Nonno de Vries - SPD-Ortsverein Schüttorf

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Nonno de Vries
In Schüttorf
änderte sich die
Welt
Die Anfänge der Schüttorfer SPD
1918/1919
Erweitertes Manuskript eines Vortrages,
gehalten auf einer parteiinternen Geburtstagsfeier
am 15. Februar 2009 im Hotel Burg Altena
(Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verfassers)
1
In Schüttorf
änderte sich die
Welt
Ein bestimmtes Datum ist für die Gründung des SPD-Ortsvereins
Schüttorf nicht überliefert. Dabei ist zu bedenken, dass früher alle Protokolle
mit der Hand geschrieben wurden, und wenn das einzige handgeschriebene
Protokollexemplar heute nicht mehr vorliegt, so ist darauf aufmerksam zu
machen, dass die Partei bereits vierzehn Jahre nach den ersten Anfängen in
Schüttorf wieder verboten wurde. Was dann mit der Kasse des Ortsvereins
geschah, wissen wir: Mit einen Bestand von 13 Reichsmark wurde sie vom
NS-Staat eingezogen.1 Wo die Protokolle und die anderen Unterlagen geblieben sind, wissen wir heute nicht mehr.
Wenn auch das genaue Gründungsdatum unbekannt ist: Es gibt einige
glückliche Umstände, die uns in die Lage versetzen, etwas Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen und die Vorgänge um die Entstehung unseres Ortsvereins ein wenig aufzuhellen. Wohl schon bei der Gründung wurde
ein Vorsitzender gewählt. Es war der Böttchermeister Gustav Hermenau. Bei
vielen war sein Name bereits in Vergessenheit geraten, als plötzlich ein Foto
1
Die von anderen Organisationen einkassierten Summen betrugen beim DTV 158 und beim ADGB
415 Reichsmark. Vgl. Lensing, SPD in Schüttorf.. Siehe auch: StAOS Rep 430 Dez. 201 acc. 16B/65
Nr. 160 Bd. 2 (Auflistung vom 31. 8. 1933).
2
von ihm auftauchte. Es hatte sich im Gepäck seines Enkels befunden, der von
Schüttorf nach Hengelo geheiratet hatte und von dort nach Kanada und USA
ausgewandert war. 1998 kehrte das Foto zurück nach Schüttorf und wurde uns
von seinem Urenkel2 zur Eröffnung des SPD-Büros in der Föhnstraße übergeben.
Ein zweiter Lichtblick ist die 1895 gegründete „Schüttorfer Zeitung“.3
Auch sie liefert uns zwar keinen kompletten Bericht über die Gründungsversammlung, wohl aber eine regelmäßige Berichterstattung über alles, was sich
nach dem Ende der so genannten „guten, alten Zeit“, die so gut gar nicht war,
in Schüttorf ereignete.
Die Schüttorfer Zeitung hatte eine große Bedeutung. Ein Fernsehen gab
es noch nicht, auch noch kein Radio, und selbst das Telefon war noch eine
große Seltenheit. Mit Sicherheit war im Rathaus ein Telefon installiert4, vermutlich auch schon in den Büros der Fabriken5, in der Reichspost6 und in der
Garnison. Schüttorf war nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Garnisonsstadt mit viel Militär und einer Nahkampfschule im Schüttorfer Feld.7
2
Manfred Hermenau, Windstraße 2.
3
Verlag und Druckerei der Schüttorfer Zeitung befanden sich in der Burg Altena. Zur Druckerei
gehörte auch eine Buchhandlung. In den Anfangsjahren unterschied sich die Schüttorfer Zeitung
kaum von den beiden Amtsblättern, der „(Neuen) Bentheimer Zeitung“ (gegründet 1879) und der
so genannten Kipschen Zeitung in Neuenhaus („Zeitung und Anzeigeblatt“, gegründet 1874).
Nachdem sie 1898 in den Besitz der Nationalsozialen übergegangen war, entwickelte die Schüttorfer Zeitung einen scharfen Oppositionskurs zu den beiden Konkurrenzblättern. Im Oktober
1898 drang sie mit zwei Nebenblättern („Nordhorner Zeitung“ und Lingen-Bentheimer „Grenzbote“) auch nach Nordhorn und Lingen vor. Vgl. Lensing, Wahlen bis 1918, S. 26-30.
4
Der Schüttorfer Lehrer und spätere Rektor Wilhelm Berge musste in den ersten Kriegstagen eine
Nachtwache am Telefon im Rathaus übernehmen und schrieb bei dieser Gelegenheit einen langen Brief an seine Tochter. Der Text dieses Briefes ist abgedruckt in: Lensing/Berge, Der erste
Weltkrieg, S. 34.
5
In den Schüttorfer Textilfabriken wurde im Laufe des 1. Weltkrieges kaum noch gearbeitet. Das
lag wohl in erster Linie an dem Mangel an Rohstoffen (Baumwolle). Lediglich die Firma G. Schümer & Co hatte einen Heeresauftrag und blieb in Betrieb. Vgl. Berge, Ortschronik, S. 317.
6
Ursprünglich war die Post in der Burg Altena untergebracht. 1891 errichtete die Fürstliche Verwaltung ein neues Postgebäude neben dem Eingang zur Burg. Vgl. Berge, Ortschronik, S. 102.
7
Schon 1915 kam eine so genannte Genesungskompagnie nach Schüttorf. Sie wurde in der Kirchschule untergebracht. Zum militärischen Schutz der Grenze folgten 1916 die I. und die II. Kompagnie des III. Landsturm-Infanterie-Ersatz-Bataillon Oldenburg. Die beiden Kompanien waren in den
Sälen von Lindemann und Lenzing einquartiert. Dieses Ersatzbataillon diente auch der Ausbildung.
Zur Garnison gehörte eine „Standort-Militärmusik“ unter der Leitung des Unteroffiziers Fehling.
Im Frühjahr 1917 erhielt Schüttorf eine Maschinengewehrabteilung, deren Pferde bei Lenzing und
Arentzen untergebracht waren. Gleichzeitig errichtete man östlich der Quendorfer Straße auf der
hochgelegenen Heide des Schüttorfer Feldes eine „Nahkampfschule“ mit einer etwa 200 m langen
Hindernisbahn, die am Ende eines jeden Übungstages genommen werden musste. Zu dieser Anlage gehörte auch ein hoher Holzturm, von dem aus man die Übungsgefechte beobachten konnten
Die Ausbildungsmannschaften waren in den teilweise stillgelegten Fabrikgebäuden von Gathmann
3
Für die Allgemeinheit war die Schüttorfer Zeitung zu Beginn des 20.
Jahrhunderts die wichtigste Informationsquelle. Und weil (im Gegensatz zum
1945 verbrannten Stadtarchiv) fast alle Ausgaben der Schüttorfer Zeitung erhalten geblieben sind, können wir uns heute ein ziemlich genaues Bild machen, sowohl über das, was damals geschah, als auch über das, was die Schüttorfer damals wussten und was sie bewegte.
Der entscheidende Anlass für die Entstehung der Schüttorfer SPD
ergab sich aus der Abdankung des deutschen Kaisers am 9. November 1918.
Für uns ist dieser Tag ein Datum im Geschichtsbuch. Welche Gefühle dieses
Ereignis in den damals lebenden Menschen ausgelöst hat, kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Berliner Lokal-Anzeiger vom 9. November 1918
Dazu möchte ich eine kleine Geschichte von meinem Großvater erzählen. Er
war Lehrer an der einklassigen Schule in Esche und als Beamter nicht nur ein
treuer Diener seines Staates, sondern auch, soweit ich das heute noch beurteilen kann, durch und durch kaisertreu und „vaterländisch gesinnt“, wie man
das damals nannte. Im Alter von 44/45 Jahren war er in den letzten anderthalb
& Gerdemann und G. Schümer & Co untergebracht. Die Offiziere wohnten in Privatquartieren. Ihr
Kasino war das Pastoratsgebäude an der Mauerstraße, das nach dem Tode der Witwe von Pastor
Koppelmann nicht mehr bewohnt war. Vgl. Wilhelm Berge, Ortschronik, S. 311 bis 313.
4
Kriegsjahren als Soldat in Russland - „zur Okkupation großrussischen Gebietes“, wie es in seinem Militärpass steht. Mehrere Jahre später erhielt mein
Großvater während der Zeit der Weimarer Republik in seiner Wohnung in
Esche Besuch von einem entfernten holländischen Verwandten, der Mitglied
des niederländischen Parlaments in den Haag war („Lid van de tweede Kamer“). Dieser hochrangige Verwandte brachte als Gastgeschenk ein paar Kastanien mit. Sie stammten von dem Baum im Park des Schosses Doorn, unter
dem der abgedankte Kaiser Wilhelm II. zur körperlichen Ertüchtigung regelmäßig Holz hackte. Mein Großvater war empört. Er öffnete die Tür des
Ofens, mit dem das Zimmer beheizt wurde, und warf die Kastanien vor den
Augen seines Gastes ins Feuer. Seine Töchter waren entsetzt. Sie hatten kein
Verständnis für das schlechte Benehmen ihres Vaters. Für mich zeigt dieser
Vorfall, zu welch radikalen Reaktionen mein Großvater fähig war, wenn er an
seinen früheren Kaiser erinnert wurde. Dieser Kaiser, dem er in seinem ganzen Leben voller Vertrauen und zuletzt als Soldat auf langen Märschen durch
Russland bis zur völligen Erschöpfung treu gedient hatte, hatte sich, als er
nicht mehr weiter wusste, einfach aus dem Staube gemacht. Er hatte sein Volk
im Stich gelassen und war noch vor dem Abschluss eines Waffenstillstands
nach Holland geflüchtet.
5
Dieses
Gefühl,
vom Kaiser und der
obersten Militärführung
vollkommen getäuscht worden zu sein, war im November 1918 weit verbreitet, insbesondere unter den Frontsoldaten, aber nicht nur bei ihnen. Die gesamte Bevölkerung hatte im Steckrübenwinter von 1917 auf 1918 schwer zu
leiden gehabt.8 Von den 890.000 Kriegstoten des Jahres 1917 fielen nur
knapp 70 % an der Front. Die übrigen 30 Prozent waren Zivilisten, die ihr Leben lassen mussten als Folge einer völlig unzureichenden Ernährung.9
Ausschnitt aus der Schüttorfer Zeitung
Angesichts der zunehmend schlechter werdenden Stimmung in der Bevölkerung schloss sich Robert Neumann-Hofer, der Besitzer und Redakteur
der Schüttorfer Zeitung, der Deutschen Vaterlandspartei an.10 Das war zu Beginn des Jahres 1918, als diese Durchhaltepartei in der Grafschaft Bentheim
mehrere Veranstaltungen abhielt.11 Die ausführliche Berichterstattung mündete in der Forderung nach einem so genannten „Siegfrieden“.12 Der Redakteur
erläuterte diesen Frieden als den „eisernen Willen, zu siegen und aus dem
Sieg einen Frieden zu gewinnen, der uns für künftige Zeiten sicher stellt vor
ähnlicher Not.“ Am Ende des sehr ausführlichen Zeitungsberichts stand ein
Gedicht, das uns einen Einblick in die Gedankenwelt der Konservativen in
„der guten, alten Zeit“ gibt:
„Wir Deutsche dürfen rasten nicht noch ruh‘n.
Deutsch sein heißt: froh das Allerschwerste tun.
Deutsch sein heißt: alles dulden fest und still.
Deutsch sein heißt: müssen, was die Ehre will.“ 13
Robert Neumann-Hofer hatte sich voll und ganz in den Dienst des Vaterlandes begeben, wurde jedoch bald eines Besseren belehrt. Noch im Laufe des
Jahres 1918 löste er sich von solchen reaktionären Anwandlungen und stellte
8
Viele Informationen über die Rationierung der Lebensmittel finden sich bei Wilhelm Berge, Ortschronik, S. 303 bis 308.
9
Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, München 1996, S. 157.
Die „Deutsche Vaterlandspartei“ wurde am 2. September 1917 in Königsberg gegründet. Vorsitzender war Großadmiral a. D. Alfred von Tirpitz (1849-1930), stellvertretender Vorsitzender Wolfgang Kapp (1859-1922). Die Mitgliederzahlen der Vaterlandspartei übertrafen im Reich wahrscheinlich die der beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD. Ihr Ziel war ein „Siegfrieden“ mit der Annexion Hollands, Luxemburgs, Belgiens und Nordfrankreichs einschließlich der
Normandie. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 125 bis 128.
11
Orts- und Kreisvorsitzender dieser Partei war der Schüttorfer Fabrikant Friedrich Kröner. Vgl.
Schüttorfer Zeitung Nr. 2 vom Sonnabend, 5. Jan. 1918.
12
In den Diskussionen der damaligen Zeit wurde der „Siegfrieden“ dem „Verständigungsfrieden“
gegenübergestellt. „Vaterländisch gesinnt“ war, wer an den Siegfrieden glaubte. Wer für Verständigung eintrat, galt schon fast als „Vaterlandsverräter“.
13
Schüttorfer Zeitung Nr. 3 vom Mittwoch, 9. Januar 1918.
10
6
sich den Herausforderungen der Gegenwart, nicht nur in seinen persönlichen
Ansichten, sondern auch in seiner Zeitung.14
Für alle erkennbar wurde die große Wende durch die Abdankung des
Kaisers am 9. November 1918. Gut siebzig Jahre später markiert derselbe Tag
im November eine ganz andere Wende in der deutschen Geschichte. Am 9.
November 1989 fiel die Berliner Mauer. Der Mauerfall und das Ende der
DDR waren das Ergebnis einer friedlichen Revolution. Die Novemberrevolution des Jahres 1918 und das Ende des Kaiserreiches verliefen nicht ganz so
friedlich.
Den Anfang machten die Matrosen, die sich weigerten, die Dampfkessel aufzuheizen und die Anker zu lichten. Auf diese Weise hinderten sie die
Kaiserliche Marine daran, zu einer letzten großen Seeschlacht auf das offene
Meer auszulaufen.15 Dabei war von Anfang an Gewalt im Spiel, obwohl es
den Verantwortlichen zunächst überraschend gut gelang, für Sicherheit und
Ordnung zu sorgen und die Zahl der Opfer gering zu halten. Als sich die Revolution dann immer mehr ausbreitete, entwickelte sich eine Situation mit
vielen Unwägbarkeiten. Ohne eine zentrale Lenkung ging die Waffengewalt
überall im Lande in spontaner Weise auf Soldatenräte über, von denen man
noch nicht wusste, welchen Kurs sie in Zukunft einschlagen würden.16 Dies
galt besonders für Berlin. Dort hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann
am 9. November vom Reichstagsgebäude aus die Republik ausgerufen. Nur
zwei Stunden später antwortete Karl Liebknecht, der Führer der Spartakusgruppe, mit einem Gegenkonzept und rief mit einem Gruß an die sowjetischen
Brüder die „sozialistischen Republik“ aus.17
14
Dabei haben sicherlich auch seine familiären Bindungen eine Rolle gespielt. Robert NeumannHofer hatte zwei ältere Brüder. Der älteste, Dr. Otto Neumann-Hofer, war Schriftsteller, Direktor
des Berliner Lessingtheaters und Gründer des Deutschen Opernhauses in Charlottenburg. Der zweite, Dr. Adolf Neumann-Hofer, war Journalist. Von einem befreundeten Studienkollegen übernahm
er in Detmold den Verlag der Lippischen Zeitung und gründete dort die Lippische Liberale Volkspartei. Schon vor dem 1. Weltkrieg wurde er Mitglied des Lippischen Landtages und des Berliner
Reichstages. Während des Krieges war er als Redner zur Förderung der Truppen-Moral eingesetzt.
Für diese Aufgabe war er sicherlich nicht ungeeignet. Denn er war zwar ein treuer Staatsbürger,
aber zugleich offen für eine umfassende Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Dadurch hatte
er einige Chancen, bei den Frontsoldaten gut anzukommen. Bei den beiden Zeitungsverlegern in
Detmold und Schüttorf erkennt man viele Gemeinsamkeiten. Vgl. dazu auch: Lensing, SPD in
Schüttorf, S. 47.
15
Der Befehl der Seekriegsleitung zum Auslaufen der gesamten Hochseeflotte gegen die englische
„Home Fleet“ erfolgte am 29. Oktober 1918 ohne Wissen der Reichsregierung. Am gleichen Tage
verließ der Kaiser Berlin und begab sich zur Obersten Heeresleitung nach Spa. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 183.
16
So schreibt zum Beispiel Wehler, die Arbeiter- und Soldatenrät seien entstanden, „als ob ein
Steppenbrand blitzschnell um sich greift“. Sie wurden „überall spontan improvisiert und orientierten sich locker am russischen Vorbild“. Vgl. Wehler a. a. O., S. 192.
17
Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Darstellung und Dokumentation
1848-1983, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1983, S. 83: vgl. außerdem: Sozialde-
7
Wie aber sah es damals bei uns in Schüttorf aus? An diesem 9. November 1918 - es war ein Sonnabend - las man auf der ersten Seite der Schüttorfer Zeitung zwei große Schlagzeilen. Sie lauteten: „Fochs vorläufige Antwort“ und: Das Ultimatum der Sozialdemokraten an den Kaiser!
Marschall Foch, der französische Oberkommandierende der feindlichen
Truppen,18 hatte am Tage vorher, also am 8. November 1918, auf Bitte der
Deutschen um einen Waffenstillstand mit der ultimativen Forderung geantwortet, die Bedingungen der Alliierten müssten innerhalb von 72 Stunden angenommen oder abgelehnt werden
Ausschnitt aus der Schüttorfer Zeitung vom 9. Nov. 1918
Unter der zweiten Schlagzeile erfuhren die Schüttorfer, dass Friedrich
Ebert und Philipp Scheidemann, die beiden führenden Sozialdemokraten,
nach erneuter Beratung der Gesamtlage dem neuen Reichskanzler Prinz Max
von Baden ein Ultimatum mit vier Forderungen stellen wollten. Diese vier
Forderungen waren:
 Aufhebung der Versammlungsverbote,
mokratie in Deutschland – Bilddokumentation zur Geschichte der SPD, herausgegeben vom Vorstand der SPD, Bonn, 1996, Seite 49.
18
Ferdinand Foch (1851-1919) erhielt den militärischen Titel eines Marschalls nicht nur von den
Franzosen, sondern auch von den Briten und den Polen. Nach dem 1. Weltkrieg gehörte er zu den
Hardlinern, die für eine Verschiebung der französischen Grenze bis an den Rhein und für eine
Zerstückelung des deutschen Reiches eintraten.
8
 Umgestaltung der preußischen Landesregierung im Sinne der Reichstagsmehrheit19,
 Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in den übrigen Ländern des Reiches20 und
 Abdankung des Kaisers bis zum Mittag des folgenden Tages21.
Damit war ein klares Ziel vorgegeben. Aber nach weiteren Meldungen, die
über Budapest zur Schüttorfer Zeitung gelangt waren, hatte der Kaiser diese
Forderungen abgelehnt.
Paul von Hindenburg, Kaiser Wilhelm II. und Erich Ludendorff
im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa.
19
Seit der Reform der Bismarckschen Verfassung und der Einführung einer parlamentarischen
Monarchie im Reich (so genannte „Oktoberreformen“) war die Reichsregierung bereits im Sinne
der Reichstagsmehrheit umgebildet. Als „Minister ohne Portefeuille“ nahm z. B. Philipp Scheidemann an den Kabinettssitzungen teil. Die oben genannte Forderung nach Umgestaltung der preußischen Regierung bezieht sich nicht auf die Reichsebene, sondern auf das Land Preußen, in dem
der Kaiser nach wie vor das Sagen hatte.
20
Diese Forderung (wörtlich: „der sozialdemokratische Einfluß im Reiche“) bezieht sich auf die
übrigen Länder innerhalb des Deutschen Reiches, also auf Bayern, Württemberg, Oldenburg usw.
21
In dem Artikel ist kein genaues Datum angegeben.
9
Kaiser Wilhelm II. befand sich am 9. November schon nicht mehr in
Berlin. Einen Tag nach der Parlamentarisierung22 der von Bismarck entworfenen Reichsverfassung hatte er Berlin verlassen und war entgegen dem ausdrücklichen Rat des neuen vom Parlament getragenen Kanzlers Prinz Max
von Baden in den belgischen Badeort Spa ausgewichen. Dort befand sich das
Hauptquartier der Obersten Heeresleitung mit den beiden reaktionären Oberbefehlshabern Hindenburg und Ludendorff.23
Im Verlauf des Krieges hatte sich die Oberste Heeresleitung unter der
Führung von Hindenburg und Ludendorff immer mehr zum eigentlichen
Machtzentrum des Reiches aufgeschwungen. Und jetzt, nach der Änderung
der Verfassung, wurde die Oberste Heeresleitung für den Kaiser zu einem
willkommenen Gegenpol zur Reichsregierung in Berlin. Die große Frage war,
was wirklich hinter dem Umzug des Kaisers steckte. Offiziell hieß es, seine
persönliche Sicherheit sei in Berlin und Potsdam nicht mehr gewährleistet. Es
gab jedoch Überlegungen, der Kaiser solle sich an die Spitze seines 1. Garderegiments stellen und auf Berlin losmarschieren.24
Die Schüttorfer Zeitung erschien zweimal in der Woche. Jede Ausgabe
enthielt deswegen außer den aktuellen Nachrichten auch Meldungen, die
schon einige Tage alt waren. Am Sonnabend, dem 9. November 1918, gab es
mehrere Berichte25, die sich auf die revolutionären Vorgänge in Kiel und anderswo bezogen. Leider fehlt uns die Zeit, näher darauf einzugehen. Ich beschränke mich auf zwei kleine Ausschnitte. Der erste beschreibt die allgemeine Lage in Kiel mit den folgenden Worten:
„Der Dienstagmorgen fing ruhig an (gemeint ist Dienstag, der 5. November). Alle Geschäfte waren geöffnet. Das Hauptpostgebäude und der
Hauptbahnhof sind von Soldaten der Marine besetzt.“26
Der zweite Zeitungsausschnitt stammte ebenfalls vom Dienstag und
enthielt den Aufruf des Kieler Soldatenrates:
22
In der so genannten „Oktoberreform“ wurde die Bismarcksche Reichsverfassung in einem entscheidenden Punkt verändert: Die Reichsregierung war auf das Vertrauen der Parlamentsmehrheit angewiesen (= Parlamentarisierung).
23
Es handelt sich um den Generalfeldmarschall und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) und um den Generalquartiermeister Erich Ludendorff (1865-1937), der 1923 an
dem Münchener Putschversuch Adolf Hitlers beteiligt war.
24
Wehler, Gesellschaftsgeschichte S. 185. Dort heißt es über den Kaiser u. a.: „An ihrer Spitze werde er
Berlin und Preußen wieder zurückerobern oder im Kampf fallen. «Wenn mir das Geringste passiert, dann
schreibe ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mein eigenes Schloss
zerschieße, aber Ordnung soll sein.»“ Vgl. auch: Hohlfeld, Quellenwerk, S. 405 - 410.
25
Schüttorfer Zeitung unter der Überschrift „Die Vorgänge in Kiel und Hamburg“.
26
Schüttorfer Zeitung, Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918 (Eig. Drahtbericht).
10
„Kameraden! Der gestrige Tag wird in der Geschichte Deutschlands für ewig
denkwürdig sein. Zum ersten Male ist die politische Macht in die Hände des
Soldatenrates gelegt worden. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Große Aufgaben
liegen vor uns. Aber damit sie erfüllt werden können, ist Einigkeit und Geschlossenheit der Bewegung erforderlich. Wir haben einen Soldatenrat eingesetzt, der einmütig mit dem Arbeiterrat verhandelt. Folgt seinen Anweisungen
und sorgt für Ruhe und Ordnung. Denkt auch an die Aufrechterhaltung der
Ordnung in den Kasernen!“27
Auch in unserer Stadt änderte sich nun die Welt!
Schon in den nächsten Tagen jagte eine Versammlung die andere. Viele
Schüttorfer waren wie gelähmt. Aber es gab einige, die sich auf die neue revolutionäre Situation einstellten und das Heft in die Hand nahmen.
Die erste Veranstaltung fand schon am Sonntag, dem 10. November,
statt, gegen Mittag um halb zwölf in der Eschenstraße in der Gastwirtschaft
Steggewentz. Es war eine Versammlung des Arbeitervereins mit dem Thema
„Besprechung der Lage“. Bei diesem Arbeiterverein handelte es sich nicht
um einen Ortsverein der SPD, sondern um eine zwanzig Jahre ältere Gründung aus den Zeiten, als sich in Berlin der Nationalsoziale Verein gründete
und kurz darauf feststellte, dass es in Schüttorf eine ansehnliche Fabrikarbeiterschaft gab, die fast zu hundert Prozent evangelisch war und vor allem noch
nicht unter dem Einfluss der Sozialdemokratie stand.
Anzeige vom 9. November 1918
27
Schüttorfer Zeitung , Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918
11
in der Schüttorfer Zeitung28
Die Nationalsozialen
waren eigentlich kein Verein,
sondern eine politische Partei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen sie, sich von Schüttorf aus
mit je einem Kandidaten an den Wahlen zum Reichstag und zum preußischen
Abgeordnetenhaus zu beteiligen. Für den Reichstag kandidierte der Pastor
Friedrich Naumann (nach dem sich bis heute die Friedrich-Naumann-Stiftung
der FDP benennt). Um einen Sitz im preußischen Landtag bewarb sich der
liberale Redakteur Hellmut von Gerlach. Zur Vorbereitung dieser beiden
Wahlen kauften die Nationalsozialen den Verlag der Schüttorfer Zeitung und
kümmerten sich insbesondere um eine politische Mobilisierung der Arbeiterschaft. Als bleibendes Ergebnis ihrer ansonsten wenig erfolgreichen Bemühungen hinterließen sie in der Grafschaft Bentheim mehrere Arbeitervereine
mit beachtlichen Mitgliederzahlen.29
Der Schüttorfer Arbeiterverein wurde 1898 gegründet30 In Zeitungsanzeigen trat er häufig mit einem Emblem auf, dass an den allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein von Ferdinand Lasalle und den bekannten Händedruck auf der sozialdemokratischen Traditionsfahne von 1863 erinnert. Es ist
deshalb mit Sicherheit nicht abwegig, in dem Schüttorfer Arbeiterverein etwas mehr als nur einen Vorläufer und Wegbereiter der SPD und der Gewerkschaften zu sehen.31
Am Sonntag, dem 10. November 1918, gab es im Stammlokal des Arbeitervereins nur ein Thema: die „Besprechung der Lage“. Vorsitzender des
Arbeitervereins und Leiter der Versammlung war Fritz Lindemann. Referent
war der in diesen unruhigen Tagen am besten informierte Schüttorfer, nämlich Robert Neumann-Hofer, der Besitzer der „Schüttorfer Zeitung“. Er wird
28
Schüttorfer Zeitung Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918.
29
Schüttorfer Zeitung Nr. 93 vom 23. Nov. 1898; vgl. außerdem: Lensing im Jubiläumsband, S.
342: Brudervereine in Gildehaus und Nordhorn entstanden ab 1899.
30
Die Gründung fand am 19. November 1898 „unter Federführung nationalsozialer Politiker“ statt.
Schon am Gründungstag traten ihm 190 Männer bei. Erster Vorsitzender wurde der Redakteur
Ludwig Schwarz von der Schüttorfer Zeitung. Vgl. Lensing im Jubiläumsbuch, S. 396.
31
Helmut Lensing, schreibt in seiner Doktorarbeit, Eleonore Deters reklamiere den 1907 in
Bentheim gegründeten Arbeiterverein „unbesehen für die Parteigeschichte“. Rein formal betrachtet mag das richtig sein. Die bereits vor dem Auftreten der SPD in der Grafschaft vorhandenen
Arbeitervereine sind im juristischen Sinne nicht als Teile der sozialdemokratischen Parteiorganisation zu betrachten. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass in ihnen sozialdemokratisches Gedankengut verbreitet wurde und sie deshalb für die Entwicklung der SPD in der Grafschaft
Bentheim eine große Bedeutung gehabt haben. Für Bentheim weist Eleonore Deters außerdem
darauf hin, dass Heinrich Scharnhorst, der Gründungsvorsitzende des „Arbeitervereins“, später
auch der erste Vorsitzende des Bentheimer SPD-Ortsverein wurde. Vgl. Lensing, Wahlen bis 1917,
Seite 462, und Deters, Festschrift 1995, Seite 15.
12
alles das vorgetragen haben, was in diesen Tagen in seiner Zeitung zu lesen
war.
Am Nachmittag desselben Tages (Sonntag, 10. Nov. 1918) trafen sich
im Saale Lindemann die Soldaten der Schüttorfer Garnison und wählten aus
ihren Reihen einen siebenköpfigen Soldatenrat mit dem Leutnant Jansen und
dem Gefreiten Schnelle an der Spitze. Wie sich bald herausstellte, übernahm
aber ein anderer Gefreiter mit dem Namen Tott die eigentliche politische Führung im Soldatenrat. Im Zeitungsbericht heißt es, dass der „Soldatenrat sofort
die Obliegenheiten“ übernahm. Damit waren die „Kontrolle der militärischen
Angelegenheiten“ und die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“
gemeint. Außerdem war in der Zeitung zu lesen, dass der Hauptmann Gossow
als Garnisonsältester den Soldatenrat inzwischen anerkannt habe. Es ging also
alles mit rechten Dingen zu.32
Am Nachmittag des folgenden Tages (also am Montag, 11. November
1918) fand auf Initiative des Arbeitervereins als dritte Veranstaltung eine gemeinsame Sitzung des Arbeitervereins und des Soldatenrats statt. Die Aufgabe dieser Versammlung bestand darin, gemäß dem Vorbild anderer Städte
auch einen Arbeiterrat zu bilden. In der Sitzung sprachen zu diesem Thema
der Arbeiter Fritz Lindemann als Vorsitzender des Arbeitervereins, die beiden
Gefreiten Schnelle und Tott vom Soldatenrat und der Redakteur Robert
Neumann-Hofer von der Schüttorfer Zeitung. Nach dem Zeitungsbericht ging
es dabei um vier Themenbereiche:

um „die schwere Not des Vaterlandes“,

um „die Pflicht jedes einzelnen, jetzt an dem Neuaufbau des
deutschen Volksstaates mit tätig zu sein“,

um „die Notwendigkeit der Organisation der Arbeiterschaft“ und

um „Besonnenheit, gerechte Auffassung und Ruhe als erste Bür33
gerpflicht“.
32
Zu weiteren Mitgliedern des Soldatenrates wurden gewählt: Landsturmmann Bürgel (1. Schriftführer), Ersatz-Reservist Freude (2. Schriftführer), Landsturmmann Wagner und Landsturmmann
Gratz. Vgl. Schüttorfer Zeitung Nr. 91 vom Mittwoch 13. Nov. 1918.
33
Schüttorfer Zeitung, Nr. 91 vom Mittwoch, 13. Nov. 1918.
13
Traditionsfahne der SPD von 186334
Anschließend gründete die Versammlung einen
vierköpfigen
Arbeiterrat und besetzte ihn
auf Vorschlag des Arbeitervereinsvorstands
mit
dem Redakteur Robert
Neumann-Hofer und den
drei Arbeitern Hermann
Kruse, Heinrich Schulmeister und Johann Weinberg. Zusätzlich wählte die
Versammlung acht weitere
Arbeiter, die zusammen
mit dem vierköpfigen Arbeiterrat den so genannten
Vollzugsausschuss bilden
sollten. Der Vollzugsausschuss bestand somit aus
zwölf Personen.35
Bei der vierten und fünften Veranstaltung handelte es sich um die nun
erforderlich werdenden konstituierenden Sitzungen. Am Dienstagnachmittag
(12. Nov. 1918) tagte zum ersten Mal der Arbeiterrat und wählte Robert
Neumann-Hofer zu seinem Vorsitzenden. Am Abend desselben Tages konstituierte sich der gemeinsame Arbeiter- und Soldatenrat und übernahm in
Schüttorf „die Leitung der öffentlichen Aufgaben“.36
34
Entnommen: Vorstand der SPD (Hrsg.), Sozialdemokratie in Deutschland – Bilddokumentation
zur Geschichte der SPD, Bonn 1996, S. 14.
35
Die Namen der acht weiteren Mitglieder lauten: F. Lindemann, H. Wenning, G. Temme, F. Mülder, H. Büter, H. Metten, B. Wittrock und Obermeister Pieper (Schüttorfer Zeitung Nr. 91 vom 13.
Nov. 1918).
36
Auch hier wurde Robert-Neumann-Hofer zum Vorsitzenden gewählt. Später bestimmte man ihn
auch zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates auf Kreisebene. Schüttorfer Zeitung Nr.
91 vom Mittwoch, 13. November 1918.
14
Eine frühe Bekanntmachung des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates37
Die nächste Veranstaltung folgte erst gut zwei Wochen später am 1.
Dezember 1918.38 In einer öffentlichen Versammlung wollte der Schüttorfer
Arbeiter- und Soldatenrat die wichtigsten Aufgaben der nächsten Zeit zur
Diskussion stellen. Dazu eingeladen hatten Robert Neumann-Hofer für den
Arbeiterrat und Leutnant Jansen für den Soldatenrat.
Im Laufe dieser Versammlung kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei angereisten Funktionären aus Rheine und Münster.
Beide Redner traten sowohl im Namen einer Gewerkschaft, als auch im Namen einer politischen Partei auf. Der erste war Heinrich Camps aus Münster.
Er war Mitglied der katholischen Zentrumspartei und Bezirksleiter des Christlichen Textilarbeiterverbandes in Münster (CTV). Der zweite war Heinrich
Matthies, Mitglied der SPD und Gewerkschaftssekretär des Deutschen Textilarbeiterverbandes in Rheine (DTV). Der Gewerkschaftsekretär Heinrich
Matthies und der Gefreite Tott riefen dazu auf, sich zu organisieren, womit
wahrscheinlich in erster Linie der Eintritt in eine Gewerkschaft gemeint war,
aber der Eintritt in die SPD sicherlich nicht unerwähnt blieb.39
37
Bei der im Aufruf genannten Anschrift des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates handelt es
sich wahrscheinlich um das ehemalige Haus Koppelmann, das während der Zeit der Militärgarnison Offizierskasino war (allerdings nicht Mauerstraße 84, sondern 48).
38
Schüttorfer Zeitung Nr. 97 vom 4. Dezember 1918.
39
Schüttorfer Zeitung Nr. 97 vom 4. Dez. 1918; auch: Lensing, SPD in Schüttorf, S. 47.
15
Es gab noch ein zweites Thema, das in dieser Versammlung für Aufregung sorgte. Ein führender Vertreter des Bentheimer Soldatenrates mit dem
Namen Müller griff den Versammlungsleiter Neumann-Hofer an und äußerte
den Verdacht, der konservative Bentheimer Landrat Kriege habe bei der Bildung des Schüttorfer Arbeiterrates seine Hand im Spiele gehabt. Der Schüttorfer Arbeiterrat sei kein Arbeiterrat, sondern ein „Salonarbeiterrat“. Neumann-Hofer wies diese Verdächtigung zurück und rief als Versammlungsleiter den Kritiker zur Ordnung.40
Anzeige in der Schüttorfer Zeitung für eine Gewerkschaftsversammlung
Die nächste Veranstaltung fand genau eine Woche später, am Sonntag
dem 8. Dezember 1918, nachmittags um vier Uhr im großen Lindemannschen
Saal statt. Es war eine reine Gewerkschaftsversammlung. Heinrich Matthies
wollte die Ernte einfahren, die in den letzten Wochen für ihn und seine Arbeit
herangereift war. Schon in der Einladung in der Schüttorfer Zeitung formulierte er: „Der Arbeiter erste Pflicht ist es, sich zu organisieren. Besonders
die mit neuen Rechten und Pflichten ausgestatteten Arbeiterinnen fordern wir
auf, alle zu kommen, da bei den bislang politisch entrechteten Frauen Aufklärung ganz besonders nottut.“
Mit dem Ergebnis dieser Veranstaltung konnte Matthies zufrieden sein.
Wir wissen zwar nicht, wie viele Mitglieder er an diesem Tage aufgenommen
40
Schüttorfer Zeitung Nr. 97 außerdem: Lensing, SPD in Schüttorf, S. 47.
16
hat41, können aber späteren Ausgaben der Schüttorfer Zeitung entnehmen,
dass die Mitgliederzahl des DTV sehr schnell auf eine beachtliche Höhe anwuchs. Bereits im März 1919 wurde die Zahl von 400 überschritten. Im Juli
gab es schon über 500 Mitglieder und zwei Jahre später reichte die Zahl aus,
um in Schüttorf eine eigene Geschäftsstelle des Textilarbeiterverbandes mit
einem hauptamtlichen Gewerkschaftssekretär einzurichten, der bezeichnenderweise zugleich Mitglied der SPD war. Er hieß Robert Lenßen und spielte
in der Weimarer Zeit in der Schüttorfer Kommunalpolitik eine führende Rolle.
Im Vergleich zur Entwicklung der Gewerkschaften erhalten wir aus der
Schüttorfer Zeitung nur spärliche Informationen über den Aufbau der SPD als
Partei. Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich das Fehlen eines Gründungsprotokolls bedauert und dafür u. a. die Nationalsozialisten verantwortlich gemacht. Vielleicht müssen wir aber davon ausgehen, dass es gar keine
richtige Gründungsversammlung gegeben hat und uns aus diesem Grunde
auch kein förmliches Gründungsprotokoll vorliegen kann.
Mit einer solchen Vorstellung ließe sich gut vereinbaren, dass die
Schüttorfer Sozialdemokraten sich zunächst lediglich als eine „Ortsgruppe“
und nicht als „Verein“ betrachteten.42 In Schüttorf war ein solcher Name keineswegs üblich.43 Lediglich vom DTV ist bekannt, dass er sich ebenfalls als
„Ortsgruppe“ bezeichnete. Wie wir aber schon gesehen haben, befand sich
auch der Schüttorfer DTV noch im Aufbau und unterstand organisatorisch der
Geschäftsstelle in Rheine.
Auch bei der Nominierung der Kandidaten für die ersten Kommunalwahlen wird deutlich, dass die Schüttorfer Sozialdemokraten offensichtlich
noch nicht die Rechte eines vollwertigen Ortsvereins wahrgenommen und
wohl auch nicht angestrebt haben. Die Kandidatenaufstellung wurde nahezu
41
Die Schüttorfer Zeitung berichtet, nach Versammlungsschluss hätten sich „wohl die meisten
noch nicht organisierten Arbeiter einschreiben lassen, und damit dürfte die Organisation der
Schüttorfer Arbeiterschaft abgeschlossen sein.“ Vgl. Schüttorfer Zeitung vom Mittwoch, dem 11.
Dezember 1918.
42
So zum Beispiel in dem Nachruf für das am 31. Mai 1920 verstorbene SPD-Mitglied RobertNeumann-Hofer. Vgl. Schüttorfer Zeitung Nr. 46 vom 5. Juni 1920. Innerhalb der SPD bezeichneten sich die lokalen Vereine nach alter Vorkriegsgewohnheit in der Regel als „Wahlverein“. So hat
Fritz Bruns als das früheste bekannte Schüttorfer SPD-Mitglied seine Mitgliedschaft am 29. Dezember 1912 in Plauen im Vogtland im „Sozialdemokratischen Verein für den 23. sächsischen
Reichstagswahlkreis“ angetreten. Unterhalb der Ebene des „sozialdemokratischen Vereins“ gehörte er dann der „Ortsgruppe“ Plauen an.
43
In Schüttorf war die Bezeichnung „Verein“ allgemein üblich. Neben dem Arbeiterverein gab es
nicht nur den Bürgerverein, sondern nach der Zusammenstellung von Rektor Wilhelm Berge auch
den Kriegerverein, den Schützenverein, den Männergesangverein, den ev. Jünglings-und Männerverein, den kirchlichen Blaukreuzverein, den kirchlichen Jungfrauenverein, den Turnverein, den
Schweine-, Rindvieh- und Pferdeversicherungsverein und den Vaterländischen Frauenverein- Vgl.
Wilhelm Berge Ortschronik, S. 335 bis 337. Lensing nennt im Jubiläumsbuch der Stadt Schüttorf
zusätzlich noch den Kriegerverein und den Deutschen Flotten-Verein (Seiten 390/391).
17
selbstverständlich als eine Aufgabe des Arbeitervereins angesehen. Aus der
Schüttorfer Zeitung geht hervor, dass es am 8. Februar 1919 auch in der Monatsversammlung des Textilarbeiterverbandes zwar „eine lebhafte Debatte“
über die bevorstehende Kommunalwahl gab, dass man sich aber innerhalb der
Gewerkschaft, wie es schon in der Tagesordnung vorgesehen war, mit einer
„Stellungnahme“ begnügte. Diese Stellungnahme bestand darin, dass man
„mit dem Arbeiterverein gemeinsam vorgehen“ wolle und „die Angelegenheit“ deshalb „bis zur Generalversammlung des Arbeitervereins zurückgestellt“ wird.
Die erste Veranstaltung, die in der Schüttorfer Zeitung als eine wirkliche SPD-Veranstaltung ausgewiesen ist, fand am 26. Januar 1919 statt. Sie
wurde bezeichnenderweise nicht von dem vielleicht erst später gewählten
Vorsitzenden Gustav Hermenau einberufen und geleitet, sondern von dem
Soldatenratsmitglied Tott, der kurze Zeit später im Zusammenhang mit der
Garnisonsauflösung in seine Heimat zurückkehrte. In dieser ersten SPDKundgebung wurden die Schüttorfer Arbeiter aufgerufen, sich genauso straff
zu organisieren wie die Mitglieder der katholischen Zentrumspartei und „der
Ortsgruppe der MSPD“ beizutreten.44 Der Historiker Helmut Lensing sieht in
dieser Versammlung „die erste definitive Erwähnung eines Ortsvereins der
Partei in Schüttorf, welcher somit spätestens im Januar 1919 gegründet wurde.“ 45
Der Arbeiterverein war in Schüttorf während der ersten Nachkriegszeit
zweifellos das allgemein anerkannte Sprachrohr der Arbeiterschaft. Unter
dem Motto „Einigkeit macht stark“ führte er regelmäßig einmal im Monat
eine Mitgliederversammlung durch. Er hatte sich seit langem bewährt und
war als Meinungsführer der Arbeiter unangefochten. Angesichts dieser Situation gab es für einen sozialdemokratischen Parallelverein eigentlich keinen
Bedarf. Aus der Sicht der Arbeiter kam es in erster Linie darauf an,

dass man die Geschlossenheit der Arbeiter bewahrte,

dass man sich in einer Gewerkschaft organisierte und

dass man bei politischen Themen gemeinsam an einem Strang
zog.
Wer der SPD beitrat, wusste, dass er seine SPD-Mitgliedschaft in diesem Sinne auffassen musste. Aus heutiger Sicht ist dabei zu berücksichtigen,
dass die gesamte SPD sich damals noch als eine Partei der Arbeiterklasse verstand und sich in ihrem Programm auf die Theorien von Karl Marx berief.46
44
MSPD ist die Abkürzung für Mehrheitssozialdemokraten (im Gegensatz zu den Unabhängigen
Sozialdemokraten).
45
Lensing, SPD in Schüttorf, S. 49.
46
Auf dem Gothaer Parteitag (23. bis 27. Mai 1875) vereinigten sich der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein (gegründet am 23. Mai 1863 in Leipzig mit Ferdinand Lasalle als erstem Vorsitzen-
18
So kann man auch heute durchaus nachvollziehen, dass sich die Stärke der
Schüttorfer SPD in der Aufbauphase nicht aus der Zahl der SPD-Mitglieder
ergab, sondern aus der Einbettung der Mitglieder in die vorhandenen und sich
jetzt voll entfaltenden allgemeinen Organisationss-Strukturen der Arbeiterschaft.
Dies zeigte sich besonders deutlich, als es in der ersten schweren Krise
der Weimarer Republik darum ging, den Kapp-Lüttwitz-Putsch niederzuschlagen. Am 13. März 1920 hatten sich zwei Vertreter des rückwärts gewandten, demokratiefeindlichen Lagers, nämlich Dr. Wolfgang Kapp und der
General Freiherr von Lüttwitz, mit den aus dem Baltikum zurückkehrenden
Soldaten zusammengetan und sich in einem Militärputsch als neue Reichregierung eingesetzt. Die Führung der Reichswehr hatte sich unter dem Motto
„Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“ geweigert, den Schutz der Regierung zu übernehmen. Die SPD-geführte Regierung flüchtete daraufhin „mit
dem Automobil“ von Berlin nach Dresden und, als es auch dort keinen ausreichenden Schutz gab, von Dresden weiter nach Stuttgart.47
Schon an dem Tag, als Kapp und Lüttwitz ihren Putsch starteten, riefen
die freien Gewerkschaften für das ganze Deutsche Reich den Generalstreik
aus. In den folgenden Tagen schlossen sich die übrigen Gewerkschaften an,
zuletzt die christlichen Gewerkschaften, die zunächst befürchteten, die Kommunisten könnten den Streik ausnutzen, um zusammen mit den unabhängigen
Sozialdemokraten eine deutsche Sowjetrepublik durchzusetzen.48
dem) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (gegründet vom 7 bis 9. August 1869 in Eisenach
mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel). Seitdem nannte sich die Partei „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD)" und behielt diesen Namen bis 1891. Im Jahre 1891 fand in Erfurt
der erste Parteitag nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der damit verbundenen
zwölfjährigen Unterdrückung statt. In Erfurt erhielt die Partei 1891 ihren endgültigen Namen „Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)". Das dort beschlossene „Erfurter Programm" bildete
bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg das Fundament für die politische Arbeit der SPD. Es bestand aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen. Im ersten Teil übernahm das Programm die Grundgedanken des acht Jahre vorher verstorbenen Karl Marx und machte damit den Marxismus zur
offiziellen theoretischen Grundlage der Partei. Im zweiten Teil erhob es dagegen handfeste politische Forderungen zur Besserstellung der Arbeiterschaft und zur Demokratisierung des Staates
und der Gesellschaft. Vgl. Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Bonn 1983
Seiten 29-42 und 52-54. Vgl. außerdem das am 29. Dezember 1912 ausgestellte Parteibuch des
Schüttorfer Sozialdemokraten Fritz Bruns mit dem Erfurter Programm auf den Seiten 2-6.
47
Vgl. Helmut Lensing, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch im Emsland und in der Grafschaft Bentheim und eine
Auswirkungen; in: Emsländische Geschichte, Band 5, Seiten 45 bis 104, hier S. 48-53.
48
Derartige Befürchtungen waren keineswegs abwegig. So meldeten die Kipschen Zeitungen in Neuenhaus
und Nordhorn im März 1920, auf einer DTV-Versammlung im Nordhorner Hotel Bonke sei am 14. März
1920 bekanntgegeben worden, dass sich die Sozialisten aller Richtungen (also die MSPD, die USPD und die
KPD) „wieder zusammengefunden hätten unter der gemeinsamen Forderung: »Diktatur des Proletariats«“. Nach einem Bericht der Schüttorfer Zeitung vom 20. März 1920, forderte der Nordhorner Gewerkschaftssekretär Paul Köhler auf einer Versammlung der streikenden Arbeiter in Schüttorf, nach dem russischen
Vorbild müssten jetzt auch die deutschen Arbeiter die Diktatur des Proletariats erreichen. Vgl. dazu:
Lensing, Kapp-Lüttwitz-Putsch, Seiten 60, 67, 100 und 101.
19
In Schüttorf scheint während
des
Kapp-LüttwitzPutsches die Zusammenarbeit
innerhalb der Arbeiterschaft
gut geklappt zu haben, insbesondere zwischen Textilern
und Eisenbahnern. So erinnere
ich mich, dass mir unser Genosse Fritz Bruns 1973 auf seinem achtzigsten Geburtstag
erzählt hat, wie die Schüttorfer
Arbeiter während des Putsches
eine Dampflokomotive der
Reichsbahn organisiert haben
und damit zu einer Großkundgebung nach Rheine gefahren
sind. Bei der Durchsetzung
dieses Generalstreiks in sehr
unterschiedlichen
Betrieben
lernten die Schüttorfer, dass es
nicht nur auf einen hohen Organisationsgrad in der Textilgewerkschaft ankommt, sonExtrablatt aus Neuenhaus und Nordhorn
dern dass für den politischen
über den Kapp-Lüttwitz-Putsch
Erfolg auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gewerkschaften erforderlich ist. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis gründeten sie gleich nach dem erfolgreich niedergerungenen Militärputsch ein Ortskartell des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Bezeichnenderweise wurde der gesamte Vorstand vorrangig mit Mitgliedern der SPD besetzt. Ledig als Stellvertreter kamen Personen in Frage, die nicht der SPD angehörten.49
Aus der führenden Rolle des Arbeitervereins und der Gewerkschaften
ergaben sich zunächst keinerlei Nachteile für eine erfolgreiche Parteiarbeit.50
49
Dies geht aus einem Notizbuch von Fritz Bruns hervor, in dem er sämtliche am Sonntag, dem
19. Juli 1920, gewählten Personen aufführt, aber den ersten Vorsitzenden (Gen. Kiewitt), den
ersten Kassierer (Gen. Wenning) und den ersten Schriftführer (Gen. Bruns) ausdrücklich als „Genossen“ kennzeichnet und die übrigen Vorstandsmitglieder nur mit ihrem Namen notiertt.
50
Eine längerfristige Auswirkung dieser besonderen Schüttorfer Situation bestand darin, dass die
Schüttorfer SPD sich noch über einen sehr langen Zeitraum (mindestens bis zum Godesberger
Parteitag 1959) fast ausschließlich aus Arbeitern zusammensetzte. Die Stärke des Zentrums beruhte dagegen darauf, dass sie im Rahmen der engen Bindungen an die katholische Kirche schon
20
Die Stärke der sozialdemokratisch geführten Textilarbeitergewerkschaft und
die einvernehmliche Mitwirkung der kleineren Gewerkschaften bildeten eine
breite und sichere Grundlage, die auch in vollem Umfange der Parteiarbeit
zugute kam. Dies zeigte sich in aller Klarheit auch bei den Wahlen, die schon
zu Beginn des Jahres 1919 stattfanden und bei denen zum ersten Mal in
Deutschland auch die Frauen wählen durften. 51
Die Serie der Wahlen begann am 19. Januar 1919 mit der Wahl der
Deutschen Nationalversammlung. Die Nationalversammlung hatte die Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die später nach dem Tagungsort den
Namen „Weimarer Verfassung“ erhielt. Schüttorf bildete zusammen mit
Suddendorf einen Wahlbezirk. Die SPD erhielt 51,7 Prozent der Stimmen und
überschritt damit zum ersten Mal in der Geschichte die 50%-Marke.52
Bei der zweiten Wahl ging es um das Land Preußen, in dem bisher das
Dreiklassenwahlrecht gegolten hatte und in dem jetzt eine Landesversammlung zur Ausarbeitung einer Landesverfassung zu wählen war. Bei dieser
Wahl konnte die SPD ihr Ergebnis sogar noch etwas verbessern. Sie erhielt
jetzt 52,3 Prozent.
Die dritte Wahl war die Kommunalwahl vom 2. März 1919, die man
damals Bürgervorsteherwahl nannte. Bei dieser Wahl konkurrierten in Schüttorf zwei Listen. Die eine war aufgestellt vom Arbeiterverein und die andere
vom Bürgerverein.53 Beide Listen nannten sich nach dem jeweiligen Spitzenkandidaten. Die „Liste Kruse“ des Arbeitervereins erhielt 60,4 Prozent der
Stimmen und damit elf von insgesamt 18 Sitzen im BürgervorsteherKollegium. Die „Liste Maschmeyer“ des Bürgervereins bekam sieben Sitze
und war damit eindeutig auf den zweiten Rang verwiesen.
Die elf Kandidaten, die nach diesem Wahlsieg in das BürgervorsteherKollegium einzogen, hießen:
Lagermeister Hermann Kruse,
Werkmeister Bernhard Roolfing,
Weber Gerhard Kock
eine Volkspartei war, die neben Fabrikarbeitern von Anfang an auch viele Angestellt und Beamte
als Mitglieder umfasste. Vgl dazu: Lensing, Parteien und Verbände in Schüttorf, S. 370.
51
Das Frauenwahlrecht wurde schon zur Vorbereitung der Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung eingeführt, und zwar von der MSPD im Rat der Volksbeauftragten.
52
Bei der letzten Reichstagswahl vor dem 1. Weltkrieg hatte die SPD in Schüttorf, lediglich 4,4
Prozent der Stimmen erhalten (Lensing, Wahlen bis 1918, S. 531).
53
Vor der Aufstellung der Kandidatenlisten hatte es ein Gespräch zwischen dem Arbeiterverein
und dem Bürgerverein gegeben, ob man vielleicht eine gemeinsame Liste aufstellen solle. Die
Entscheidung fiel in einer Versammlung des Arbeitervereins, in der „nach gründlichem Hin und
Her“ mit großer Majorität beschlossen wurde, „bei den Wahlen selbständig vorzugehen und einen
eigenen Wahlvorschlag zu machen.“ Vgl. Schüttorfer Zeitung vom Mittwoch 12. Februar 1919.
21
Buchdruckereibesitzer Robert Neumann-Hofer,
Desinfektor Gerhard Flothmann,
Handlungsgehilfe Carl Hebrock,
Weber Heinrich Herding,
Arbeiter Heinrich Schulmeister,
Böttchermeister Gustav Hermenau,
Weber Hermann Nordholt und
Arbeiter Heinrich Vorbrock. 54
Diese elf Bürgervorsteher aus der Arbeiterschaft konnten jetzt auch den
Bürgermeister stellen. Sie entschieden sich für Robert Neumann-Hofer, der
damit der erste sozialdemokratische Bürgermeister in der gesamten Grafschaft
wurde. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges sollte er auch der einzige bleiben.
Leider starb Robert Neumann-Hofer bereits nach gut einem Jahr am 31. Mai
1920 in Köln. Die „S. P. D. Ortsgruppe Schüttorf“ ehrte das „Parteimitglied“ in der Schüttorfer Zeitung mit einem würdigen Nachruf.
-----oo0oo----Liebe Genossinnen und Genossen!
Unser Rückblick auf die Endphase des 1. Weltkrieges zeigt uns:
Unter der Führung von Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann haben die
Sozialdemokraten
 aus den unruhigen Zeiten der Novemberrevolution heraus und
 gegen erhebliche Widerstände aus sehr unterschiedlichen Richtungen
 einen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstatt aufgebaut
und
 auf dieser Rechtsgrundlage die ersten freien und gleichen Wahlen
durchgesetzt und dabei
 beachtliche Wahlerfolge errungen!
Eingebettet in diese Grundsteinlegung der Weimarter Demokratie entstand zeitgleich eine eigenständige Schüttorfer Ortsgruppe der SPD. Allen,
54
Die elf gewählten Kandidaten sind hier in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auf der Liste
standen. Gewählt wurde nach dem reinen Verhältniswahlrecht. Das heißt, dass der Wähler nicht
einzelne Kandidaten, sondern nur die Gesamtliste wählen konnte. Wer aus der Liste gewählt war,
richtete sich ausschließlich nach dem Platz auf der Liste.
22
die daran mitgewirkt haben - ob auf der Ebene des Reiches oder hier bei uns
vor Ort - gebühren heute unser aller Dank und eine allgemeine Anerkennung!
Literaturverzeichnis
1. Berge, Wilhelm, Schüttorfer Ortschronik, Eine Sammlung von Aufsätzen zur Geschichte der Stadt Schüttorf, zusammengestellt um 1935, unveröffentlichtes Manuskript;
Kurzfassung: Berge, Ortschronik.
2. Deters, Eleonore, Die SPD in Gildehaus und Bentheim von den Anfängen bis 1933,
in: Festschrift anlässlich des Zusammenschlusses der Ortsvereine Gildehaus und
Bentheim vor 20 Jahren am 25. Januar 1975;
Kurzfassung: Deters, Festschrift 1995.
3. Hohlfeld Johannes (Herausgeber), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, ein Quellenwerk für die politische Bildung
und staatsbürgerliche Erziehung, II. Band: Das Zeitalter Wilhelms II. 1890 – 1918,
S. 405 – 410;
Kurzfassung: Hohlfeld, Quellenwerk.
4. Lensing, Helmut (Bearbeiter), Der erste Weltkrieg und die Inflationsjahre in Schüttorf nach Berichten des Lehrers Wilhelm Berge, in: Emsländische Geschichte Bd.
12, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2005, S. 25-64
Kurzfassung: Lensing/Berge, der 1. Weltkrieg.
5. Lensing, Helmut, Die SPD in Schüttorf von den Anfängen bis 1933, in: Emsländische Geschichte Bd. 6, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte , Dohren 1997, S. 33 bis 87;
Kurzfassung: Lensing, SPD in Schüttorf.
6. Lensing, Helmut, Die Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus im Emsland und in der Grafschaft Bentheim 1867 bis 1918 – Parteiensystem
und politische Auseinandersetzung im Wahlkreis Ludwig Windhorsts während des
23
Kaiserreichs, Verlag der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und
Grafschaft Bentheim, Schloß Clemenswerth, Sögel 1999;
Kurzfassung: Lensing, Wahlen bis 1918.
7. Lensing , Helmut, Nachtrag zu den Schüttorfer Statistiken, in: Emsländische Geschichte Bd. 12, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2005, S. 65 bis 71;
Kurzfassung : Lensing, Nachtrag zu Schüttorfer Statistiken.
8. Lensing, Helmut, Schüttorfer Statistiken – Nachträge zur Stadtgeschichte, in: Emsländische Geschichte Bd. 8, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2000, S. 33 bis 87;
Kurzfassung: Lensing, Schüttorfer Statistiken.
9. Lensing, Helmut, Wahlen, Parteien und Verbände in Schüttorf von 1867 bis 1933,
in: Heinrich Voort (Schriftleiter), 700 Jahre Stadt Schüttorf 1295-1995 – Beiträge
zur Geschichte, Bad Bentheim 1995, S. 333-438;
Kurzfassung: Lensing, im Jubiläumsbuch.
10. Miller, Susanne und Potthoff, Heinrich, Kleine Geschichte der SPD, Darstellung
und Dokumentation 1848-1983, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn
1983;
11. Schulze, Hagen, Kleine deutsche Geschichte – Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum, München 1996;
Kurzfassung: Schulze, Kleine deutsche Geschichte.
12. Vorstand der SPD, Sozialdemokratie in Deutschland, Bild-Dokumentation zur Geschichte der SPD, aktualisierte Auflage, Bonn 1996.
13. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band: Vom Beginn
des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 19141949, München 2003;
Kurzfassung: Wehler , Gesellschaftsgeschichte.
24
Anhang I
a) Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 in Berlin die „deutsche
Republik“ aus.
Der folgende Text enthält einen ca. 1924 von Philipp Scheidemann verfassten Bericht über
die Vorgänge und Hintergründe des 9. November 1918 in Berlin. Der Bericht ist entnommen: Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (LeMOP „Lebendiges virtuelles Museum Online", gemeinsames Projekt des Deutschen Historischen Museums (DHM), des
Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) sowie des FraunhoferInstituts für Software und Systemtechnik).
«Am 9. November 1918 glich der Reichstag schon in den Morgenstunden einem
großen Heerlager. Arbeiter und Soldaten gingen ein und aus. Viele trugen Waffen. Mit
Ebert und anderen Freunden saß ich hungrig im Speisesaal. Es gab wieder nur eine dünne
Wassersuppe. Da stürmte ein Haufen von Arbeitern und Soldaten in den Saal. Gerade auf
unseren Tisch zu. Fünfzig Menschen schrien zugleich "Scheidemann kommen Sie mit uns.
Philipp Du mußt hier raus und reden." Ich wehrte ab. Ach wieviel hatte ich schon reden
müssen. "Du mußt, Du mußt, wenn Unheil verhütet werden soll. Draußen stehen Tausende, die verlangen daß Sie reden. Scheidemann komm schnell, vom Schloßbalkon aus redet
Liebknecht." - "Na wenn schon." "Nein, nein kommen Sie mit, Du mußt reden." Dutzende
redeten auf mich ein, bis ich mit ihnen ging. Die große Wandelhalle zeigte ein dramatisch
bewegtes Bild. Gewehre waren wie Pyramiden zusammengestellt. Vom Hofe herauf hörte
man Pferdegetrappel und Gewieher. In der Halle schienen Tausend gleichzeitig zu reden
und zu schreien. Wir gingen eiligen Schrittes dem Lesesaal zu. Links und rechts von mir
redeten meine Begleiter auf mich ein. Zwischen dem Schloß und dem Reichstag - so wurde
versichert - bewegten sich ungeheure Menschenmassen hin und her. "Liebknecht will die
Sowjetrepublik ausrufen." Was, nun sah ich die Situation klar vor Augen. Deutschland eine
russische Provinz? Eine Sowjetfiliale? Nein! Tausendmal nein! Kein Zweifel, wer jetzt die
Massen vom Schloß her bolschewistisch oder vom Reichstag zum Schloß hin sozialdemokratisch in Bewegung bringt, der hat gesiegt. Ich sah den russischen Wahnsinn vor mir, die
Ablösung der zaristischen Schreckensherrschaft durch die bolschewistische. Nein, nein!
Nur nicht auch das noch in Deutschland nach all dem anderen Elend. Schon stand ich im
Fenster. Vieltausende von Armen reckten sich um die Hüte und Mützen zu schwenken.
Dann wurde es still. ich sprach nur wenige Sätze:
"Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre, grauenhaft waren
die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen, der unglückselige Krieg ist zu
Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not und Elend, werden noch viele Jahre lang auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist
uns nicht erspart geblieben. Unsere Verständigungsvorschläge wurden sabotiert, wir
selbst wurden verhöhnt und verleugnet. Die Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen
inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das waren die Daheimkrieger, die ihre die Eroberungsforderungen bis
25
zum gestrigen Tage ebenso aufrechterhielten, wie sie den verbissensten Kampf gegen jede
Reform der Verfassung und besonders des schändlichen preußischen Wahlsystems, geführt haben. Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden, über sie alle hat das Volk auf der ganzen
Linie gesiegt. Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert
übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden, in ihrer Arbeit für
den Frieden und der Sorge um Arbeit und Brot. Arbeiter und Soldaten, seid euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewußt: Unerhörtes ist geschehen. Große und unübersehbare Arbeit steht uns bevor. Alles für das Volk. Alles durch das Volk. Nichts darf
geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewußt. Das alte und morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue.
Es lebe die deutsche Republik.»
b) Karl Liebknecht proklamiert am 9. November 1918
in Berlin die „freie sozialistische Republik Deutschland“
Der folgende Text enthält (in Auszügen) den Originaltext der Proklamation der
freien sozialistischen Republik Deutschland durch Karl Liebknecht von einem Balkon des
Berliner Schlosses. Der Text ist derselben Quelle entnommen wie der Bericht von Philipp
Scheidemann („ Die ungeliebte Republik“):
»Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der
Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der
Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland. Wir grüßen
unsere russischen Brüder, die vor vier Tagen schmählich davongejagt worden sind. [...]
Der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz
betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem
Zug der auf die Barrikaden Berlins für die Sache der Freiheit Gefallenen, vor den fünfzig,
blutüberströmten Leichnamen, seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute
hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr
Leben gelassen haben. Mit zerspaltenem Schädel, in Blut gebadet wanken diese Opfer der
Gewaltherrschaft vorüber, und ihnen folgen die Geister von Millionen von Frauen und Kindern, die für die Sache des Proletariats in Kummer und Elend verkommen sind. Und Abermillionen von Blutopfern dieses Weltkrieges ziehen ihnen nach. Heute steht eine unübersehbare Masse begeisterter Proletarier an demselben Ort, um der neuen Freiheit zu huldigen. Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle
Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der
Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. [...]
Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten
aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung
des Friedens, des Glücks der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der
26
ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.«
Anhang II
Einige Kurzbiographien von Persönlichkeiten, die die Entstehung der der Schüttorfer SPD
beeinflusst haben:
a) Politiker auf der Reichsebene

Friedrich Ebert (1871-1925)
Friedrich Ebert wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg als Sohn eines
Schneidermeisters geboren. Nach dem Besuch der Volksschule machte er eine
Sattlerlehre und begab sich ab 1889 auf Gesellenwanderschaft durch Deutschland.
27
1891 machte sich Ebert sesshaft
in Bremen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst als Gelegenheitsarbeiter. Nach seiner Heirat mit der Arbeiterin Louise Rump pachtete er 1894 eine Gastwirtschaft und baute sie zu
einem Zentrum gewerkschaftlicher und politischer Arbeit aus. Im gleichen
Jahr wählte ihn die Bremische SPD zu ihrem Vorsitzenden. 1900 wurde er
Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und zugleich Vorsitzender der SPDFraktion.
Friedrich Ebert
Vorsitzender der SPD55
Im Alter von 34 Jahren verließ Friedrich Ebert 1905 die Stadt Bremen.
Man hatte ihn in Berlin zum Sekretär des SPD-Parteivorstands gewählt. Ab
1912 war er Mitglied des Reichstages, ab 1913 als Nachfolger von August
Bebel zusammen mit Otto Haase Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ab 1916 zugleich Vorsitzender der SPDReichstagsfraktion.
Während der Novemberrevolution übernahm Friedrich Ebert 1918 gemeinsam mit Vertretern der abgespaltenen USPD im „Rat der Volksbeauftragten“ die tatsächliche Regierungsverantwortung und setzte u. a. die Wahl
der Nationalversammlung zur Ausarbeitung der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland durch (Weimarer Verfassung). Am 11. Februar 1919
wählte ihn die Weimarer Nationalversammlung zum vorläufigen Reichspräsidenten. Er blieb es bis zu seinem Tode am 28. Februar 1925. Kurz darauf
wurde die nach ihm benannte Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet.
(Quelle: Deutsches Historisches Museum)

55
Philipp Scheidemann (1865 – 1939)
Das Foto wurde etwa 1923 aufgenommen und stammt aus dem Bundesarchiv (Bild Nr. 102 –
00015)
28
Philipp Scheidemann wurde am 26. Juli 1865 in Kassel als Sohn eines
Tapezierer- und Polsterermeisters geboren. Nach dem Besuch der Bürgerschule und der höheren Bürgerschule absolvierte er eine Schriftsetzerlehre
und trat 1883 in die SPD und in die Gewerkschaft ein. Bis 1895 arbeitete er als Schriftsetzer, Korrektor und Faktor und danach als
Redakteur bei sozialdemokratischen Zeitungen in Gießen, Nürnberg, Offenbach und
Kassel. Von 1903 bis 1918 wurde er in Düsseldorf in den Reichstag gewählt. 1913
übernahm er zusammen mit Otto Haase den
Vorsitz der Reichstagsfraktion.
Am 9. Nov. 1918 verkündete Scheidemann vom Reichstagsgebäud aus das Ende
des Kaiserreiches und proklamierte die
Deutsche Republik.57 Scheidemann war Mitglied im „Rat der Volksbeauftragten“, bis
ihn die Nationalversammlung zum ersten
Reichskanzler der Weimarer Republik wählte. Als der Versailler Vertrag unterschrieben
werden musste, trat er als Reichskanzlers
Philipp Scheidemann
zurück und wurde Oberbürgermeisters in
erster Reichskanzler nach dem 1.
56
seiner Heimatstadt Kassel. Von 1920 bis
Weltkrieg
1933 war Scheidemann erneut Reichstagsabgeordneter (jetzt im Wahlkreis Hessen-Nassau). 1933 musste er Deutschland verlassen und lebte bis zu seinem Tode im Ausland, zuletzt in Dänemark.
(Quelle: Deutsches Historisches Museum)

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Karl Liebknecht (1871-1919)
Photographie DHM, Berlin F 65/1896.
Vgl. den Wortlaut der Rede im Anhang I.
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Karl Liebknecht
Anführer des Spartakus58
Karl Liebknecht wurde am 13. August
1871 als Sohn des sozialdemokratischen Politikers Wilhelm Liebknecht in Leipzig geboren.
Er studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie und leistete seinen Wehrdienst als
„Einjährig-Freiwilliger“ 59 ab. Nach Referendariat und Promotion eröffnete Karl Liebknecht
zusammen mit seinem Bruder Theodor eine
Anwaltskanzlei in Berlin. 1900 trat er in die
SPD ein und gehörte von 1901 bis 1913 der
Berliner Stadtverordnetenversammlung an. Auf
Grund der von ihm verfassten Programmschrift
„Militarismus und Antimilitarismus“ wurde er
1907 wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren
Festungshaft verurteilt. Noch während der
Haftzeit wurde er Mitglied des Preußischen
Abgeordnetenhauses.
Als Mitglied des Reichstages stand Karl
Liebknecht ab 1912 auf der äußersten Linken der SPD. Er vertrat eine radikal
antimilitaristische Position und setze sich für den Einsatz des Generalstreiks
als politisches Mittel ein. Am 2. Dezember 1914 lehnte er als erster und einziger Abgeordneter des Reichstages die Bewilligung weiterer Kriegskredite
ab, nachdem er sich im August noch der Parteidisziplin unterworfen und der
Bewilligung der Kredite zugestimmt hatte. Als er im Februar 1915 zum Militärdienst eingezogen wurde, war ihm jede politische Betätigung außer im
Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus untersagt. Trotzdem beteiligte sich Karl Liebknecht an der Bildung der Gruppe „Internationale“, die
später unter dem Namen „Spartakusbund“ bekannt wurde. Im Januar 1916
begannen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit der Herausgabe der von
ihnen verfassten „Spartakusbriefe“. Im gleichen Jahr wurde er wegen seiner
radikalen Kritik an der Fraktionsmehrheit aus der SPD-Reichstagsfraktion
ausgeschlossen.
Als er am 1. Mai in Berlin auf dem Potsdamer Platz eine Friedensdemonstration organisierte, wurde Karl Liebknecht festgenommen und zwei
Monate später unter Verlust seines Reichstagsmandates zu zweieinhalb Jahren
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Photopostkarte; Druck: Max Breslauer, Verlag: Vereinigung internationaler Verlagsanstalten
GmbH, Berlin und Leipzig 1919-1925; (DHM, Berlin Do 77/4381).
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Ein Einjährig-Freiwilliger war in der Kaiserzeit ein Wehrpflichtiger, der nach freiwilliger Meldung
einen verkürzten Wehrdienst von einem Jahr ableisten durfte: „Junge Leute von Bildung, welche
sich während ihrer Dienstzeit selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen, und welche die gewonnenen Kenntnisse in dem vorgeschriebenen Umfange dargelegt haben, werden schon nach einer
einjährigen aktiven Dienstzeit im stehenden Heere - vom Tage des Diensteintritts an gerechnet zur Reserve beurlaubt." (§ 8, Abs. 1 der Deutschen Wehrordnung von 1822).
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Zuchthaus verurteilt. Nachdem er Berufung eingelegt hatte, erhöhte die
nächsthöhere Instanz die Strafe auf vier Jahre und einen Monat. Im Zuge einer allgemeinen Amnestie wurde Liebknecht am 23. Oktober 1918 begnadigt
und von seinen Anhängern begeistert empfangen. Zusammen mit Rosa Luxemburg übernahm er jetzt die Führung des Spartakusbundes. Eine Zusammenarbeit mit der SPD und der USPD lehnte er ab.
Am 9. November 1918 rief Karl Liebknecht mit einem Gruß an die sowjetischen Brüder von einem Balkon des Berliner Schlosses die freie sozialistische Republik Deutschland aus.60 Am 1. Dezember beteiligte er sich an der
Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Nach dem so
genannten „Januaraufstand“ der Spartakisten in Berlin wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von Soldaten der Garde-KavallerieSchützendivision verschleppt, misshandelt und anschließend erschossen.
 Friedrich Naumann (1960-1919)
Friedrich Naumann wurde am 25. März 1860 in einem Pfarrhaus in der
Nähe von Leipzig geboren. Wie sein Vater studierte er ev. Theologie. Nach
einer mehrjährigen Mitwirkung am Rauhen
Haus in Hamburg übernahm er eine Pfarrstelle
im Erzgebirge. 1890 wechselte er als Vereinsgeistlicher in die Innere Mission nach Frankfurt am Main.
1896 gründete Friedrich Naumann den
Nationalsozialen Verein, eine politische Partei, die liberale, sozialreformerische und nationalistische Ziele miteinander verband. Von
Schüttorf aus kandidierte er 1898 für diese
Partei im 3. Hannoverschen Reichstagswahlkreis. Dieser Wahlkreis des früheren Bismarck-Gegners Ludwig Windhorst umfasste
die heutigen Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim (mit Ausnahme der Stadt Papenburg). Im Satireblatt „Kladderadatsch“
Pastor Friedrich Naumann
nannte man diese vom katholischen Zentrum
dominierten Wahlkreis das „Land Muffrika“. Laut Helmut Lensing kandidierte Friedrich Naumann hier nur zu Testzwecken. Das Ergebnis war für Schüttorf eine kleine Sensation. Innerhalb des Stadtgebiets erhielt Naumann auf
Anhieb 51,5 Prozent der Stimmen. Im gesamten Wahlkreis und auf Reichs-
60
Vgl. den Wortlaut der Rede im Anhang I.
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ebene blieb der Nationalsoziale Verein jedoch ohne Erfolg und fusionierte
1903 nach der Wahlniederlage mit der Freisinnigen Vereinigung.
Ab 1907 war Friedrich Naumann Mitglied des Reichstages und blieb es
bis zu seinem Tode (mit einer kurzen Unterbrechung von 1912 bis 1913).
Wahrend dieser Zeit kandidierte Naumann als Mitglied unterschiedlicher Parteien und in verschiedenen Wahlkreisen. So war er nacheinander Mitglied des
Nationalsozialen Vereins, der Freisinnigen Vereinigung und der Fortschrittlichen Volkspartei. Naumann gründete die Zeitschrift „Die Hilfe“, die einen
sozialen Liberalismus vertrat und später von Theodor Heuß herausgegeben
wurde.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Friedrich Naumann der erste Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und für diese Partei
Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung. Naumann starb am 24.
August 1919 in Travemünde. Nach ihm wurde die der FDP nahe stehende
Friedrich-Naumann-Stiftung benannt.
(Quellen: Lensing, Wahlen bis 1918, besonders Seiten 188ff, 195 und 518; außerdem:
Deutsches Historisches Museum und Haus der Geschichte. )
b) Politiker, die von auswärts kamen
und in Schüttorf eine bedeutende Rolle spielten

Hellmut von Gerlach
Hellmut von Gerlach wurde am 2. Februar 1866 in Mönchmotschelnitz
in Schlesien geboren. Er entstammte einer vom preußischen König in den
Adelsstand erhobenen Beamtenfamilie. Nach einem Jurastudium in Genf,
Straßburg, Leipzig und Berlin trat er in den preußischen Staatsdient ein, den
er 1892 wieder verließ, um sich ganz der journalistischen und politischen Arbeit zu widmen.
In seiner politischen Einstellung stand Hellmut von Gerlach zunächst
dem christlich-sozialen und antisemitischen Flügel um den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker nahe. Unter dem Einfluss von Friedrich Naumann wandte er sich dem sozial engagierten Liberalismus zu und gründete zusammen
mit Friedrich Naumann 1896 den Nationalsozialen Verein.
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Hellmut von Gerlach
Hellmut von Gerlach unterstützte in
Schüttorf die Reichstagskandidatur von
Friedrich Naumann und war maßgeblich an
der Gründung mehrerer Arbeitervereine in
der Grafschaft Bentheim und in Lingen beteiligt. Er selbst kandidierte hier 1898 und
1903 für das Preußische Abgeordnetenhaus,
konnte jedoch kein Mandat erringen. Über
seine Erlebnisse während dieser Jahre berichtete er später in seinen Memoiren.61 Einen Sitz im Reichstag errang Hellmut von
Gerlach in einem anderen Wahlkreis in Hessen. Ab 1906 übernahm er die Chefredaktion der Berliner Wochenzeitung „Die Welt
am Montag“, in der er während des 1.
Weltkrieges die Forderungen nach einem
Verständigungsfrieden unterstützte.
Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 gehörte Hellmut von Gerlach zu den Gründern
der Deutschen Demokratischen Partei
(DDP). Als Staatskommissar für Posen und kurzzeitiger Unterstaatssekretär
im preußischen Innenministerium setzte er sich für eine deutsch-polnische
Aussöhnung und für eine Erfüllung der Versailler Vertragsbedingungen ein.
Dadurch war er erheblichen Anfeindungen ausgesetzt.
Redakteur und Mitglied des Nationalsozialen Vereins
1926 erhielt Hellmut von Gerlach den Vorsitz der deutschen Liga für
Menschenrechte, 1930 beteiligte er sich an der Gründung der politisch einflusslosen Radikaldemokratischen Partei und ab 1932 leitete er als Nachfolger des inhaftierten Carl von Ossietzky die Zeitschrift „Die Weltbühne“. 1933
ging er zunächst nach Österreich ins Exil und siedelte dann auf Einladung der
französischen Liga für Menschenrechte nach Paris über. Dort starb Hellmut
von Gerlach am 1. August 1935.
(Quellen: Deutsches Historisches Museum; Lensing, Wahlen bis 1918,
bes. S. 514))

61
Robert Neumann-Hofer (ca. 1862-1920)
Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, ohne Jahresangabe erschienen in Berlin im
Verlag „Die Welt am Montag GmbH“.
33
Die Vorfahren von Robert Neumann-Hofer lebten in Ostpreußen. Sie
gehörten zu den protestantischen Glaubensflüchtlingen, die während der Gegenreformation aus dem katholischen Fürstbistum Salzburg vertrieben und
vom preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) aufgenommen und in Ostpreußen angesiedelt wurden. Der Vater von Robert
Neumann-Hofer war Gutsbesitzer in Lappienen bei Tilsit (im Patenkreis
Elchniederung des Landkreises Grafschaft Bentheim). Die Mutter hieß mit
ihrem Mädchennamen Helene Hofer. Das Geburtsdatum von Robert
Neumann-Hofer liegt nicht genau fest. Er wurde um 1862 in Lappienen geboren.
Robert Neumann- Hofer war zunächst Kapitän und lebte als solcher
mehrere Jahre in Großbritannien. Wegen
einer Herzkrankheit musste er den Beruf
des Kapitäns aufgeben. Er wechselte zum
Journalismus und folgte damit seinem
Bruder Adolf, der in Detmold von einem
Studienfreund den Verlag der Lippischen
Landeszeitung übernommen hatte. Nachdem er sich zunächst zu diesem Bruder
nach Detmold begeben hatte, konnte Robert Neumann-Hofer in Schüttorf zum 1.
April 1902 die „Schüttorfer Zeitung“
kaufen (nach dem Ableben des vorherigen Besitzers).
Die Schüttorfer Zeitung war schon
vorher unter der Regie des NationalsoRobert Neumann-Hofer
zialen Vereins mit den beiden Nebenbläterster SPD-Bürgermeister
tern „Nordhorner Zeitung“ und „Der
in Schüttorf
Grenzbote“ auf eine Auflage von 2.600
Exemplaren angewachsen. Um die Jahrhundertwende war sie die auflagenstärkste Zeitung der Region. Nachdem er
die Schriftleitung zunächst einem hauptamtlichen Redakteur überlassen und
sich selbst mehr um den Druckereibetrieb gekümmert hatte, übernahm er Ende Mai 1905 auch die journalistische Leitung der Zeitung. Dazu gehörten inzwischen auch die „Bentheimer Nachrichten“ und die „Gildehauser Zeitung“. Nach dem Kriegsausbruch verkaufte Neumann-Hofer zum 1. Januar
1915 die „Nordhorner Zeitung“ an den Neuenhauser Verleger Heinrich Kip
(1953-1922). Von allen Grafschafter Presseorganen stand die „Schüttorfer
Zeitung“ der Arbeiterschaft am nächsten.62
62
Diese Bewertung ist von dem Historiker Helmut Lensing übernommen. Vgl. Lensing, NeumannHofer, in: Emsländische Geschichte, Band 6, 263.
34
Im April 1908 übernahm Robert-Neumann-Hofer in Schüttorf bei der
Gründung des gemeinnützigen Bauvereins das Amt des Schriftführers. Nach
den Ideen des ehemals nationalsozialen Bodenreformers Adolf Damaschke
(1865-1935) 63 erhielt der Bauverein insbesondere die Aufgabe, der Arbeiterschaft zu eigenem Haus- und Gartenbesitz zu verhelfen. Zur gleichen Zeit
übernahm Neumann-Hofer in einer schwierigen Situation den Vorsitz im
Bürgerverein. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, übergab er die
Leitung an den Lehrer und späteren Rektor Wilhelm Berge. In diese Zeit fällt
wahrscheinlich auch seine Heirat, über die es allerdings keine Unterlagen
gibt.64 Nachweisbar ist lediglich seine Verlobung mit Mathilde Zwitzers, der
Tochter des Pastors H. H. Zwitzers und dessen Ehefrau, einer geborenen
Nordbeck. Im Herbst 1917 gehörte Neumann-Hofer zur Führungsriege der
neu gegründeten Deutschen Vaterlandspartei, die sich für einen „Siegfrieden“
einsetzte. Kurze Zeit später wählten ihn die damals führenden politischen
Kräfte in der Schüttorfer Gesellschaft in das Bürgervorsteher-Kollegium, das
man mit dem heutigen Stadtrat vergleichen kann.
Die bedeutendste politische Leistung von Robert Neumann-Hofer ist
mit seinem Verhalten in der Nachkriegszeit verbunden. Als die revolutionäre
Entwicklung nach Schüttorf überschwappte, war er sofort zur Mitarbeit bereit
und übernahm von Anfang an Führungsaufgaben. Am Sonntag, dem 10. November 1918, einen Tag nach der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung
der Republik durch Philipp Scheidemann, hielt er in der Versammlung des
Arbeitervereins einen Vortrag über die neu entstandene Lage. Schon am
nächsten Tag wählte man ihn nachmittags zum Vorsitzenden des Arbeiterrates und abends zum Vorsitzenden des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates.
Anfang Januar 1919 übernahm er zusätzlich den Vorsitz im Grafschafter
„Zentral-Arbeiterrat“. Der Historiker Helmut Lensing führt es in erster Linie
auf seinen Einsatz zurück, dass „die politische Umwälzung in der Region verhältnismäßig ruhig verlief.“65
Bei der Bürgervorsteherwahl vom 2. März 1919, der ersten nach demokratischen Regeln durchgeführten Kommunalwahl, kandidierte NeumannHofer auf dem vierten Platz der vom Arbeiterverein eingereichten „Liste
Kruse“. Auf dem Stimmzettel ist seine Wohnung mit der alten Hausnummer
63
Der Bodenreformer Adolf Damaschke hielt sich um die Jahrhundertwende in der Grafschaft auf.
Er gehörte zu den Natinalsozialen und war in Nordhorn an der Gründung des Stadtteils Neuberlin
beteiligt.
64
Es spricht sogar einiges dafür, dass Robert Neumann-Hofer unverheiratet geblieben ist (zum
Beispiel das offensichtliche Fehlen einer eigenen Schüttorfer Familie bei seiner Beerdigung). Andererseits wird berichtet, der spätere Schüttorfer Druckereibesitzer Hermann Kröner habe als
letzter Lehrling in der Druckerei Neumann-Hofer morgens in der Burg Altena immer zuerst den
Ofen in der Wohnung der Familie Neumann-Hofer anheizen müssen (Quelle: Margret Roolfing).
Ob Neumann-Hofer allerdings in der Burg gewohnt hat, bleibt wegen seiner Haus-Nr. 274 nach
wie vor unklar!).
65
Lensing a. a. O. , S. 264.
35
274 gekennzeichnet, ohne dass man heute angeben könnte, wo sich diese
Wohnung innerhalb des Stadtgebietes befand. Zusammen mit zehn Arbeitern
auf dieser Liste wurde er in das Bürgervorsteher-Kollegium gewählt. Nachdem der bisherige Bürgermeister Meyeringh zurückgetreten war, wählte man
ihn zum Bürgermeister der Stadt Schüttorf. Robert Neumann-Hofer übernahm
damit als erster Sozialdemokrat in der gesamten Grafschaft Bentheim das
Amt eines Bürgermeisters. Er blieb der einzige SPD-Bürgermeister bis in die
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Robert Neumann-Hofer starb am 31. Mai 1920 in Köln. Sein übermäßiger politischer Einsatz in den ersten anderthalb Jahren der Nachkriegszeit
und die damit verbundenen häufigen Fahrten mit dem Fahrrad durch die gesamte Grafschaft hatten seiner Gesundheit schwer zugesetzt. Sein Herzleiden
verschlimmerte sich. In Köln hatte er gehofft, noch einmal Erholung und Genesung zu finden. Die Schüttorfer SPD ehrte Robert Neumann-Hofer mit einem Nachruf in der Schüttorfer Zeitung. Beigesetzt wurde er in Detmold, wo
sein Bruder Adolf (1867-1925) ebenfalls eine erhebliche Bedeutung als Politiker und Publizist erlangt hatte und wo er selbst in der ersten Zeit nach der
Aufgabe des Kapitänsberufs gelebt und gearbeitet hatte.
(Quellen; Hellmut Lensing, Neumann-Hofer, Robert, in: Emsländische
Geschichte Band 6, Seiten 262 bis 266)
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