Der aktive Lerner - Grundlagen und Techniken für lebendiges Lernen jenseits der Lehrbücher Tag 1: Was ist Lernen? Katharina Lauritsch und Pedro Fernández Michels Tagesziele Wir werden heute eine theoretische Basis für die restlichen Tage und Themenbereiche des Seminars schaffen: - Wir werden sehen, wie sich das Verständnis vom Lernen im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt hat - Wir werden mithilfe verschiedener Aufgaben herausarbeiten, auf welchen Gedanken die wichtigsten Lerntheorien basieren und inwieweit sie unsere tägliche Arbeit als Lehrer beeinflussen - Wir werden eine Zusammenfassung allgemein anerkannter Grundprinzipen für effektives Lernen kennen lernen, die als Ausgangspunkt für unsere weitere Arbeit dienlich sind. Vorüberlegungen Die Suche nach lebendigeren Lernaktivitäten, nach mehr Entscheidungsspielraum für die Lerner innerhalb ihres Lernprozesses, nach größerer Realitätsnähe, nach Lernprozessen und – angeboten, die den Lerner als Person ins Zentrum des Geschehens stellen usw. hat ihre Begründung in dem heutigen Verständnis von Lernen. Dieses basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die es erlauben, tragfähige Hypothesen darüber anzustellen, wie man am effektivsten und auch am menschlichsten lernt. Wir beginnen das Sommerseminar 2014 darum mit dem Versuch, das Phänomen “Lernen” gründlich zu beleuchten und zu erfassen. Die Ergebnisse dieser Betrachtung sollen als Ausgangspunkt und theoretische Basis für die Bereiche unseres Seminars dienen, die sich ganz spezifisch mit den Möglichkeiten der Veränderung (Verbesserung) unseres alltäglichen Sprachenlehrens beschäftigen. Wir laden Sie dazu ein, im Verlauf des Seminars ein Lernportfolio anzulegen, das Ihre Beschäftigung mit dem Gegenstand der Veranstaltung dokumentiert. Dadurch wird Ihre eigene Beteiligung am Seminar bewusster. Zudem erhalten Sie so eine Basis für die Reflexion und die weitere Arbeit am Thema. Die Erstellung des Portfolios unterstützen wir durch passende Fragen und Arbeitsaufträge. Aufgabe 1: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 15 Minuten Lesen Sie die folgenden Zitate zum Thema “Lernen”. Wählen Sie an Ihrem Tisch ein Zitat aus, das Ihrer Meinung nach den Begriff des Lernens besonders gut umreißt. Bereiten Sie einen einzigen Satz vor, mit dem Sie Ihre Wahl vor dem Plenum begründen. Die Autorität des Lehrers schadet oft denen, die lernen wollen. Marcus Tullius Cicero Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken. Galileo Galilei Was wäre ich denn, wenn ich nicht immer mit klugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen gelernt hätte? Wenn man ins Wasser kommt, lernt man schwimmen. Wir behalten von unseren Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden. Irrend lernt man. Überall lernt man nur von dem, den man liebt. Johann Wolfgang Goethe Lerne was, so kannst du was. Deutsches Sprichwort Lernen besteht in einem Erinnern von Informationen, die bereits seit Generationen in der Seele des Menschen wohnen. Sokrates Erst lernen, dann selbständig denken. Aus dem Talmud Lernen tut weh. Aristoteles Man lernt am schnellsten und besten, indem man andere lehrt. Rosa Luxemburg Lernprozesse sind Sterbe- und Geburtsprozesse, ein erfahrbares Stirb-und- werde. Manfred Hinrich Um zu wissen, nimm, um zu lernen, gib. Baskisches Sprichwort Gebrauch tut mehr als Meisterlehr. Deutsches Sprichwort Der Hauptzweck der Ausbildung besteht nicht im Lernen, sondern im Vergessen. Gilbert Keith Chesterton Was uns am Lernen hindert, ist das, was wir zu wissen glauben. Ingo Diem Lernen muss man mit dem ganzen Körper. Johann Friedrich Oberlin Das Lernen vieler Dinge lehrt nicht Verständnis. Heraklit Platz für Notizen: Aufgabe 2: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 10 Minuten Sehen Sie sich diese Wörter und benutzen Sie einige davon, um den Begriff des Lernens zu definieren. Sie dürfen die Begriffe leicht verändern, also zum Beispiel aus einem Substantiv ein Verb machen. Sie dürfen auch mehr als einen Satz schreiben. Lesen Sie am Ende Ihre Definition im Plenum vor. Platz für Notizen: Wie sahen das die alten Griechen? Für Platon bedeutet Lernen Wiedererinnerung, und zwar der Ideen, die die Seele immer schon in sich trägt und die anlässlich konkreter Sinneseindrücke reaktiviert werden. Für Aristoteles ist die Seele eine tabula rasa (eine leere Tafel), auf die Sinneseindrücke eingetragen werden; Lernen bedeutet so gesehen, Aufnahme und Speicherung von Sinnesdaten. Wie sieht man es heute? In der jüngeren Geschichte sind über den Versuch, das Phänomen des Lernens zu beschreiben und das Lernen selber verstehbar und optimierbar zu machen, verschiedene Lerntheorien entstanden. Wir benutzen das Wort Lerntheorien bewusst im Plural, denn es gibt nicht nur eine allgemeingültige Theorie, sondern verschiedene Ansätze mit wiederum verschiedenen Verzweigungen und Varianten. Lerntheorien sind systematische Erklärungen von Lernprozessen. Oft werden Lerntheorien auch Verhaltenstheorien genannt. Aufgabe 3: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 15 Minuten Überlegen Sie kurz: Was kann man bei einem lernenden Menschen beobachten? Was nicht? Sehen Sie sich dazu auch die Denkhilfen unten an. Tauschen Sie sich kurz im Plenum aus. Denkhilfen: Allgemein unterscheidet man zwischen zwei Hauptgruppen von Lerntheorien. Dabei spricht man einerseits von Behaviorismus, andererseits von Kognitivismus. Wenn wir zu den englischen Begriffen “Behaviour” und “Cognition” ein Assoziogramm machen würden, dann kämen wir sehr wahrscheinlich auf einige der Begriffe, die Sie sich gerade genauer angesehen haben. Wahrscheinlich passt Ihre Einteilung in beobachtbar und nicht beobachtbar zu dieser Tabelle hier unten. Behaviour Benehmen Verhalten Umwelt und Mensch Reiz Reaktion Konditionierung Cognition mentaler Prozess Aufmerksamkeit Arbeitsgedächtnis Verstehen Informationsverarbeitung Erkenntnis Der Behaviorismus Die Theorie des Behaviorismus wird im zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA entwickelt. Die amerikanischen Psychologen waren in erster Linie an dem Verhalten von Individuen interessiert. Nur Dinge, die man beobachten konnte, waren dabei von Interesse. Formen von Introspektion, also von der Betrachtung, Beschreibung und Interpretation von “inneren” Vorgängen, die in europäischen Strömungen der Psychologie praktiziert wurden, wurden von den Behavioristen nicht akzeptiert. Alles, was man nicht direkt beobachten konnte, wurde abgewiesen. Darunter fiel auch etwa die Hälfte der von Ihnen in der letzten Aufgabe bearbeiteten Konzepte. Quelle: https://www.uni-due.de/edit/lp/behavior/behavior.htm Für den Behaviorismus ist der Mensch ein Produkt seiner Umwelt. Äußere Umweltreize oder Stimuli treffen auf das Individuum. Jegliches Verhalten wird durch Erfahrungen mit der Umwelt erlernt. Nichts ist angeboren. Jeder Umweltreiz zieht eine Reaktion nach sich (Stimulus-Response; S-R-Psychologie). Jegliches Verhalten, auch komplexe Verhaltensmuster, können in Reiz-Reaktions-einheiten zerlegt werden. Lernen ist dabei nichts anderes als das Angewöhnen von bestimmten Reaktionsmustern. Lehren wäre dabei das Bereitstellen von geeigneten Reizen und das Verstärken positiver oder gewollter Reaktionen, zum Beispiel durch Belohnung bzw. das Unterbinden negativer oder ungewollter Reaktionen, zum Beispiel durch Bestrafung. Im Bereich des Fremdsprachenlernens ergibt sich daraus, dass Lernen dann stattfindet, wenn auf eine Frage (Stimulus) mit einer richtigen Antwort reagiert wird (Response). Das Lernen wird gefestigt, wenn bei einer Serie von richtigen Antworten auf gleichartige Fragen positive Konsequenzen für das richtige Verhalten gegeben werden. Nicht-Lernen wird korrigiert, indem auf falsche Antworten negative Konsequenzen kommen und die Frage-Antwort-Serie wieder um einen oder mehrere Schritte zurückgesetzt wird. Aufgabe 4: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 15 Minuten Kennen Sie aus dem Sprachunterricht oder aus Lehrbüchern Übungssequenzen, die diesem Muster in etwa folgen? Wir haben für Sie einige Lehrbücher bereit gelegt. Schauen Sie doch mal hinein Berichten Sie im Plenum. Platz für Notizen: Behaviorismus und computergestütztes Lernen Die ersten Überlegungen zum Einsatz von Computern beim Sprachenlernen sind von der Theorie des Behaviorismus geprägt. Man sah im Computer die Möglichkeit, eine effiziente programmierte Unterweisung der Lerner zu gestalten. Das Ergebnis waren sogenannte Drill and Practice Programme. Auch heute noch gibt es viele Beispiele solcher Lernprogramme. Die wohl am weitesten verbreiteten basieren auf R/F- und Multiple-Choice-Fragen (Reiz) mit direktem Feedback (Konsequenz) auf die abgegebene Antwort (Reaktion). Einige dieser Programme beinhalten sogenannte adaptive Funktionen, die je nach Antwort eine spezifisch angepasste Folgefrage nachschieben, mit dem Ziel, den Lerner entweder auf die nächsthöhere Schwierigkeitsstufe zu bringen oder ihn das gleiche Konzept weiter üben zu lassen. Solche computergestützte Übungen kann man heute selber bauen, zum Beispiel in virtuellen Lernumgebungen wie MOODLE. In einem ähnlichen Zusammenhang stehen viele computergestützte Sprachlernspiele. Einige Beispiele dazu gibt es in diesem Wiki: http://ludoweb2014.wikispaces.com/Spiele+selber+bauen Klassische und operante Konditionierung Die klassische Konditionierung ist vielen Leuten bereits durch das Beispiel des Pawlowschen Hundes bekannt. Ivan Petrovich Pawolow hat durch Versuche mit einem Hund nachweisen können, dass spontane Reaktionen (Reflexe; nicht erlernt), wie z.B. die Speichelproduktion, nicht nur durch unkonditionierte Reize (z.B. Essensgeruch aus einer Pizzeria) ausgelöst werden können, sondern durch andere, ursprünglich neutrale Reize. Dazu muss der neutrale Reiz wiederholt zusammen mit dem unkonditionierten Reiz wahrgenommen werden. Stellen wir uns vor, dass aus der besagten Pizzeria nicht nur der herrliche Pizzageruch strömt, sondern auch die elektronische Musik eines Geldspielgerätes. Jemand, dem beim Pizzageruch das Wasser im Mund zusammenläuft, der dabei aber auch immer den Geldspielautomaten hört, bekommt nach einiger Zeit auch nur beim Hören dieses Automaten einen wässrigen Mund, ganz ohne den Pizzaduft. Der zunächst neutrale Reiz des Automatengeräuschs ist zu einem konditionierten Reiz geworden. Die zu Beginn spontane Reaktion auf Pizzaduft ist zu einer erlernten oder konditionierten Reaktion auf Geldspielautomatenmusik geworden. Wenn man jetzt noch den Klang des Geldspielautomaten mit einem anderen zunächst neutralen Reiz paart, kann man die Reaktion des Speichelflusses auch auf diesen übertragen. Man spricht dann von einer Konditionierung höheren Grades. Vorteil ist dabei, dass man nicht mehr auf ausschließlich biologisch relevante Reize angewiesen ist. Durch die Möglichkeit der Konditionierung ist es im Grunde machbar, Verhaltensweisen durch ein unbegrenztes Repertoire an praktisch beliebigen Reizen kontrollierbar zu machen. Wenn Sie eines Tages bemerken, dass Sie beim Hören eines Werbe-Jingles Appetit auf Schokolade bekommen, sollten Sie sich fragen, ob da nicht jemand an Ihnen „herumkonditioniert“ hat. Mit operanter Konditionierung bezeichnet man die Beeinflussung eines gezeigten Verhaltens durch die Reaktion auf dieses Verhalten. Behavioristisch angelegte Lernprogramme basieren stark auf diesem Aspekt der Verhaltensverstärkung durch Belohnung oder positives Feedback. Das Ausbleiben von Belohnung soll hingegen das Verhalten korrigieren oder abstellen. Hier spricht man auch von operantem Lernen bzw. von instrumentellem Lernen, denn mein Verhalten (meine Antworten, Lösungen, Arbeitsergebnisse usw.) sind ein Instrument zum (Wieder)erlangen einer positiven Reaktion. Mein Lernen dient also als Mittel zur Befriedigung, die durch die positive Reaktion auf mein Lernen ausgelöst wird. Aus dem Gedanken des Behaviorismus entwickelte sich das programmierte Fremdsprachenlernen. Hier stand kleinschrittiges Vorgehen im Vordergrund, bei dem jeder Lernschritt exakt definiert ist, so dass über einen seriellen Nachvollzug der Einzelschritte am Ende das umfangreiche Beherrschen der Zielsprache steht. Die zu lernenden Inhalte werden in einer langsam ansteigenden Schwierigkeitskurve präsentiert. In regelmäßigen Abständen werden dem Lerner Fragen gestellt, die in der Regel so einfach sind, dass positives Feedback für richtige Antworten wesentlich häufiger vorkommt als negatives Feedback. Die Häufung des positiven Feedbacks auf einer Basis des sich langsam verkomplizierenden Stoffes wurde von Skinner als entscheidend für erfolgreiches Lernen angesehen. Kritik am Behaviorismus Aufgabe 5: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 15 Minuten Sie können sich sicher vorstellen, dass der Behaviorismus nicht selten kritisiert wurde. Welche kritisierbaren Aspekte fallen Ihnen aus der Sicht des Lehrers und des Lerners ein? Tauschen Sie Ihre Gedanken im Plenum aus. Platz für Notizen: Bildquelle: Cziborra (2000) Kritikpunkte: - Gibt es wirklich eine objektive Realität, die von allen Lernenden gleich wahrgenommen wird. Ist menschliches Verhalten bloße beobachtbare Reaktion auf Reize? Kann man von den Ergebnissen der Tierversuche wirklich direkt auf den Menschen schließen? Können die Lehrenden wirklich wissen, was die Lernenden in Zukunft wissen müssen? Können (sollten) die Lehrenden wirklich den gesamten Lernprozess der Lernenden steuern? Existiert wirklich eine optimale Reihenfolge für die Lernimpulse? Welche Rolle spielen Denkprozesse und die Beziehung zwischen neuer Information und bereits Gelerntem? Welche Rolle spielt der Prozess der Informationsverarbeitung? Welche Rolle spielen die Konsequenzen menschlichen Verhaltens? Wiederholungen und Atomisierung der Lerninhalte machen den Lernprozess langweilig und frustrierend. Die Zerstückelung des Lerninhalts in kleine Schritte erlaubt keinen Blick auf den Gesamtzusammenhang komplexer Themen. Bei Anwendung behavioristischer Ansätze im Bereich des computergestützten Lernens kommt die soziale Komponente zu kurz. Computergestützte Lernprogramme führen oft zu Isolierung. Fehlendes differenziertes Feedback bei Fehlern, da vor allem die positive Verstärkung richtiger Lösungen angestrebt war. Ausklammerung des Fehlers als unterstützendes Element beim Lernprozess durch Reflexion. Die lineare Darstellung von Lerninhalten lässt keinen Raum für individuelle Schwerpunkte - Die Fähigkeit zur Problemlösung spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Wiedergabe von Informationen. Der Lerner wird nicht aktiviert. Er bleibt passiv. Lerner, die nach behavioristischen Prinzipien lernen, können sich wahrscheinlich nicht gut und schnell auf sich ändernde Situationen einstellen. Behavioristisches Lernen ist oft Faktenlernen. Komplexe Zusammenhänge werden nicht beleuchtet. Die kognitive Wende Die sogenannte kognitive Wende erfolgte in den sechziger Jahren. Den Hauptunterschied zum Behaviorismus kann man folgendermaßen veranschaulichen. Quelle: https://www.uni-due.de/edit/lp/kognitiv/kognitiv.htm Aufgabe 6: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 20 Minuten Sie sehen, dass die ominöse „Blackbox“ einem hellen Feld für kognitive Prozesse gewichen ist. Was heißt das aber konkret? Können Sie diese neue Sichtweise genauer erklären? Machen Sie sich zehn Minuten lang Gedanken in Ihrer Tischgruppe. Tauschen Sie sich dann im Plenum aus. Platz für Notizen: Aufgabe 7: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 15 Minuten Sie bekommen 20 leere Kärtchen. Mit diesen Kärtchen sollen Sie eine MindMap zum Begriff des Kognitivismus bauen. Ihnen stehen dazu die Begriffe auf der nächsten Seite und unsere Korkwände zur Verfügung. Sie brauchen nicht alle Begriffe zu benutzen und können im Gegenzug auch eigene Begriffe verwenden. Am Ende stellen Sie Ihre MindMap vor. Kognitivismus: Begriffe In der kognitiven Lernpsychologie hat der Begriff der Strategie1 eine zentrale Bedeutung. Um neue Informationen als solche richtig zu identifizieren, einzuordnen, an vorhandenes Wissen anzudocken, zu speichern und in neues Wissen zu überführen, brauchen Lernende Strategien der Informationsverarbeitung. 1 Über Lernstrategien und Lerntechniken werden Sie am zweiten Tag des Sommerseminars mehr erfahren. Die Prozesse der Informationsaufnahme und –verarbeitung sowie die Möglichkeiten, diese Prozesse zu optimieren, stehen also in der kognitiven Lernpsychologie im Vordergrund. Gerade diese Prozesse wurden im Behaviorismus ausgeklammert. Kognitivistische Lerntheorien Im konzeptuellen Rahmen des Kognitivismus finden sich eine Reihe spezifischer Lerntheorien, von denen wir an dieser Stelle die drei wohl bekanntesten vorstellen möchten. Es handelt sich dabei um Erklärungsversuche, wie der Prozess des Lernens überhaupt in Gang gebracht und gehalten wird. a) Modelllernen Die Theorie des Lernens am Modell wir auch häufig als soziale Lerntheorie bezeichnet, weil sie fokussiert, wie Menschen durch Nachahmung von Modellen in einem sozialen Umfeld lernen. Man kann diesen Prozess so verstehen, dass eine andere Person das Modell für den Lernenden darstellt, weil diese Person eine Fähigkeit besitzt, die der Lernende auch besitzen möchte. Der Lernende versucht nun, sich die Fähigkeit, oder das Wissen, für das er sich interessiert, durch Beobachtung und Nachahmung anzueignen. Bildquelle: Angermeier, Bednorz, Schuster (1991) Aufgabe 8: Sozialform: Plenum Zeit: 8 Minuten Können Sie Beispiele für alltägliche (Lern)situationen geben, in denen ein Lernen am Modell erkennbar ist? Rufen Sie Ihre Ideen und Gedanken einfach ins Plenum. b) Lernen durch Einsicht Der Ausruf „Mir ist ein Licht aufgegangen!“ oder „Jetzt hab ich’s!“ ist eine anschauliche Beschreibung dessen, was mit Lernen durch Einsicht gemeint ist. Lernt man etwas durch Einsicht, so liegt diesem Prozess eine Veränderung der Betrachtungsweise zugrunde. Man versteht und lernt etwas, indem man einen Gegenstand oder ein Problem anders betrachtet und in verstehbare, bekannte Teilaspekte zerlegt. Es handelt sich also um eine denkend vollbrachte Umstrukturierung und Neuorganisierung des Problems, so dass die Sicht auf eine Lösungsstrategie frei wird. Man kann auch sagen, dass Einsicht das plötzliche Wahrnehmen der Beziehung zwischen den Einzelphänomenen einer Problemsituation ist. Beim Lernen durch Einsicht kommt man also nicht durch blindes Probieren auf die Lösung eines Problems, sondern durch Denkprozesse, an deren Ende ein neues Verhalten steht, das wiederum ein Zeichen für Lernen ist. Es ist klar, dass dieses Verständnis von Lernen dem Vermitteln von atomisierten Informationseinheiten widerspricht. Einsicht setzt das Erkennen eines Kontextes voraus, in dem die einzelnen Teilaspekte ein sinnvolles Gesamtbild ergeben. Aufgabe 9: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 10 Minuten Sehen Sie sich die beiden Varianten einer Darstellung der Adjektivdeklination im Deutschen an. Welche Darstellung entspricht eher dem Gedanken des Lernens durch Einsicht? Können Sie weitere, ähnliche Beispiele aus Ihrer Lehr- und Lernrealität anführen? Berichten Sie im Plenum. Beispiel 1: Beispiel 2: c) Das Entwicklungsstufenmodell Mit seinem Entwicklungsstufenmodell hat Jean Piaget beschrieben, wie sich Kinder kognitiv entwickeln. Es handelt sich hierbei eigentlich nicht um eine Lerntheorie, sondern um einen erkenntnistheoretischen Ansatz, der aber Konsequenzen für das Verständnis von Lernen hatte. In seiner kognitiven Entwicklung unterläuft das Kind nach Piaget vier verschiedene Phasen. Jede dieser Phasen ist durch besondere Fähigkeiten zur Problemlösung gekennzeichnet, aber auch durch spezifische Defizite, die beim Versuch der Problemlösung zu Fehlern führen. Dazu kommt, dass jede Phase aus den Aktivitäten und Fähigkeiten der vorangehenden Phase resultiert und selber wiederum eine Vorbereitung auf die nächste Stufe ist. Nach Piaget haben vier Faktoren Einfluss auf die Kognitive Entwicklung. Diese Faktoren sind: - Reifung, die das Kind erfährt, indem es die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner kognitiven Entwicklung durchläuft - Aktive Erfahrung durch Handeln in der Umwelt - Soziale Interaktion - Streben nach Gleichgewicht Etwas aktiv zu tun und seine Erfahrungen in einem Kontext sozialer Interaktion zu machen, sind also wesentliche Voraussetzungen für effektives Lernen. Der Gedanke des Strebens nach Gleichgewicht bedarf sicher einer eingehenderen Erklärung: 1. Schema Das Schema ist nach Piaget der Grundbaustein menschlichen Wissens. Es gibt Verhaltensschemata, wie z.B. ein Schema für das Laufen, ein Schema für das Schwimmen, ein Schema für das Radfahren etc. Und es gibt kognitive Schemata, wie z.B. ein Schema für „Apfel“, das auf der Basis der Eigenschaften des Apfels und der Erfahrung, die der Mensch mit Äpfeln gemacht hat, aufgebaut ist. Das menschliche Wissen kann so mit einem verzweigten System von Karteikarten oder mit einer Art MindMap verglichen werden. Verhaltensschemata und kognitive Schemata greifen dabei ineinander. 2. Streben nach Gleichgewicht: Adaptation, Assimilation, Akkomodation So wie diese kleine MindMap oben könnte man sich das Schema für „Blume“ vorstellen. Die betreffende Person hat über die Interaktion mit ihrer Umwelt das Schema „Blume“ entwickelt. Sie kennt eine Reihe von Phänomenen, die unter die Kategorie „Blume“ zu fassen sind und sie hat Denk- und Verhaltensmuster entwickelt, die ihr helfen, bei einem Umweltreiz, der in die Kategorie „Blume“ passt, angemessen zu reagieren. Die Person weiß unter anderem, dass es Blumen mit Dornen gibt und dass Dornen stechen, dass also manchmal Vorsicht angeraten ist, so z.B. beim Pflücken einer Rose. Träfe die gleiche Person zum ersten Mal im Leben auf einen Brombeerstrauch, würde sie wahrscheinlich die Dornen erkennen und Rückschlüsse auf eine mögliche Verletzungsgefahr ziehen können. Sie würde das Phänomen „Brombeerstrauch“ hinsichtlich seiner Stechkapazität dank des vorhandenen Wissens über Blumen, insbesondere Rosen, assimilieren. Assimilation bedeutet also die Eingliederung neuer Umwelterfahrungen in schon vorhandene subjektive Bezugssysteme. Jemand, der bisher nur Mohnblumen begegnet ist und dann auf eine Rose trifft, könnte versucht sein, die Rose so zu pflücken, wie er eine Mohnblume pflücken würde. Der Versuch würde wahrscheinlich zu einer unangenehmen Erfahrung führen. Und auch dazu, dass diese Person ihr Schema „Blume“ verändert oder erweitert. Hier spricht man von Akkomodation. Mit Akkomodation bezeichnet man also die Erweiterung oder Anpassung eines existierenden Schemas an eine Situation, die man mit dem vorhandenen Schema nicht gut bewältigen kann. "Piaget betrachtete die kognitive Entwicklung als Ereignis des ständigen Wechselspiels von Assimilation und Akkommodation. Die Assimilation bewahrt und erweitert das Bestehende und verbindet so die Gegenwart mit der Vergangenheit, und die Akkommodation entsteht aus Problemen, die die Umwelt stellt, also aus Informationen, die nicht zu dem passen, was man weiß und denkt." Zimbardo & Gerrig (1999, 463) Aufgabe 10: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 20 Minuten Ist das Beispiel zur Assimilation und Akkomodation auf Ihren Sprachunterricht übertragbar? Versuchen Sie ein Parallelbeispiel zu finden und zu formulieren. Stellen Sie es im Plenum vor. Platz für Notizen: Aufgabe 11: Sozialform: Plenum Zeit: 15 Minuten Sicher sind Sie auch der Meinung, dass das Unterrichten einer Fremdsprache je nach Lernergruppe vollkommen anders sein kann. Denken Sie zum Beispiel an a) eine Klasse in der nur erwachsene Sprecher romanischer Sprachen sitzen, b) eine Gruppe vier- bis fünfjähriger Kinder c) eine kulturell gemischte Gruppe mit Lernern aus England, Spanien, China und Jemen Können Sie die unterschiedlichen Herausforderungen für Lehrer und Lerner auf der Basis der bisher entwickelten Gedanken (Schemata, Adaptation) erklären? Führen Sie dazu ein Plenumsgespräch. Platz für Notizen: Konstruktivistische Lerntheorien In enger Verbindung mit dem Kognitivismus stehen die konstruktivistischen Lerntheorien. Diese besagen, dass jeder Mensch ein individuelles und subjektives Bild seiner Umwelt konstruiert - ein Gedanke, der auch mit Piagets Entwicklungsstufenmodell im Zusammenhang steht. Das menschliche Gehirn ist ein in sich geschlossenes System, das sich selbst und damit für sich die Welt organisiert. Wie die Kognitivsten gehen auch die Konstruktivisten davon aus, dass man nur das lernen kann, was mit schon vorhandenem Wissen eine Verbindung eingehen kann. Sie gehen aber insofern weiter, als dass sie sagen, dass Lernen ein Konstruktionsprozess ist, der vom lernenden Gehirn selbst gesteuert wird. Daraus folgt, dass Menschen, die die gleichen Erfahrungen mit ihrer Umwelt machen, trotzdem zu verschiedenen Lernergebnissen kommen können. Jedes Individuum konstruiert sich also seine vollkommen eigene kognitive Landkarte von der Welt, die das Individuum rückwirkend beeinflusst und seine Werte, seine Sichtweisen, seine Wahrnehmung und sein Verhalten bestimmt. Aufgabe 12: Sozialform: Paare Zeit: 20 Minuten Schlüpfen Sie in die Rolle eines Konstruktivisten und diskutieren und beurteilen Sie die folgenden Aussagen: 1. Die Lehrperson bleibt, auch in handlungs- oder lernerzentrierten Ansätzen, eine Schlüsselfigur beim notwendigen Steuern und Beeinflussen der Lernprozesse. 2. Das Lernergebnis einer Lerngruppe ist bei korrekter Führung durch die Lehrperson das Abbild der vorab definierten Lernziele. 3. Lernziel, Stoffauswahl und Test bilden ein ins sich schlüssiges System und gewährleisten so die Vergleichbarkeit des Lernerfolgs unter den Mitgliedern einer Lernergruppe. Platz für Notizen: First Principles of Learning Im Jahr 2002 veröffentlichte der Berater für didaktische Effizienz (instructional effectiveness consultant) und ehemaliger Professor der Utah State University David Merrill seinen Essay „First Principles of Instruction“. Mit seiner Arbeit beabsichtigte Merrill die Identifizierung immer gleicher Grundprinzipien für effektives Lernen in verschiedenen didaktischen Theorien oder, wie er es nennt, Instruktionsdesing-Theorien (instructional design theories). Diese Grundprinzipien (first principles) sind Lehr- und Lernprinzipien, die unter adäquaten Bedingungen immer zutreffend sind, egal, welche Lernaktivität, oder welches Lernprogramm (verstanden als Paket miteinander sinnvoll verknüpfter Aktivitäten) man gerade anwendet. Merrill hat folgende Grundprinzipien als immer wiederkehrend und den meisten didaktischen Theorien zugrunde liegend identifiziert: 1. Problemorientiertes Lernen Lernen findet statt, wenn Lerner sich mit der Lösung realer, authentischer Probleme beschäftigen. Die Lerner müssen dabei auf der Problem- oder Aufgabenebene involviert sein, nicht nur auf der Ebene der Ausführung von Aktionen. 2. Relevantes Vorwissen als Grundlage für neues Wissen Lernen findet statt, wenn Lerner dazu gebracht werden, relevantes Wissen aus bereits Erlebtem zu aktivieren, mitzuteilen, zu beschreiben und als Grundlage für das Schaffen von neuem Wissen anzuwenden. 3. Demonstrationen Lernen findet statt, wenn der Lerner sehen/erleben kann, was das Lernziel ist und nicht nur theoretische Information darüber erhält. Hier greifen Beispiele und Gegenbeispiele, Vorführungen von Prozessen, Visualisierungen und Verhaltens- und Aktionsmodelle. 4. Anwendung Die Anwendung des neuen Wissens umfasst das wiederholte Üben in realitätsnahen Situationen oder Problemlösungsprozessen. Dabei hat der Lehrer (oder auch der Lernpartner) die Rolle des beratenden, Fehler aufzeigenden und helfenden Begleiters. Je zahlreicher die Möglichkeiten des kontextualisierten Übens, desto besser. Am Ende steht die Integration des neuen Wissens in die Wirklichkeit des Lerners. Das bedeutet, dass er es selbständig bei der Bewältigung von realen Situationen anwenden und auch als Vorwissen für das Entwickeln neuen Wissens nutzen kann. Aufgabe 13: Sozialform: Tischgruppen Zeit: 20 Minuten Sehen sie sich die Aufgaben 3 bis 5 des Lehrbuchs „Netzwerk A2.2“ an. Zu Beginn der Lektion werden als Lernziele „Wünsche äußern“ und „Ratschläge geben“ angegeben. Prüfen Sie, ob und wie das Lehrbuch die Merrill’schen Grundprinzipien für effektives Lernen umsetzt. Tauschen Sie sich anschließend im Plenum aus. Platz für Notizen: Abschlussaufgabe für Tag 1 1. Reflexion: - Was hat mir das heutige Thema für mein eigenes Wirken als Lehrer gebracht? - Kann ich Schlussfolgerungen für meinen eigenen Unterricht ziehen? Welche? 2. Fixierung - Haltens Sie die für Sie wichtigen Inhalte, Gedanken und Schlussfolgerungen in einer Infografik fest. Sie bekommen dafür von uns Papp-Bögen und Stifte. Arbeiten Sie mit Farben, Formen, Pfeilen, Bildern... sparen Sie nicht an Symbolen und Methaphern. Quellen: Angermeier, Wilhelm F., Bednorz, Peter & Schuster, Martin (1991). Lernpsychologie. München, Basel: Reinhardt. Bimmel, P., Rampillon, U. (2000). Lernerautonomie und Lernstrategien. Fernstudieneinheit 23. München, Berlin: Langenscheidt. Cziborra, Burkhardt (2000). Unveröffentlichtes Manuskript. Lefrancois, Guy R. (1994). Psychologie des Lernens. Berlin, Heidelberg: Springer. Merrill, M. D. (2002). First principles of instruction. Educational Technology Research and Development Zimbardo, Philip G. & Gerrig, Richard J. (1999). Psychologie. Berlin, Heidelberg: Springer.