Nonno de Vries In Schüttorf änderte sich die Welt Die Anfänge der Schüttorfer SPD 1918/1919 Erweitertes Manuskript eines Vortrages, gehalten auf einer parteiinternen Geburtstagsfeier am 15. Februar 2009 im Hotel Burg Altena (Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verfassers) 1 In Schüttorf änderte sich die Welt Ein bestimmtes Datum ist für die Gründung des SPD-Ortsvereins Schüttorf nicht überliefert. Dabei ist zu bedenken, dass früher alle Protokolle mit der Hand geschrieben wurden, und wenn das einzige handgeschriebene Protokollexemplar heute nicht mehr vorliegt, so ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Partei bereits vierzehn Jahre nach den ersten Anfängen in Schüttorf wieder verboten wurde. Was dann mit der Kasse des Ortsvereins geschah, wissen wir: Mit einen Bestand von 13 Reichsmark wurde sie vom NS-Staat eingezogen.1 Wo die Protokolle und die anderen Unterlagen geblieben sind, wissen wir heute nicht mehr. Wenn auch das genaue Gründungsdatum unbekannt ist: Es gibt einige glückliche Umstände, die uns in die Lage versetzen, etwas Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen und die Vorgänge um die Entstehung unseres Ortsvereins ein wenig aufzuhellen. Wohl schon bei der Gründung wurde ein Vorsitzender gewählt. Es war der Böttchermeister Gustav Hermenau. Bei vielen war sein Name bereits in Vergessenheit geraten, als plötzlich ein Foto 1 Die von anderen Organisationen einkassierten Summen betrugen beim DTV 158 und beim ADGB 415 Reichsmark. Vgl. Lensing, SPD in Schüttorf.. Siehe auch: StAOS Rep 430 Dez. 201 acc. 16B/65 Nr. 160 Bd. 2 (Auflistung vom 31. 8. 1933). 2 von ihm auftauchte. Es hatte sich im Gepäck seines Enkels befunden, der von Schüttorf nach Hengelo geheiratet hatte und von dort nach Kanada und USA ausgewandert war. 1998 kehrte das Foto zurück nach Schüttorf und wurde uns von seinem Urenkel2 zur Eröffnung des SPD-Büros in der Föhnstraße übergeben. Ein zweiter Lichtblick ist die 1895 gegründete „Schüttorfer Zeitung“.3 Auch sie liefert uns zwar keinen kompletten Bericht über die Gründungsversammlung, wohl aber eine regelmäßige Berichterstattung über alles, was sich nach dem Ende der so genannten „guten, alten Zeit“, die so gut gar nicht war, in Schüttorf ereignete. Die Schüttorfer Zeitung hatte eine große Bedeutung. Ein Fernsehen gab es noch nicht, auch noch kein Radio, und selbst das Telefon war noch eine große Seltenheit. Mit Sicherheit war im Rathaus ein Telefon installiert4, vermutlich auch schon in den Büros der Fabriken5, in der Reichspost6 und in der Garnison. Schüttorf war nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Garnisonsstadt mit viel Militär und einer Nahkampfschule im Schüttorfer Feld.7 2 Manfred Hermenau, Windstraße 2. 3 Verlag und Druckerei der Schüttorfer Zeitung befanden sich in der Burg Altena. Zur Druckerei gehörte auch eine Buchhandlung. In den Anfangsjahren unterschied sich die Schüttorfer Zeitung kaum von den beiden Amtsblättern, der „(Neuen) Bentheimer Zeitung“ (gegründet 1879) und der so genannten Kipschen Zeitung in Neuenhaus („Zeitung und Anzeigeblatt“, gegründet 1874). Nachdem sie 1898 in den Besitz der Nationalsozialen übergegangen war, entwickelte die Schüttorfer Zeitung einen scharfen Oppositionskurs zu den beiden Konkurrenzblättern. Im Oktober 1898 drang sie mit zwei Nebenblättern („Nordhorner Zeitung“ und Lingen-Bentheimer „Grenzbote“) auch nach Nordhorn und Lingen vor. Vgl. Lensing, Wahlen bis 1918, S. 26-30. 4 Der Schüttorfer Lehrer und spätere Rektor Wilhelm Berge musste in den ersten Kriegstagen eine Nachtwache am Telefon im Rathaus übernehmen und schrieb bei dieser Gelegenheit einen langen Brief an seine Tochter. Der Text dieses Briefes ist abgedruckt in: Lensing/Berge, Der erste Weltkrieg, S. 34. 5 In den Schüttorfer Textilfabriken wurde im Laufe des 1. Weltkrieges kaum noch gearbeitet. Das lag wohl in erster Linie an dem Mangel an Rohstoffen (Baumwolle). Lediglich die Firma G. Schümer & Co hatte einen Heeresauftrag und blieb in Betrieb. Vgl. Berge, Ortschronik, S. 317. 6 Ursprünglich war die Post in der Burg Altena untergebracht. 1891 errichtete die Fürstliche Verwaltung ein neues Postgebäude neben dem Eingang zur Burg. Vgl. Berge, Ortschronik, S. 102. 7 Schon 1915 kam eine so genannte Genesungskompagnie nach Schüttorf. Sie wurde in der Kirchschule untergebracht. Zum militärischen Schutz der Grenze folgten 1916 die I. und die II. Kompagnie des III. Landsturm-Infanterie-Ersatz-Bataillon Oldenburg. Die beiden Kompanien waren in den Sälen von Lindemann und Lenzing einquartiert. Dieses Ersatzbataillon diente auch der Ausbildung. Zur Garnison gehörte eine „Standort-Militärmusik“ unter der Leitung des Unteroffiziers Fehling. Im Frühjahr 1917 erhielt Schüttorf eine Maschinengewehrabteilung, deren Pferde bei Lenzing und Arentzen untergebracht waren. Gleichzeitig errichtete man östlich der Quendorfer Straße auf der hochgelegenen Heide des Schüttorfer Feldes eine „Nahkampfschule“ mit einer etwa 200 m langen Hindernisbahn, die am Ende eines jeden Übungstages genommen werden musste. Zu dieser Anlage gehörte auch ein hoher Holzturm, von dem aus man die Übungsgefechte beobachten konnten Die Ausbildungsmannschaften waren in den teilweise stillgelegten Fabrikgebäuden von Gathmann 3 Für die Allgemeinheit war die Schüttorfer Zeitung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wichtigste Informationsquelle. Und weil (im Gegensatz zum 1945 verbrannten Stadtarchiv) fast alle Ausgaben der Schüttorfer Zeitung erhalten geblieben sind, können wir uns heute ein ziemlich genaues Bild machen, sowohl über das, was damals geschah, als auch über das, was die Schüttorfer damals wussten und was sie bewegte. Der entscheidende Anlass für die Entstehung der Schüttorfer SPD ergab sich aus der Abdankung des deutschen Kaisers am 9. November 1918. Für uns ist dieser Tag ein Datum im Geschichtsbuch. Welche Gefühle dieses Ereignis in den damals lebenden Menschen ausgelöst hat, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Berliner Lokal-Anzeiger vom 9. November 1918 Dazu möchte ich eine kleine Geschichte von meinem Großvater erzählen. Er war Lehrer an der einklassigen Schule in Esche und als Beamter nicht nur ein treuer Diener seines Staates, sondern auch, soweit ich das heute noch beurteilen kann, durch und durch kaisertreu und „vaterländisch gesinnt“, wie man das damals nannte. Im Alter von 44/45 Jahren war er in den letzten anderthalb & Gerdemann und G. Schümer & Co untergebracht. Die Offiziere wohnten in Privatquartieren. Ihr Kasino war das Pastoratsgebäude an der Mauerstraße, das nach dem Tode der Witwe von Pastor Koppelmann nicht mehr bewohnt war. Vgl. Wilhelm Berge, Ortschronik, S. 311 bis 313. 4 Kriegsjahren als Soldat in Russland - „zur Okkupation großrussischen Gebietes“, wie es in seinem Militärpass steht. Mehrere Jahre später erhielt mein Großvater während der Zeit der Weimarer Republik in seiner Wohnung in Esche Besuch von einem entfernten holländischen Verwandten, der Mitglied des niederländischen Parlaments in den Haag war („Lid van de tweede Kamer“). Dieser hochrangige Verwandte brachte als Gastgeschenk ein paar Kastanien mit. Sie stammten von dem Baum im Park des Schosses Doorn, unter dem der abgedankte Kaiser Wilhelm II. zur körperlichen Ertüchtigung regelmäßig Holz hackte. Mein Großvater war empört. Er öffnete die Tür des Ofens, mit dem das Zimmer beheizt wurde, und warf die Kastanien vor den Augen seines Gastes ins Feuer. Seine Töchter waren entsetzt. Sie hatten kein Verständnis für das schlechte Benehmen ihres Vaters. Für mich zeigt dieser Vorfall, zu welch radikalen Reaktionen mein Großvater fähig war, wenn er an seinen früheren Kaiser erinnert wurde. Dieser Kaiser, dem er in seinem ganzen Leben voller Vertrauen und zuletzt als Soldat auf langen Märschen durch Russland bis zur völligen Erschöpfung treu gedient hatte, hatte sich, als er nicht mehr weiter wusste, einfach aus dem Staube gemacht. Er hatte sein Volk im Stich gelassen und war noch vor dem Abschluss eines Waffenstillstands nach Holland geflüchtet. 5 Dieses Gefühl, vom Kaiser und der obersten Militärführung vollkommen getäuscht worden zu sein, war im November 1918 weit verbreitet, insbesondere unter den Frontsoldaten, aber nicht nur bei ihnen. Die gesamte Bevölkerung hatte im Steckrübenwinter von 1917 auf 1918 schwer zu leiden gehabt.8 Von den 890.000 Kriegstoten des Jahres 1917 fielen nur knapp 70 % an der Front. Die übrigen 30 Prozent waren Zivilisten, die ihr Leben lassen mussten als Folge einer völlig unzureichenden Ernährung.9 Ausschnitt aus der Schüttorfer Zeitung Angesichts der zunehmend schlechter werdenden Stimmung in der Bevölkerung schloss sich Robert Neumann-Hofer, der Besitzer und Redakteur der Schüttorfer Zeitung, der Deutschen Vaterlandspartei an.10 Das war zu Beginn des Jahres 1918, als diese Durchhaltepartei in der Grafschaft Bentheim mehrere Veranstaltungen abhielt.11 Die ausführliche Berichterstattung mündete in der Forderung nach einem so genannten „Siegfrieden“.12 Der Redakteur erläuterte diesen Frieden als den „eisernen Willen, zu siegen und aus dem Sieg einen Frieden zu gewinnen, der uns für künftige Zeiten sicher stellt vor ähnlicher Not.“ Am Ende des sehr ausführlichen Zeitungsberichts stand ein Gedicht, das uns einen Einblick in die Gedankenwelt der Konservativen in „der guten, alten Zeit“ gibt: „Wir Deutsche dürfen rasten nicht noch ruh‘n. Deutsch sein heißt: froh das Allerschwerste tun. Deutsch sein heißt: alles dulden fest und still. Deutsch sein heißt: müssen, was die Ehre will.“ 13 Robert Neumann-Hofer hatte sich voll und ganz in den Dienst des Vaterlandes begeben, wurde jedoch bald eines Besseren belehrt. Noch im Laufe des Jahres 1918 löste er sich von solchen reaktionären Anwandlungen und stellte 8 Viele Informationen über die Rationierung der Lebensmittel finden sich bei Wilhelm Berge, Ortschronik, S. 303 bis 308. 9 Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, München 1996, S. 157. Die „Deutsche Vaterlandspartei“ wurde am 2. September 1917 in Königsberg gegründet. Vorsitzender war Großadmiral a. D. Alfred von Tirpitz (1849-1930), stellvertretender Vorsitzender Wolfgang Kapp (1859-1922). Die Mitgliederzahlen der Vaterlandspartei übertrafen im Reich wahrscheinlich die der beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD. Ihr Ziel war ein „Siegfrieden“ mit der Annexion Hollands, Luxemburgs, Belgiens und Nordfrankreichs einschließlich der Normandie. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 125 bis 128. 11 Orts- und Kreisvorsitzender dieser Partei war der Schüttorfer Fabrikant Friedrich Kröner. Vgl. Schüttorfer Zeitung Nr. 2 vom Sonnabend, 5. Jan. 1918. 12 In den Diskussionen der damaligen Zeit wurde der „Siegfrieden“ dem „Verständigungsfrieden“ gegenübergestellt. „Vaterländisch gesinnt“ war, wer an den Siegfrieden glaubte. Wer für Verständigung eintrat, galt schon fast als „Vaterlandsverräter“. 13 Schüttorfer Zeitung Nr. 3 vom Mittwoch, 9. Januar 1918. 10 6 sich den Herausforderungen der Gegenwart, nicht nur in seinen persönlichen Ansichten, sondern auch in seiner Zeitung.14 Für alle erkennbar wurde die große Wende durch die Abdankung des Kaisers am 9. November 1918. Gut siebzig Jahre später markiert derselbe Tag im November eine ganz andere Wende in der deutschen Geschichte. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Der Mauerfall und das Ende der DDR waren das Ergebnis einer friedlichen Revolution. Die Novemberrevolution des Jahres 1918 und das Ende des Kaiserreiches verliefen nicht ganz so friedlich. Den Anfang machten die Matrosen, die sich weigerten, die Dampfkessel aufzuheizen und die Anker zu lichten. Auf diese Weise hinderten sie die Kaiserliche Marine daran, zu einer letzten großen Seeschlacht auf das offene Meer auszulaufen.15 Dabei war von Anfang an Gewalt im Spiel, obwohl es den Verantwortlichen zunächst überraschend gut gelang, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen und die Zahl der Opfer gering zu halten. Als sich die Revolution dann immer mehr ausbreitete, entwickelte sich eine Situation mit vielen Unwägbarkeiten. Ohne eine zentrale Lenkung ging die Waffengewalt überall im Lande in spontaner Weise auf Soldatenräte über, von denen man noch nicht wusste, welchen Kurs sie in Zukunft einschlagen würden.16 Dies galt besonders für Berlin. Dort hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November vom Reichstagsgebäude aus die Republik ausgerufen. Nur zwei Stunden später antwortete Karl Liebknecht, der Führer der Spartakusgruppe, mit einem Gegenkonzept und rief mit einem Gruß an die sowjetischen Brüder die „sozialistischen Republik“ aus.17 14 Dabei haben sicherlich auch seine familiären Bindungen eine Rolle gespielt. Robert NeumannHofer hatte zwei ältere Brüder. Der älteste, Dr. Otto Neumann-Hofer, war Schriftsteller, Direktor des Berliner Lessingtheaters und Gründer des Deutschen Opernhauses in Charlottenburg. Der zweite, Dr. Adolf Neumann-Hofer, war Journalist. Von einem befreundeten Studienkollegen übernahm er in Detmold den Verlag der Lippischen Zeitung und gründete dort die Lippische Liberale Volkspartei. Schon vor dem 1. Weltkrieg wurde er Mitglied des Lippischen Landtages und des Berliner Reichstages. Während des Krieges war er als Redner zur Förderung der Truppen-Moral eingesetzt. Für diese Aufgabe war er sicherlich nicht ungeeignet. Denn er war zwar ein treuer Staatsbürger, aber zugleich offen für eine umfassende Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Dadurch hatte er einige Chancen, bei den Frontsoldaten gut anzukommen. Bei den beiden Zeitungsverlegern in Detmold und Schüttorf erkennt man viele Gemeinsamkeiten. Vgl. dazu auch: Lensing, SPD in Schüttorf, S. 47. 15 Der Befehl der Seekriegsleitung zum Auslaufen der gesamten Hochseeflotte gegen die englische „Home Fleet“ erfolgte am 29. Oktober 1918 ohne Wissen der Reichsregierung. Am gleichen Tage verließ der Kaiser Berlin und begab sich zur Obersten Heeresleitung nach Spa. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 183. 16 So schreibt zum Beispiel Wehler, die Arbeiter- und Soldatenrät seien entstanden, „als ob ein Steppenbrand blitzschnell um sich greift“. Sie wurden „überall spontan improvisiert und orientierten sich locker am russischen Vorbild“. Vgl. Wehler a. a. O., S. 192. 17 Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Darstellung und Dokumentation 1848-1983, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1983, S. 83: vgl. außerdem: Sozialde- 7 Wie aber sah es damals bei uns in Schüttorf aus? An diesem 9. November 1918 - es war ein Sonnabend - las man auf der ersten Seite der Schüttorfer Zeitung zwei große Schlagzeilen. Sie lauteten: „Fochs vorläufige Antwort“ und: Das Ultimatum der Sozialdemokraten an den Kaiser! Marschall Foch, der französische Oberkommandierende der feindlichen Truppen,18 hatte am Tage vorher, also am 8. November 1918, auf Bitte der Deutschen um einen Waffenstillstand mit der ultimativen Forderung geantwortet, die Bedingungen der Alliierten müssten innerhalb von 72 Stunden angenommen oder abgelehnt werden Ausschnitt aus der Schüttorfer Zeitung vom 9. Nov. 1918 Unter der zweiten Schlagzeile erfuhren die Schüttorfer, dass Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die beiden führenden Sozialdemokraten, nach erneuter Beratung der Gesamtlage dem neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden ein Ultimatum mit vier Forderungen stellen wollten. Diese vier Forderungen waren: Aufhebung der Versammlungsverbote, mokratie in Deutschland – Bilddokumentation zur Geschichte der SPD, herausgegeben vom Vorstand der SPD, Bonn, 1996, Seite 49. 18 Ferdinand Foch (1851-1919) erhielt den militärischen Titel eines Marschalls nicht nur von den Franzosen, sondern auch von den Briten und den Polen. Nach dem 1. Weltkrieg gehörte er zu den Hardlinern, die für eine Verschiebung der französischen Grenze bis an den Rhein und für eine Zerstückelung des deutschen Reiches eintraten. 8 Umgestaltung der preußischen Landesregierung im Sinne der Reichstagsmehrheit19, Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in den übrigen Ländern des Reiches20 und Abdankung des Kaisers bis zum Mittag des folgenden Tages21. Damit war ein klares Ziel vorgegeben. Aber nach weiteren Meldungen, die über Budapest zur Schüttorfer Zeitung gelangt waren, hatte der Kaiser diese Forderungen abgelehnt. Paul von Hindenburg, Kaiser Wilhelm II. und Erich Ludendorff im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa. 19 Seit der Reform der Bismarckschen Verfassung und der Einführung einer parlamentarischen Monarchie im Reich (so genannte „Oktoberreformen“) war die Reichsregierung bereits im Sinne der Reichstagsmehrheit umgebildet. Als „Minister ohne Portefeuille“ nahm z. B. Philipp Scheidemann an den Kabinettssitzungen teil. Die oben genannte Forderung nach Umgestaltung der preußischen Regierung bezieht sich nicht auf die Reichsebene, sondern auf das Land Preußen, in dem der Kaiser nach wie vor das Sagen hatte. 20 Diese Forderung (wörtlich: „der sozialdemokratische Einfluß im Reiche“) bezieht sich auf die übrigen Länder innerhalb des Deutschen Reiches, also auf Bayern, Württemberg, Oldenburg usw. 21 In dem Artikel ist kein genaues Datum angegeben. 9 Kaiser Wilhelm II. befand sich am 9. November schon nicht mehr in Berlin. Einen Tag nach der Parlamentarisierung22 der von Bismarck entworfenen Reichsverfassung hatte er Berlin verlassen und war entgegen dem ausdrücklichen Rat des neuen vom Parlament getragenen Kanzlers Prinz Max von Baden in den belgischen Badeort Spa ausgewichen. Dort befand sich das Hauptquartier der Obersten Heeresleitung mit den beiden reaktionären Oberbefehlshabern Hindenburg und Ludendorff.23 Im Verlauf des Krieges hatte sich die Oberste Heeresleitung unter der Führung von Hindenburg und Ludendorff immer mehr zum eigentlichen Machtzentrum des Reiches aufgeschwungen. Und jetzt, nach der Änderung der Verfassung, wurde die Oberste Heeresleitung für den Kaiser zu einem willkommenen Gegenpol zur Reichsregierung in Berlin. Die große Frage war, was wirklich hinter dem Umzug des Kaisers steckte. Offiziell hieß es, seine persönliche Sicherheit sei in Berlin und Potsdam nicht mehr gewährleistet. Es gab jedoch Überlegungen, der Kaiser solle sich an die Spitze seines 1. Garderegiments stellen und auf Berlin losmarschieren.24 Die Schüttorfer Zeitung erschien zweimal in der Woche. Jede Ausgabe enthielt deswegen außer den aktuellen Nachrichten auch Meldungen, die schon einige Tage alt waren. Am Sonnabend, dem 9. November 1918, gab es mehrere Berichte25, die sich auf die revolutionären Vorgänge in Kiel und anderswo bezogen. Leider fehlt uns die Zeit, näher darauf einzugehen. Ich beschränke mich auf zwei kleine Ausschnitte. Der erste beschreibt die allgemeine Lage in Kiel mit den folgenden Worten: „Der Dienstagmorgen fing ruhig an (gemeint ist Dienstag, der 5. November). Alle Geschäfte waren geöffnet. Das Hauptpostgebäude und der Hauptbahnhof sind von Soldaten der Marine besetzt.“26 Der zweite Zeitungsausschnitt stammte ebenfalls vom Dienstag und enthielt den Aufruf des Kieler Soldatenrates: 22 In der so genannten „Oktoberreform“ wurde die Bismarcksche Reichsverfassung in einem entscheidenden Punkt verändert: Die Reichsregierung war auf das Vertrauen der Parlamentsmehrheit angewiesen (= Parlamentarisierung). 23 Es handelt sich um den Generalfeldmarschall und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) und um den Generalquartiermeister Erich Ludendorff (1865-1937), der 1923 an dem Münchener Putschversuch Adolf Hitlers beteiligt war. 24 Wehler, Gesellschaftsgeschichte S. 185. Dort heißt es über den Kaiser u. a.: „An ihrer Spitze werde er Berlin und Preußen wieder zurückerobern oder im Kampf fallen. «Wenn mir das Geringste passiert, dann schreibe ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mein eigenes Schloss zerschieße, aber Ordnung soll sein.»“ Vgl. auch: Hohlfeld, Quellenwerk, S. 405 - 410. 25 Schüttorfer Zeitung unter der Überschrift „Die Vorgänge in Kiel und Hamburg“. 26 Schüttorfer Zeitung, Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918 (Eig. Drahtbericht). 10 „Kameraden! Der gestrige Tag wird in der Geschichte Deutschlands für ewig denkwürdig sein. Zum ersten Male ist die politische Macht in die Hände des Soldatenrates gelegt worden. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Große Aufgaben liegen vor uns. Aber damit sie erfüllt werden können, ist Einigkeit und Geschlossenheit der Bewegung erforderlich. Wir haben einen Soldatenrat eingesetzt, der einmütig mit dem Arbeiterrat verhandelt. Folgt seinen Anweisungen und sorgt für Ruhe und Ordnung. Denkt auch an die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Kasernen!“27 Auch in unserer Stadt änderte sich nun die Welt! Schon in den nächsten Tagen jagte eine Versammlung die andere. Viele Schüttorfer waren wie gelähmt. Aber es gab einige, die sich auf die neue revolutionäre Situation einstellten und das Heft in die Hand nahmen. Die erste Veranstaltung fand schon am Sonntag, dem 10. November, statt, gegen Mittag um halb zwölf in der Eschenstraße in der Gastwirtschaft Steggewentz. Es war eine Versammlung des Arbeitervereins mit dem Thema „Besprechung der Lage“. Bei diesem Arbeiterverein handelte es sich nicht um einen Ortsverein der SPD, sondern um eine zwanzig Jahre ältere Gründung aus den Zeiten, als sich in Berlin der Nationalsoziale Verein gründete und kurz darauf feststellte, dass es in Schüttorf eine ansehnliche Fabrikarbeiterschaft gab, die fast zu hundert Prozent evangelisch war und vor allem noch nicht unter dem Einfluss der Sozialdemokratie stand. Anzeige vom 9. November 1918 27 Schüttorfer Zeitung , Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918 11 in der Schüttorfer Zeitung28 Die Nationalsozialen waren eigentlich kein Verein, sondern eine politische Partei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen sie, sich von Schüttorf aus mit je einem Kandidaten an den Wahlen zum Reichstag und zum preußischen Abgeordnetenhaus zu beteiligen. Für den Reichstag kandidierte der Pastor Friedrich Naumann (nach dem sich bis heute die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP benennt). Um einen Sitz im preußischen Landtag bewarb sich der liberale Redakteur Hellmut von Gerlach. Zur Vorbereitung dieser beiden Wahlen kauften die Nationalsozialen den Verlag der Schüttorfer Zeitung und kümmerten sich insbesondere um eine politische Mobilisierung der Arbeiterschaft. Als bleibendes Ergebnis ihrer ansonsten wenig erfolgreichen Bemühungen hinterließen sie in der Grafschaft Bentheim mehrere Arbeitervereine mit beachtlichen Mitgliederzahlen.29 Der Schüttorfer Arbeiterverein wurde 1898 gegründet30 In Zeitungsanzeigen trat er häufig mit einem Emblem auf, dass an den allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von Ferdinand Lasalle und den bekannten Händedruck auf der sozialdemokratischen Traditionsfahne von 1863 erinnert. Es ist deshalb mit Sicherheit nicht abwegig, in dem Schüttorfer Arbeiterverein etwas mehr als nur einen Vorläufer und Wegbereiter der SPD und der Gewerkschaften zu sehen.31 Am Sonntag, dem 10. November 1918, gab es im Stammlokal des Arbeitervereins nur ein Thema: die „Besprechung der Lage“. Vorsitzender des Arbeitervereins und Leiter der Versammlung war Fritz Lindemann. Referent war der in diesen unruhigen Tagen am besten informierte Schüttorfer, nämlich Robert Neumann-Hofer, der Besitzer der „Schüttorfer Zeitung“. Er wird 28 Schüttorfer Zeitung Nr. 90 vom Sonnabend, 9. Nov. 1918. 29 Schüttorfer Zeitung Nr. 93 vom 23. Nov. 1898; vgl. außerdem: Lensing im Jubiläumsband, S. 342: Brudervereine in Gildehaus und Nordhorn entstanden ab 1899. 30 Die Gründung fand am 19. November 1898 „unter Federführung nationalsozialer Politiker“ statt. Schon am Gründungstag traten ihm 190 Männer bei. Erster Vorsitzender wurde der Redakteur Ludwig Schwarz von der Schüttorfer Zeitung. Vgl. Lensing im Jubiläumsbuch, S. 396. 31 Helmut Lensing, schreibt in seiner Doktorarbeit, Eleonore Deters reklamiere den 1907 in Bentheim gegründeten Arbeiterverein „unbesehen für die Parteigeschichte“. Rein formal betrachtet mag das richtig sein. Die bereits vor dem Auftreten der SPD in der Grafschaft vorhandenen Arbeitervereine sind im juristischen Sinne nicht als Teile der sozialdemokratischen Parteiorganisation zu betrachten. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass in ihnen sozialdemokratisches Gedankengut verbreitet wurde und sie deshalb für die Entwicklung der SPD in der Grafschaft Bentheim eine große Bedeutung gehabt haben. Für Bentheim weist Eleonore Deters außerdem darauf hin, dass Heinrich Scharnhorst, der Gründungsvorsitzende des „Arbeitervereins“, später auch der erste Vorsitzende des Bentheimer SPD-Ortsverein wurde. Vgl. Lensing, Wahlen bis 1917, Seite 462, und Deters, Festschrift 1995, Seite 15. 12 alles das vorgetragen haben, was in diesen Tagen in seiner Zeitung zu lesen war. Am Nachmittag desselben Tages (Sonntag, 10. Nov. 1918) trafen sich im Saale Lindemann die Soldaten der Schüttorfer Garnison und wählten aus ihren Reihen einen siebenköpfigen Soldatenrat mit dem Leutnant Jansen und dem Gefreiten Schnelle an der Spitze. Wie sich bald herausstellte, übernahm aber ein anderer Gefreiter mit dem Namen Tott die eigentliche politische Führung im Soldatenrat. Im Zeitungsbericht heißt es, dass der „Soldatenrat sofort die Obliegenheiten“ übernahm. Damit waren die „Kontrolle der militärischen Angelegenheiten“ und die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ gemeint. Außerdem war in der Zeitung zu lesen, dass der Hauptmann Gossow als Garnisonsältester den Soldatenrat inzwischen anerkannt habe. Es ging also alles mit rechten Dingen zu.32 Am Nachmittag des folgenden Tages (also am Montag, 11. November 1918) fand auf Initiative des Arbeitervereins als dritte Veranstaltung eine gemeinsame Sitzung des Arbeitervereins und des Soldatenrats statt. Die Aufgabe dieser Versammlung bestand darin, gemäß dem Vorbild anderer Städte auch einen Arbeiterrat zu bilden. In der Sitzung sprachen zu diesem Thema der Arbeiter Fritz Lindemann als Vorsitzender des Arbeitervereins, die beiden Gefreiten Schnelle und Tott vom Soldatenrat und der Redakteur Robert Neumann-Hofer von der Schüttorfer Zeitung. Nach dem Zeitungsbericht ging es dabei um vier Themenbereiche: um „die schwere Not des Vaterlandes“, um „die Pflicht jedes einzelnen, jetzt an dem Neuaufbau des deutschen Volksstaates mit tätig zu sein“, um „die Notwendigkeit der Organisation der Arbeiterschaft“ und um „Besonnenheit, gerechte Auffassung und Ruhe als erste Bür33 gerpflicht“. 32 Zu weiteren Mitgliedern des Soldatenrates wurden gewählt: Landsturmmann Bürgel (1. Schriftführer), Ersatz-Reservist Freude (2. Schriftführer), Landsturmmann Wagner und Landsturmmann Gratz. Vgl. Schüttorfer Zeitung Nr. 91 vom Mittwoch 13. Nov. 1918. 33 Schüttorfer Zeitung, Nr. 91 vom Mittwoch, 13. Nov. 1918. 13 Traditionsfahne der SPD von 186334 Anschließend gründete die Versammlung einen vierköpfigen Arbeiterrat und besetzte ihn auf Vorschlag des Arbeitervereinsvorstands mit dem Redakteur Robert Neumann-Hofer und den drei Arbeitern Hermann Kruse, Heinrich Schulmeister und Johann Weinberg. Zusätzlich wählte die Versammlung acht weitere Arbeiter, die zusammen mit dem vierköpfigen Arbeiterrat den so genannten Vollzugsausschuss bilden sollten. Der Vollzugsausschuss bestand somit aus zwölf Personen.35 Bei der vierten und fünften Veranstaltung handelte es sich um die nun erforderlich werdenden konstituierenden Sitzungen. Am Dienstagnachmittag (12. Nov. 1918) tagte zum ersten Mal der Arbeiterrat und wählte Robert Neumann-Hofer zu seinem Vorsitzenden. Am Abend desselben Tages konstituierte sich der gemeinsame Arbeiter- und Soldatenrat und übernahm in Schüttorf „die Leitung der öffentlichen Aufgaben“.36 34 Entnommen: Vorstand der SPD (Hrsg.), Sozialdemokratie in Deutschland – Bilddokumentation zur Geschichte der SPD, Bonn 1996, S. 14. 35 Die Namen der acht weiteren Mitglieder lauten: F. Lindemann, H. Wenning, G. Temme, F. Mülder, H. Büter, H. Metten, B. Wittrock und Obermeister Pieper (Schüttorfer Zeitung Nr. 91 vom 13. Nov. 1918). 36 Auch hier wurde Robert-Neumann-Hofer zum Vorsitzenden gewählt. Später bestimmte man ihn auch zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates auf Kreisebene. Schüttorfer Zeitung Nr. 91 vom Mittwoch, 13. November 1918. 14 Eine frühe Bekanntmachung des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates37 Die nächste Veranstaltung folgte erst gut zwei Wochen später am 1. Dezember 1918.38 In einer öffentlichen Versammlung wollte der Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrat die wichtigsten Aufgaben der nächsten Zeit zur Diskussion stellen. Dazu eingeladen hatten Robert Neumann-Hofer für den Arbeiterrat und Leutnant Jansen für den Soldatenrat. Im Laufe dieser Versammlung kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei angereisten Funktionären aus Rheine und Münster. Beide Redner traten sowohl im Namen einer Gewerkschaft, als auch im Namen einer politischen Partei auf. Der erste war Heinrich Camps aus Münster. Er war Mitglied der katholischen Zentrumspartei und Bezirksleiter des Christlichen Textilarbeiterverbandes in Münster (CTV). Der zweite war Heinrich Matthies, Mitglied der SPD und Gewerkschaftssekretär des Deutschen Textilarbeiterverbandes in Rheine (DTV). Der Gewerkschaftsekretär Heinrich Matthies und der Gefreite Tott riefen dazu auf, sich zu organisieren, womit wahrscheinlich in erster Linie der Eintritt in eine Gewerkschaft gemeint war, aber der Eintritt in die SPD sicherlich nicht unerwähnt blieb.39 37 Bei der im Aufruf genannten Anschrift des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates handelt es sich wahrscheinlich um das ehemalige Haus Koppelmann, das während der Zeit der Militärgarnison Offizierskasino war (allerdings nicht Mauerstraße 84, sondern 48). 38 Schüttorfer Zeitung Nr. 97 vom 4. Dezember 1918. 39 Schüttorfer Zeitung Nr. 97 vom 4. Dez. 1918; auch: Lensing, SPD in Schüttorf, S. 47. 15 Es gab noch ein zweites Thema, das in dieser Versammlung für Aufregung sorgte. Ein führender Vertreter des Bentheimer Soldatenrates mit dem Namen Müller griff den Versammlungsleiter Neumann-Hofer an und äußerte den Verdacht, der konservative Bentheimer Landrat Kriege habe bei der Bildung des Schüttorfer Arbeiterrates seine Hand im Spiele gehabt. Der Schüttorfer Arbeiterrat sei kein Arbeiterrat, sondern ein „Salonarbeiterrat“. Neumann-Hofer wies diese Verdächtigung zurück und rief als Versammlungsleiter den Kritiker zur Ordnung.40 Anzeige in der Schüttorfer Zeitung für eine Gewerkschaftsversammlung Die nächste Veranstaltung fand genau eine Woche später, am Sonntag dem 8. Dezember 1918, nachmittags um vier Uhr im großen Lindemannschen Saal statt. Es war eine reine Gewerkschaftsversammlung. Heinrich Matthies wollte die Ernte einfahren, die in den letzten Wochen für ihn und seine Arbeit herangereift war. Schon in der Einladung in der Schüttorfer Zeitung formulierte er: „Der Arbeiter erste Pflicht ist es, sich zu organisieren. Besonders die mit neuen Rechten und Pflichten ausgestatteten Arbeiterinnen fordern wir auf, alle zu kommen, da bei den bislang politisch entrechteten Frauen Aufklärung ganz besonders nottut.“ Mit dem Ergebnis dieser Veranstaltung konnte Matthies zufrieden sein. Wir wissen zwar nicht, wie viele Mitglieder er an diesem Tage aufgenommen 40 Schüttorfer Zeitung Nr. 97 außerdem: Lensing, SPD in Schüttorf, S. 47. 16 hat41, können aber späteren Ausgaben der Schüttorfer Zeitung entnehmen, dass die Mitgliederzahl des DTV sehr schnell auf eine beachtliche Höhe anwuchs. Bereits im März 1919 wurde die Zahl von 400 überschritten. Im Juli gab es schon über 500 Mitglieder und zwei Jahre später reichte die Zahl aus, um in Schüttorf eine eigene Geschäftsstelle des Textilarbeiterverbandes mit einem hauptamtlichen Gewerkschaftssekretär einzurichten, der bezeichnenderweise zugleich Mitglied der SPD war. Er hieß Robert Lenßen und spielte in der Weimarer Zeit in der Schüttorfer Kommunalpolitik eine führende Rolle. Im Vergleich zur Entwicklung der Gewerkschaften erhalten wir aus der Schüttorfer Zeitung nur spärliche Informationen über den Aufbau der SPD als Partei. Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich das Fehlen eines Gründungsprotokolls bedauert und dafür u. a. die Nationalsozialisten verantwortlich gemacht. Vielleicht müssen wir aber davon ausgehen, dass es gar keine richtige Gründungsversammlung gegeben hat und uns aus diesem Grunde auch kein förmliches Gründungsprotokoll vorliegen kann. Mit einer solchen Vorstellung ließe sich gut vereinbaren, dass die Schüttorfer Sozialdemokraten sich zunächst lediglich als eine „Ortsgruppe“ und nicht als „Verein“ betrachteten.42 In Schüttorf war ein solcher Name keineswegs üblich.43 Lediglich vom DTV ist bekannt, dass er sich ebenfalls als „Ortsgruppe“ bezeichnete. Wie wir aber schon gesehen haben, befand sich auch der Schüttorfer DTV noch im Aufbau und unterstand organisatorisch der Geschäftsstelle in Rheine. Auch bei der Nominierung der Kandidaten für die ersten Kommunalwahlen wird deutlich, dass die Schüttorfer Sozialdemokraten offensichtlich noch nicht die Rechte eines vollwertigen Ortsvereins wahrgenommen und wohl auch nicht angestrebt haben. Die Kandidatenaufstellung wurde nahezu 41 Die Schüttorfer Zeitung berichtet, nach Versammlungsschluss hätten sich „wohl die meisten noch nicht organisierten Arbeiter einschreiben lassen, und damit dürfte die Organisation der Schüttorfer Arbeiterschaft abgeschlossen sein.“ Vgl. Schüttorfer Zeitung vom Mittwoch, dem 11. Dezember 1918. 42 So zum Beispiel in dem Nachruf für das am 31. Mai 1920 verstorbene SPD-Mitglied RobertNeumann-Hofer. Vgl. Schüttorfer Zeitung Nr. 46 vom 5. Juni 1920. Innerhalb der SPD bezeichneten sich die lokalen Vereine nach alter Vorkriegsgewohnheit in der Regel als „Wahlverein“. So hat Fritz Bruns als das früheste bekannte Schüttorfer SPD-Mitglied seine Mitgliedschaft am 29. Dezember 1912 in Plauen im Vogtland im „Sozialdemokratischen Verein für den 23. sächsischen Reichstagswahlkreis“ angetreten. Unterhalb der Ebene des „sozialdemokratischen Vereins“ gehörte er dann der „Ortsgruppe“ Plauen an. 43 In Schüttorf war die Bezeichnung „Verein“ allgemein üblich. Neben dem Arbeiterverein gab es nicht nur den Bürgerverein, sondern nach der Zusammenstellung von Rektor Wilhelm Berge auch den Kriegerverein, den Schützenverein, den Männergesangverein, den ev. Jünglings-und Männerverein, den kirchlichen Blaukreuzverein, den kirchlichen Jungfrauenverein, den Turnverein, den Schweine-, Rindvieh- und Pferdeversicherungsverein und den Vaterländischen Frauenverein- Vgl. Wilhelm Berge Ortschronik, S. 335 bis 337. Lensing nennt im Jubiläumsbuch der Stadt Schüttorf zusätzlich noch den Kriegerverein und den Deutschen Flotten-Verein (Seiten 390/391). 17 selbstverständlich als eine Aufgabe des Arbeitervereins angesehen. Aus der Schüttorfer Zeitung geht hervor, dass es am 8. Februar 1919 auch in der Monatsversammlung des Textilarbeiterverbandes zwar „eine lebhafte Debatte“ über die bevorstehende Kommunalwahl gab, dass man sich aber innerhalb der Gewerkschaft, wie es schon in der Tagesordnung vorgesehen war, mit einer „Stellungnahme“ begnügte. Diese Stellungnahme bestand darin, dass man „mit dem Arbeiterverein gemeinsam vorgehen“ wolle und „die Angelegenheit“ deshalb „bis zur Generalversammlung des Arbeitervereins zurückgestellt“ wird. Die erste Veranstaltung, die in der Schüttorfer Zeitung als eine wirkliche SPD-Veranstaltung ausgewiesen ist, fand am 26. Januar 1919 statt. Sie wurde bezeichnenderweise nicht von dem vielleicht erst später gewählten Vorsitzenden Gustav Hermenau einberufen und geleitet, sondern von dem Soldatenratsmitglied Tott, der kurze Zeit später im Zusammenhang mit der Garnisonsauflösung in seine Heimat zurückkehrte. In dieser ersten SPDKundgebung wurden die Schüttorfer Arbeiter aufgerufen, sich genauso straff zu organisieren wie die Mitglieder der katholischen Zentrumspartei und „der Ortsgruppe der MSPD“ beizutreten.44 Der Historiker Helmut Lensing sieht in dieser Versammlung „die erste definitive Erwähnung eines Ortsvereins der Partei in Schüttorf, welcher somit spätestens im Januar 1919 gegründet wurde.“ 45 Der Arbeiterverein war in Schüttorf während der ersten Nachkriegszeit zweifellos das allgemein anerkannte Sprachrohr der Arbeiterschaft. Unter dem Motto „Einigkeit macht stark“ führte er regelmäßig einmal im Monat eine Mitgliederversammlung durch. Er hatte sich seit langem bewährt und war als Meinungsführer der Arbeiter unangefochten. Angesichts dieser Situation gab es für einen sozialdemokratischen Parallelverein eigentlich keinen Bedarf. Aus der Sicht der Arbeiter kam es in erster Linie darauf an, dass man die Geschlossenheit der Arbeiter bewahrte, dass man sich in einer Gewerkschaft organisierte und dass man bei politischen Themen gemeinsam an einem Strang zog. Wer der SPD beitrat, wusste, dass er seine SPD-Mitgliedschaft in diesem Sinne auffassen musste. Aus heutiger Sicht ist dabei zu berücksichtigen, dass die gesamte SPD sich damals noch als eine Partei der Arbeiterklasse verstand und sich in ihrem Programm auf die Theorien von Karl Marx berief.46 44 MSPD ist die Abkürzung für Mehrheitssozialdemokraten (im Gegensatz zu den Unabhängigen Sozialdemokraten). 45 Lensing, SPD in Schüttorf, S. 49. 46 Auf dem Gothaer Parteitag (23. bis 27. Mai 1875) vereinigten sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (gegründet am 23. Mai 1863 in Leipzig mit Ferdinand Lasalle als erstem Vorsitzen- 18 So kann man auch heute durchaus nachvollziehen, dass sich die Stärke der Schüttorfer SPD in der Aufbauphase nicht aus der Zahl der SPD-Mitglieder ergab, sondern aus der Einbettung der Mitglieder in die vorhandenen und sich jetzt voll entfaltenden allgemeinen Organisationss-Strukturen der Arbeiterschaft. Dies zeigte sich besonders deutlich, als es in der ersten schweren Krise der Weimarer Republik darum ging, den Kapp-Lüttwitz-Putsch niederzuschlagen. Am 13. März 1920 hatten sich zwei Vertreter des rückwärts gewandten, demokratiefeindlichen Lagers, nämlich Dr. Wolfgang Kapp und der General Freiherr von Lüttwitz, mit den aus dem Baltikum zurückkehrenden Soldaten zusammengetan und sich in einem Militärputsch als neue Reichregierung eingesetzt. Die Führung der Reichswehr hatte sich unter dem Motto „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“ geweigert, den Schutz der Regierung zu übernehmen. Die SPD-geführte Regierung flüchtete daraufhin „mit dem Automobil“ von Berlin nach Dresden und, als es auch dort keinen ausreichenden Schutz gab, von Dresden weiter nach Stuttgart.47 Schon an dem Tag, als Kapp und Lüttwitz ihren Putsch starteten, riefen die freien Gewerkschaften für das ganze Deutsche Reich den Generalstreik aus. In den folgenden Tagen schlossen sich die übrigen Gewerkschaften an, zuletzt die christlichen Gewerkschaften, die zunächst befürchteten, die Kommunisten könnten den Streik ausnutzen, um zusammen mit den unabhängigen Sozialdemokraten eine deutsche Sowjetrepublik durchzusetzen.48 dem) und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (gegründet vom 7 bis 9. August 1869 in Eisenach mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel). Seitdem nannte sich die Partei „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD)" und behielt diesen Namen bis 1891. Im Jahre 1891 fand in Erfurt der erste Parteitag nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der damit verbundenen zwölfjährigen Unterdrückung statt. In Erfurt erhielt die Partei 1891 ihren endgültigen Namen „Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)". Das dort beschlossene „Erfurter Programm" bildete bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg das Fundament für die politische Arbeit der SPD. Es bestand aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen. Im ersten Teil übernahm das Programm die Grundgedanken des acht Jahre vorher verstorbenen Karl Marx und machte damit den Marxismus zur offiziellen theoretischen Grundlage der Partei. Im zweiten Teil erhob es dagegen handfeste politische Forderungen zur Besserstellung der Arbeiterschaft und zur Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft. Vgl. Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Bonn 1983 Seiten 29-42 und 52-54. Vgl. außerdem das am 29. Dezember 1912 ausgestellte Parteibuch des Schüttorfer Sozialdemokraten Fritz Bruns mit dem Erfurter Programm auf den Seiten 2-6. 47 Vgl. Helmut Lensing, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch im Emsland und in der Grafschaft Bentheim und eine Auswirkungen; in: Emsländische Geschichte, Band 5, Seiten 45 bis 104, hier S. 48-53. 48 Derartige Befürchtungen waren keineswegs abwegig. So meldeten die Kipschen Zeitungen in Neuenhaus und Nordhorn im März 1920, auf einer DTV-Versammlung im Nordhorner Hotel Bonke sei am 14. März 1920 bekanntgegeben worden, dass sich die Sozialisten aller Richtungen (also die MSPD, die USPD und die KPD) „wieder zusammengefunden hätten unter der gemeinsamen Forderung: »Diktatur des Proletariats«“. Nach einem Bericht der Schüttorfer Zeitung vom 20. März 1920, forderte der Nordhorner Gewerkschaftssekretär Paul Köhler auf einer Versammlung der streikenden Arbeiter in Schüttorf, nach dem russischen Vorbild müssten jetzt auch die deutschen Arbeiter die Diktatur des Proletariats erreichen. Vgl. dazu: Lensing, Kapp-Lüttwitz-Putsch, Seiten 60, 67, 100 und 101. 19 In Schüttorf scheint während des Kapp-LüttwitzPutsches die Zusammenarbeit innerhalb der Arbeiterschaft gut geklappt zu haben, insbesondere zwischen Textilern und Eisenbahnern. So erinnere ich mich, dass mir unser Genosse Fritz Bruns 1973 auf seinem achtzigsten Geburtstag erzählt hat, wie die Schüttorfer Arbeiter während des Putsches eine Dampflokomotive der Reichsbahn organisiert haben und damit zu einer Großkundgebung nach Rheine gefahren sind. Bei der Durchsetzung dieses Generalstreiks in sehr unterschiedlichen Betrieben lernten die Schüttorfer, dass es nicht nur auf einen hohen Organisationsgrad in der Textilgewerkschaft ankommt, sonExtrablatt aus Neuenhaus und Nordhorn dern dass für den politischen über den Kapp-Lüttwitz-Putsch Erfolg auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gewerkschaften erforderlich ist. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis gründeten sie gleich nach dem erfolgreich niedergerungenen Militärputsch ein Ortskartell des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Bezeichnenderweise wurde der gesamte Vorstand vorrangig mit Mitgliedern der SPD besetzt. Ledig als Stellvertreter kamen Personen in Frage, die nicht der SPD angehörten.49 Aus der führenden Rolle des Arbeitervereins und der Gewerkschaften ergaben sich zunächst keinerlei Nachteile für eine erfolgreiche Parteiarbeit.50 49 Dies geht aus einem Notizbuch von Fritz Bruns hervor, in dem er sämtliche am Sonntag, dem 19. Juli 1920, gewählten Personen aufführt, aber den ersten Vorsitzenden (Gen. Kiewitt), den ersten Kassierer (Gen. Wenning) und den ersten Schriftführer (Gen. Bruns) ausdrücklich als „Genossen“ kennzeichnet und die übrigen Vorstandsmitglieder nur mit ihrem Namen notiertt. 50 Eine längerfristige Auswirkung dieser besonderen Schüttorfer Situation bestand darin, dass die Schüttorfer SPD sich noch über einen sehr langen Zeitraum (mindestens bis zum Godesberger Parteitag 1959) fast ausschließlich aus Arbeitern zusammensetzte. Die Stärke des Zentrums beruhte dagegen darauf, dass sie im Rahmen der engen Bindungen an die katholische Kirche schon 20 Die Stärke der sozialdemokratisch geführten Textilarbeitergewerkschaft und die einvernehmliche Mitwirkung der kleineren Gewerkschaften bildeten eine breite und sichere Grundlage, die auch in vollem Umfange der Parteiarbeit zugute kam. Dies zeigte sich in aller Klarheit auch bei den Wahlen, die schon zu Beginn des Jahres 1919 stattfanden und bei denen zum ersten Mal in Deutschland auch die Frauen wählen durften. 51 Die Serie der Wahlen begann am 19. Januar 1919 mit der Wahl der Deutschen Nationalversammlung. Die Nationalversammlung hatte die Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die später nach dem Tagungsort den Namen „Weimarer Verfassung“ erhielt. Schüttorf bildete zusammen mit Suddendorf einen Wahlbezirk. Die SPD erhielt 51,7 Prozent der Stimmen und überschritt damit zum ersten Mal in der Geschichte die 50%-Marke.52 Bei der zweiten Wahl ging es um das Land Preußen, in dem bisher das Dreiklassenwahlrecht gegolten hatte und in dem jetzt eine Landesversammlung zur Ausarbeitung einer Landesverfassung zu wählen war. Bei dieser Wahl konnte die SPD ihr Ergebnis sogar noch etwas verbessern. Sie erhielt jetzt 52,3 Prozent. Die dritte Wahl war die Kommunalwahl vom 2. März 1919, die man damals Bürgervorsteherwahl nannte. Bei dieser Wahl konkurrierten in Schüttorf zwei Listen. Die eine war aufgestellt vom Arbeiterverein und die andere vom Bürgerverein.53 Beide Listen nannten sich nach dem jeweiligen Spitzenkandidaten. Die „Liste Kruse“ des Arbeitervereins erhielt 60,4 Prozent der Stimmen und damit elf von insgesamt 18 Sitzen im BürgervorsteherKollegium. Die „Liste Maschmeyer“ des Bürgervereins bekam sieben Sitze und war damit eindeutig auf den zweiten Rang verwiesen. Die elf Kandidaten, die nach diesem Wahlsieg in das BürgervorsteherKollegium einzogen, hießen: Lagermeister Hermann Kruse, Werkmeister Bernhard Roolfing, Weber Gerhard Kock eine Volkspartei war, die neben Fabrikarbeitern von Anfang an auch viele Angestellt und Beamte als Mitglieder umfasste. Vgl dazu: Lensing, Parteien und Verbände in Schüttorf, S. 370. 51 Das Frauenwahlrecht wurde schon zur Vorbereitung der Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung eingeführt, und zwar von der MSPD im Rat der Volksbeauftragten. 52 Bei der letzten Reichstagswahl vor dem 1. Weltkrieg hatte die SPD in Schüttorf, lediglich 4,4 Prozent der Stimmen erhalten (Lensing, Wahlen bis 1918, S. 531). 53 Vor der Aufstellung der Kandidatenlisten hatte es ein Gespräch zwischen dem Arbeiterverein und dem Bürgerverein gegeben, ob man vielleicht eine gemeinsame Liste aufstellen solle. Die Entscheidung fiel in einer Versammlung des Arbeitervereins, in der „nach gründlichem Hin und Her“ mit großer Majorität beschlossen wurde, „bei den Wahlen selbständig vorzugehen und einen eigenen Wahlvorschlag zu machen.“ Vgl. Schüttorfer Zeitung vom Mittwoch 12. Februar 1919. 21 Buchdruckereibesitzer Robert Neumann-Hofer, Desinfektor Gerhard Flothmann, Handlungsgehilfe Carl Hebrock, Weber Heinrich Herding, Arbeiter Heinrich Schulmeister, Böttchermeister Gustav Hermenau, Weber Hermann Nordholt und Arbeiter Heinrich Vorbrock. 54 Diese elf Bürgervorsteher aus der Arbeiterschaft konnten jetzt auch den Bürgermeister stellen. Sie entschieden sich für Robert Neumann-Hofer, der damit der erste sozialdemokratische Bürgermeister in der gesamten Grafschaft wurde. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges sollte er auch der einzige bleiben. Leider starb Robert Neumann-Hofer bereits nach gut einem Jahr am 31. Mai 1920 in Köln. Die „S. P. D. Ortsgruppe Schüttorf“ ehrte das „Parteimitglied“ in der Schüttorfer Zeitung mit einem würdigen Nachruf. -----oo0oo----Liebe Genossinnen und Genossen! Unser Rückblick auf die Endphase des 1. Weltkrieges zeigt uns: Unter der Führung von Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann haben die Sozialdemokraten aus den unruhigen Zeiten der Novemberrevolution heraus und gegen erhebliche Widerstände aus sehr unterschiedlichen Richtungen einen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstatt aufgebaut und auf dieser Rechtsgrundlage die ersten freien und gleichen Wahlen durchgesetzt und dabei beachtliche Wahlerfolge errungen! Eingebettet in diese Grundsteinlegung der Weimarter Demokratie entstand zeitgleich eine eigenständige Schüttorfer Ortsgruppe der SPD. Allen, 54 Die elf gewählten Kandidaten sind hier in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auf der Liste standen. Gewählt wurde nach dem reinen Verhältniswahlrecht. Das heißt, dass der Wähler nicht einzelne Kandidaten, sondern nur die Gesamtliste wählen konnte. Wer aus der Liste gewählt war, richtete sich ausschließlich nach dem Platz auf der Liste. 22 die daran mitgewirkt haben - ob auf der Ebene des Reiches oder hier bei uns vor Ort - gebühren heute unser aller Dank und eine allgemeine Anerkennung! Literaturverzeichnis 1. Berge, Wilhelm, Schüttorfer Ortschronik, Eine Sammlung von Aufsätzen zur Geschichte der Stadt Schüttorf, zusammengestellt um 1935, unveröffentlichtes Manuskript; Kurzfassung: Berge, Ortschronik. 2. Deters, Eleonore, Die SPD in Gildehaus und Bentheim von den Anfängen bis 1933, in: Festschrift anlässlich des Zusammenschlusses der Ortsvereine Gildehaus und Bentheim vor 20 Jahren am 25. Januar 1975; Kurzfassung: Deters, Festschrift 1995. 3. Hohlfeld Johannes (Herausgeber), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, ein Quellenwerk für die politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung, II. Band: Das Zeitalter Wilhelms II. 1890 – 1918, S. 405 – 410; Kurzfassung: Hohlfeld, Quellenwerk. 4. Lensing, Helmut (Bearbeiter), Der erste Weltkrieg und die Inflationsjahre in Schüttorf nach Berichten des Lehrers Wilhelm Berge, in: Emsländische Geschichte Bd. 12, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2005, S. 25-64 Kurzfassung: Lensing/Berge, der 1. Weltkrieg. 5. Lensing, Helmut, Die SPD in Schüttorf von den Anfängen bis 1933, in: Emsländische Geschichte Bd. 6, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte , Dohren 1997, S. 33 bis 87; Kurzfassung: Lensing, SPD in Schüttorf. 6. Lensing, Helmut, Die Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus im Emsland und in der Grafschaft Bentheim 1867 bis 1918 – Parteiensystem und politische Auseinandersetzung im Wahlkreis Ludwig Windhorsts während des 23 Kaiserreichs, Verlag der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim, Schloß Clemenswerth, Sögel 1999; Kurzfassung: Lensing, Wahlen bis 1918. 7. Lensing , Helmut, Nachtrag zu den Schüttorfer Statistiken, in: Emsländische Geschichte Bd. 12, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2005, S. 65 bis 71; Kurzfassung : Lensing, Nachtrag zu Schüttorfer Statistiken. 8. Lensing, Helmut, Schüttorfer Statistiken – Nachträge zur Stadtgeschichte, in: Emsländische Geschichte Bd. 8, herausgegeben von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne 2000, S. 33 bis 87; Kurzfassung: Lensing, Schüttorfer Statistiken. 9. Lensing, Helmut, Wahlen, Parteien und Verbände in Schüttorf von 1867 bis 1933, in: Heinrich Voort (Schriftleiter), 700 Jahre Stadt Schüttorf 1295-1995 – Beiträge zur Geschichte, Bad Bentheim 1995, S. 333-438; Kurzfassung: Lensing, im Jubiläumsbuch. 10. Miller, Susanne und Potthoff, Heinrich, Kleine Geschichte der SPD, Darstellung und Dokumentation 1848-1983, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1983; 11. Schulze, Hagen, Kleine deutsche Geschichte – Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum, München 1996; Kurzfassung: Schulze, Kleine deutsche Geschichte. 12. Vorstand der SPD, Sozialdemokratie in Deutschland, Bild-Dokumentation zur Geschichte der SPD, aktualisierte Auflage, Bonn 1996. 13. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 19141949, München 2003; Kurzfassung: Wehler , Gesellschaftsgeschichte. 24 Anhang I a) Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 in Berlin die „deutsche Republik“ aus. Der folgende Text enthält einen ca. 1924 von Philipp Scheidemann verfassten Bericht über die Vorgänge und Hintergründe des 9. November 1918 in Berlin. Der Bericht ist entnommen: Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (LeMOP „Lebendiges virtuelles Museum Online", gemeinsames Projekt des Deutschen Historischen Museums (DHM), des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) sowie des FraunhoferInstituts für Software und Systemtechnik). «Am 9. November 1918 glich der Reichstag schon in den Morgenstunden einem großen Heerlager. Arbeiter und Soldaten gingen ein und aus. Viele trugen Waffen. Mit Ebert und anderen Freunden saß ich hungrig im Speisesaal. Es gab wieder nur eine dünne Wassersuppe. Da stürmte ein Haufen von Arbeitern und Soldaten in den Saal. Gerade auf unseren Tisch zu. Fünfzig Menschen schrien zugleich "Scheidemann kommen Sie mit uns. Philipp Du mußt hier raus und reden." Ich wehrte ab. Ach wieviel hatte ich schon reden müssen. "Du mußt, Du mußt, wenn Unheil verhütet werden soll. Draußen stehen Tausende, die verlangen daß Sie reden. Scheidemann komm schnell, vom Schloßbalkon aus redet Liebknecht." - "Na wenn schon." "Nein, nein kommen Sie mit, Du mußt reden." Dutzende redeten auf mich ein, bis ich mit ihnen ging. Die große Wandelhalle zeigte ein dramatisch bewegtes Bild. Gewehre waren wie Pyramiden zusammengestellt. Vom Hofe herauf hörte man Pferdegetrappel und Gewieher. In der Halle schienen Tausend gleichzeitig zu reden und zu schreien. Wir gingen eiligen Schrittes dem Lesesaal zu. Links und rechts von mir redeten meine Begleiter auf mich ein. Zwischen dem Schloß und dem Reichstag - so wurde versichert - bewegten sich ungeheure Menschenmassen hin und her. "Liebknecht will die Sowjetrepublik ausrufen." Was, nun sah ich die Situation klar vor Augen. Deutschland eine russische Provinz? Eine Sowjetfiliale? Nein! Tausendmal nein! Kein Zweifel, wer jetzt die Massen vom Schloß her bolschewistisch oder vom Reichstag zum Schloß hin sozialdemokratisch in Bewegung bringt, der hat gesiegt. Ich sah den russischen Wahnsinn vor mir, die Ablösung der zaristischen Schreckensherrschaft durch die bolschewistische. Nein, nein! Nur nicht auch das noch in Deutschland nach all dem anderen Elend. Schon stand ich im Fenster. Vieltausende von Armen reckten sich um die Hüte und Mützen zu schwenken. Dann wurde es still. ich sprach nur wenige Sätze: "Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre, grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen, der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not und Elend, werden noch viele Jahre lang auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist uns nicht erspart geblieben. Unsere Verständigungsvorschläge wurden sabotiert, wir selbst wurden verhöhnt und verleugnet. Die Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das waren die Daheimkrieger, die ihre die Eroberungsforderungen bis 25 zum gestrigen Tage ebenso aufrechterhielten, wie sie den verbissensten Kampf gegen jede Reform der Verfassung und besonders des schändlichen preußischen Wahlsystems, geführt haben. Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden, über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt. Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden, in ihrer Arbeit für den Frieden und der Sorge um Arbeit und Brot. Arbeiter und Soldaten, seid euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewußt: Unerhörtes ist geschehen. Große und unübersehbare Arbeit steht uns bevor. Alles für das Volk. Alles durch das Volk. Nichts darf geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewußt. Das alte und morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die deutsche Republik.» b) Karl Liebknecht proklamiert am 9. November 1918 in Berlin die „freie sozialistische Republik Deutschland“ Der folgende Text enthält (in Auszügen) den Originaltext der Proklamation der freien sozialistischen Republik Deutschland durch Karl Liebknecht von einem Balkon des Berliner Schlosses. Der Text ist derselben Quelle entnommen wie der Bericht von Philipp Scheidemann („ Die ungeliebte Republik“): »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland. Wir grüßen unsere russischen Brüder, die vor vier Tagen schmählich davongejagt worden sind. [...] Der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf die Barrikaden Berlins für die Sache der Freiheit Gefallenen, vor den fünfzig, blutüberströmten Leichnamen, seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. Mit zerspaltenem Schädel, in Blut gebadet wanken diese Opfer der Gewaltherrschaft vorüber, und ihnen folgen die Geister von Millionen von Frauen und Kindern, die für die Sache des Proletariats in Kummer und Elend verkommen sind. Und Abermillionen von Blutopfern dieses Weltkrieges ziehen ihnen nach. Heute steht eine unübersehbare Masse begeisterter Proletarier an demselben Ort, um der neuen Freiheit zu huldigen. Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. [...] Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der 26 ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.« Anhang II Einige Kurzbiographien von Persönlichkeiten, die die Entstehung der der Schüttorfer SPD beeinflusst haben: a) Politiker auf der Reichsebene Friedrich Ebert (1871-1925) Friedrich Ebert wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg als Sohn eines Schneidermeisters geboren. Nach dem Besuch der Volksschule machte er eine Sattlerlehre und begab sich ab 1889 auf Gesellenwanderschaft durch Deutschland. 27 1891 machte sich Ebert sesshaft in Bremen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst als Gelegenheitsarbeiter. Nach seiner Heirat mit der Arbeiterin Louise Rump pachtete er 1894 eine Gastwirtschaft und baute sie zu einem Zentrum gewerkschaftlicher und politischer Arbeit aus. Im gleichen Jahr wählte ihn die Bremische SPD zu ihrem Vorsitzenden. 1900 wurde er Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und zugleich Vorsitzender der SPDFraktion. Friedrich Ebert Vorsitzender der SPD55 Im Alter von 34 Jahren verließ Friedrich Ebert 1905 die Stadt Bremen. Man hatte ihn in Berlin zum Sekretär des SPD-Parteivorstands gewählt. Ab 1912 war er Mitglied des Reichstages, ab 1913 als Nachfolger von August Bebel zusammen mit Otto Haase Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ab 1916 zugleich Vorsitzender der SPDReichstagsfraktion. Während der Novemberrevolution übernahm Friedrich Ebert 1918 gemeinsam mit Vertretern der abgespaltenen USPD im „Rat der Volksbeauftragten“ die tatsächliche Regierungsverantwortung und setzte u. a. die Wahl der Nationalversammlung zur Ausarbeitung der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland durch (Weimarer Verfassung). Am 11. Februar 1919 wählte ihn die Weimarer Nationalversammlung zum vorläufigen Reichspräsidenten. Er blieb es bis zu seinem Tode am 28. Februar 1925. Kurz darauf wurde die nach ihm benannte Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet. (Quelle: Deutsches Historisches Museum) 55 Philipp Scheidemann (1865 – 1939) Das Foto wurde etwa 1923 aufgenommen und stammt aus dem Bundesarchiv (Bild Nr. 102 – 00015) 28 Philipp Scheidemann wurde am 26. Juli 1865 in Kassel als Sohn eines Tapezierer- und Polsterermeisters geboren. Nach dem Besuch der Bürgerschule und der höheren Bürgerschule absolvierte er eine Schriftsetzerlehre und trat 1883 in die SPD und in die Gewerkschaft ein. Bis 1895 arbeitete er als Schriftsetzer, Korrektor und Faktor und danach als Redakteur bei sozialdemokratischen Zeitungen in Gießen, Nürnberg, Offenbach und Kassel. Von 1903 bis 1918 wurde er in Düsseldorf in den Reichstag gewählt. 1913 übernahm er zusammen mit Otto Haase den Vorsitz der Reichstagsfraktion. Am 9. Nov. 1918 verkündete Scheidemann vom Reichstagsgebäud aus das Ende des Kaiserreiches und proklamierte die Deutsche Republik.57 Scheidemann war Mitglied im „Rat der Volksbeauftragten“, bis ihn die Nationalversammlung zum ersten Reichskanzler der Weimarer Republik wählte. Als der Versailler Vertrag unterschrieben werden musste, trat er als Reichskanzlers Philipp Scheidemann zurück und wurde Oberbürgermeisters in erster Reichskanzler nach dem 1. 56 seiner Heimatstadt Kassel. Von 1920 bis Weltkrieg 1933 war Scheidemann erneut Reichstagsabgeordneter (jetzt im Wahlkreis Hessen-Nassau). 1933 musste er Deutschland verlassen und lebte bis zu seinem Tode im Ausland, zuletzt in Dänemark. (Quelle: Deutsches Historisches Museum) 56 57 Karl Liebknecht (1871-1919) Photographie DHM, Berlin F 65/1896. Vgl. den Wortlaut der Rede im Anhang I. 29 Karl Liebknecht Anführer des Spartakus58 Karl Liebknecht wurde am 13. August 1871 als Sohn des sozialdemokratischen Politikers Wilhelm Liebknecht in Leipzig geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie und leistete seinen Wehrdienst als „Einjährig-Freiwilliger“ 59 ab. Nach Referendariat und Promotion eröffnete Karl Liebknecht zusammen mit seinem Bruder Theodor eine Anwaltskanzlei in Berlin. 1900 trat er in die SPD ein und gehörte von 1901 bis 1913 der Berliner Stadtverordnetenversammlung an. Auf Grund der von ihm verfassten Programmschrift „Militarismus und Antimilitarismus“ wurde er 1907 wegen Hochverrats zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Noch während der Haftzeit wurde er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. Als Mitglied des Reichstages stand Karl Liebknecht ab 1912 auf der äußersten Linken der SPD. Er vertrat eine radikal antimilitaristische Position und setze sich für den Einsatz des Generalstreiks als politisches Mittel ein. Am 2. Dezember 1914 lehnte er als erster und einziger Abgeordneter des Reichstages die Bewilligung weiterer Kriegskredite ab, nachdem er sich im August noch der Parteidisziplin unterworfen und der Bewilligung der Kredite zugestimmt hatte. Als er im Februar 1915 zum Militärdienst eingezogen wurde, war ihm jede politische Betätigung außer im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus untersagt. Trotzdem beteiligte sich Karl Liebknecht an der Bildung der Gruppe „Internationale“, die später unter dem Namen „Spartakusbund“ bekannt wurde. Im Januar 1916 begannen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit der Herausgabe der von ihnen verfassten „Spartakusbriefe“. Im gleichen Jahr wurde er wegen seiner radikalen Kritik an der Fraktionsmehrheit aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen. Als er am 1. Mai in Berlin auf dem Potsdamer Platz eine Friedensdemonstration organisierte, wurde Karl Liebknecht festgenommen und zwei Monate später unter Verlust seines Reichstagsmandates zu zweieinhalb Jahren 58 Photopostkarte; Druck: Max Breslauer, Verlag: Vereinigung internationaler Verlagsanstalten GmbH, Berlin und Leipzig 1919-1925; (DHM, Berlin Do 77/4381). 59 Ein Einjährig-Freiwilliger war in der Kaiserzeit ein Wehrpflichtiger, der nach freiwilliger Meldung einen verkürzten Wehrdienst von einem Jahr ableisten durfte: „Junge Leute von Bildung, welche sich während ihrer Dienstzeit selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen, und welche die gewonnenen Kenntnisse in dem vorgeschriebenen Umfange dargelegt haben, werden schon nach einer einjährigen aktiven Dienstzeit im stehenden Heere - vom Tage des Diensteintritts an gerechnet zur Reserve beurlaubt." (§ 8, Abs. 1 der Deutschen Wehrordnung von 1822). 30 Zuchthaus verurteilt. Nachdem er Berufung eingelegt hatte, erhöhte die nächsthöhere Instanz die Strafe auf vier Jahre und einen Monat. Im Zuge einer allgemeinen Amnestie wurde Liebknecht am 23. Oktober 1918 begnadigt und von seinen Anhängern begeistert empfangen. Zusammen mit Rosa Luxemburg übernahm er jetzt die Führung des Spartakusbundes. Eine Zusammenarbeit mit der SPD und der USPD lehnte er ab. Am 9. November 1918 rief Karl Liebknecht mit einem Gruß an die sowjetischen Brüder von einem Balkon des Berliner Schlosses die freie sozialistische Republik Deutschland aus.60 Am 1. Dezember beteiligte er sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Nach dem so genannten „Januaraufstand“ der Spartakisten in Berlin wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von Soldaten der Garde-KavallerieSchützendivision verschleppt, misshandelt und anschließend erschossen. Friedrich Naumann (1960-1919) Friedrich Naumann wurde am 25. März 1860 in einem Pfarrhaus in der Nähe von Leipzig geboren. Wie sein Vater studierte er ev. Theologie. Nach einer mehrjährigen Mitwirkung am Rauhen Haus in Hamburg übernahm er eine Pfarrstelle im Erzgebirge. 1890 wechselte er als Vereinsgeistlicher in die Innere Mission nach Frankfurt am Main. 1896 gründete Friedrich Naumann den Nationalsozialen Verein, eine politische Partei, die liberale, sozialreformerische und nationalistische Ziele miteinander verband. Von Schüttorf aus kandidierte er 1898 für diese Partei im 3. Hannoverschen Reichstagswahlkreis. Dieser Wahlkreis des früheren Bismarck-Gegners Ludwig Windhorst umfasste die heutigen Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim (mit Ausnahme der Stadt Papenburg). Im Satireblatt „Kladderadatsch“ Pastor Friedrich Naumann nannte man diese vom katholischen Zentrum dominierten Wahlkreis das „Land Muffrika“. Laut Helmut Lensing kandidierte Friedrich Naumann hier nur zu Testzwecken. Das Ergebnis war für Schüttorf eine kleine Sensation. Innerhalb des Stadtgebiets erhielt Naumann auf Anhieb 51,5 Prozent der Stimmen. Im gesamten Wahlkreis und auf Reichs- 60 Vgl. den Wortlaut der Rede im Anhang I. 31 ebene blieb der Nationalsoziale Verein jedoch ohne Erfolg und fusionierte 1903 nach der Wahlniederlage mit der Freisinnigen Vereinigung. Ab 1907 war Friedrich Naumann Mitglied des Reichstages und blieb es bis zu seinem Tode (mit einer kurzen Unterbrechung von 1912 bis 1913). Wahrend dieser Zeit kandidierte Naumann als Mitglied unterschiedlicher Parteien und in verschiedenen Wahlkreisen. So war er nacheinander Mitglied des Nationalsozialen Vereins, der Freisinnigen Vereinigung und der Fortschrittlichen Volkspartei. Naumann gründete die Zeitschrift „Die Hilfe“, die einen sozialen Liberalismus vertrat und später von Theodor Heuß herausgegeben wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Friedrich Naumann der erste Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und für diese Partei Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung. Naumann starb am 24. August 1919 in Travemünde. Nach ihm wurde die der FDP nahe stehende Friedrich-Naumann-Stiftung benannt. (Quellen: Lensing, Wahlen bis 1918, besonders Seiten 188ff, 195 und 518; außerdem: Deutsches Historisches Museum und Haus der Geschichte. ) b) Politiker, die von auswärts kamen und in Schüttorf eine bedeutende Rolle spielten Hellmut von Gerlach Hellmut von Gerlach wurde am 2. Februar 1866 in Mönchmotschelnitz in Schlesien geboren. Er entstammte einer vom preußischen König in den Adelsstand erhobenen Beamtenfamilie. Nach einem Jurastudium in Genf, Straßburg, Leipzig und Berlin trat er in den preußischen Staatsdient ein, den er 1892 wieder verließ, um sich ganz der journalistischen und politischen Arbeit zu widmen. In seiner politischen Einstellung stand Hellmut von Gerlach zunächst dem christlich-sozialen und antisemitischen Flügel um den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker nahe. Unter dem Einfluss von Friedrich Naumann wandte er sich dem sozial engagierten Liberalismus zu und gründete zusammen mit Friedrich Naumann 1896 den Nationalsozialen Verein. 32 Hellmut von Gerlach Hellmut von Gerlach unterstützte in Schüttorf die Reichstagskandidatur von Friedrich Naumann und war maßgeblich an der Gründung mehrerer Arbeitervereine in der Grafschaft Bentheim und in Lingen beteiligt. Er selbst kandidierte hier 1898 und 1903 für das Preußische Abgeordnetenhaus, konnte jedoch kein Mandat erringen. Über seine Erlebnisse während dieser Jahre berichtete er später in seinen Memoiren.61 Einen Sitz im Reichstag errang Hellmut von Gerlach in einem anderen Wahlkreis in Hessen. Ab 1906 übernahm er die Chefredaktion der Berliner Wochenzeitung „Die Welt am Montag“, in der er während des 1. Weltkrieges die Forderungen nach einem Verständigungsfrieden unterstützte. Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 gehörte Hellmut von Gerlach zu den Gründern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Als Staatskommissar für Posen und kurzzeitiger Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium setzte er sich für eine deutsch-polnische Aussöhnung und für eine Erfüllung der Versailler Vertragsbedingungen ein. Dadurch war er erheblichen Anfeindungen ausgesetzt. Redakteur und Mitglied des Nationalsozialen Vereins 1926 erhielt Hellmut von Gerlach den Vorsitz der deutschen Liga für Menschenrechte, 1930 beteiligte er sich an der Gründung der politisch einflusslosen Radikaldemokratischen Partei und ab 1932 leitete er als Nachfolger des inhaftierten Carl von Ossietzky die Zeitschrift „Die Weltbühne“. 1933 ging er zunächst nach Österreich ins Exil und siedelte dann auf Einladung der französischen Liga für Menschenrechte nach Paris über. Dort starb Hellmut von Gerlach am 1. August 1935. (Quellen: Deutsches Historisches Museum; Lensing, Wahlen bis 1918, bes. S. 514)) 61 Robert Neumann-Hofer (ca. 1862-1920) Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, ohne Jahresangabe erschienen in Berlin im Verlag „Die Welt am Montag GmbH“. 33 Die Vorfahren von Robert Neumann-Hofer lebten in Ostpreußen. Sie gehörten zu den protestantischen Glaubensflüchtlingen, die während der Gegenreformation aus dem katholischen Fürstbistum Salzburg vertrieben und vom preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) aufgenommen und in Ostpreußen angesiedelt wurden. Der Vater von Robert Neumann-Hofer war Gutsbesitzer in Lappienen bei Tilsit (im Patenkreis Elchniederung des Landkreises Grafschaft Bentheim). Die Mutter hieß mit ihrem Mädchennamen Helene Hofer. Das Geburtsdatum von Robert Neumann-Hofer liegt nicht genau fest. Er wurde um 1862 in Lappienen geboren. Robert Neumann- Hofer war zunächst Kapitän und lebte als solcher mehrere Jahre in Großbritannien. Wegen einer Herzkrankheit musste er den Beruf des Kapitäns aufgeben. Er wechselte zum Journalismus und folgte damit seinem Bruder Adolf, der in Detmold von einem Studienfreund den Verlag der Lippischen Landeszeitung übernommen hatte. Nachdem er sich zunächst zu diesem Bruder nach Detmold begeben hatte, konnte Robert Neumann-Hofer in Schüttorf zum 1. April 1902 die „Schüttorfer Zeitung“ kaufen (nach dem Ableben des vorherigen Besitzers). Die Schüttorfer Zeitung war schon vorher unter der Regie des NationalsoRobert Neumann-Hofer zialen Vereins mit den beiden Nebenbläterster SPD-Bürgermeister tern „Nordhorner Zeitung“ und „Der in Schüttorf Grenzbote“ auf eine Auflage von 2.600 Exemplaren angewachsen. Um die Jahrhundertwende war sie die auflagenstärkste Zeitung der Region. Nachdem er die Schriftleitung zunächst einem hauptamtlichen Redakteur überlassen und sich selbst mehr um den Druckereibetrieb gekümmert hatte, übernahm er Ende Mai 1905 auch die journalistische Leitung der Zeitung. Dazu gehörten inzwischen auch die „Bentheimer Nachrichten“ und die „Gildehauser Zeitung“. Nach dem Kriegsausbruch verkaufte Neumann-Hofer zum 1. Januar 1915 die „Nordhorner Zeitung“ an den Neuenhauser Verleger Heinrich Kip (1953-1922). Von allen Grafschafter Presseorganen stand die „Schüttorfer Zeitung“ der Arbeiterschaft am nächsten.62 62 Diese Bewertung ist von dem Historiker Helmut Lensing übernommen. Vgl. Lensing, NeumannHofer, in: Emsländische Geschichte, Band 6, 263. 34 Im April 1908 übernahm Robert-Neumann-Hofer in Schüttorf bei der Gründung des gemeinnützigen Bauvereins das Amt des Schriftführers. Nach den Ideen des ehemals nationalsozialen Bodenreformers Adolf Damaschke (1865-1935) 63 erhielt der Bauverein insbesondere die Aufgabe, der Arbeiterschaft zu eigenem Haus- und Gartenbesitz zu verhelfen. Zur gleichen Zeit übernahm Neumann-Hofer in einer schwierigen Situation den Vorsitz im Bürgerverein. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, übergab er die Leitung an den Lehrer und späteren Rektor Wilhelm Berge. In diese Zeit fällt wahrscheinlich auch seine Heirat, über die es allerdings keine Unterlagen gibt.64 Nachweisbar ist lediglich seine Verlobung mit Mathilde Zwitzers, der Tochter des Pastors H. H. Zwitzers und dessen Ehefrau, einer geborenen Nordbeck. Im Herbst 1917 gehörte Neumann-Hofer zur Führungsriege der neu gegründeten Deutschen Vaterlandspartei, die sich für einen „Siegfrieden“ einsetzte. Kurze Zeit später wählten ihn die damals führenden politischen Kräfte in der Schüttorfer Gesellschaft in das Bürgervorsteher-Kollegium, das man mit dem heutigen Stadtrat vergleichen kann. Die bedeutendste politische Leistung von Robert Neumann-Hofer ist mit seinem Verhalten in der Nachkriegszeit verbunden. Als die revolutionäre Entwicklung nach Schüttorf überschwappte, war er sofort zur Mitarbeit bereit und übernahm von Anfang an Führungsaufgaben. Am Sonntag, dem 10. November 1918, einen Tag nach der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann, hielt er in der Versammlung des Arbeitervereins einen Vortrag über die neu entstandene Lage. Schon am nächsten Tag wählte man ihn nachmittags zum Vorsitzenden des Arbeiterrates und abends zum Vorsitzenden des Schüttorfer Arbeiter- und Soldatenrates. Anfang Januar 1919 übernahm er zusätzlich den Vorsitz im Grafschafter „Zentral-Arbeiterrat“. Der Historiker Helmut Lensing führt es in erster Linie auf seinen Einsatz zurück, dass „die politische Umwälzung in der Region verhältnismäßig ruhig verlief.“65 Bei der Bürgervorsteherwahl vom 2. März 1919, der ersten nach demokratischen Regeln durchgeführten Kommunalwahl, kandidierte NeumannHofer auf dem vierten Platz der vom Arbeiterverein eingereichten „Liste Kruse“. Auf dem Stimmzettel ist seine Wohnung mit der alten Hausnummer 63 Der Bodenreformer Adolf Damaschke hielt sich um die Jahrhundertwende in der Grafschaft auf. Er gehörte zu den Natinalsozialen und war in Nordhorn an der Gründung des Stadtteils Neuberlin beteiligt. 64 Es spricht sogar einiges dafür, dass Robert Neumann-Hofer unverheiratet geblieben ist (zum Beispiel das offensichtliche Fehlen einer eigenen Schüttorfer Familie bei seiner Beerdigung). Andererseits wird berichtet, der spätere Schüttorfer Druckereibesitzer Hermann Kröner habe als letzter Lehrling in der Druckerei Neumann-Hofer morgens in der Burg Altena immer zuerst den Ofen in der Wohnung der Familie Neumann-Hofer anheizen müssen (Quelle: Margret Roolfing). Ob Neumann-Hofer allerdings in der Burg gewohnt hat, bleibt wegen seiner Haus-Nr. 274 nach wie vor unklar!). 65 Lensing a. a. O. , S. 264. 35 274 gekennzeichnet, ohne dass man heute angeben könnte, wo sich diese Wohnung innerhalb des Stadtgebietes befand. Zusammen mit zehn Arbeitern auf dieser Liste wurde er in das Bürgervorsteher-Kollegium gewählt. Nachdem der bisherige Bürgermeister Meyeringh zurückgetreten war, wählte man ihn zum Bürgermeister der Stadt Schüttorf. Robert Neumann-Hofer übernahm damit als erster Sozialdemokrat in der gesamten Grafschaft Bentheim das Amt eines Bürgermeisters. Er blieb der einzige SPD-Bürgermeister bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Neumann-Hofer starb am 31. Mai 1920 in Köln. Sein übermäßiger politischer Einsatz in den ersten anderthalb Jahren der Nachkriegszeit und die damit verbundenen häufigen Fahrten mit dem Fahrrad durch die gesamte Grafschaft hatten seiner Gesundheit schwer zugesetzt. Sein Herzleiden verschlimmerte sich. In Köln hatte er gehofft, noch einmal Erholung und Genesung zu finden. Die Schüttorfer SPD ehrte Robert Neumann-Hofer mit einem Nachruf in der Schüttorfer Zeitung. Beigesetzt wurde er in Detmold, wo sein Bruder Adolf (1867-1925) ebenfalls eine erhebliche Bedeutung als Politiker und Publizist erlangt hatte und wo er selbst in der ersten Zeit nach der Aufgabe des Kapitänsberufs gelebt und gearbeitet hatte. (Quellen; Hellmut Lensing, Neumann-Hofer, Robert, in: Emsländische Geschichte Band 6, Seiten 262 bis 266)