Nachtrag_2010 - Homepage.ruhr-uni

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Thomas Bonhoeffer
Diese Datei ist ein zweiter Nachtrag zu meinem Buch “Von Gottes Bescheidenheit. Zu Struktur und Dynamik der christlichen Existenzsymbolik“, Einzelnotizen, die ich nachträglich thematisch gruppiert habe.
Die nur schwach geordnete Fülle von verschiedenen Notizen ist eine kaum zumutbare Lektüre. Aber
mit meinem Such-Programm (auf meiner WebSite) können Sie ein Dokument (oder mehrere zugleich in
einem Durchlauf) nach Absätzen durchsuchen, die mehreren Such-Kriterien genügen.
I.
Vorbemerkung
Ich habe von Gottes Bescheidenheit und von Gottes Dankbarkeit gesprochen und geschrieben. Das waren zwei neue theologische Konzepte; und so etwas muss in vielen
Zusammenhängen lange weiter erprobt und überdacht werden. Mit diesem weiteren*
Nachtrag veröffentliche ich Notizen aus meiner eigenen Weiterarbeit. Es sind keine
Diskussionsthesen, sondern Klärungsversuche, die prüfend zu ventilieren sich lohnen
könnte.
* Dem Buch liegt eine DC bei, auf der ein „Wühlkorb“ mit weiteren Notizen steht. Einen
„Wühlkorb II“ stellt der Nachtrag dar, der sich auf meiner WebSite findet. Mit der vorliegenden
Datei schiebe ich einen dritten Wühlkorb nach.
Es handelt sich um Notizen sozusagen von Forschungsreisen in einem vieldimensionalen Raum, nicht um Landkarten. Wenn es hierzu denn überhaupt solche geben kann,
ist es dafür jedenfalls noch zu früh.
Für Nachfragen bezüglich einzelner Begriffe oder Begriffsgruppen in dieser (auf mehrere Dateien und Datenträger verteilten) wenig durchstrukturierten Datenmasse empfehle ich die Benutzung meines differenzierten Suchprogramms* (im Buch auf der beiliegenden CD), das Absätze, die bestimmten Kriterien genügen, in einer Datei zusammenkopiert.
* Die ursprüngliche, unter Word2003 entwickelte Version musste inzwischen ersetzt werden.
Korrektur für den „Wühlkorb“ auf der CD im Buch, in den „Erklärungen“ (einem älteren Text) auf der CD: „Mandelbrotmenge“ nennt man heute nur noch das sog. „Apfelmännchen“.
II.
Spiel
Ausgehend von angeborenen Schemata, zerlegen wir die Wirklichkeit in Einheiten,
die Sinn machen. Aber Polyphonie verlangt differenzierte Wahrnehmung und Spannkraft; zu viel Sinn ergibt Unsinn. Deshalb ist das Weltgeschehen als ganzes für uns unsinnig, nämlich überkomplex. Für Heraklit (und, in seiner Nachfolge, Manfred Eigen)
ist es Spiel.
Sub specie aeternitatis ist all unsere Aktivität Spiel mit ernsten Anspielungen. Kunst
ist Spiel (aber der Mensch soll doch keine Katzenmusik machen). Meditation ist Spiel.
Der Gottesname ist eine eigentümlich ansprechende Anspielung; es hängen viele Vorstellungen daran und bewährte Regeln und Bräuche, damit umzugehen.
Das menschliche Leben ist ein personales Spiel. Es beginnt als beglückendes Spiel
zwischen Mutter und Kind. Darin wurzelt der jugendliche Idealismus. Der Erwachsene
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muss dann noch bescheidener werden und sein Leben ernst führen, wie ein Kind spielt.
(Das Kind hat auch zu seinem Spielzeug eine persönliche Beziehung.)
Spiel ist Interaktion. Man spielt mit etwas oder mit jemandem; man spielt mit dem Zufall. Sinn entsteht aus unverständlichem, undurchschaubarem Widersinn, den wir kurz
Unsinn nennen. Die Beteiligten haben je ihren Eigen-Sinn; aber sie entwickeln und
instituieren Spielregeln, einen einigenden Rahmen, die gesellschaftlich konstruierte
Wirklichkeit* des Spiels.
* Vgl. das berühmte Buch von Thomas Luckmann und Peter Berger.
CLAUDE LÉVI-STRAUSS fokussiert (1955, auf den letzten Seiten der Tristes Tropiques),
unter dem Eindruck buddhistischer Frömmigkeit, auf das Erleben einer Fusion von Sinn
und Unsinn, in dem seine Arbeit zum Ziel kommt – und von woher sie „Sinn“ bekommt. Abschließend erinnert er an einen Blickaustausch – „schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen“ – mit einer Katze.
Spielend weiß das Kind auch, was es soll. Wenn es von seinem Spiel weggerufen
wird, muss es das Spiel der Erwachsenen mitspielen. Gute Pädagogik eignet ihm dieses
persönlich zu.
III.
Normalität im Chaos
Leben braucht „Normalität“, Inseln von Ordnung im Chaos. Zu den Stärken, dank deren der Mensch mit seinen Schwächen normal überlebt, gehört seine besonders entwickelte Fähigkeit zu Voraussicht und Vorsorge. Hierzu gehört aber die ständige Berücksichtigung der beunruhigenden Grenzen dieser seiner Voraussicht, Gefasstsein auf qualitativ Neues, Bescheidenheit.
Pflanzen und Tiere sind in ihrer Weise fromm und bescheiden. Uns erinnert Religion
exemplarisch, symbolisch normalisiert und doch störend, inmitten der Normalität, an
die Katastrophenträchtigkeit des Chaos.
Normal nennen wir das, worauf wir uns verstehen. „Normalverteilte“ Zufälle bilden
den Einflussbereich des Normativen. Aber normalerweise passiert immer wieder etwas
Unerwartetes, das wir bestenfalls mit viel Glück nachträglich als möglich und nicht unwahrscheinlich verstehen. Die milde Zufälligkeit des normalen Lebens ist eingebettet in
– für uns allzu langsam bestimmte Erwartungen rechtfertigende, wenn nicht gar wilde –
Chaotik. Wir wissen das; aber dieses Wissen belastet. Es macht misstrauisch gegenüber
der Normativität des Normalen. (Die monotheistischen Religionen unterbrechen die
vernünftige normale Alltäglichkeit alle sechs Tage durch einen Tag der Besinnung!).
Die Chaotik macht Angst; sie mahnt zur Vorsicht – aber ohne Erfolgsgarantie.
Sich vorsehen lernt man. Man entwickelt eine Symbolik der Voraussicht und der Ahnung. Aus dieser entwickelt man zielgerichtet realitätsbezogene Vermutungen. Und
diese können von der Stochastik* geklärt werden. In der Chaos-Theorie artikuliert die
Stochastik ihre Grenzen, – und diese markieren streng unsere Grenzen! Menschliches
Leben braucht Voraussicht. Diese aber wird mit der Entfernung früher unsicher als der
(von der Gesellschaft normalisierte) Alltagsverstand denkt**.
* Stochastik (Wahrscheinlichkeitstheorie sowie deskriptive, induktive und explorative Statistik)
ist die Mathematik des Vermutens. Sie hat ihren Namen vom zielgerichteten Vermuten
(στοχάζειν = zielen), mathematisch veranschaulicht im Gauß‘schen Fehlerintegral der sog.
Normalverteilung.
** Man denke an die jüngste globale Finanzkrise.
Nach dem Destaster der europäischen Kultur im Ersten Weltkrieg fand die dialektische Theologie mit ihrer Metaphorik des Bruchs („Gebrochenheit“) breite Resonanz.
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Die bürgerliche Normalität war destabilisiert; die Restaurationsversuche führten zu einer zweiten Desillusionierung.
Im Chaos, das der Zweite Weltkrieg hinterließ, untersuchte Benoît Mandelbrot Grenzlinien und Bruchflächen genauer. Seine empirisch unerhört breit unterlegte Fraktaltheorie*, eine Mathematik der Rauheit, fand enorme Resonanz. Die hier thematisierten
Strukturen sind beunruhigend analogiekräftig. Wir haben im normalen Leben allenthalben damit zu tun.
* Die Oberflächenphysik arbeitet damit.
„Fraktal“ ist ein anschaulicher, hoch analogiekräftiger Begriff mit einem wohldefinierten Kern. Er regt an zu neuen Fragen an alte Gegenstände, zu Vermutungen und
Hypothesen.
Ich habe mich in dieser Richtung hier weit vorgewagt; man lese das mit Skepsis!
Die Natur, unsere eigene und die der Umgebung, ist chaotischer, als die gute Gesellschaft zugibt*.
Natur-„gesetze“ sind von konkreten Abläufen höchst genaue Beschreibungen, mit denen
wir aber die Wirklichkeit nur ungenau und unsicher treffen. Die Wirklichkeit stört.
* Sie setzt, mit gewissem Erfolg, eine leise flächendeckende Autosuggestion zur Stabilisierung
der Ordnung ein, whistling in the dark.
„Auf Regen folgt Sonnenschein!“ – Gewiss; aber wann ?!! Meist herrscht Mandelbrots slow randomness! „Gottes Mühlen mahlen langsam.“ Es gibt keinen evidenten
Erwartungswert.
Die Normalverteilung (Glockenkurve) ist Ergebnis der Dominanz einer Tendenz im
vielfältigen Geschehen. (Klassisches Beispiel: Messfehler.)
Mandelbrot hat, bei seiner mathematischen Systematisierung der massenhaften empirischen Befunde überwältigender („langsamer“ und „wilder“) Zufälligkeit in verschiedensten Wirklichkeitsbereichen, die Normalität der Gauß-Verteilung als höchst
voraussetzungsvoll „mild zufällige“ relativiert. So hat er, mit wissenschaftlicher Evidenz, die evidente Normalität des Alltagsverstandes* zur Disposition gestellt und erinnert wieder (wie die Weisheit überall und zu allen Zeiten) an die Chaotik des Lebens.
* Sie setzt, mit gewissem Erfolg, eine leise flächendeckende Autosuggestion zur Stabilisierung
der Ordnung ein, whistling in the dark.
** Der stoische Begriff der Evidenz war schon in der Antike umstritten.
Das „Unendliche“ verweist den Menschen in „die Transzendenz“, „das Jenseits“. Er
soll die Dimension seiner Wahrnehmungseinstellung transzendieren, sich ins Jenseits
seiner glatten Grenzen vertiefen, – wie Lewis Richardson sich in die Länge der Küste
Englands vertieft hat. Benoît Mandelbrot hat es auf den Begriff gebracht: Die menschliche Freiheit geht über den Freiheitsgrad einer glatten Dimension hinaus. Sie ist fraktal;
unsere Grenzen sind rau!
Alle Normalität ist unberechenbar bedingt. Das Normale ist unscharf abgegrenzt vom
großen Anderen*, das wir – als persönlich oder unpersönlich – phantasieren. Diese
Zweiteilung unserer Vorstellungswelt ist aber grundlegend für unser Alltagswissen.
* Dieser Begriff spielt bei Jacques Lacan eine wichtige Rolle.
Die Spannungen an der „rauen*“ Grenze zwischen König/Priester (Macht/Prestige)
relativieren die Normativität der Normalität. Das Volk glaubt zu wissen, was die Religion zu lehren hätte. Ein mindestens doppeltes Wir (Staat/Kirche) ist unerlässlich für die
Relativierung der Symbolik. Und das Individuum muss, bescheiden entscheidend, sei-
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nen persönlichen Weg gehen.
* Mandelbrots anschaulicher Begriff für „fraktal“.
Der gesunde Menschenverstand ist doppelbödig: Er weiß Normalität zu schätzen, die
Zeichensysteme trägt, und rechnet darauf; und er weiß um seine Beschränktheit, – mit
der er symbolisch umgeht (Kunst, Religion).
Wissenschaft arbeitet auf der Grenze. Sie prüft Symbolisiertes, Geahntes, Vermutetes,
auf Identifizierbarkeit, Stabilität und normale Wahrscheinlichkeit. Sie erarbeitet Zeichensysteme.
Tempel (Kirchen oder Ähnliches) in der Stadt sind Leerzeichen im Alltag. Sie legitimieren das natürliche Misstrauen gegen die normative Normalität. Die Religion diszipliniert dieses kulturell.
Unsere Welt ist unheimlich. Die Dinge, die unseren Horizont bilden, haben eine normale Vorderseite, die wir sehen, und eine chaotische Rückseite, die wir ahnen; und sie
sind in Bewegung. Menschlichkeit überlebt zwischen Zuversicht und Angst.
Gott gibt uns brauchbaren Anteil an Seiner Schöpfung; und das ist „sehr gut“ (1Mose
1,31).
Wir begehren und hoffen und werden vom Lauf der Dinge enttäuscht. Die Bibel versteht die Dornen und Disteln auf unseren Acker (1Mose 3,18) als Demütigung unseres
Übermuts (1Mose 3,5). Aber wir können, nach Gottes treuem väterlichen Rat, zuversichtlich, geduldig – und neugierig – malochen und sollen mit Gottes Hilfe immer wieder von unserem Acker und unserem aktiven Selbst Abstand nehmen (Sabbat: 2Mose
20, 8-10).
Der Mensch lebt in der prekären Normalität, einer Insel von Ordnung im Chaos, als
Schöpfungswunder im Schöpfungswunder.
Das Thema Sinnlosigkeit ist unsterblich, weil der Fragende sterblich ist.
Sinn hat immer einen beschränkten Horizont, ist fraktal begrenzt.
Das Christentum symbolisiert das Scheitern des Glaubens an die Welt-Grundordnung
(κόσμος). Luther hat das – ausweislich seiner Theologie des Gesetzes – in seinen Anfechtungen durchlitten.
Das „geltende Recht“ ist ein Symbol für Recht; und dieses ist eine kollektive
Wunschphantasie. Das soziale Leben ist ein instabiles Kooperationssystem mit – unter
günstigen Bedingungen: normalverteilten (und also nur seltenen empörenden) – Störungen.
Normalität verlangt von Legislation ebenso wie von der politischen, administrativen
und jurisdiktionellen Realisierung Augenmaß. Summum ius summa iniuria; eine sture
Rechtspflege alla Kelsen chaotisiert die Gesellschaft.
Schuld gehört zum normalen Konkurrenzkampf des Lebens auf der Erde. Wir sind, als
Teil der geordneten Schöpfung, auch Teil des Chaos, in welchem diese Schöpfung ihren
Ort hat; und in Wut* werden wir uns dessen auch immer wieder einmal bewusst.
* Genauer: Kohuts „narzisstische Wut“, – die nicht nur etwas Bestimmtes oder jemand bestimmten hasst.
Der Einzelne mindert sein individuelles Risiko durch Vernetzung, klassisch: das Versicherungswesen. Dann fangen die Versicherungen an, sich – unter einander und nach
außen – zu vernetzen (Rückversicherung). Katastrophen werden seltener; allgemein
steigt das Sicherheitsgefühl. Geborgen in der öffentlichen Meinung, wagt der Einzelne
nun Innovationen, d.h. riskantere Investitionen. Wird das flächendeckend, so ist mit der
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nächsten Katastrophe zu rechnen – und je seltener, desto schwerer werden die Katastrophen. Und dies ist das letzte Wort über unsere Normalität.
GOETHE hat im Schluss von Faust II Normalität und Chaos gegenübergestellt: Dem
alten Mann naht sich die Sorge (Z. 11383ff.); er vertreibt sie – und bezahlt es mit Blindheit (Z. 11495). Er will dem tobenden Meer einen Koog für normales Menschenleben
abringen (Z. 11540ff.). In seiner Blindheit (!) erfüllt er (Z. 11580f.) die Bedingung (Z.
1699f.), unter der er dem Teufel das Verfügungsrecht über sich zugestanden hatte. Mephisto sieht und kommentiert (Z. 11542-48) Faustens Aktivität in seinem „höchsten
Augenblick“: „Du bist doch nur für uns bemüht mit deinen Dämmen, deinen Buhnen…“
Schon die infra-humanen Naturvorgänge verstehen wir nur teilweise. Der Mensch
aber ist ein dynamisches Verbundsystem von Natur und Geist. Man kann einerseits Realität verstehen und auf Ideen kommen, und man kann anderseits Ideen realisieren. Das
ist ein unberechenbar komplizierter, multiplikativ rekursiver Prozess; nur lokal ein einfaches, ungefähr exponentielles Wachstum (das ja seinerseits bereits zu Chaos führt);
wild chaotisch. Wir verstehen nur ausgegrenzte Systeme; jede Ausgrenzung eines betrachteten Systems aber wird wieder fragwürdig.
Sekundär- und Servosysteme bekommen oft entscheidende Bedeutung; das führt
schnell in ein Chaos.
Das klassische Christentum lebt vor dem Hintergrund furchtbarer Angst. Seit der Aufklärungszeit ist diese Angst bei uns der öffentlichen Meinung fremd geworden. Man
muss fürchten, dass die Tage dieser relativen Angstfreiheit gezählt sind.
Das Leben passt sich an. Es ist überwältigend reproduktiv, und, um den Preis unzähliger Unfälle, lernt es zu.
Das Individuum lernt in einer lückenhaften Folge von normal verteilten Zufällen, durchs
Leben zu kommen.
Lehre ist Mitteilung von dem, was einem eingeleuchtet hat. Das ist immer ein symbolischer Komplex von Vorstellungen und entsprechendem Verhalten.
Je mehr die Menschheit in ihrem allseitigen Konkurrenzkampf ihre Lebensumstände
selbst gestaltet, desto schneller verliert das Gelernte an Lebenswert und desto kleiner
wird die Aussicht auf jene Normalisierung, die der Vorsicht mehr Erfolg verspräche.
Religionen artikulieren kommunikabel (erträglich und verfügbar für das Alltagsbewusstsein) unser verschwiegen belastendes, aber lebenswichtiges Wissen um das Chaos.
IV.
Symbolik
Symbole sind Andeutungen. Gefahr deutet sich im (selbst gefährlichen) Angstsignal
an. Symbole sind eine raue Zwischenschicht zwischen dem Subjekt und der äußeren
Realität.
Symbolisierung ist immer auch (in je noch ungeklärter Weise): Betrug.
Symbolik ist repräsentiert die Grenzzone zwischen Wahrheit und Unwahrheit, fraktal,
präzisierenden Erklärungen zugänglich – aber unauslotbar.
Symbolgemeinschaft ist die Basis für gesellschaftliche Kooperation. Klassiker- (also
auch Bibel-)lektüre vertieft und erweitert sie.
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Gedachtes kann mit nur einem Wort symbolisiert werden. Der Einwortsatz kann dann
differenziert ausartikuliert werden.
Der Mensch braucht zur Stabilisierung der eigenen Person Glaubensgegenstände, Gegenstände, auf deren Bedeutung er sich verlassen kann, feste Symbole.
Mein Thema ist: „Glaube im Chaos“. Zuerst ist das eine Frage nach einer Symbolik,
die, reich an Lebenserfahrung, mir das Chaos, möglichst lebbar vorgeordnet, vermittelt.
(Luther schärfte ein: Zu unserm Heil brauchen wir das verbum externum.)
Paulus hat Visionen gehabt, hält das Imaginäre aber für den Alltag symbolisch auf
Distanz (1Kor 13, 8-12).
Religiöse Symbolik ist abgründig; Der Glaube relativiert* ihre** Vorstellungen.
Wahn hingegen und Irrglaube an eine Symbolik der Normalität versteift die Lebensordnung direkt und verstärkt das Chaos hinterrücks.
Es gibt brauchbares Wissen. Aber man sollte nie vergessen: Wir kennen die Bedingungen dieser Brauchbarkeit nur teilweise. Man soll nie an sein Wissen glauben, als könnte
es nicht irreführen.
* 1Kor 13, 9-12.
** Bei andern Symboliken muss man es dazusagen.
Glück und Unglück sind beide missionarisch wirksam.
„Mathematische Gesetze“ sind Zusammenhänge zwischen Hypothesen, Wenn/DannGesetze, – anzuwenden wie im „kasuistischen“ Recht. Der Zusammenhang zwischen
den Hypothesen und der Realität ist fraktal.
Besinnung sucht, findet und macht Sinn. Sie erhält das Leben lebendig lebbar, indem
sie brauchbar vereinfacht.
Wenn man das Denken emanzipiert, indem man Sinn abtrennt von seinen Wurzeln im
widersprüchlichen Sinnlichen, entschwebt man der Symbolik – ab in eine Welt eindeutiger Zeichen. Eine solche aber ist immer hypothetischer Natur und muss zurückverbunden werden; sonst ist eine (individuelle oder kollektive) Bruchlandung programmiert.
Lebendige Symbolik* ist „Wortgeschehen“ (Ebeling) in Widerspruch und Antwort.
* Unterschieden von der Symbol-Mechanik, die FREUD in der Traumdeutung beschreibt.
Symbolik stabilisiert, indem sie die realen Zusammenstöße dämpft.
Der Weise bleibt ruhig.
Glückliche Leute machen weniger small talk und führen mehr „substanzielle“ Gespräche*; d.h. sie arbeiten ständig an einer (inter- und intra-individuell) integrativen, stabilisierenden Symbolik.
* MATTHIAS MEHL, in: Psychological Science, Februar 2010.
Als „Wort“ ist auch eine objektive Mitteilung Symbol des Daseins, schöner Ordnung
im Chaos*, ein Existenzsymbol.
* Heidegger: „Lichtung des Seins“.
„Wortgeschehen“: Man kann nicht die beiden Totalitäten Gott und Chaos zugleich
denken. Mythologie verkleinert beide, Gott und das Chaos.
Luther als erster hat die Erfahrung des Teufels, der als Christus erscheint, und Gottes in
der Maske des Teufels thematisiert und hat – in seiner existenziellen Interpretation der
biblischen Unterscheidung von Zeit des Gesetzes und Zeit des Evangeliums – entsprechende hermeneutische Konsequenzen gezogen. Glaube und Anfechtung sind Elemente
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desselben existenziellen Prozesses. Diesen kann man bezeugen, – und man kann ihn
(religiös oder wissenschaftlich) mythologisieren.
Martyrium ist „Bezeugung“, Einsatz des eigenen Körpers als Beweisstück, als corpus
delicti. Es geht um einen Beleg für die Wahrheit einer umstrittenen anthropologischen
Behauptung, die Allgemeingültigkeit beansprucht: Nur ein Leben in Ehrlichkeit und im
Glauben an eine gemeinverbindliche Wahrheit ist lebenswert.
Es gab das in der abendländischen Antike bei griechischen Philosophen, Juden und
Christen. Das öffentliche Martyrium zog Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Sympathie*
der Massen auf sich.
Das christliche Bekenntnis zu einem Verfehmten als Offenbarung Gottes war eine maximale Provokation, – die, inmitten der provozierten Gesellschaft, doch Einzelne so
ansprach, dass sie sich näher für diese Überlieferung interessierten*.
* Mark Aurel allerdings empfand es als Exhibitionismus.
** Sanguis martyrum semen ecclesiae (nach TERTULLIAN, Apologie, cp. 50).
V.
Vereinfachung
Gute Vereinfachungen verführen zum Wahn, zu Verfallen an die so gut banalisierte
„Welt“. Das gilt auch von guten, schulebildenden, theologischen Vereinfachungen. Sie
machen Gott zu einem Stück Welt. Wir sind jedoch berufen, neu geboren zu werden aus
der Wahrheit – und aus der Kreativität Gottes zu handeln!
Optische Täuschungen sind Vereinfachungen durch Attraktoren in der Dynamik des
Gehirns. Dasselbe aber gilt von all unseren Begriffen.
Bei großer Ratlosigkeit verfällt man in apokalyptische Stimmung. Man revidiert sein
Weltbild, verlangt nach Offenbarung (ἀποκάλυψις), sucht neu eigene Identität in radikalen Vereinfachungen, um sich zu reorganisieren.
Die Apokalyptik erhofft, als Selbstoffenbarung Gottes, ein brutal vereinfachendes Urteil: Weltuntergang, neue Schöpfung.
Vereinfachungen bündeln die Energien und stabilisieren das Subjekt, – Gesellschaft
oder Individuum; so entstehen Geschichtsepochen und Lebensstadien.
Dieser Nutzen stabilisiert seinerseits rückwirkend das Vereinfachungssystem Sprache.
Vereinfachungen sind lebensnotwendig; aber man soll nicht das Gefühl dafür verlieren, dass sie, angesichts des Reichtums der Wirklichkeit, Verarmungen sind. Man soll
sich wichtigen Komplikationen so weit aussetzen, dass man die eigenen Grenzen spürt.
Jeder vereinfacht. Man lernt von einander. In Massen verstärken sich die Vereinfachungen rekursiv. Das erhöht deren Macht, vereinheitlicht, es eint, uniformiert und
führt, im Zusammenstoß mit der ausgeblendeten Wirklichkeit, zu einem Chaos.
Vereinfachende Repräsentation verfehlt die volle Wahrheit. Vereinfachungen sind nur
bedingt* richtig und nützlich. Unbescheidene Vereinfachungen sind oft wirklich
„schrecklich“**.
* „Modulo ...“ !
** Im Französischen redet man von terribles simplificateurs.
Jeder kann „Ich“ sagen; jeder darf die gleiche Sprache benutzen. Sprache symbolisiert
weitgehend egalitär. Sie ordnet und vereinfacht täuschend; und so bereitet auch sie in
ihrer Weise Chaos vor.
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Lehre setzt beim Schüler Erfahrung voraus. Sie erklärt und klärt, sie schematisiert, sie
konzentriert und engt damit die geistige Freiheit auch ein. Der Lehrer vermittelt überlieferte Erklärungen. Er vereinfacht so, dass das Vielerlei behältlich wird. Der pédant* tut
des Guten zu viel.
* „Erzieher“ (von παιδεύειν).
Der Begriff „Vereinfachung“ ist wohl auch nur eine Vereinfachung, also Verzerrung
und Illusion.
VI.
Wahrheit
Mentale Repräsentanzen erlauben Minderung des Kontakts mit der Realität.
Nichts ist so erstaunlich wie Selbstverständlichkeiten.
Skepsis ist die Bescheidenheit der Vernunft.
Σκέψις ist, dem Sinn nach, φιλο-σοφία, wie Plato sie im VII. Brief beschreibt.
Skepsis ist eigentlich jugendlich. Man traut sich zu, durch eigenes Noch-einmalHingucken (σκέπτεσθαι) zuzulernen.
Der in die – weitgehend stereotypierte – Arbeitswelt voll eingespannte Erwachsene
kann sich nicht viel Skepsis leisten.
Nichts ist so einfach, daß man die volle Wahrheit darüber sagen könnte. Man kann sie
nur ansprechen und ansagen.
Der Mensch braucht Mitmenschen, um, im Chaos des Lebens, Realist zu bleiben.
Schon einer macht einen entscheidenden Unterschied; durch ihn ist die Stichprobe – und
damit die Treffsicherheit des Urteils – schon verdoppelt! Familie, Freunde, Kollegen,
Gesellschaft, Literatur verbessern die Urteilsfähigkeit weiter. An jedem Urteil ist etwas
Wahres; aber jeder sieht jederzeit aus einem etwas andern Blickwinkel; jedes Urteil ist
nur fragmentarisch. Man muss kommunizieren und kann nur symbolisieren.
Wegen der Chaotik der Wirklichkeit sind aber die Fehler nicht normalverteilt; Bernoullis „Gesetz der großen Zahl“ gilt nicht. Konvergenz der Urteile ist nicht in ihrer Wahrheit begründet, sondern im menschlichen Glauben an die Mehrheit und in der Naturnotwendigkeit der Vereinfachung! So kann auch der breitest Gebildete sich irren, und Kollektive können einem Wahn zum Opfer fallen.
Die heutige Menschheit verdankt sich der menschlichen Kreativität. Mit neuen Einsichten ist man aber zunächst allein.
Mathematik betrachtet die Rauheiten der glatten Begrifflichkeit* genauer.
Wissenschaft klärt undurchsichtige Evidenzen des Alltagswissens.
* Sowohl bei den Definitionen (ὁρισμοί) ihrer idealen Gegenstände wie bei deren Realitätsbezug.
Kant hat mit der Frage nach dem „Ding an sich“ seinen „eschatologischen Vorbehalt“
(J. B. Metz) gegen die Laplace‘sche Ideologie angemeldet.
Die fraktale Struktur der Symbolik macht, im Interesse an der Wahrheit, die ständige
Aufmerksamkeit aufs Individuelle als kleinste Sinn-Einheit nötig.
Geistige Reflexion ist eine Rekursion, selbstähnlich (ideell endlos, nie fertig, wie die
Kochkurve*), eine fraktale Grenze der Urteilssicherheit.
* Benannt nach ihrem Konstrukteur Helge von Koch (1904).
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Man korrigiert seit Menschengedenken an den überlieferten Irrtümern herum. Jede
Korrektur eröffnet neue reizvolle Perspektiven. Aber jede Korrektur ist fast sicher immer noch falsch; und in einer chaotischen Welt droht auch der kleinste Fehler fatal zu
werden.
Mit Selbstbetrug verhütet man zentrale Desorientierung durch Realitäten, denen man
sich nicht anpassen kann, und entsprechende Desorganisation; man bewahrt sich wenigstens partielle Funktionsfähigkeit.
Kollektiv stabilisiert sich das als Massenwahn. Dieser mag im Kampf der Kollektive
ums Dasein ein Stück weit eine Stärkung sein. Umso sicherer gefährdet Massenwahn
die Spezies (mitsamt ihrer Umwelt).
Allenthalben und immer wieder kommt die Ahnung auf, die vielfältige Realität sei nur
täuschender Schein – Maya, „Vor-stellung“*, die das Eine, Bleibende, Wahre verschleiert. Zugrunde liegt diesem Wahrheitskonzept das bedrohliche Gefühl, im Vielerlei des
Weltgeschehens sich selbst zu verlieren. Das Geschöpf ist ja dazu bestimmt, um sein
Dasein zu kämpfen, als der eine das andere** zu lieben und endlich im anderen sich zu
verlieren!
* Man erinnere sich an Schopenhauer!
** Schopenhauers Ethik ist, als Mitleidsethik, narzisstisch konzipiert.
Die als Antithese zur täuschenden Vorstellung vorgestellte Wahrheit stellt sich selbst
nach einer Weile als eine täuschende Vorstellung heraus.
Gewissensmäßig derzeit unüberbietbare Vereinfachungen können zu aktuellen Wahnvorstellungen werden.
Das Wahrheitsgefühl entscheidet über die aktuelle Symbolik!
Das betrifft auch didaktische Vereinfachungen. Sie können zu gefährlicher Halbbildung
führen! Einsteins Anweisung: „Man muss die Dinge so einfach sagen, wie möglich;
aber nicht einfacher“, ist auch in dieser Hinsicht zu beherzigen.
Kurvilineare Zusammenhänge approximiert man natürlicherweise, indem man sie linearisiert. Aber je mehr man linear extrapoliert, drohen abrupte Perspektivenwechsel.
VII. Irre
1. Kor 15,36 ἄφρων: Das Leben ist ein Wunder; der φρόνιμος weiß, dass seine
φρόνησις dem nicht gewachsen ist. Die Ostervisionen waren Erlebnisse; der Prediger
bezeugt deren seltsame Lebensbedeutung.
Schuldgefühl gehört zum Realismus. Aber wer die Berufung zur Gottgleichheit (Mt 5,
48) idealistisch versteht, erwartet zu viel von sich und übersteigert das Schuldgefühl.
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater ... Fremdling ... Und der Herr ... gab uns
dieses Land“ (5Mose 26,5ff.); und er hat sein Volk aus dem Land, das er ihnen gab,
auch wieder vertrieben.
Wir sind umherirrende Fremdlinge, sesshaft nur zeitweise, von Gnaden Gottes. In der
Irre gibt es verbindliche zeitweilige Evidenzen. Sie sind widersprüchlich; Skepsis und
offene Ohren sind nötig. Verpflichtet, gelockt und getrieben von innen und außen, irren
wir herum.
Theologie ist auf die Gotteslehre angewandte Skepsis. Skepsis ist Umsicht und die
Einsicht in die menschliche Irrtumsfähigkeit.
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Das Christentum war eine Notlandung des jüdischen Größenwahns* – mit dem sich
nun viele Heiden identifizieren konnten. Die Ernüchterung wurde nicht durchgehalten;
Enthusiasmus und Amts-charisma kamen auf.
* Die apokalyptischen Phantasien gehen über das wesentliche Gottvertrauen hinaus.
Wahnsinn steckt induktiv an. Wenn er einen bedrängt, wehrt man ihn, unversehens
vereinfachend, selbst wahnhaft maßlos ab.
Das Christentum begann enthusiastisch mit Jesus. Petrus und dann Paulus reagierten auf
den Wahnsinn der Christenverfolgung mit Wahnbildung.
Helmuth von Moltke hielt sich, gegen den Deutschland beherrschenden Wahn, reaktionär, an einen besseren Wahn: die apokalyptische Faktizität der Auferstehung nach 1Kor
15, das imaginaire im réel.
Dietrich Bonhoeffer, der Theologe, konnte sich im „Vorletzten*“, Entwicklungsfähigen,
dem symbolique** halten.
* Ein Thema seiner letzten Briefe.
** Drei Begriffe von dem Priester-Bruder Jacques Lacan.
In chaotisierender Not braucht die desorientierte Gesellschaft, um „realistisch“ zu
bleiben, oft einen – nicht nur: Charismatiker*, sondern: homo sacer, einen Wahnsinnigen. In seinen radikalen Vereinfachungen organsiert sich das symbolische Chaos personal.
* So Max Weber.
„Nach einem selbstgesteckten Ziel mit holdem Irren hinzuschweifen“*, empfindet der
alternde Goethe bei der Arbeit am Faust als seine „Pflicht“. Das Ziel ist je klar genug,
zur Tat zu motivieren; aber das Tun ist (und schon das Ziel-Stecken war wohl) holdes
Irren.
„Das Alter ist nicht kindisch, wie man spricht; es findet uns nur noch als wahre Kinder.“** Im Alter kommt als Wahrheit an den Tag, wie wenig der Mensch der Kindheit
entwächst. „Noch“ (nicht: „wieder“)! Auch unhold-zielstrebig, in ihrem besten Alter,
irren (in den Augen der „Lustigen Person“) die Menschen im Grunde wie Kinder in den
Augen der Erwachsenen!
* Faust, Vorspiel auf dem Theater, 208f. mit Kontext.
** Ebd. 221f.
VIII. Jesus
Wie Apollonius von Tyana, war Jesus ein Wundertäter; und er machte seine Jünger zu
Wundertätern (Mt 10,1). Im apokalyptischen Kontext seiner Kultur, verstand er seine
Wunder als Zeitzeichen; seine Predigt war Zeitansage: „Die Gottesherrschaft bricht an“
(Mk 1,15 par.). Dem entsprach eine neue Ethik.
Die Tragweite dieser Deutung der Mirakel überstieg diese bei weitem; Der Wundertäter
selbst wurde Zeichen des Anbruchs der Gottesherrschaft. An ihm schieden sich die
Geister; er wurde, um der öffentlichen Ordnung willen, aus der Welt geschafft. Seine
Zeitansage aber hatte unerwartete, weltgeschichtliche Folgen. Das Verständnis von Gottesherrschaft wurde vertieft; das Gottesverständnis änderte sich.
Der Offenbarer Gottes war, infolge einer weltgeschichtlich einzigartigen Konfiguration, und ist letztlich: der gekreuzigte Jesus. Wer den Sinn des Namens Gottes verloren
hat, kann ihn durch Jesus wieder und wieder finden.
Das Kreuz Jesu war die Offenbarung der Unverantwortlichkeit des Schöpfers.
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Mit der Zeit verstrickt sich der Held, als Realisierung eines Ideals, in der Wirklichkeit.
Die Orientierung gebende Gestalt, die bonne forme, verfließt. Ein neuer Held wird gebraucht.
Jesus wurde vorher gekreuzigt. Viele Glaubenszeugen (μάρτυρες) folgten; die Erfolgsgeschichte war sehr durchwachsen. Immer wieder verstrickte die Realisierung das Ideal
in die Wirklichkeit.
Die Bergpredigt ist eine matthäische Zusammenstellung von höllisch grundierten, paradiesischen Aspekten der erwarteten und anbrechenden Gottesherrschaft. Sie traf viele
ins Herz (7, 28f), – Verschmachtete und Zerstreute, die sich gefühlt hatten wie Schafe,
die keinen Hirten haben (9,36).
Als göttlicher Forderungskatalog, brachte sie die Ungereimtheit der realen menschlichen Existenz so zu Bewusstsein, dass die Notwendigkeit von schöpferischer Vergebung empfunden wurde, – wie sie denn auch mitten in diesem Text (Mt 6,12), im Vaterunser, als Bitte an Gott, der Schöpfer, laut wird.
Die Gottesherrschaft, die mit Jesus anbrach, war nicht so paradiesisch. Zweitausend
Jahre Erfahrung damit haben die Welt verändert. Die Jesus-Tradition ist so weit in die
Kultur eingearbeitet, wie so etwas überhaupt einarbeitbar ist. Heute wirken diese Texte
deshalb etwas anders.
IX.
Evangelium
Der Lebensraum ist beschränkt. Leben aber ist expansiv, also ein Kampf ums Dasein,
in dem einer gutenteils auf Kosten des andern lebt. Aber in diesem Kampf lohnen Kooperationen. Das führt zu komplizierten Sozialstrukturen.
Seit langem versucht man, diese (unter dem Ideal der Gerechtigkeit) durch Gesetze* zu
stabilisieren – die jedoch den Kampf ums Dasein nur irgendwie stereotypieren, aber
natürlich nicht außer Kraft setzen können. Nach welcher Rechtsstereotypie auch immer
verstanden, wird also ein Wesen am andern schuldig und verdient gerechte Strafe.
Anaximander sah Werden und Vergehen in diesem Licht; Paulus versteht den Tod als
der Sünde (Schuld gegen Gottes Gesetz) Sold. Das apokalyptisch vereinfachende
Rechtsempfinden, das alle Menschen verdammt, bleibt bei den frühen Christen der
weltanschauliche Bezugsrahmen. Das bei Jesus geschöpfte Gottvertrauen musste legitimiert sein als Frucht der gerechten, allen Menschen gebührenden, aber von Jesus stellvertretend getragenen Strafe.
So ist mir gesagt, meine Schuld sei durch den Kreuzestod Jesu gesühnt. Auf ihm liege
die Strafe. Gott habe sich hier in die Schöpfung hineingegeben**, ja, Gott habe durch
Jesus den Fluch auf sich gezogen†. Das meint: Die erhoffte „neue Schöpfung“ ist angebrochen! Sie ist angebrochen in Glauben, Hoffnung und schöpferischer Liebe.
* Auch: vorbildliche Urteile.
** Im Zusammenhang der Abendmahlslehre lehrten die Lutheraner: finitum capax infiniti.
† Gal 3, 13.
Das Evangelium vom auferstandenen Herrn, dem gekreuzigten Jesus, beruft den Gottverlassenen zu göttlicher Kreativität – und diese ist* schrecklich weitgehend Geduld im
Leiden**.
* Darwin hat es erkannt.
** Rm 5, 3. Nach GOETHE gipfelt die innere Vorbereitung Fausts auf den Teufelsbund in dem
Fluch auf die Geduld (Faust I, Z. 1606)!
Das klassische Christentum gewinnt Evidenz in üblen Situationen.
12
X.
Kreativität
Der Heilige Geist bewegt. Bewegung schafft die Gegenwart „weg“, schafft neue Verhältnisse. „Das Alte ist vergangen. Siehe, es ist alles neu geworden.“ (2Kor 5, 17 Luther).
„Hier komm ich nicht raus“ – nicht ich als ich. Das ist aber nicht so schlimm. Die
Welt ist größer und ändert sich unvorhersehbar. Was mich einsperrt, ist die Welt, deren
Ende bevorsteht.
Wenn man etwas so oft wiederholt hat, dass eine Identität aufdringlich bewusst wird,
sagt die Kreativität nach einer Weile: „… und so weiter“. Vielleicht hat man etwas entdeckt. Aber nun fände man es langweilig, dasselbe weiter zu tun; man ist es müde. Leben ist Identität im Wechsel. Der Mensch ist eine besonders kreative Kreatur und er
braucht Wechsel.
Dem Lebensmüden ist der Spielraum zu klein. Er kann ihn nicht kreativ handhaben und
hofft auch darin auch keinen Wechsel. Er weiß zwar: Auch auf hoffnungsloses Weiterleben sind schon bessere Tage gefolgt; jedes Leben ist wechselhaft. Aber das ist dem
Lebensmüden auch nur ein „Und so weiter“. Die Existenzbedingungen für menschliche
Kreativität und Lebenswillen können sich nicht stabilisieren.
Kreativität macht Unmögliches möglich; aber über sie verfügen wir nicht.
Vermöge seiner Autonomie hat der Mensch sich zu einem prekär abhängigen Prothesen-Tier entwickelt.
XI.
Hoffnung
Manchmal soll ich perspektivelos trauern – geschoben, getrieben, beraubt, beschädigt
–, Angst haben, aber nichtsdestotrotz auf Gott hoffen!
Der Lauf der Dinge ist für den Einzelnen niederschmetternd, aber erstaunlicherweise
nicht ganz hoffnungslos. Das Individuum ist ja nicht scharf abgegrenzt; es ist vielfältig
mit der bekannten und der unbekannten Welt verwachsen.
Das Evangelium von Kreuz und Auferstehung Jesu macht darauf aufmerksam.
Wir erhoffen uns Glück, d.h. Symbole ewigen Glücks. „Alle Lust will Ewigkeit“
(Nietzsche). Die Welt enttäuscht die Erwartungen des Menschen – sowohl die für die
eigene Person wie die für seine Umwelt. Aber – man kann sich mit Schiller wundern –
„noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf“.
Man muss allenthalben der Vernichtung hoffnungsvollen (eigenen und fremden)
menschlichen Potentials tatenlos zusehen ohne Aussicht auf ein Besseres, das aus der
Vernichtung hervorgehen könnte. Vertrauen wird zuschanden. Durch Risse in unseren
sozialen Selbstverständlichkeiten blicken wir hinab in die Prähistorie.
Da gibt es nur entweder Fixierung auf Verlorenes – das wird verzweiflungsvoll langweilig – oder Kreativität, innere Umstellung, Trauerarbeit. Danach kann man, unbewusst und auch bewusst im Sinne der alten Hoffnung, Neues erwarten und weiter leben.
Man hofft auf Hoffnung.
Hoffnung erfindet Möglichkeiten; sie kondensiert in Erwartungen. Aber man kann auch
in Aussichtslosigkeit zuversichtlich sein.
Ein gehorsamer Lebensentwurf ist eine hoffnungsvolle Phantasie des Glaubens an
Gottes Führung.
13
Traurigkeit ist in die Seele diffundierter, alter oder neuer, gefühlter oder mitgefühlter
Schmerz. (Schmerz ist Funktion eines Warnsystems. Das Individuum ist empfindlich;
das Leben ist gefährdet.) Sie sucht Trost und macht nachdenklich, kritisch und selbstkritisch. Aber oft ist guter Rat teuer, und die Trübsal bewirkt erst einmal nicht Geduld und
Hoffnung, wie Paulus (Rm 5,3) sagt, sondern Resignation und Apathie; sie schwächt
und macht krank. Da müssen wir warten, bis der Schöpfer uns zur Besinnung ruft.
Jesus hatte Hoffnungslosen Hoffnung gemacht. Sein Scheitern bedeutete ein (für sie:
kumulatives*) Trauma.
Die darauf folgenden Ostererlebnisse waren psychotische Begleiterscheinungen einer
symbolischen Integration der herzzerreißenden Erlebnisse; und diese Begleiterscheinungen wurden selbst zum Symbol einer Hoffnung, die allen widersprechenden Evidenzen des Weltlaufs trotzt, ermutigende Erinnerung für den angefochtenen Glauben.
Der Pharisäer Saulus von Tarsus war eine Art Gorbatschew, ein großer Parteimann, aber
mehr Mensch als Parteimann. Er litt unter der Unmenschlichkeit, in die er eingebunden
war, und erlebte den befreienden Durchbruch in seiner Christusvision auf dem Weg
nach Damaskus.
Seine Auferstehungs-Philippika im Ersten Korintherbrief (Kap. 15) ist im Grunde eine
Verteidigung der ungeschützten, auf Wort und Glauben angewiesenen Menschlichkeit;
aber sie ist in der Tat „fatal“ (Bultmann). Wort und Glaube konnten die notwendige
Integration offenkundig hier nicht mehr leisten. Paulus stellt hier der Banalisierung
durch das, was „man“ weiß (dass es nämlich keine Auferstehung gibt), nicht integrativ,
sondern polarisierend und spaltend, ein Wissen über Tatsachen als Offenbarung entgegen. Durch Apokalyptik aber wird Hoffnung zu einem Wissen banalisiert, das man nur
noch „verkündigen“ kann.
* Begriff von Masud Khan.
XII. Gott
Die alttestamentlichen Erzväter waren Fremdlinge. Das Judentum kennt die Schechina, die Gegenwart Gottes als eines Exulanten in seiner Schöpfung. Auch Gnostiker und
Christen verstehen sich so. Die Phantasien von Gott als dem allmächtigen Herrn sind
gereift; sie haben nicht mehr das letzte Wort.
Jesus lehrte, zu Gott als Vater beten. Diese vertrauliche Beziehung zu Gott ist durch
die depersonalisierende Rede von Gott als König, „die Himmel“, vom Königreich und
der Himmelsherrschaft im Neuen Testament in spätjüdisch* frommer Scheu wieder
zurückgedrängt.
* Hier war die Nennung des Namens Gottes tabuiert.
Das prägnant Präsente ist genau einmalig. Frömmigkeit sieht nicht nur das zum Gebrauch immer ungefähr Gleiche.
Das Ewige ist genau einmalig; man kann das augenblicksweise* erleben. Dieses Erlebnis hat einen kurzen Nachhall in der Seele – Sabbat. Gottes Ruhe wird symbolisch
handhabbar und geht ein in das immer ungefähr Gleiche – Werktag.
Wem sich das Ewige anvertraut hat, der weiß: Ihm sollte man vertrauen und sich darauf
verlassen. Das Jesus-Erlebnis der Jünger** wurde paradigmatisch; das Wort, das diese
Ewigkeitserfahrung bezeugt, ist frohe Kunde, „Evangelium“.
Zum Glauben ist man angewiesen auf lebendige Symbolik – zum Glauben im radikalen
Sinn: auf „Wortgeschehen“. Versagt es, so lebt man unter dem „Gesetz der Sünde und
des Todes“ (Rm 8,2) weiter.
* In seinem berühmten VII. Brief scheint PLATO hiervon zu reden in dem Exkurs über die Ent-
14
wicklung der Weisheitsliebe beim Einzelnen: Nach langer Bemühung, anfangs unter Anleitung
eines Lehrers nach Art des Sokrates, springt plötzlich ein Funke, und entzündet ein bleibendes
Feuer in der Seele (cp. 11, 341c, d; cp.13, 344b).
** In ihrer Welt ging es um Gottes Herrschaft und Gericht. Was dann Paulus und Luther als
„Rechtfertigung“ thematisierten, war Erfahrung des Schöpfers.
Gottes Schöpfung ist nicht vornehmlich das Dauerhafte und Uralte, Sonne, Mond und
Sterne, das Vergangene vor Adams Fall, sondern das, was vor Augen ist mitsamt allem,
was der Mensch gemacht hat – und womit er sich den Blick auf Gott verstellt! In Seinem Werk, der Vielfalt dieser im Kleinen und im Großen unergründlich reichen Welt,
sehen wir den ewigen Gott in seiner Bescheidenheit gegenwärtig!
‫כָּבֹוד‬, δόξα, gloria, Herrlichkeit ist eine Eigenschaft von Repräsentationen von Herrschaft, und es ist eine Eigenschaft von Bildern von Gott als Herren. Wo es Herrschaft
gibt, ist verantwortlich der Herr. Sein Befehl gibt dem Tun des Gesindes die Richtung
vor. „Dass sich das große Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände.“ Der
Herr ist der Schöpfer.
Gott aber ist ein bescheidener „Herr“; er will seine Schöpfung frei.
Wo ist in meiner neuen Theologie Gottes Herrlichkeit geblieben, die Voraussetzung
aller biblischen Theologien? Sie war imaginär, als Urbild der „re-präsentativen“ Herrlichkeit vorgestellt, in der weltliche Herren als auctoritates auftreten – wie Kaiser
„Aug“-ustus („der segensreiche“!), als pater patriae.
Herrlich ist wesentlich der sich mitteilende Segen, die Schöpferkraft, – frei nach Luther*: die gloria qua nos glorificat, Gottes Geist. Aus dem Glauben an Jesus Christus
empfangen wir Anteil an dem unscheinbar schöpferischen Geist Gottes. Die klassische
„Herrlichkeit“ Gottes ist Symbolisierung der göttlichen auctoritas.
* Iustitia Dei, … qua nos … iustificat, … colligebam … analogiam … gloria Dei (LUTHERs
Vorrede zum ersten Band seiner Opera latina, 1545, WA 54, 186).
Für Kinder können Weihnachtsfeiern herrlich sein. Die Eltern und Großeltern haben
sie, in Vorfreude auf die Freude der Kinder, vorbereitet. Die Kinder spüren deren Mitfreude. Man freut sich an einander – sozial gelungener narzisstischer Überschwang.
Aber um Weihnachten passieren die meisten Selbstmorde.
In einer wahnhaft banalisierten Welt ist die christliche Wahnvorstellung „Gott“ unser
solidester Halt: Wir sollten auf Gott hören und seinem Rat folgen; und wenn wir das
nicht durchhalten, dürfen und sollen wir unbeirrt an seine väterliche Treue glauben.
Gott wird in zwei verschiedenen Seelenschichten mütterlich bzw. väterlich erlebt: als
die Einheit, aus der das Selbst und das viele andere stammt bzw. als das persönlich beanspruchende Andere.
Der Glaube wird durch die Zufälle der Realität immer wieder aus seinem symbolischen Schon-Bescheid-Wissen hinaus gestoßen. Der Glaube ist Gott, der Schöpfer, der
das Leiden seiner Schöpfung schöpferisch verarbeitet.
Im Heidentum gibt es Mitleid mit einer Gottheit explizit; aus Respekt vor Gottes Majestät, gibt es das bei uns nur sehr um die Ecke, verklausuliert.
Sehnsucht gehört zum Menschsein. Sie stellt sich die Erfüllung herrlich vor. Im Alltag
ist sie unterdrückt und darf nur in der Symbolik, d.h. incognito leben. Sie bricht aber
immer wieder mit herrlichen Illusionen schmerzend hervor.
In alten Zeiten hatten die Herren Herrlichkeit herrschaftlich zu repräsentieren. Das erfüllte die Sehnsucht ihrer Knechte symbolisch. So hatten sie Teil an der Herrlichkeit
15
ihres Herrn. Sie waren ein Teil davon!
Und so stellte man sich früher einen Hofstaat Gottes vor.
Monotheismus zentriert die Person. Aber zwanghafter Monotheismus provoziert Gottlosigkeit; und hier läuft die Persönlichkeit Gefahr, sich im All zu verlieren.
Ist nicht mein „Gott“ einfach mein Ideal? – : „Ja!“
Man soll sich, als kreatives Subjekt in dieser Welt, seinem Ideal stellen. Aber das ist am
einfachsten, wenn man sich in die richtige Distanz dazu bringt. Und dies geschieht,
wenn man es, im kritischen Licht einer spannungsvollen Tradition, als derzeitige persönliche Gottesrepräsentanz versteht.
„Lieber Gott, ich bin traurig.“ – „Ich bin bei dir.“ – „Ja! Danke! Mein Blick war verengt.“
Ich will den ewigen Gott in der vergänglichen Schöpfung erkennen, den Vater Jesu
Christi am Werk sehen!
Der Friede Gottes ist, im Kampf ums nackte Dasein, ein symbolisches schöpferisches
Ereignis.
Omnis homo mendax. Unwahrheit ist bedrückend; Übermacht der Unwahrheit deprimiert.
Aber an allem ist auch etwas Wahres*! Gott bleibt bescheiden, in Aussichtslosigkeit
zuversichtlich, an der Arbeit; sein Schöpfergeist hält uns am Leben. Der Zuspruch Gottes begründet, inmitten von unruhiger Aussichtslosigkeit, Zuversicht.
* Darauf hat Freud aufmerksam gemacht.
Institution von „Gottesdienst“ kann nicht gelingen. Gott „herrscht“ bescheiden, unscheinbar, selten evident. Es gibt Gott nur manchmal.
Viele haben glaubwürdig bezeugt, dass sie zu ihrer Wahrheit gefunden haben, indem
sie Gott gefragt haben, was sie sollen.
Schon der fromme Darwin beunruhigte die monotheistischen Ideologen. Die Chaostheorie ist (erkenntnistheoretisch wegweisende) Schöpfungslehre.
Moderne Fundamentaltheologie muss bekennen: Die Personalisierung der Schöpfung,
der Schöpfer als eine Person, ist eine überlieferte Hilfsvorstellung zur persönlich verantwortlichen Orientierung unserer eigenen Kreativität. Diese Hilfe anzunehmen, ist
demütigend.
Man kann über Gottesvorstellungen endlos hin und her diskutieren. Aber Gott ist kein
Diskussionsgegenstand.
„Herrschaft“ ist ein archetypischer Begriff, der das Verhältnis des Schöpfers zur Kreatur – das unsern Verstand überfordert – korrekturbedürftig verweltlicht.
XIII. Religion
Jesus kam zu den Verschmachteten und Zerstreuten, die sich gefühlt hatten wie Schafe, die keinen Hirten haben (Mt 9,36). Dieses Gefühl ist eine latente Massenerscheinung, die heute wieder manifest wird in den Primitivismen, die sich in allen Religionen
in den Vordergrund drängen. Sie gestalten gefährlich explosive, chaotische Gefühle
sozial durch Gemeindebildung. Solche Gemeinden können freilich ihrerseits gemeingefährlich werden.
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Buddhismus ist eher eine Altersreligion, das* klassische Christentum eher eine Jugendreligion. – Es gibt ja aber auch allerlei nachklassisches Christentum!
* Eine gewagte Vereinfachung! Man denke nur an die verschiedenen Christentümer im Neuen
Testament.
„Wie einer ist, so ist sein Gott, darum ward Gott so oft zu Spott“, notierte GOETHE*.
Glaube wirkt sich in Nachahmungen aus.
Paulus sieht sich als Nachahmer Christi und fordert seine Gemeinde auf, ihn nachzuahmen (1Kor 11, 1). Gal 5, 6 sagt er: Der Glaube verwirklicht sich in der Liebe.
* Zahme Xenien, IV.
Der tote Vorfahr repräsentiert unser Woher und Wohin; er repräsentiert Gott. Daher
der Totenkult. Aber man soll weder die Vorfahren noch Gott vergötzen. Kult und Erinnerungen vergegenwärtigen den Toten, – wie die Bibel als Wort des gegenwärtigen
Gottes zu hören ist. Aber man ehrt sie nicht durch Kult, sondern durchs tägliche Leben.
Mandelbrot liquidiert, mit seiner Verkündigung der langsamen und der wilden Zufälligkeit, wissenschaftlich den Wissenschaftsglauben als Religionsersatz. Das Ergebnis ist
lebendige Skepsis.
Das Leben entwickelt sich nicht homogen, sondern teilt sich auf in konkurrierende Arten, Gesellschaften und Individuen.
Religionen sind, als Existenzsymboliken, enorm gemeinschaftsbildend. Sie bündeln
Schlagkraft im Konkurrenzkampf; sie motivieren zum Heiligen Krieg.
XIV. Gesellschaft
Leben ist mörderisch expansiv. Das wurde und wird da und dort zelebriert; es wird
aber in unserer Leitkultur (aus guten und weniger guten Gründen) ungern zugegeben. Es
ist schwer, dieser Tatsache gerecht zu werden, und bedarf eigentlich der öffentlichen
Diskussion.
Leben ist gewalttätig. Nackte Gewalt ist eher dumm; „strukturelle Gewalt“ (Galtung)
lässt Zeit zur Besinnung.
Konflikt ist immer auch destruktiv. Kampf ist immer auch schlecht; deshalb ist ein
Sieg des Besseren manchmal doch schlecht.
Immer wieder stößt die natürliche Trägheit unserer Bewegungen und linearen Extrapolationen ins Unendliche an die Krümmungen der Realität. Wir geben unsere Impulse
ab und werden von Zurückgestoßenem zurückgestoßen. Das ist die elementare Kinetik
der Geschichte – deren Reflexion und Symbolisierung sie zu Kulturgeschichte macht.
Die Geschichte der Menschlichkeit ist ein symbolischer Prozess.
Lebendige Tradition ist Mitmachen, Hören und Lesen.
Kritische Historie sprengt Symbolgemeinschaft, reißt alte Konflikte auf, stellt den einzelnen auf sich selbst und lässt ihn eigene Freunde suchen.
Unser Tun ist, für uns selbst und den Mitmenschen, mehrdeutig.
Sitten können sich nur in stabilem Rahmen entwickeln.
Im Durchschnitt bildet Familie den stabilsten Rahmen. Familien sind deshalb für die
Barbarei (bzw. Kultur) einer Gesellschaft wichtig. Aber dieser Rahmen wird zunehmend strapaziert.
Die aufschießende Technik spielt Einzelnen und kleinen Gruppen (Clans und ihren „Pa-
17
ten“) eine Macht zu, wie sie früher kaum ein ganzes Volk hatte und für deren Einsatz
sich noch keine guten Sitten haben etablieren können.
„Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“, denkt der Baccalaureus*. Goethe, der
erfahrene Hofmann, verstand etwas von Höflichkeit – und gab die Grobheit dem Gelächter preis. Ehrliche Höflichkeit ist Angebot einer Symbolik, in der man sich einigen
könnte.
* Faust II, Z. 6731.
Eine mögliche generationelle Verlaufskurve: Sozial oben ist man am Sichersten. Die
Enkel halten ihr Privileg für selbstverständlich und sind deshalb nicht so aktiv egoistisch. Das setzt frei für Kulturleistungen – die sich oft nicht bezahlt machen – und führt
zum sozialen Niedergang von Familien.
Sozialkultur ist (stabilisierende) Bejahung sozialer Ungleichheit als, zugegebenermaßen, einer Zufallsverteilung.
Die Menschen sind, sowohl in ihren Bedürfnissen wie in ihrer Naturausstattung, einander zu gleich, um eine stabile Basis für die lebensnotwendige enorme Ungleichverteilung sozialer Macht abzugeben. Diese ist eine Folge von massenhaften rekursiven,
selbstverstärkenden (und also immer wieder chaotisierenden) Prozessen, deren Zusammenspiel jeweils erlebt wird als zufällig und in keiner Weise zu rechtfertigen.
Sustainable development gibt es nur zeitweise.
Jedes Leben beginnt schon in sozialer Ungleichheit. Die Symbolik der Sprache aber
egalisiert*. Soziale Ungleichheit schafft (ungleiche) Spannungen. Deshalb gibt es keine
Gesellschaft ohne Empörung.
* Personalpronomen: Jeder kann „Ich“ sagen, jeder kann „du“ und „er“ sein.
Die Gesellschaft ist hoch mobil und die Kontakte sind elektronisch geworden. Persönliche Beziehungen virtualisieren sich – man kann auch sagen: „sublimieren“ oder „vergeistigen“; man ist auf neue Weise allein.
Auf „Danke!“ antwortet der Geber: „Bitte!“ Aber um was bittet er eigentlich? Austausch kleiner Freundlichkeiten ist angenehm; größere Gaben aber können die sozialen
Rollen aus dem Gleichgewicht bringen; so bittet man denn um die Annahme als Gabe.
Auch die alternative Antwort: „Gern geschehen!“ soll das Gleichgewicht wieder herstellen.
Die menschliche Solidargemeinschaft hat eine erstaunliche Toleranz für Anomalien.
Das belastet. Aber es gibt ihr – auf Zickzackwegen – den Ideenreichtum und ihre Flexibilität.
Unser Lebenswille lebt weitgehend von Illusionen. Desillusioniert, sieht man sich in
einer größeren Gesellschaft von Schicksalsgenossen. Ein Gefühl von Solidarität kommt
auf. Das ist die Menschenliebe, die Gottes Gesetz meint!
„Werft ihn hinaus, er bricht mir das Herz!“, rief der Bourgeois beim Anblick des flehenden Arbeiters. Herzzerbrechendes guckt er sich auf der Bühne an oder erleidet es
beim Lesen in der schönen Literatur (notfalls im Simplicissimus). Der bürgerliche Kulturbetrieb ist – auch – ein Alibi.
Aber honni soit qui mal y pense! Wer hat die Seelenstärke, mehr als andeutungsweise
teilzunehmen* am Elend dieser Welt, – von dem er profitiert?
* Personalpronomen: Jeder kann „Ich“ sagen, jeder kann „du“ und „er“ sein.
Wir hängen, gebend und nehmend, von einander ab. Das sollten wir dankbar anerkennen.
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Mit verminderter Absicherung durch seinen natürlichen sozialen Kontext, sichert der
moderne Mensch sich und seine Kinder mehr durch Geld, den unpersönlichsten, charakterlosesten, mobilsten Wert.
Überdies dünnt die Mobilität die gesellschaftliche Mitte aus; wer nicht Abstieg riskieren
will, muss für Aufstieg sorgen.
Der Mensch gestaltet sich seinen Lebensraum, er erfindet, konstruiert und ändert Natur und Gesellschaft. Dann kommt der dialektische Umschlag, ein altbekanntes Phänomen: Das Servosystem übernimmt die Führung. Der Mensch wird Funktionär einer Institution; er bedient die Maschine. La serva padrona ist kein Witz mehr; sie versteht
keinen Spaß. Einen Zusammenbruch unserer artifiziellen Welt würden nur wenige überleben.
Mit der Größe einer „Kooperative“* steigen ihre Selbstorganisationskosten (immer
mehr Verwaltung, immer mehr Betrug, gegenseitige Kontrolle und Rechtspflegekosten);
der Glaube an das Recht nimmt ab. Immer stärkere Einsicht in den Trug der – doch unverzichtbaren – Vereinfachungen.
Aber die Selbstorganisationskosten steigen doch erst einmal weniger stark als die Gewinne durch die Kooperation.
* Im wörtlichen, weitesten Sinn, inklusive Staaten und Staatgemeinschaften.
Im Kampf der Großen verlieren hauptsächlich die Kleinen. Das macht sie am geltenden Recht zweifeln, und Gott – wütend – fragen, was sie sollen.
„Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ Recht verwirklicht nicht ein
Ideal der Gerechtigkeit. Dies zu sagen, gehört zur Rechtspflege! Rechtspflege soll,
durch konsensfähige Kompromisse, der sozialen Koordination dienen. Urteile ergehen
„im Namen des (notabene: sündigen) Volkes“!
Eine Rechtswirklichkeit wird stabilisiert durch die Nachteile, die der Gesellschaft aus
Abweichungen auch dann erwachsen würden, wenn diese gerechter* wären. Jedes
Recht institutionalisiert deshalb Spielraum für Ungerechtigkeit.
* Nach Gustav Radbruch muss das Recht nicht nur dem Kriterium der Gerechtigkeit genügen,
sondern außerdem Rechtssicherheit ermöglichen und zweckmäßig sein.
Handel beruht auf Besitzwünschen. Man handelt mit Dingen, die einem jeden, in seinem augenblicklichen Zusammenhang, verschieden wünschenswert sind. Tauschhandel,
Markt und Geld sind zunächst friedensstabilisierende Kooperationsstrukturen zwischen
begehrlichen Subjekten.
Wie früher die Fürsten, so hat der Großkapitalist hat sein Geld nicht„verdient“. Im
Unterschied zu jenen, die auf ihr Volk und Land angewiesen waren, hat er viel mehr
Optionen.
Er verdankt seine außerordentliche Position vornehmlich einer Verkettung von Gefühl
für Wirtschaft und Glück. Das Gefühl für Wirtschaft qualifiziert ihn für seine soziale
Machtposition. Er kann auf Nachhaltigkeit seines Glücks hoffen, wenn er Mitmenschen
so ausbeutet, dass diese selbst mit profitieren.
Mit Zahlen kann man rechnen. Etwas Wirkliches berechnen kann man nur, wenn man
mit einer Menge gleichartiger, zählbarer und wenigstens addierbarer, wirklicher Einheiten zu tun hat. Aber in der Wirklichkeit ist schon die Gleichartigkeit eines Dinges mit
sich selbst nicht selbstverständlich. 3 Äpfel und 2 Birnen sind vielleicht bald nicht mehr
5 Stück Obst, sondern 2 Äpfel, 1 Wurm und 1 Haufen Marmelade. Man muss da etwas
„konstant halten“; und dafür muss man die Dynamik kennen.
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Geldwert war schon immer eine bedenkliche Vereinfachung von Überkomplexem –
mit immer wieder folgenden Desillusionierungen. Und „Finanzprodukte“ bauen rekursiv darauf auf – mit unberechenbaren Rückwirkungen.
XV. Alter
Die Geschichte galoppiert über uns hinweg. Das sind aber keine apokalyptischen Reiter, sondern jüngere Menschen – kein hoffnungsloser, aber ein niederschmetternder Anblick.
Mit den Körper und dem Verstand werden auch das Engagement und das Interesse
schwach.
Meditatio mortis bettet den Einzelnen in die Generationenfolge, in die Umwelt und
diese in die Schöpfung ein. Dem frommen Interesse an der Schöpfung ist auch der eigene Zerfall, bis in die „Mineralisierung“* hinab, willkommen.
* Gisela Pankow.
Abschied von der Welt: die unbegreifliche, uns zugesprochene, auch mich umfassende
Einheit persönlich wichtiger nehmen, – momentweise wichtiger als mich selbst.
„Das soll‘s gewesen sein?!“, mag man im Rückblick auf sein Leben denken. Aber was
immer wir hier „das“ nennen, ist ein willkürlicher Ausschnitt aus einem Wirklichkeitszusammenhang, den wir nicht überblicken. Eine Stück Oberfläche kann fotografiert
werden; aber ein ganzer Gegenstand kann nur vereinfachend (in der Kunst unendlich
verschieden akzentuierend) wiedergegeben werden.
Im Alter ist noch alles da – nur immer weniger für mich als handelndes Subjekt.
Aber durch das Evangelium ist dem Glauben an die Präsenz des Schöpfers die Mitteilung des spiritus creator, d.h. Kreativität verheißen.
XVI. Ethik/Moral
Jeder will gut sein. Jeder versteht darunter etwas anderes, aber nicht etwas ganz anderes! Das Gute ist eine Wolke (eine Potenzmenge) von (ihrerseits fraktalen) Vorstellungen mit der Dynamik einer vielstimmigen Kontroverse.
Denken macht – Gott sei Dank – manchmal dankbar! Danken ist Anerkennen und Bitte um Anerkennung.
Mitgefühl mit dem Angreifer ist Selbsterweiterung und bereichert den Angegriffenen
sogar um Handlungsmöglichkeiten (Judo!).
Jeder ist auf seine Umwelt angewiesen, – wie auch immer er diese beurteilen mag.
Durch schöpferische Liebe stabilisiert er sich selbst.
Dem Hilfsbedürftigen zu helfen, ist eine ebenso natürliche Reaktion wie die Abwendung und Abstoßung. Zwischen diesen beiden Tendenzen gibt es kein stabiles Gleichgewicht, sondern nur immer wieder neue, unbefriedigende, von außen kulturell zu stützende Kompromisse.
Solidarität (ἀγάπη) ist natürlich-identifikatorisch. Gelebte Solidarität bereichert das
Selbst, auch ohne Dank, um menschliche Wirklichkeit; und dieser gebührt unser Interesse.
Der Schöpfer rät: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Begründet identifikatorisch, sind wir dann unsterblich („Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes
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ewige Unterhaltung“*).
* Faust II, 6290f.
Wenn das Ganze mir zu schrecklich erscheint, soll ich mich auf meinen kleinen Freiheitsraum besinnen und Gott nach seinem Willen hier fragen.
Oft allerdings sind wir außer Stande, Gott zu fragen. Er ist nicht immer zu sprechen.
Ohne moralische Prinzipien ist man ungeschützt persönlich für seine Entscheidungen
verantwortlich.
„Was soll ich? – : „Lass dir an meiner Gnade genügen!“ (2Kor 12,9, Luther)
Man soll das eigene Leben gestalten; jemanden, etwas erwählen; sich bescheiden entscheiden; sein Leben in die Hand nehmen.
Normen sagen nicht, was man wirklich soll; sie approximieren nur mit Allgemeinheiten Kompromisslösungen für das Leben und Zusammenleben. Man soll, was man wollen kann; und das ist eine Frage des sicheren Wohlbefindens. Man sichert und stabilisiert dieses durch Selbstartikulationen, an die man sich halten will.
Wir sollen das Leben wagen – lustvoll, bescheiden, kreativ.
Soll man sich nicht empören? Man empört sich, auch ohne zu sollen; aber, soviel ich
sehe, Männer im Lauf des Lebens immer weniger, Frauen immer mehr.
Bescheidenheit kann schadenfrei resignieren*.
* Resignare = verzichten, d.i.: einen strittigen Anspruch zurücknehmen.
Moral und die Kultur haben seit der industriellen Revolution zunehmend ihre Selbstverständlichkeit verloren. Der technische Fortschritt bedingte Veränderungen; und sein
Tempo steigt. Die Gesellschaft wurde chaotisch – große Zeit für charismatische Neugruppierungen. Ein Systemzusammenbruch war die natürliche Folge. Die nationalsozialistische Reaktion war ein Teil davon.
Sowohl deren Verurteilung wie leider auch sie selbst sind zutiefst menschlich. Auch der
Humanismus muss ideologische Bescheidenheit lernen.
Moralische Bescheidenheit appelliert an menschliche Solidarität.
Zur Tugend gehört Passivität. Volentem fata ducunt, nolentem trahunt. Zur Kreativität
gehört Bescheidenheit.
Die Heile Welt ist imaginär. Was der Glaube tut, sind lokale Besserungen, winzige
neue Welten der Liebe und heilvolle Zeichen der menschlichen Hoffnung.
Schiller: „Immer strebe zum Ganzen! Und kannst du selber kein Ganzes / werden, als
dienendes Glied, schließ‘ an ein Ganzes dich an!“
Jedes in Frage kommende Ganze ist allerdings nur ein Symbol von Ganzheit; und diese
ist imaginär. Auch ein Oktopus ist ein Ganzes; und ein Gestapo-Mann ist ein dienendes
Glied. Jeder hat Teil an der Imagination des Ganzen und muss ein Ganzheitssymbol
erwählen und es mitgestalten.
Ethos im Chaos, die Integration der Person, wird mit der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels und der entsprechenden Desintegration der Gesellschaft immer
schwieriger.
Mit der Zeit lernt man, dass der Mensch lebenslang Sachen macht, die ihm später leid
tun.
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Die große Zeit der Verantwortungsethik ist vorbei. Das Wort gilt nichts mehr. Die Basis einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Weltbilds zerbröselt. Man weiß
zu viel, und jeder weiß hiervon zu wenig. Man verständigt sich schlecht und recht, man
arrangiert sich.
Die erkenntnistheoretische Resignation tendiert zu moralischer Resignation. Aber der
Horizont der Moral ist lebendig und weiter als der des Wissens. Unsere Kreativität ist
gefordert!
An die Stelle von Kants kategorischem Imperativ* ist die heutige Forderung von Konsensfähigkeit getreten.
* „Handele so, dass die Maxime deines Handelns zur Grundlegung einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne.“
Wirkliche Moral und wirkliches Recht sind nicht glatt! „Glatte“ Moral und Recht
schaffen Tragik gerade nicht aus der Welt, sondern spitzen sie zu! Summum ius summa
iniuria wussten schon die Alten Römer.
Sogar die wirkliche Bescheidenheit ist fraktal, rau. Man kann kleine und große Ansprüche bescheiden stellen! Die Bescheidenheit im Beanspruchen muss sich bewähren in
Auseinandersetzung und Widerspruch.
Aufregung will sofort reagieren. Meist aber muss man sich von Selbstverständlichkeiten lösen und tiefer nachdenken, um angemessen zu reagieren. Oft sind es moralische
Selbstverständlichkeiten. Man muss sie nicht fahren lassen, aber ihre Bedingtheit etwas
tiefer erkennen.
Unsere sozialen Selbstverständlichkeiten geben sich als unbedingt. Das vereinfacht das
Leben. Sie sind aber in Wahrheit vielfach bedingt!
Die reformatorische Unterscheidung von Person und Amt ist keine glatte Grenze!
Auch die soziologischen, neueren Begriffe Rolle und Status haben fraktale Grenzen
zum Rollenträger bzw. Statusinhaber. Das Amt verpflichtet ihn persönlich, seinem Amt
Ehre machen. Kommt das Amt durch Amtsführung in Misskredit, so wird eine Neudefinition nötig.
In der Lutherischen Konkordienformel* von 1580 wird gelehrt, dass ein christlicher
Amtsinhaber auch mit gutem Gewissen ein Todesurteil fällen könne. Damit wird aber
nur das wiedertäuferische Verbot solcher Amtshandlungen ausgeschlossen. Schon kleinere Entscheidungen (und in guten Treuen getroffene Fehlentscheidungen) können ja
einen christlichen Amtsträger immer wieder umtreiben und ihn ins Gebet treiben. Die
Gewissensanfechtung kann dann zu tieferer Erkenntnis der condicio humana** führen
(die wir immer nur vereinfacht verstehen).
* Epitome XII, Articuli anabaptistici, qui in politia sunt intolerabiles, V.
** Im Abendland verbreiter Begriff von Cicero (in Anlehnung an Herodot Ι, 34-45: ἀνθρωπηίη
εὐδαιμoνίη?).
Der anerkannte Ehrenmann soll die unschuldigen Opfer in deren Verlassenheit nicht
vergessen. Sie repräsentieren dem Menschen den bescheidenen Gott.
Um sich das Leben zu nehmen, muss man überzeugt sein, sich genug besonnen zu haben und nicht mehr geben zu können.
XVII. Ich
Die (eigenwillig aussehende) Brown‘sche Bewegung wurde zuerst als Lebenskraft
verstanden. Autonomie ist überkomplex determiniert, in einzelnen nicht replizierbar,
unverständlich.
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Klöster haben ambivalente Bedeutung: Sie symbolisieren einerseits Sammlung, Besinnung, Einkehr, ernste Bemühung um Ehrlichkeit, anderseits gewaltsame Selbststilisierung – ein Eigentor der Bemühung um Ehrlichkeit. Wir sind und bleiben uns selbst
ein undurchschaubares Geheimnis, – ein Geheimnis des Schöpfers!
Comment vas-tu?/ How do you do?/ Wie geht es dir? Aktiv oder passiv?
Bei peinlicher Erinnerung schreit man unwillkürlich. Das Ich protestiert gegen den
Spiegel, der kühl nur „noch so einen“ zeigt. Jeder will etwas Besonderes sein. Ich bin
nichts Besonderes; denn jeder ist etwas Besonderes.
Mit Hilfe von Symbolen, d.h. mehr metaphorisch, oder Ideologien, mehr metonymisch, hält man das Vielerlei seiner Identität bei einander.
Für jede Planung haben wir nur beschränkten Horizont. Oft muss man sich in anderer
Richtung umsehen nach Handlungsmöglichkeiten, die auch sinnvoll, also auch Ausdruck der eigenen Person sind. Das Handlungsfeld solcher Selbsterweiterung allerdings
teilt man mit anderen.
Kooperationswille setzt ein Bewusstsein von den natürlichen Grenzen der eigenen Autonomie voraus.
Der Mensch hat die Aufgabe, schöpferisch, von innen, in Auseinandersetzung, mit der
Umwelt, sich selbst zu gestalten. Rückblickend sieht er sich von außen, sieht sich vielfach schuldig und schämt sich. Das „Jüngste Gericht“ ist eine Idealisierung dieser Außenansicht.
Den Rahmen für die Lebensführung setzt dem Ich die Angst.
Wer nicht mehr leben mag, hat doch Angst vor dem Sterben.
XVIII.
Zukunft
Das chaotisch rasante Wachstum der menschlichen Macht ist zu einer abermaligen
apokalyptischen Bedrohung geworden.
Weit getriebene Arbeitsteilung ist effizient, aber katastrophenträchtig.
Demokratie war eine Einschränkung der Aufgabenteilung zwischen Herrscher und Beherrschten.
Die Globalgesellschaft ist höchst differenziert, für den einzelnen undurchschaubar. Die
Arbeitswelt zerfällt in Welten, die Sprache in Fachsprachen. Fachleute optimieren Teilwelten und sind von den Kollateralschäden überrascht.
Dem guten Willen fehlt die – zu Urteil und Handlung nötige – Information. Der citoyen,
der mündige Bürger kann die Verantwortung nicht mehr tragen, er muss blind vertrauen. Das Weltbild der Aufklärung ist nicht mehr brauchbar. Jeder ist von menschlichen
Mächten abhängig, die er nicht versteht – eine Einladung zum Vertrauensmissbrauch!
Die für nachhaltige Kooperation nötige Verständigung scheitert an der Beschränktheit
des einzelnen Menschen.
Ich fürchte, wir gehen auf einen Weltbürgerkrieg zu; und „dieweil die Ungerechtigkeit
wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten.
Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.“ (Mt 24,12f. Luther)
23
XIX. Inhalt
I.
Vorbemerkung ................................................................................................................................... 1
II.
Spiel ................................................................................................................................................... 1
III.
Normalität im Chaos ........................................................................................................................... 2
IV.
Symbolik ............................................................................................................................................. 5
V.
Vereinfachung .................................................................................................................................... 7
VI.
Wahrheit ............................................................................................................................................ 8
VII.
Irre ..................................................................................................................................................... 9
VIII.
Jesus ............................................................................................................................................ 10
IX.
Evangelium ....................................................................................................................................... 11
X.
Kreativität ........................................................................................................................................ 12
XI.
Hoffnung .......................................................................................................................................... 12
XII.
Gott .................................................................................................................................................. 13
XIII.
Religion ............................................................................................................................................ 15
XIV.
Gesellschaft ................................................................................................................................. 16
XV.
Alter ................................................................................................................................................. 19
XVI.
Ethik/Moral ................................................................................................................................. 19
XVII.
Ich ................................................................................................................................................ 21
XVIII.
Zukunft ........................................................................................................................................ 22
XIX.
Inhalt ................................................................................................................................................ 23
23. April 2010
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