Das Gleichnis von den Talenten (Mt 25:14-30) Wenn ich dieses Gleichnis mit Studierenden in Lateinamerika und der Karibik bearbeite, dann kann ich gewiss sein, dass ich heftige Diskussionen auslöse. Grundsätzlich begegne ich zwei Interpretationslinien unter den Studierenden: die einen interpretieren das Gleichnis von einem materiellen Gesichtspunkt her und betrachten die Schlussfolgerung Jesu auf eine negative Weise, das heisst, sie verwerfen Jesu Auslegung; andere geben dem Gleichnis eine geistliche Interpretation und betrachten Jesu Worte positiv. Für die erste Gruppe, das heisst diejenigen, die das Gleichnis vom materiellen Gesichtspunkt her interpretieren, spricht Jesus hier von Spekulation, reinem Kapitalismus und Ausbeutung des Volkes und der Kleinbauern durch Kapitalisten und Grossgrundbesitzer. Bis heute ist dies ein hochaktuelles Thema in allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten. Alle Revolutionen, sei es die peruanische, kolumbianische, kubanische, venezolanische, bolivianische oder nicaraguanische, drehten oder drehen sich um das Thema Kapitalismus und Grossgrundbesitz. In manchen lateinamerikanischen und karibischen Staaten ist der finanzielle Reichtum und der Bodenbesitz in den Händen einiger weniger Familien. Diese lateinamerikanische und karibische Wirklichkeit widergibt genau die Situation des Mittleren Ostens unter Römischer Herrschaft. Die Familie Herodes des Grossen, zum Beispiel, kontrollierte den Grossteil des Bodens und der Wirtschaft zur Zeit Jesu. Wenn ich den Studierenden den sozialen Hintergrund des Neuen Testaments erkläre, erkennen sie ohne Schwierigkeiten die Situation ihres eigenen Landes in ihr. Da ist es nicht schwierig eine Brücke zwischen vergangener und gegenwärtiger Geschichte zu schlagen. Und dies ist auch in diesem Gleichnis der Fall. Vergangenheit und Gegenwart kommen in diesem Gleichnis zusammen. Von dieser ersten Perspektive her gelesen, verwerfen viele meiner Studierenden die Haltung der zwei ersten Sklaven, die das Geld auf Lasten anderer vermehren. Sie stellen sich offen gegen die Haltung Jesu, der die zwei ersten Sklaven lobt und den dritten rügt. Für viele Studierende in Kuba und Nicaragua spielt der dritte Sklave, der das Talent vergräbt, eine vorbildliche Rolle: da er die Münze vergräbt trägt er nichts zur Ausbeutung der sozial Schwachen bei und unterstützt nicht das kapitalistische System. Er widersetzt sich zwar nicht aktiv dem System, indem er sich der Revolution anschliessen würde; aber er fördert es auch nicht durch seine passive Haltung. Nach dieser möglichen Interpretation, versuche ich die Studierenden aufs folgende aufmerksan zu machen: Wenn Jesus die zwei ersten Sklaven lobt und den dritten anklagt, dann muss der Interpretationschlüssel für Jesus woanders liegen. Jesus wird sicher nicht das ausbeuterische und unterdrückerische römische System unterstützen. Jesus, wie bei ihm üblich, nimmt hier ein schockierendes, wohl bekanntes Beispiel aus dem Alltag, um seine Zuhörer und Zuhörerinnen wachzurütteln und zum Nachdenken zu bewegen. Eine Lösung, um das Gleichnis zu verstehen, ist nicht die materielle, sondern die geistliche Interpretation. Und diese Interpretation wird auch soziale Umwandelungen – wie sie sich meine Studierenden wünschen – zur Folge haben. Wir müssen uns also fragen, was ist denn eigentlich lobenswert am Verhalten der ersten beiden und rügenswert am Verhalten des dritten Sklaven? Was stellen die Talente dar? Für einige der Studierenden stellen die Talente Liebe und Gerechtigkeit dar. Diese Liebe und Gerechtigkeit werden nur dann wirksam, wenn sie unter die Leute gebracht werden, das heisst, wenn Liebe und Gerechtigkeit vermehrt werden. Andere Studierende deuten die Talente als gemeinschaftliche Arbeit, das heisst, dass man nur gemeinsam, im Miteinander, das Reich Gottes erbauen kann. Und dies ist, was die zwei ersten Sklaven machen. Sie bekommen ein Gut, eine Gabe von ihrem Herrn, das heisst Gott, und setzen sie für das Wohl der anderen ein. Sei es nun Liebe oder Gerechtigkeit oder gemeinschaftliche Arbeit, alle drei zielen auf das Wohl der ganzen Gemeinschaft hin. Der dritte Sklave dagegen ist ein Egoist. Er will nicht für die Anderen arbeiten. Er will nicht teilen. Er will nicht, dass sich die Liebe und Gerechtigkeit unter seinen Leuten verbreiten. Er will das, was er besitzt, für sich alleine behalten. Einige der Studierenden sagten, dass sich dieser dritte Sklave nicht in der Revolution engagieren will. Er schaut nur für das Seine. Er unterstützt den status quo der lateinamerikanischen und karibischen Feudalgesellschaften. Er nimmt kein Risiko auf sich und verwirft jede Veränderung. Daher verliert er am Schluss auch alles. Am Anschluss an das Gleichnis folgt der berühmte Text über das Weltgericht, wo Jesus, unter anderem sagt, „Denn ich habe Hunger gehabt, und ihr habt mir zu essen gegeben“ oder „Denn ich habe Hunger gehabt, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben.“ Ich denke, dass die zwei ersten Sklaven dem Hungernden zu essen geben während der dritte Sklave dem Hungernden nichts zu essen gibt. Der dritte Sklave lässt sich von Angst und Furcht dominieren, dass er etwas verlieren könnte. Die beiden ersten Sklaven wagen es, aus ihrer sicheren Umgebung herauszutreten. Eine Vision und ein Ziel dominiert das Handeln dieser beiden Sklaven. Da, wo Liebe mangelt, lieben sie; da, wo die Gerechtigkeit mit Füssen getreten wird, setzen sie sich für Gerechtigkeit ein; da, wo die gemeinschaftlichen Strukturen zerstört sind, bauen sie sie auf. Jesu nachfolgen ist ein Wagnis. Angst und Furcht sind dabei keine guten Ratgeber. Sich zurückziehen und abschirmen vor dem Unbekannten trägt nichts zur Verwirklichung des Reiches Gottes bei, das im Nächsten oder der Nächsten begegnet. Wer aber die Begegnung mit anderen Menschen sucht, um eine andere Welt zu ermöglichen – dies ist das Motto der Universität, an der ich in Costa Rica unterrichte – der wird Bereicherung erleben. Sich eingraben und einmauern bringt nur Angst und Furcht; sich auf dem Weg machen, um das Unbekannte kennenzulernen, und dem oder der Anderen zu begegnen, bringt Reichtum und Freude. Jeder und jede von uns besitzt Talente. Es liegt an uns diese fruchtbar zu machen und zu vermehren. Wie heisst es doch so schön: „Wer wagt, gewinnt.“ Diesen Mut wünsche ich Ihnen allen. Predigt 9.9.2012 Schaffhausen Herblingen Daniel André Gloor, San José / Costa Rica