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Statebuilding
„Wir sind nicht nur hier, um zu helfen“
Seit etwa zwei Jahrzehnten engagieren sich westliche Staaten jenseits ihrer Grenzen, vor
allem in Afrika und in Asien, um labile Staaten aufzubauen. Dieses Statebuilding soll
helfen, Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Völkermord, Flüchtlingsströme,
Schmuggel und seit dem 11. September 2001 auch den Terror zu bekämpfen. Die
Ursache all dieser Probleme nämlich, so die Annahme, liege in der Regierungsunfähigkeit
schwacher oder zerfallender Staaten. Die erneute Verlängerung des Afghanistanmandats
der Bundeswehr durch den Bundestag [im Februar] bietet eine gute Gelegenheit, einmal
eine Bilanz des Statebuilding auch in anderen Regionen zu ziehen. Gut sieht diese Bilanz
nicht aus.
Die Idee, einen Staat aufzubauen, folgt der Vorstellung, Staaten seien die einzigen
Regelungsinstanzen, die Gesellschaften dauerhaft friedlich organisieren können. Auch
internationale Politik setzt Staatlichkeit voraus: Theoretisch gibt es keinen Landstrich auf
dieser Erde, der nicht von einem Staat kontrolliert wird. Wo diese Kontrolle schwach ist
oder ganz fehlt, wo der Staat also die Bevölkerung nicht beherrschen kann, scheinen
Probleme wie Gewalt und Migration an der Tagesordnung. Staatsaufbau dient den
westlichen Staaten als Instrument, diese Risiken zu managen. Der instabile Staat soll am
Ende selbst in der Lage sein, durch funktionsfähige Institutionen für Ordnung zu sorgen
und Wohlstand, Sicherheit und Stabilität herzustellen. Für eine Übergangszeit sollen
fremde Truppen den Frieden sichern, um einen politischen Aufbau zu ermöglichen. Im
Kern übernehmen diese Interventionstruppen das Gewaltmonopol eines Staates.
Währenddessen sollen die Hauptfunktionen eines Staates, also seine Finanzierung,
Legitimität und ein eigenes Gewaltmonopol verankert werden.
In der Praxis allerdings stoßen der Aufbau dieser Institutionen und mehr noch das Ziel, sie
in der Bevölkerung zu verankern, an Grenzen. Die zentralen Institutionen eines Staates,
Ministerien, Polizei und Militär, werden zwar formal eingerichtet, sie bleiben aber
Fassaden. Die Bevölkerung erkennt die neue politische Ordnung selten umfassend an,
stattdessen existieren ältere, traditionelle und damit erprobte Verfahren weiter. Hinter den
Fassaden findet Staatlichkeit in dem abstrakten, vom westlichen Idealbild vorgegebenen
Sinn nicht statt: Statebuilding schafft Potemkinsche [hier im Sinne von vorgetäuschter, nur
fassadenhaft existierender Staatlichkeit zu verwenden] Staatlichkeit.
Zwar haben diese Staaten Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen, es gibt zuständige
Minister, Staatsbesuche können stattfinden. Doch bleiben die Fähigkeiten staatlicher
Institutionen begrenzt, regelnd in die soziale Welt einzugreifen. Meist mangelt es ihnen an
Legitimität, denn Verfahren wie demokratische Wahlen, Transparenz und politische
Mitwirkungsmöglichkeiten reichen nicht aus, Akzeptanz herzustellen. Häufig liefert der
Staat zu wenig Zustimmungsfähiges, und oft fehlt ihm auch die grundsätzliche Akzeptanz:
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Der Staat ist nicht in den Köpfen. Deshalb sind Wahlen und andere Verfahren häufig nur
Pflichtübungen, die das Publikum in den Entsendeländern beruhigen sollen.
Wenn eine Intervention beginnt, scheint sie den Eingreifenden oft als Beginn einer neuen
Zeit. Für die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten aber gibt es keine Stunde null,
sondern eine Vorgeschichte an Staatlichkeit, an sozialen Strukturen, an internationalen
Verflechtungen. Das Bild, das sich die Eingreifenden von außen machen, um vermeintlich
uralte Konflikte zu bearbeiten, entspricht selten den wirklichen gesellschaftlichen
Verhältnissen. So versuchten sie nach den Kriegen in Jugoslawien jahrelang, die
mythische Multikulturalität Jugoslawiens wiederherzustellen, die jedoch bei näherem
Hinsehen eher einem pluralen Monokulturalismus geglichen hatte: einem
Nebeneinanderher kultureller Identitäten, die zwar koexistierten, aber wenig
Gemeinsamkeiten hatten.
In Afghanistan übersah die nach 2001 angestrebte Zentralisierung, dass dort der Staat
immer aus sehr lose verknüpften kleineren Herrschaftseinheiten bestand. Diese
funktionierten wie eigene kleine Staaten, wären sie in der internationalen Sphäre nicht auf
äußere Anerkennung angewiesen gewesen. Nun sollten ihre Herrscher ihre dominierende
Stellung aufgeben und an einen von außen eingesetzten Apparat übergeben. Lokale und
externe Sicht unterscheiden sich also oft derart, dass gegenseitige Enttäuschungen
zwischen internationalen Akteuren und den lokal Handelnden beinahe unvermeidlich sind.
In Interventionen wird der Aufbau einer Herrschaftseinheit anhand einer internationalen
Norm betrieben, die in den betroffenen Gebieten häufig weniger selbstverständlich ist, als
die Akteure im Westen meinen. Dass die Politik des Statebuilding in westlichen
Hauptstädten gemacht wird, bringt Bündniserwägungen, wirtschaftliche und normative
Überlegungen ins Spiel, die häufig nichts mit der sozialen Wirklichkeit zu tun haben.
Lokale Bevölkerungen haben darin wenig bis keine Mitwirkungsmöglichkeiten: Weder
stehen ihnen die Planungen für Hilfsmaßnahmen offen noch können sie die zugrunde
gelegten Wertvorstellungen beeinflussen.
Der internationale Interventionismus ist insofern doppelt verantwortungslos: Zum einen
strebt er danach, die Situation von Bevölkerungen zu verbessern, ohne diese an der
Zielplanung oder gar deren Überprüfung zu beteiligen. Und zum anderen versuchen
nationale Regierungen mit Verweis auf Bündnisverpflichtungen und internationale
Absprachen, ihren heimischen Wählern diese Politik als alternativlos zu verkaufen. [...]
Die im internationalen Raum gepflegte Politik des Interventionismus ist deshalb nur als
organisierte Verantwortungslosigkeit zu beschreiben. Organisationen wie die EU oder die
Nato führen die Intervention durch und entziehen sie direkter öffentlicher Kontrolle. Sie
tragen dazu bei, Staatsfassaden aufzubauen, denn sie können nicht verhindern, dass
gesellschaftliche Verflechtungen am Staat vorbei existieren. [...]
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Interventionen sind deshalb nicht wirkungslos, sie bringen jedoch nicht das, was sie
anstreben. Funktionierende Staatlichkeit wird sich auch nicht mit mehr Geld oder mehr
Zeit einstellen, wie oft behauptet wird: Solange die Intervention die gesellschaftlichen
Aushandlungsprozesse mit großer Macht und viel Geld beeinflusst, verhindert sie just die
Entstehung selbsttragender politischer Institutionen. Sie widerspricht damit westlichen
Grundwerten, nämlich politischer Selbstbestimmung, Souveränität und demokratischer
Willensbildung.
Berit Bliesemann de Guevara, Florian P. Kühn, in: Die Zeit, 3.2.2011
Aufgaben:
1.
Erläutern Sie die Schwierigkeiten, die mit dem momentan praktizierten Statebuilding
der internationalen Truppen in NATO- und UNO-Einsätzen verbunden sind.
2.
Entwickeln Sie für ein konkretes Land (Afghanistan, Sudan etc.) analog zur
Argumentation der Autoren nachhaltige Lösungsstrategien im Rahmen des Statebuilding
zur dauerhaften Befriedung.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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