zerfallenden Staat

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Was bedeutet „Staatszerfall“?
Somalia, Haiti, Afghanistan, eventuell auch Mexiko: Immer mehr Staaten melden den
gesamtpolitischen Bankrott an. Ihr Zerfall muss aber nicht das Ende sein. Wie Volker
Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, den Staatszerfall definiert.
Herr Perthes, gibt es den Prototyp des "zerfallenden Staates"?
Ich habe einen solchen Prototyp noch nicht gefunden. Es gibt Staaten, die sind bereits
zerfallen. Bestes Beispiel: Somalia. Und es gibt Staaten, denen der Zerfall droht - wie etwa
Haiti.
Tatsächlich? Wir hätten auf den Jemen getippt.
Auch im Falle des Jemen besteht ein hohes Zerfallsrisiko. Aber Haiti ist ein besonders
augenfälliges Beispiel für einen zerfallenden Staat, weil es dort keinen Bürgerkrieg gibt
und keine Involvierung in den transnationalen Terrorismus. Beides wird sonst gern mit
zerfallenden Staaten assoziiert. In Haiti ist das reine Versagen der staatlichen Organe zu
beobachten. Dies ist so immens, dass zehn Stabilisierungsmissionen der USA und der UN
nichts daran ändern konnten.
Gibt es gemeinsame Merkmale für zerfallende Staaten?
Es lässt sich immer dann von einem zerfallenden Staat sprechen, wenn der Staat nicht in
der Lage ist, das eigene Territorium zu kontrollieren. Wenn ferner das Mindestmaß an
Wohlfahrts- und Infrastrukturleistungen fehlt, das Bürger auch von einem armen Staat
erwarten können. Dazu gehören dann auch Dinge wie Straßenverbindungen oder die
Versorgung mit Elektrizität. Beides macht Wirtschaft und Beschäftigung oft erst möglich.
Das Wichtigste ist: In zerfallenden Staaten fehlt es an Regierungsleistungen, nicht zuletzt
im Bereich der Bereitstellung von Sicherheit für die eigenen Menschen. Wenn es
überhaupt eine Polizei gibt, dann lässt sich oft beobachten, dass diese korrupt ist oder für
kriminelle Banden arbeitet.
Oft heißt es, die Kolonialgeschichte eines Landes sei schuld am Zerfall seiner
Staatlichkeit.
Das stimmt nur teilweise. Wenn die Kolonialzeit - sagen wir einmal - 60 Jahre zurückliegt,
ist es schwer, sie für die aktuellen Verhältnisse verantwortlich zu machen. Anders ist das
im Fall des Irak. Das Land ist seit 2003 auf der Liste der stark gefährdeten Staaten. Das
hat damit zu tun, dass eine ausländische Besatzungsmacht damals zwar schlechte
Regierungsstrukturen, aber immerhin funktionierende Regierungsstrukturen zerschlagen
hat.
Ist Mexiko ein zerfallsgefährdeter Staat? Die Regierung wird der Drogenmafia nicht
Herr.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Mexiko taucht auf keiner Liste mit zerfallsbedrohten Staaten auf. Mexiko ist ein Staat, der
ein enormes Kriminalitätsproblem hat und vor allem im Norden des Staatsgebiets an der
Grenze zu den USA seine staatliche Autorität nicht durchsetzen kann. Aber Mexiko
funktioniert ansonsten als Staat, der zum Beispiel auch mit gewaltigen Erdbeben umgehen
kann. Und im übrigen Mitglied der G20 ist und im nächsten Jahr deren Gipfel ausrichten
wird.
Was ist mit Afghanistan?
Wir müssen in weiten Teilen Afghanistans von Staatsversagen reden - und das seit
Jahrzehnten schon. Was wir derzeit sehen, ist ein großes, nicht immer erfolgreiches
internationales Bemühen, diesem Staat auf die Beine zu helfen.
Wenn das Haiti-Beispiel mit zehn fehlgeschlagenen internationalen Missionen gilt,
wird das nichts werden in Afghanistan.
Staaten müssen nicht immer die Form behalten, die die nationalen Regierungen und ihre
internationalen Partner bevorzugen. Selbst im Falle Somalias, wo ein Staat faktisch nicht
mehr existiert, findet sich deshalb nicht einfach ein Vakuum: Auch in staatsfreien Gebieten
"regiert" oft jemand. So gibt es in der Region Somaliland eine lokale Regierung, die zwar
von niemandem anerkannt wird, aber eine vernünftige Regierungspraxis hat. Im
benachbarten Puntland dagegen "regiert" vor allem die organisierte Kriminalität und übt
sozusagen im Nebenerwerb Regierungsfunktionen aus.
Wollen Sie sagen, irgendjemand findet sich immer, der Autorität ausübt?
So ist es. Das können im schlimmsten Falle Banden sein, Milizen, aber auch traditionelle
lokale Notabeln oder Stammesführer. Vielleicht ist Somalia in der Form, in der wir es auf
der Landkarte sehen und in der es in den UN vertreten ist, einfach zu groß und es wäre
besser, wenn es kleine Einheiten gäbe. Ähnliches haben wir in Jugoslawien erlebt.
Manchmal kann es sein, dass aus einem großen Staat kleinere Staaten entstehen.
Für wen ist der Zerfall der Staatlichkeit das größere Problem - für die Bevölkerung
des Landes oder für die Außenwelt, die darin eine Bedrohung der eigenen
Sicherheit sieht?
Zunächst immer für die eigene Bevölkerung. In manchen Fällen hat Staatszerfall
Auswirkungen auf die regionale und internationale Sicherheit: Denken Sie an die Piraterie
vor den Küsten Somalias. Aber zuerst ist es immer die lokale Bevölkerung, die durch
Unsicherheit, sehr oft durch Bürgerkrieg und nicht selten auch durch Versorgungskrisen
und Hunger bedroht ist.
Das Gespräch führte Damir Fras, in: Frankfurter Rundschau vom 10.1.2012
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Aufgaben
1.
Fassen Sie die genannten Aspekte zum Zerfall der Staatlichkeit zusammen.
2.
Vergleichen Sie diesen Ansatz mit Ulrich Schneckeners Ansatz zu den Funktionen
eines modernen Staates (Kap. 1.1, S. 10/ 15).
3.
Beurteilen Sie die These, dass Länder wie Somalia durch eine Verkleinerung
leichter befriedet werden könnten.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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