Tagebuch unseres Schulbesuches

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„Haiti macht Schule“ – Haiti-Tagebuch von Thomas Roth, Präsident Hope for Haitis Kids
und Michel Lochmatter, HSG-Absolvent und freiwilliger Helfer, Januar – Februar 2015
Einleitung: Anfangs Februar 2015 hielt sich unser Präsident Thomas Roth aus Thun zum dritten
Mal für gut eine Woche in Haiti auf, um unsere nach dem grossen Erdbeben von 2010 in mehreren
Etappen aufgebaute Schule „Maison d’Espoir Arc-en-Ciel du Haut-Valais“ zu besuchen. Begleitet
wurde er vom Vereinskassier Klemens Kaufmann aus Niederglatt ZH, für den es den ersten
Haitibesuch war. Bereits seit Mitte Januar weilte mit dem 25jährigen Michel Lochmatter aus St.
Niklaus VS ein freiwilliger Mitarbeiter vor Ort und half während sechs Wochen tatkräftig in der
Schule mit. Die nachfolgenden Tagebucheinträge und Fotos geben ungefilterte Impressionen aus
den Blickwinkeln von Michel, der erstmals in einem Entwicklungsland war, und Thomas, der vor
seinen Besuchen in Haiti mehrere Jahre lang in Südkalifornien im Obdachlosenbereich arbeitete
und bereits in jungen Jahren längere Entwicklungseinsätze in Zentralamerika hatte.
Michel, 21.01.2015
An meinem ersten Schultag in Haiti geht es morgens um acht vom Hotel zur Schule „Arc-en-ciel
du Haut-Valais“. Schuldirektor Rivelino, Fahrer Jean-Marc und ich rattern mit dem dreirädrigen
Töff durch eine slumartige Siedlung den steinigen Hang hinauf. Ein penetranter Geruch hängt in
der Luft. Der Schweiss rinnt. Am Ende der Siedlung bläst uns der Wind giftige Gase des ständig
brennenden Abfallberges ins Gesicht.
Weiter oben erscheint als einziges Gebäude aus der Ferne die Schule mit 250 Primarschülern.
Mir ist es, als ob ich ein Licht am Ende des Tunnels erblicke, welches für all die Kinder scheint.
Ein Frühstück und ein nahrhaftes Mittagessen erleichtern den Kindern den täglichen Kampf ums
Überleben. Niemand motzt in der Schulkantine, alle danken Gott. „Ohne die Schule gäbe es für
die meisten Kinder nichts. Keine Bildung, kein Essen - nichts“, so Rivelino, welcher nach dem
katastrophalen Erdbeben vor fünf Jahren selber zwei Waisenkinder bei sich zuhause
aufgenommen hat und seither für sie sorgt.
Jeden Abend verlasse ich das harte Leben da draussen und kehre in das strengbewachte Hotel
am tropischen Traumstrand zurück. Es hat Elektrizität und sogar fliessendes Wasser sowie
praktisch jeden Überfluss, den ich aus der Heimat kenne. Dabei frage ich mich, womit ich dies
verdient habe. Weshalb haben wir in der Schweiz das Privileg, ein anderes Leben zu führen?
Michel, 28.01.2015
„Schritt für Schritt“ lautet in Haiti das Lebensmotto. So trifft man etwa überall angefangene
Kleinsthäuser an, wo die wenigen Armierungseisen zwischen den ersten Ziegelreihen schräg in
den Himmel ragen und vielfach seit Jahren oder gar Jahrzehnten dahinrosten. Hat man wieder
etwas Geld zur Seite gelegt, werden die Mauern um wenige Ziegelreihen erhöht. Eine
langwierige Geschichte. Wer aber auf diese Art bauen kann, der kann sich zu den Glücklichen
zählen. Denn er hat einen gutbezahlten Job.
Arbeit gibt es hier nämlich kaum. Schätzungen zufolge sind 41% arbeitslos. Jeder Dritte
Haitianer leidet Hunger. 75% der Bevölkerung leben in Armut. Diese Zahlen aus dem Jahre 2012
entnehme ich einem Lehrmittel, welches die Fünftklässler gerade im Geographieunterricht
behandeln. Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, dass ich hier tagsüber viele
Kinder auf den Strassen antreffe. Denn oft fehlt den Eltern nicht nur das Geld zum Bauen,
sondern auch das Geld für die Schule. In Haiti sind die wenigsten Schulen gratis wie die unsere.
Als Folge davon sind 45% der Haitianer Analphabeten.
Schritt für Schritt entstand auch die Schule „Arc-en-ciel du Haut-Valais“. Der Schuldirektor
Rivelino versuchte vor sieben Jahren auf dem Grundstück eines Unbekannten mit jungen Leuten
schattenspendende Bäume zu pflanzen, damit Schüler wenigstens einen Ort zum lernen hätten.
Mangels Wasser scheiterte das Vorhaben. Heute steht auf demselben Grundstück eine grosse,
sehr beliebte Schule, was er sich damals nie erträumt hätte.
Wasser hat es allerdings heute noch keines. Der 28-jährige Wasserfahrer Jean-Marc, welcher
damals beim Pflanzen der Bäume dabei war, meint aber: „Wir sollen für das danken, was heute
ist. Weil morgen ist es vielleicht nicht mehr.“ Unglaublich, welche Hoffnung und Dankbarkeit
viele Menschen wie Jean-Marc in diesem arg gebeutelten Land ausstrahlen und existentielle
Probleme Schritt für Schritt meistern.
Thomas 1.2.2015
Ankunft mit der französischen Airline Air Caribes in Port-au-Prince nach einem
Direktflug aus Paris. Obwohl in der haitianischen Hauptstadt kaum mehr als fünf
Flugzeuge pro Tag landen, müssen wir über dem offenen Meer eine halbe Stunde lang
Schlaufen drehen, die meinen durch die engen Sitze und den extrem holprigen Flug
drangsalierten Magen noch mehr zusetzen. Die ersten beiden Male flog ich von Miami
her und habe den Anflug als problemlos und das Check-out als absolut reibungslos in
Erinnerung. Das letzte Mal hatte ich sogar vergessen, die Einfuhrerklärung auszufüllen,
weshalb mich der Immigrationsbeamte kurz tief in die Augen schaute, dann nochmals
einen Blick auf das Formular tat, um es dann kurzerhand und ohne weitere Fragen
abzustempeln. Dieses Mal wurden wir jedoch zuerst einmal auf das Ende der Landebahn
beordert, wo wir nach langem Warten in einen unklimatisierten Bus umsteigen musste,
der sich nach einer endlos scheinenden Warterei endlich Richtung Terminal bewegte
(die US-Maschine war gerade vor uns gelandet und blockierte das einzige Dock, welches
ich beim letzten Mal benutzen durfte). Die wahre Qual fing dann erst im Terminal an:
wir hatten uns keineswegs beeilt, da ich wieder mit einer problemlosen Abfertigung
rechnete und davon ausging, dass wir nach Immigration und Zoll sowieso auf unser
Gepäck warten musste. Zwei Stunden später waren wir eines besseren belehrt: auch in
Haiti können Flughafenabfertigungen unendlich lange sein, zumal vor uns noch die
endlos lange Schlange der Fluggäste aus den USA abgefertigt werden musste. Wie
unsere „französische“ Schlange bestand sie zur Hälfte aus Exilhaitianer/innen und
Mitarbeiter/innen von internationalen Hilfswerken. Im Flugzeug hatte ich gegenüber
Klemens noch optimistisch davon gesprochen, dass vielleicht ein Teil der klar als
Touristen erkennbaren Mitfliegenden auch in Haiti aussteigen würden und dadurch die
darniederliegende Tourismusindustrie wieder etwas Aufschwung erhalten könnte. Doch
wie zu befürchten flogen diese ausnahmslos nach der Zwischenlandung in Port-auPrince in die Dominikanische Republik weiter, d.h. auf die andere, touristisch und
ökonomisch so ungleich reichere Hälfte der Insel Hispaniola.
Mit gut drei Stunden Verspätung traten wir endlich aus dem Terminal hinaus und
wurden von Rivelino, Danaika und dem mir ebenfalls schon vom letzten Mal bekannten
Fahrer Junior begrüsst. Auch Michel hatte sich die Zeit in der Hitze und im Staub der
Hauptstadt irgendwie um die Ohren geschlagen. Ohne grössere Umwege ging es dann
auf direkten Weg – Klemens zog die Fahrt auf der Ladefläche dem Eingequetschtsein zu
dritt im Führerstand unseres alten Nissan Pick-ups vor – in knapp zwei Stunden der
Küste hoch nach Montrouis, wo wir kurz vor dem Einnachten eintrafen. Beim
Einchecken im Hotel Indigo, in dem Michel bereits einquartiert war, trafen uns kurz
noch die letzten Sonnenstrahlen hinter der sonst ausnahmsweise durchgehenden
Wolkendecke und badeten uns und die malerische Umgebung direkt am Strand in ein
fast unwirkliches Licht. Obwohl das Check-in im Hotel nur wenige Minuten dauerte, war
die Sonne aber schon hinter der geheimnisvollen Insel Gonaves verschwunden, welche
in der Bucht von Port-au-Prince den Horizont bildet. Auf der Hinfahrt bestaunten wir die
zwischenzeitlich „noch besser als im Wallis“ (Michel) ausgebaute Küstenstrasse sowie
die kleinen Märkte, welche an diesem ruhigen Sonntagnachmittag noch im Betrieb
waren. In Cabaret – der Namen ist Programm – überholten wir noch einen ersten
Karnevalsumzug, der – noch in Zivil d.h. für die Männer im nackten Oberkörper – schon
einmal für die wenige Tage später beginnende Fastnacht Schwung zu holen schien.
Thomas, 2.2.2015
In Haiti beginnt ein Tag unmittelbar mit dem Tagesanbruch, d.h. selbst im Winter kurz
vor sechs Uhr morgens. Als privilegierte Weisse heisst dies für uns etwas Sport, da wir
wissen, dass in der Hitze des Tages – selbst im kühlsten Monat des Jahres wird es
tagsüber weit über 30 Grad heiss – solches kaum mehr möglich ist. Im Gegensatz zu
meinen früheren Besuchen muss ich jedoch auf mein beliebtes Morgenjogging
verzichten und damit auf die vielen ungefilterten Eindrücke, die ich dadurch jeweils
erhielt. Weder meine lädierte Achillessehne noch Michels vom vielen Fussballspielen
defekten Knies erlaubten solche Aktivitäten. Wir begnügten uns deshalb mit einem
täglichen Schwumm dem langen Hotelstrand entlang, bis uns die aufgehende Sonne zur
Arbeit rief.
Der Tagesablauf der Schule ist klar geregelt: Wer das kleine Frühstück (meist der
allgegenwärtige Maisbohnenbrei) erhalten will, muss schon um halb acht dort
eintreffen, bevor um acht Uhr der Morgenappell mit anschliessender Nationalhymne
und Fahnenaufzug ansteht. Danach begeben sich die Kinder klassenweise und in
Einerkolonnen in ihre Schulzimmer, wo die ersten zwei Stunden Unterricht anstehen.
Dabei gilt zwei Stunden Stillsitzen auch für die ganz Kleinen, was für diese aber kein
Problem zu sein scheint. Heute wird diese Routine aber durch den Besuch von uns in
jeder der 7 Klassen unterbrochen, wo wir mit je einem anderen Willkommenslied
begrüsst werden. Auch wir haben etwas mitgebracht: für die Kleinen gibt es ein Stück
dunkler Schokolade – die helle würde selbst um diese Jahreszeit sofort schmelzen – für
die Grösseren wie schon letztes Jahr ein Basler Leckerli. Da auch dunkle Schokolade in
den Fingern schnell schmilzt, muss ich die Kinder fast schon energisch auffordern, diese
möglichst umgehend zu essen, da ich ihnen mein Schicksal ersparen – durch das
Aufbrechen der vielen Tafeln Schokolade wurde meine weisse Hose zum getüpfelten
Schwarz-weiss-Anzug – bzw. die Schulbücher und ihren schönen Schuluniformen
schützen will. Beim Basler Leckerli dagegen habe ich durchaus Verständnis, wenn sie
dieses für später aufbewahren oder gar nach Hause mitnehmen willen. Schliesslich gibt
es für Kinder wie Erwachsene in Haiti eigentlich nie Süsses. Dies schützt zwar ihre
Zähne, die mit wenigen Ausnahmen wunderschön weiss aus ihren Gesichtern blenden,
zeigt aber auch das Paradox der zu Zeiten der französischen Fremdherrschaft „reichsten
und schönsten Kolonie der Welt“ (angeblich Napoleons Worte), welches seinen
seinerzeitigen Reichtum vor allem aus dem Zuckerrohr erwarb.
Nach verschiedenen Besprechungen über die Zukunft der Schule bzw. deren
anstehenden Herausforderungen – dazu später – entscheiden wir uns am Nachmittag
für einen Ausflug nach Piatre, dem kleinen Bergdorf, aus dem ein grosser Teil unserer
Kinder stammt. So weit wie möglich fahren wir dazu mit dem Auto den Berg hoch, bevor
es klar wird, dass die Strasse nicht mehr fahrbar ist. Ab hier schaffen es nur noch einige
leistungsstarke Motorräder den Berg hoch, obwohl die Strasse vor rund 10 Jahren von
einer amerikanischen Hilfsorganisation (US-Aid) mit dem Ziel der Fahrtüchtigkeit für 4Rad-Fahrzeuge gebaut wurde. Allerdings gibt es solche kaum auf Haiti, da diese bereits
im Ankauf, aber insbesondere im Unterhalt und beim Benzinverbrauch für die lokalen
Verhältnisse nicht geeignet sind. So gehen wir zu Fuss weiter mit dem Ziel der grossen
Wasserquelle, welche sich weit oben am Berghang befindet. Unsere anschliessende
Bergtour hat jedoch mehr als eine touristische Zielsetzung: wir wollen herausfinden,
warum seit drei Monaten kein Wasser mehr die grosse Wasserleitung herunterfliesst,
welche die Landwirtschaftskooperative versorgen sollte, welche rund einen Kilometer
südlich von uns liegt. Bei unserem Kurzbesuch bei derselben erfuhren wir vorher, dass
es offensichtlich politische Gründe gibt, welche das Wasser zu versiegen brachte. War
vor einem Jahr die Kooperative noch eine grüne Oase auf dem kargen Plateau, wo
unsere Schule liegt, gab es dieses Mal auch dort nur noch Ziegen und einige wenige, fast
vertrocknete Peperoni-Pflanzen zu bestaunen.
Bald zeigt sich, dass unsere Mission recht schwierig war. Die Anrainer, mit denen wir
dank Rivelino offene Gespräche führen konnten, wussten nicht genau, warum ihnen das
Wasser abgeschnitten wurde. Offensichtlich sei es für andere Zwecke abgezweigt
worden, was sich jedoch als falsch herausstellt, da es zwei grosse Quellen gibt, die
eigentlich genügend sauberes Trinkwasser für alle Anwohner/innen gäben und selbst
für eine vernünftige Landwirtschaft in der steilen Hanglage genügen würden. Erst auf
dem Rückweg wird der Grund klar, der zeigt, wie instabil die sozialen und
ökonomischen Verhältnisse in diesem Land sind: die oberen Anrainer haben die
Wasserleitung bewusst unterbrochen und das Wasser über ihr Land fliessen lassen, wo
es schnell versickert, weil sie es unfair fanden, dass sie der Landwirtschaftskooperative,
welche für den Unterhalt der Wasserleitung aufkam, eine Wassergebühr entrichten
musste, welche aber nicht von einem grossen Anrainer bezahlt wurde, welcher am
unteren Teil des Hanges wohnte. Das tönt ja noch verständlich, wobei es bald klar
wurde, dass der Neid gegen diesen Anrainer wohl andere, irrationale Gründe hat: dieser
ist nämlich ein uns bekannter weisshaariger Amerikaner namens Sam (der einzige
Weisse weit und breit), der dort ein Waisenheim betreut, dessen Kinder mehrheitlich
auch in unsere Schule geht. Dank seinen Beziehungen – und auch wegen seinen
finanziellen Problemen – gelang es ihm, die Kooperative zu überzeugen, ihm das Wasser
unentgeltlich zu geben, was den anderen Anrainern dann sauer aufstiess. Und seither
haben weder er, seine 25 Kinder noch die Kooperative Wasser…….
Für uns bedeutet dies, dass wir wohl auch in Zukunft uns nicht auf das Wasser verlassen
können, welches eigentlich in genügender Menge rund 2 Kilometer weiter oben dem
Berg entspringt, sondern – falls wir dazu überhaupt die Mittel finden – uns auf das
Bohren einer eigenen Quelle konzentrieren müssten. Seit rund zwei Jahren wissen wir,
dass es am Rande – knapp ausserhalb – unseres Grundstückes durchaus Grundwasser
hat, wobei wir trotz „Probebohrungen“ (diese geschahen von Hand mit zwei Haitianern,
die nur mit einem Seil gegenseitig gesichert mit Schaufel und Pickel bohrten, bis sie in
rund 20 Metern Tiefe auf wasserhaltige Böden stiessen) noch nicht sicher sind, ob sich
die Errichtung einer Pumpstation mit Pipeline überhaupt lohnen würde.
Realistischerweise ist davon auszugehen, dass die eigene Quelle im besten Fall wohl nur
unsere eigenen Trinkwasserbedürfnisse abdecken könnte, jedoch kaum für die
gewünschte Bewässerung unseres Grundstückes für den Anbau von Bäumen und eines
Schulgartens. So werden die wenigen schon früher gepflanzten Bäume durch unsere
Mitarbeitenden weiterhin liebevoll von Hand begossen, damit sie die rund 5monatige
Trockenperiode überstehen.
Michel, 4.2.2015
„Oui, j’ai bien dormi — grace à dieu“, höre ich hier in Haiti oft als Antwort auf die Frage, ob die
Nacht gut war. Auch kann Gott dafür gedankt werden, dass mithilfe der Stiftung „Oberwallis für
Kinder unserer Welt“ 250 Kinder zwei Mahlzeiten am Tag kriegen und so gut schlafen können.
Denn zuhause herrsche oft eine Misere, erzählt mir Monsieur Serge. Der Lehrer und Journalist
führt aus, dass hier Leute langsam vor Hunger dahin sterben und kommt zum Schluss: „Es sei,
als ob die Leute existieren, aber sie leben nicht.“
Es hat natürlich auch jene Haitianer wie etwa unsere Lehrer, die sich und ihrer Familie genug zu
essen kaufen und davon leben können, anstatt nur zu existieren. Darüberhinaus gibt es die
vermögenden Mulatten und Bourgeoisen, welche die schönsten Villen, Privatstrände und
Motorboote besitzen. So betrachten wir auf einem Fischerboot-Trip entlang der bekannten Côte
des Arcadins unter anderem das prächtige Anwesen des einst populären Kompa-Musikers und
heutigen Staatschefs Michel Martelly. Hat er es mit Staatsgeldern bezahlt?
Aus irgendeinem Grund hat der haitianische Staat nämlich kein Geld für die Schulfinanzierung.
Bei einem Besuch einer staatlichen Schule erfahren wir vom Direktor, dass die Lehrer der
Sekundarstufe seit acht Jahren keinen Lohn mehr bekommen. Doch es sei besser zu
unterrichten, als nichts zu machen. Mit Mühe kratzen sie etwas Geld für die Spesen zusammen.
Die meisten Schulen im Land sind dementsprechend privat finanzierte Schulen, welche aus
Projekten von NGOs hervorgegangen sind.
Nicht alle privaten Schulen bieten Mahlzeiten an. So kommen mittags oft zwei hungernde Brüder
zu unserer Schule, um auf eine Portion Reis oder Mais zu spekulieren. An ihrer Schule gibt es
kein Essen. Zuhause meist auch nicht. An einem Montag kurz vor Mittag treffe ich beide vor der
Schulküche an. Der Jüngere schweigt wie immer. Er ist ausgehungert und merklich deprimiert.
Die wenigen Worte des Vierjährigen schockieren mich. Seit Samstag habe er nichts mehr
gegessen, weshalb er das Brot unserer zu Hilfe eilenden Chefköchin Astrid aufgrund der
Entkräftung nur langsam isst. Auch wenn die Beiden im Gegensatz zu unseren Schulkindern im
Verborgenen essen müssen, damit es sich in der Umgebung nicht herumspricht, können sie Gott
für die rettenden Rationen danken. Eine andere Köchin erklärt mir folgendes, wobei sie
gleichzeitig auf den vierjährigen Jungen schielt: „Für jeden Menschen, dem man hilft, werde Gott
einem irgendwann danken, indem er es vielfach zurückgibt.“
Artikel 4 vom 11.02.2015
An einem Freitag fahren wir nach Port-au-Prince mit dem Ziel, den Bildungsminister zu treffen.
Thomas und Klemens, welche aus der Schweiz für eine Woche nach Haiti gereist sind, sowie die
Schulvertreter Rivelino und Danaika begeben sich zusammen mit mir aufs Gelände des
Bildungsministeriums. Aus dem Treffen mit dem Minister wird wie erwartet nichts. Dafür
nimmt uns der Zweitoberste in seinem Container-Büro in Empfang. In der Hoffnung, dass die
Präsenz von uns drei Weissen – wie dies leider oft der Fall ist in Haiti – etwas bewirkt, bitten wir
den „Directeur Général“ um die Aufnahme unserer Primarschule in das staatliche
Schulfinanzierungsprogramm PSUGO. Vergebens. „Je ne peux rien faire pour vous“, hören wir
mehrmals von ihm.
Dabei heisst PSUGO ausgeschrieben und übersetzt so viel wie „Programm für einen
umfassenden kostenlosen und obligatorischen Schulbesuch“. In Montrouis, unserem Standort,
sind nur zwei Schulen in diesem Programm. Die Gelder, welche sie bis anhin gemäss
Behördenangaben kriegten, würden unserer Schule nicht einmal für einen Monat Schulbetrieb
genügen. Mir wird spätestens jetzt klar, dass es für die 250 verarmten Kinder nur einen Weg zu
Bildung und Nahrung gibt: Eine Spende auf das Konto der Stiftung „Oberwallis für Kinder
unserer Welt“ mit der IBAN CH26 8049 6000 0021 3682 0.
Nach einer erfolglosen Bettelaktion beim Ministerium und einer Nacht in der „capitale de la
misère“, so wird die Hauptstadt von Einheimischen genannt, geht’s in den Süden nach Jacmel,
wo sogar ein paar Touristen anzutreffen sind. Denn hier laufen gerade die Vorbereitungen für
den Karneval, welcher jenem von Rio de Janeiro nachempfunden sein soll, auf Hochtouren. Da
Thomas und Klemens nach einer Woche in Haiti am Sonntagnachmittag bereits abfliegen,
verpassen wir die Karnevalseröffnung um wenige Stunden und fahren zurück nach Port-auPrince durch das Quartier „Cité Soleil“ mit den übelsten Slums weiter zum Flughafen. Für die
beiden Schweizer winkt die schöne heile Welt.
Für die Kinder der Schule „Arc-en-Ciel du Haut-Valais“ heisst es am Montag und Dienstag
zuhause bleiben. Für manche bedeutet dies zwei weitere Tage wenig oder gar kein Essen.
Kommunale sowie nationale Probleme führten nämlich zu Auseinandersetzungen zwischen den
Demonstranten und der Staatsgewalt. Zwei an der Strasse wohnende Kleinkinder starben
aufgrund des Tränengases. Gut, konnten wenigstens unsere gefährdetsten Kinder oben am Hang
in der sicheren Schule Unterschlupf finden.
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