Bericht zur aktuellen Menschenrechtslage auf Haiti Nach dem Sturz des ehemaligen Präsident Jean-Bertrand Aristide am 29. Februar 2004 kam es in Haiti zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in Form von Selbstjustiz, extralegalen Hinrichtungen, Massenexekutionen und Entführungen. Die im Oktober und November 2005 geplanten freien demokratischen Wahlen erscheinen angesichts der derzeitigen Situation gefährdet. Politische Lage Die Sicherheitslage auf Haiti, auch in der Hauptstadt Port-au-Prince, bleibt ein Jahr nachdem der ehemalige Präsident Jean Bertrand Aristide sein Amt unter umstrittenen Umständen niederlegte, sehr fragil. Immer wieder kommt es zu Gewaltakten, oftmals mit politischem Hintergrund, die seit Februar 2004 mehr als 600 Menschen das Leben kosteten, darunter zahlreiche Zivilisten, aber auch Soldaten der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen auf Haiti (MINUSTAH). Seit der Amtsniederlegung Aristides im Februar 2004 werden weite Teile des Landes von rivalisierenden Banden kontrolliert, die an einer Befriedung und Demokratisierung des ärmsten Staates der westlichen Hemisphäre kein Interesse haben. Sie finanzieren sich aus Drogenhandel und illegalen Waffengeschäften. Die eigentlich für Sicherheit und Ordnung auf Haiti zuständige Haitianische National Polizei (HNP) ist bislang mangels adäquater Ausbildung und Personal nicht dazu in der Lage, ihre Aufgaben vollständig zu erfüllen. Hinzu kommen ein sehr geringes Budget und mangelnde Ausrüstung, die die Wahrnehmung der Aufgaben behindert. Zudem wird die HNP häufig mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht, was das Vertrauen der Bevölkerung in die Rolle der HNP als einzige Sicherheits- und Ordnungskraft auf der Insel untergräbt. Der MINUSTAH kommt bei der Stabilisierung des Landes eine große Bedeutung zu. Die Friedenstruppe leistet nach Anfangsschwierigkeiten mittlerweile einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage auf Haiti. Die Präsenz der Truppe und ihre Zusammenarbeit mit der HNP ist in dieser kritischen Phase unerlässlich, um weitere Destabilisierung zu verhindern und einen Beitrag zum Normalisierungs- und Stabilisierungsprozess zu leisten. Dennoch ist das am 01.06.05 abgelaufene Mandat zunächst nur bis zum 24.06.2005 (und jetzt??) verlängert worden. Die Entwaffnung der Bevölkerung ist von größter Bedeutung, um demokratische Wahlen zu gewährleisten. Dennoch ist bis heute kein Entwaffnungsplan umgesetzt worden, sodass nach wie vor tagtäglich Zivilisten durch Schusswaffen getötet werden. Versuche der Übergangsregierung, die bewaffneten Gruppen zur Abgabe ihrer Waffen zu bewegen, scheiterten bisher schon im Ansatz. Das Verständnis für die Notwendigkeit einer umfassenden Entwaffnung ist in der Bevölkerung nicht vorhanden. Eine Erfassung aller Handfeuerwaffen in Haiti scheint angesichts der mangelnden Infrastruktur gar nicht möglich, zumal zahlreiche Banden mit kriminellem Hintergrund kein Interesse an einem stabilen, demokratischen Haiti haben. Im Vorfeld der Wahlen Bereits die Vorbereitung der Wahlen wird von zahlreichen Tumulten und Auseinandersetzungen überschattet. Anhänger des ehemaligen Präsidenten Aristide fordern die Rückkehr des Armenpredigers als rechtmäßigem Präsidenten. Dieser lehnt eine erneute Amtszeit jedoch bisher unter Hinweis auf die Haitianische Verfassung, die nur zwei Amtszeiten legitimiert, ab. Mit über 90 registrierten Parteien und einer Vielzahl von zivilen Organisationen findet sich auf Haiti eine sehr komplexe politische Landschaft, die einen strukturierten Überblick über die politischen Verhältnisse erschwert. Klar identifizierbare politische Perspektiven für das Land sind angesichts dieser Unübersichtlichkeit nur schwer herauszufiltern. Einigen politischen Parteien werden zudem Kontakte zu illegalen bewaffneten Gruppen nachgesagt. Obgleich bisher keine offizielle Kandidatenliste für die am 09.10.05 und 13.11.05 geplanten Wahlen existiert, fürchten mögliche unabhängige Kandidaten Diskriminierungen durch die zahlreichen Gruppierungen mit eigenen Machtansprüchen. Andere blicken den Wahlen mit Skepsis entgegen. Sie fürchten, die Wahlen könnten nur den Weg in eine erneute Diktatur ebnen, sollte für die Reformierung des Justizsystems und des Staatsapparates nichts getan werden. So wird die internationale Staatengemeinschaft den gesamten Wahlvorgang von den Vorbereitungen, die im April 2005 begonnen haben, bis hin zur geplanten Übernahme der Regierungsarbeit durch die gewählte Partei im Februar 2006 begleiten. Aufgrund der mangelhaften technischen Ausrüstung ist es bereits jetzt zu einer Verspätung bei der Registrierung der Wähler gekommen. Die Bereitstellung von technischen Mitteln in einem Land mit knapp 4,25 Millionen Wahlberechtigten ohne Infrastruktur (Strassen und Elektrizität) ist für die Einhaltung des Zeitplans sehr wichtig. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den Registrierungsprozess und das Erstellen einer Wählerliste begleitet, sollte das nötige Equipment in allen Registrierungsbüros bis zum 25.04.2005 bereitgestellt haben. Aber die Einrichtung der Registrierungszentren/Wahlbüros geht nur schleppend voran. Der Bezirk Artibonite sollte beispielsweise insgesamt 60 Registrierungszentren haben. Bis heute existiert lediglich ein einziges. Ähnlich verhält es sich in der Stadt Cap Haitien. Wirtschaftliche und soziale Lage Viele Gebiete des Landes sind infrastrukturell nur unzureichend ausgebaut, große Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu ausreichend sauberem Wasser, das Stromnetz ist instabil, viele Gebiete des Landes sind gar nicht mit Elektrizität versorgt. Es fehlt zudem an medizinischer Grundversorgung, die Krankenhäuser sind mangelhaft ausgerüstet und können die Versorgung ihrer Patienten nicht gewährleisten. Die Lebenserwartung in Haiti beträgt im Schnitt nur 50 Jahre und acht von 100 Kindern erleben ihren fünften Geburtstag nicht (vgl UN-Bericht S/2004/124). Zudem wird Haiti immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht. Überschwemmungen oder Hurrikane verschlimmern die Situation der Bevölkerung. Der Hurrikan „Dennis“ hinterließ im Juli 2005 über 40 Tote und 22 Verletzte, während im September 2004 der Hurrikan „Jeanne“ Haiti erreichte und verheerende Flutwellen auslöste, die in und um die Stadt Gonaives Tausende Tote und Vermisste zurückließen. Aufgrund der mangelnden Infrastruktur ist es meist nicht möglich, schnell und unkompliziert humanitäre Hilfe zu leisten, um die eklatanten Folgen dieser Katastrophen für die Bevölkerung abzuschwächen. Bewaffnete Banden sollen den Menschen Hilfsgüter aus den Händen entrissen und zu hohen Preisen verkauft haben. Vor Ort präsente Militär- und Polizeieinheiten der Vereinten Nationen konnten nicht verhindern, dass Menschenrechtsverstöße und politisch motivierte Gewaltakte immer weiter um sich griffen. Die Folge davon war eine weitere Verschlechterung der Sicherheitslage bis hin zu einem völligen Zusammenbruch der rechtsstaatlichen Ordnung, was die Verteilung internationaler Hilfsgüter an die Überlebenden der Sturmkatastrophe erheblich erschwerte. Menschenrechtsverletzungen Schon vor dem Regierungswechsel im Februar 2004 waren Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung, dennoch verschlimmert sich die Situation im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen zusehends. Wiederkehrende gewalttätige Aktionen gehen dabei von unterschiedlichen Gruppen aus. Vielfach begehen Anhänger des ehemaligen Präsidenten Aristide, die die Stadtteile Cité Soleil und Bel Air kontrollieren, sowie Mitglieder des ehemaligen Militärs mit eigenem Machtanspruch und bewaffnete Banden Menschenrechtsverletzungen. Am 30. Juni 2004 soll in Ranquitte im Département Central ein des Diebstahls beschuldigter Mann festgenommen und vom dortigen „Sektionschef“, den demobilisierte Soldaten wieder ins Amt gesetzt hatte, zu Tode geprügelt worden sein. Opfer der Gewalt werden auch hochrangige Politiker und Diplomaten. Anfang Juni 2005 wurde ein französischer Diplomat in seinem Auto unter Beschuss genommen und starb in dem Kugelhagel. Die Zahl der Entführungen ist in den letzten zwei Monaten sprunghaft angestiegen. So wurden im Monat Mai über 170 Entführungen registriert, die auch Ausländer trafen. Ende Mai 2005 wurde ein Kanadier erst gegen Zahlung eines Lösegeldes wieder frei gelassen. Ebenso erging es einem Phillipino, der von seiner Familie durch Lösegeldzahlungen freigekauft werden musste. Jüngst wurde eine 65-jährige Kanadierin entführt und erst Tage später wieder freigelassen, wobei unklar blieb, ob in diesem Fall Lösegeld gezahlt wurde. Ebenso finden immer wieder Übergriffe gegen Menschenrechtsverteidiger statt. Rénan Hédouville, der Generalsekretär der Anwaltsvereinigung für den Schutz individueller Freiheitsrechte, erhielt per Telefon mehrere anonyme Morddrohungen, nachdem die Organisation Menschenrechtsverletzungen angeprangert hatte, an denen Beamte der HNP und demobilisierte Soldaten beteiligt gewesen waren. Auch Journalisten sahen sich nach wie vor Einschüchterungsversuchen und Schikanen ausgesetzt, als sie die Übergangsregierung oder das demobilisierte Militär kritisierten und über Menschenrechtsverletzungen berichteten. Radiosender, die in ihren Sendungen über Verletzungen der Menschenrechte berichteten, hatten Übergriffe zu befürchten. Es wird auch von Morddrohungen gegenüber karitativ tätigen und gesellschaftlich angesehenen Personen des öffentlichen Lebens berichtet. Fréderic Jean-Juste, der sich auf Haiti sozial engagiert, befindet sich nach einem unabhängigen Bericht der San Francisco Bay View in Lebensgefahr und hat mehrfach Morddrohungen erhalten. Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei Teile der Haitianische National Polizei (HNP) verletzen immer wieder die Menschenrechte. Korruption ist weit verbreitet und macht es schwierig, die Missachtung der Menschenrechte zu verfolgen. Unsägliche Haftbedingungen, willkürliche Verhaftungen sowie falsche Verdächtigungen gehören ebenso zur Tagesordnung wie exzessive Gewaltanwendung und extralegale Hinrichtungen. Einheimische werden als menschliche Schutzschilde gegen Kugeln benutzt. Friedlich verlaufende und angemeldete Demonstrationen werden mit Gewalt zerschlagen. Immer wieder kommt es dabei zu Todesopfern, wie am 18.05.2005 auf einer Demonstration, als ein unbewaffneter Zivilist, der sich auf dem Weg nach Hause befand, von der HNP erschossen wurde. Im Rahmen von Entwaffnungsaktionen dringt die HNP vermehrt in die Slums von Port au Prince vor, in denen die Urheber der Unruhen vermutet werden. Am 01.06.05 kommen bei einer solchen Aktion 20 Menschen ums Leben. Augenzeugen berichten von wahllosen Schüssen in die Menge. So wird die HNP seitens der Bevölkerung immer noch mit Angst betrachtet und nicht als ein Stabilitätsfaktor in einem ohnehin instabilen Land. Straflosigkeit Hinzu kommt die anhaltende Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen. Vor und während der Rebellion flohen zahlreiche wegen Menschenrechtsverstößen verurteilte Häftlinge aus Gefängnissen. Die Übergangsregierung unternahm keine nennenswerten Anstrengungen, um diese wieder zu fassen. Jean-Pierre Baptiste alias Jean Tatoune, ein ehemaliger Kommandeur der verbotenen paramilitärischen Organisation Revolutionäre Front für Entwicklung und Fortschritt (Front Révolutionnaire pour l´Avancement et le progrès d´haiti – FRAPH), der 1994 wegen seiner Beteiligung am Massaker von Raboteau (siehe dazu das aktuelle Statement von ai auf haiti-kogruppe.de), einem Armenviertel in Gonaives, zu lebenslangem Freiheitsentzug mit Zwangsarbeit verurteilt und im August 2002 aus der Haft entkommen war, soll sich unbehelligt in Raboteau niedergelassen haben. Forderungen von Amnesty International Amnesty International fordert die Übergangsregierung nachdrücklich auf, die Ermordung von Zivilisten und andere Menschenrechtsverletzungen, die illegal und von irregulären politischen Gruppen begangen wurden, zu verfolgen. Die Tötung friedlicher Demonstranten muss unabhängig untersucht werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden Amnesty International ruft die Übergangsregierung wiederholt dazu auf, eine unabhängige Untersuchungskommission über Menschenrechtsverletzungen durch Mitglieder der HNP zu gründen. Diese soll von der Internationalen Zivilpolizei geleitet werden, um das Vertrauen der Bürger in die Ordnungskräfte wiederherzustellen und die Arbeit der MINUSTAH zu erleichtern. Amnesty International ruft zu einer umfassenden und zügigen Entwaffnung der Bevölkerung auf, um friedliche, demokratische und unabhängige Wahlen zu ermöglichen und so den Stabilisierungsprozess voranzubringen. Amnesty International fordert zudem die Klarstellung, dass es keine Amnestie für Menschenrechtsverletzer geben wird. Weitere aktuelle Informationen zu Amnesty International sowie zur Lage auf Haiti finden Sie unter amnesty.org und im aktuellen Jahresbericht von Amnesty International, erhältlich im Buchhandel. Jens Pössel