als auch sozial und gesellschaftlich teildeterminiert verstanden werden. Und dies gilt nun nicht nur in Bezug auf meine eigene Rolle im Fall, sondern und vor allen Dingen auch in Bezug auf den Fall selbst. Darum beginnen die Überlegungen nun mit mir selbst und meinem eigenen Verständnis einer Profession, die es vielleicht gar nicht gibt… Gedanken zur Innenarchitektur von Fällen Ist ein Fall erst einmal entstanden, beginnt seine Bearbeitung. Während ja in der Verwaltungsbürokratie die Fallbearbeitung (hier ist der Fall zur Nummer geworden) jenseits von Amt und Ansehen der Person streng standardisiert (zumeist über das Formular) verläuft, muss der Fall in den beiden oben angesprochenen Lebensbereichen als komplexeres Phänomen angesehen werden. Beginnen wir bei dem uns so beliebten Kriminalfall und nehmen, wenn schon denn schon einem Mord an. Dieses Szenario soll an zwei fiktiven Beispielen aus dem TV dargestellt werden (Es ist an dieser Stelle nicht so wichtig, ob der Fall oder das Vorgehen selbst real ist, vielmehr geht es um Abstraktionen realer Verhältnisse und genau die finden wir in TV-Drehbüchern und unnachahmlich natürlich auch in der Literatur: A B Denunziantentum Die Welt ist alles was der Fall ist