Korb März 2014 - Homepage.ruhr-uni

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Thomas Bonhoeffer
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Inhalt
Trauer ...................................................................................................................................... 2
Chaos ....................................................................................................................................... 2
Realität ................................................................................................................................. 2
„Jenseits“ ............................................................................................................................. 3
Leben ................................................................................................................................... 4
Vereinfachung ......................................................................................................................... 5
Sprache ................................................................................................................................ 5
Symbolik.............................................................................................................................. 5
Existenzsymbolik ................................................................................................................ 6
Schönheit ............................................................................................................................. 7
Erkenntnis ............................................................................................................................ 7
Religion ................................................................................................................................... 8
Du ........................................................................................................................................ 8
Gott ...................................................................................................................................... 9
Schöpfer ............................................................................................................................. 13
Jesus................................................................................................................................... 13
Glaube................................................................................................................................ 13
Kirche ................................................................................................................................ 14
Gesellschaft ........................................................................................................................... 14
Kultur................................................................................................................................. 17
Wert ................................................................................................................................... 18
Recht .................................................................................................................................. 19
Wirtschaft .......................................................................................................................... 19
Finanzen ............................................................................................................................ 21
Arbeit ................................................................................................................................. 22
Solidarität .......................................................................................................................... 23
Individuum ............................................................................................................................ 24
Trauer ................................................................................................................................ 25
Moral ................................................................................................................................. 26
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Hoffnung............................................................................................................................ 27
Gegenwart.............................................................................................................................. 28
Ausblick ............................................................................................................................. 29
Trauer
Heulen ist Ruf nach Hilfe aus dem „Jenseits (dessen, was wir verstehen)“. Jeder entwickelt seine persönliche Vorstellung hiervon.
Heulen ruft nach dem mütterlich-parentalen Du – ohne Heilsphantasie.
Nach dem Todesfall leben Anregungen des Verstorbenen weiter. Nur anfangs gehören
bewusste persönliche Erinnerungen wesentlich dazu.
Chaos
Das Chaos unserer Befindlichkeiten lehrt uns Demut.
Wirkliche Ordnung ist Koordination, nur ungefähr. Es ist kein Verlass darauf.
Die Schöpfung ist ein Chaos von Ordnungen. Wir sollen aus Mitgefühl schöpferisch sein.
Das gibt ein Chaos von Hoffnungen.
Das chaotische Vielerlei von Sinn und Widersinn kann uns demütig machen.
Instabilitäten gliedern den Freiheitsraum und ermöglichen konkrete Entscheidungen.
Chaos begrenzt unsere Erkenntnis. Im Chaos gibt es kreative Prozesse. Zu diesen zählt
Religion.
Das Chaos ist ein Zusammenwirken von Einzelheiten, die einzig, aber in mancher Hinsichten ähnlich sind.
Realität
Alles Verständliche ist nur Andeutung. Das „Diesseitige“ deutet unsere unergründliche
Wirklichkeit an.
Auch Aussichtslosigkeit ist nur Andeutung von Einsichtslosigkeit – demütigend, aber nicht
hoffnungslos.
Wir verstehen unsere Wirklichkeit mit dem allgemeinverbindlichen Alltagsverstand nur
oberflächlich und vereinfachend.
Vom „Jenseits“ dieser Oberfläche haben wir eine Menge (meistenteils unverträglicher, wissenschaftlicher, poetischer, visionärer) vereinfachender Vorstellungen.
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Alles Wirkliche ist mindestens vierdimensional. Was wirklich gewesen ist, wo ist es jetzt?
– : In der Vergangenheit.
Man kann Symbole, mit denen man sich ungefähr verständigen konnte, dann auch noch
genau definieren. So setzt man die variable, wirkliche Zeit konstant. Man kann „auf eine
Sache zurückkommen“; in diesem Modellraum stimmiger Begrifflichkeit gibt es logische
Transitivität und Schlüsse.
Die umgangssprachlich so genannte Realität ist immer schon irgendwie gedeutet. So kann
Lacan sie registre symbolique nennen. Er stellt diesem das réel gegenüber, die sinnentleert/sinnlose Faktizität, in der das isolierte imaginaire erscheint.
Alles hat in beschränktem Umfang verständliche Bedeutung und ist entsprechend handhabbar. Darüber hinaus hat es unüberblickbar vielfältige Bedeutung; das ist seine unergründliche Jenseitigkeit.
Reale Gestalt zerbröselt.
Gestalt ist Eigenschaft, eine einstellige Relation. Weitere Relationen verleihen dem Ding
Bedeutung.
Die Bedeutung des Realen liegt in seinen vielseitigen Andeutungen. Bedeutung ist (virtuell)-kollektiv* subjektive Deutung.
* Etymologisch verwandt mit deut = Volk.
Die Parapsychologie müsste Para-ontologie heißen.
Kant nahm das gut bezeugte Erlebnis mit der Telepathie Swedenborgs zunächst ernst* und
votierte erst Jahre später öffentlich gegen derlei. Es geht um den Realismus des rational versteiften Kerns unserer kollektiven Subjektivität.
* Brief an Frl. von Knobloch, 1763.
„Jenseits“
Ich rede von Diesseits und Jenseits in Bezug auf die unscharfen Grenzen unserer Erkenntnis. Erkenntnistheorie, Transzendentalphilosophie, naturwissenschaftliche Grundlagenforschung arbeiten an deren Klärung.
„Das Jenseits“ ist Freiraum für ungereimte Phantasien.
Ich brauche eine Jenseitsvorstellung, die das vertritt*, was wir nicht verstehen und uns
nicht vorstellen können.
* Physikvorlesung: „Denken Sie sich eine Stahlkugel. Sie braucht nicht aus Stahl zu sein. Es
muss auch keine Kugel sein.“ …
Wir verstehen unsere Wirklichkeit mit dem allgemeinverbindlichen Alltagsverstand nur
oberflächlich und vereinfachend.
Vom „Jenseits“ dieser Oberfläche haben wir eine Menge (meistenteils unverträglicher, wissenschaftlicher, poetischer, visionärer) vereinfachender Vorstellungen.
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Leben
Die Entstehung des Lebens ist passiert – eine variantenreiche Kettenreaktion. Das Leben
passiert; ein jedes ist Schicksal ohne Absenderangabe.
Das Leben als evolutionäre Fontäne begeistert und deprimiert.
Die Umwelt geht unsäglich grob um mit den Feinheiten des in Äonen entwickelten Gewebes, aus dem wir bestehen.
Hunde-, Menschen-, Hühner-, Schweineleben – es ist ein Elend.
In unsern Genomen tradieren wir viel Schrott. Der Zufall hat vieles versucht und dann
doch links liegen gelassen. Höchstens diachronisch ist unsere die „beste aller möglichen
Welten“.
Kooperation braucht ungefähre Identitäten, einige Verläßlichkeit.
Das Leben ist ein zweifelhaftes „Geschenk“.
Jedermanns Leben und Sterben ist, unter der banalen Oberfläche, Teil eines unüberblickbar verflochtenen Gesamtlebens.
Wir sind dafür ausgelegt, uns lebenslang für unsre Umwelt zu interessieren.
Wir machen und erleiden zusammen ein Stückchen Evolution – jeder, wie er es in seiner
Beschränktheit ein Bisschen versteht.
Leben will, individuell und prokreativ, Dauer. Es ist auf eine (spezifisch hinlänglich)
stabile Umwelt eingestellt und will hier „noch etwas“ erleben.
Die gewünschte Dauer ist aber, zu unserem Leidwesen, konkret: Metamorphose/Transformation.
Humanität und Nächstenliebe sind im näheren Umkreis kurz- und mittelfristig gut; sie begünstigen Kooperation. Aber eine natürliche Folge ist Überbevölkerung; und diese hat Barbarei zur Folge –schon im Vorfeld (Konkurrenz, gewalttätige Moral).
Die Geschichte ist ein mildes Chaos.
Schwierigkeiten, Hindernisse, Störungen und Gefahren sind nötig für unser Wohlbefinden
– gegen die lange Weile. Sie skandieren uns die Zeit. Wir sind dafür ausgelegt – nicht nur
für Normalverteilung des Erfolgs, sondern für das Chaos, das jeden von uns irgendwann,
und endlich auch die Spezies, umbringt.
Wir sind stolz darauf, dem Chaos bisher getrotzt zu haben; lebenslang kämpfen wir auch für
diesen Stolz. Das ist zu groß, um nur traurig zu sein; es ist tragisch.
Überwältigend traurig sind Qualen. Die klassische griechische Tragödie präsentierte sie als
Gefahr (s.o.!).
Friedenspädagogik erzieht zu Naivität, wenn die Tragik des Lebens verschwiegen wird
und unbedacht bleibt, also Bescheidenheit die Demut ersetzen soll. Die Weisheit in der trau-
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rigen Aufforderung des Predigers Salomo zur Fröhlichkeit (Kp. 3) ist, trotz ihrer Unbeholfenheit, nicht überholt.
Vereinfachung
Schönheit eines Gegenstandes ist eines, seine aktuelle Funktionalität ein anderes. Nur die
Umsicht nimmt Schönheit wahr – gegenüber der Funktionalität: jenseitig.
Man kann etwa dasselbe meinen, es aber verschieden symbolisieren. So kann man einerseits von Emotionen, anderseits von Himmel und Hölle reden. Beide Vereinfachungen haben, je nach Bewandniszusammenhang, ihre Vor- und Nachteile.
Kein Verstehen ohne Zusammenhang; der Zusammenhang ist jeweils mit gemeint! Deshalb
ist in diesen beiden Symbolisierungen nicht ganz dasselbe gemeint.
Rationale Modellbildung objektiviert und schafft der Subjektivität Freiraum. Verständigung
zwischen beiden Vereinfachungen ist möglich; Beide, Kunst und Wissenschaft, lieben sich
in ihrer Verschiedenheit. Der Mensch lebt subjektiv in einer Welt von Objekten.
Sprache
Sprache ist primär eine Symbolik, sich artikulierendes gemeinsames Leben; nicht: ein Zeichensystem. Ohne ehrliche Sprache erstarrt die Gesellschaft, wird brüchig, und kann nur
noch mit (struktureller oder brutaler) Gewalt zusammengehalten werden.
Im natürlichen Ungefähr der Symbolik freundlich, mit Kunst und mit dem Humor der Bescheidenheit, und ehrlich kommunizieren, ἀληθεύοντες ἐν ἀγάπῃ („in Liebe die Wahrheit
sagend“, Eph 4,15), ist wohl auf alle Fälle gut. Es ist wohl auch unter Gewaltherrschaft die
Subversion mit den besten Aussichten.
Niemand kann seelisch gesund bleiben, wenn er nur in Selbstgespräch, in Privatsprache
lebt.
Symbolik
Ernsthaftes Denken (mit sinnlichen Eindrücken und Phantasie untermischt) ist hoch emotional!
Wir verstehen nur durch Vereinfachungen. Alle Vereinfachungen verzerren. Schwindel
sind tendenziöse Vereinfachungen mit kleinen Desinformationen.
Auf Schwindel kann man nicht bauen. Nomen est omen; die Begriffgeschichte ist interessant! Jeder spürt es: Schwindel muss schwinden. Er wird nie ganz schwinden; aber er muss
ein gehöriges Maß Wahrheit mit sich führen!
Durch einen Namen wird primär nicht eine Sache bezeichnet, sondern ein Erlebnis symbolisiert. Die Gliederung des Kontextes erst (zunächst das Alltagswissen) hilft, das Benannte
zu präzisieren und versachlichen.
Biologisch ist Symbolik ein Erfolg. Sie baut das Ungefähr aus. Zunächst vereinfacht sie,
schafft Symbolgemeinschaft und Kooperation und macht die Welt wunschgemäß verfügbarer. Allerdings: je mehr man von der Symbolik verlangt, desto komplizierter wird sie.
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Symbolik sammelt.
Der „Schalk“* von Art des GOETHE’schen Mephistopheles** macht auf die abgründig
trügerische Sicherheit, mit der wir in unserer Symbolik leben, in einer Weise aufmerksam,
die uns zum schadenfrohen Mitlachen*** über die menschliche Hoffart einläd.
* Faust I, Ende des Prologs im Himmel.
** Man kann da auch an Wilhelm Buschs Humor denken.
*** „… Wer sich nicht selbst zum besten haben kann, der ist gewiß nicht von den besten.“
(GOETHE, Epigrammatisch, Meine Wahl)
Existenzsymbolik
Für Deutschland waren die gut zweihundert Jahre rund um die Französische Revolution
ein goldenes Zeitalter der Kultur. Die öffentliche Hypokrisie nahm ab. Es herrschte Religionsfrieden.
Die vielen kleinen eigenen Vorhaben sind Sinnerlebnisse und lenken die Menschen ab
vom großen allgemeinen Unglück.
Es lohnt, auch den ernsthaft Angekränkelten (wo die Gestalt* zu schwach ist und der den
Stabilitätsbereich wohl bald verlassen wird) anzuhören. Es gibt dem gesund Kreativen teil
an der Weisheit, die dem Invaliden eigen ist. Invalide blicken bemerkenswert mutig in die
Welt und urteilen gleichberechtigt.
Der Zerbrechende, „Dekadente“, der Lyriker hat Spannungen in sich, die in Resonanz stehen mit gemeinhin minder beachteten Phänomenen der Wirklichkeit. Er vereinfacht anders
als der Tüchtige, der zupackt und Leid lindert. Er lässt die Trauer an sich herankommen.
Sowohl die Dekadenz wie die Tüchtigkeit kann unbescheiden und unmenschlich werden.
* So Schiller. Die moderne Mathematik nennt es „Attraktor“.
Idealismus ist herzerquickend, genießt Prestige, wirkt ansteckend und missionarisch. Opfer ihres Idealismus werden gefeiert, wirken begeisternd.
„Schon eine Pille nimmt dich auf den Arm“ (Gottfried Benn); sie macht glücklich und
dankbar. Gute Stimmung ist sozial (und sogar religiös!) erwünscht. Aber wie steht es um
den Realismus der Gefühlsreaktion? Auf die Länge kommt es auf diesen an!
„Grundwerte“ sind nicht verhandelbar.
Jede Existenzsymbolik kennt natürlicherweise ein (individuell ausgestaltetes) Happy end.
Kunst und Religion verweisen bescheiden auf je ihren Attraktor, den sie nie erreichen –
Seligkeit. (HEIJE FABER: „Circelen um ein Geheim“.)
Man versucht, persönlich Bedeutendes zum Ausdruck zu bringen. Mit solcher Existenzsymbolik festigt man die eigene Identität.
Die Existenzsymbolik ist und bleibt löcherig.
Wir müssen uns etwas einreden, nach eigener Wahl. Das ist identitätsstützende Existenzsymbolik.
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Wie Heringsschwärme ohne Alttiere im Ozean schwimmen wir, ohne den Weg zu kennen,
von augenblicklichen Konfigurationen unserer Symbolik bestimmt.
Sinn ist Zusammenhang. Einen Sinn der Welt sehen wir nicht; aber wir sehen viel Sinn
(und Widersinn) in der Welt, und entsprechend verhalten wir uns.
Subjektiv schimmern „Himmel“ und „Hölle“ durch die Objekte hindurch, die uns die
Sicht verstellen.
Aus mancherlei Antrieben wandern wir, überzeugt und zweifelnd, durch schöne und
schreckliche Weltbilder; wir verstehen einander entsprechend gut oder schlecht, arbeiten zusammen oder gegen einander.
Die Welt ist bunt und überwältigend groß; wo auch immer wir verweilen, sind wir unterwegs. Das ist unsere jeweils verpflichtende, erhebende und demütigende Wahrheit.
Verzweiflung rundet das Weltbildfragment ab; auch sie vereinfacht.
Schönheit
Jedes Lebewesen versucht, im großen Nebeneinander zu verbinden und zu trennen. Das
neutral-sinnlose (manchmal komische) Nebeneinander der Dinge belebt die Kreativität des
eigenem Stabilisierungsbedürfnisses.
Immer wieder die freundlich augenzwinkernde Ironie des sinnlosen Nebeneinander – wie
im (mit Sinn überraschenden) Reim. Der Künstler lenkt das Augenmerk darauf.
Evolution ist Morphogenese. Die Entstehung einer Gestalt in einem größeren Ganzen und
ihr Untergang in einem unüberblickbar größeren Ganzen ist ein erhabener und demütigender
Anblick, abgründig schön.
Das Unüberblickbare umfasst per definitionem das Diesseits und das, was uns vielleicht
nah, aber doch jenseits unseres Verstehens und Vorstellens liegt.
Man sollte sich von Geglücktem nicht verführen, aber inspirieren lassen.
Erkenntnis
Intuitionen führen, Logik stabilisiert.
Eine „Erleuchtung“ ist eine Vereinfachung, die Verständnis stabilisiert als ein lokales
energetisches Minimum.
All unser Verstehen ist Vereinfachen. Bekenntnis ist subjektiv holistisch; das Erkennen
schneidet sich ein Objekt aus und analysiert es.
Skepsis ist die Grundlage jeder Wissenschaft (auch der Theologie!). Darum forscht Wissenschaft*.
Doctrina, Lehre (auch religiöse), ist (oft ein erstarrtes) stabilisierendes Konstrukt einer Kultur. Hier steht nicht erfahrungsorientierte Forschung, sondern Reflexion im Zentrum.
Technologie forscht ohne Skepsis, zur Vervollständigung der Lehre.
* Es sollte auch nicht vergessen werden, dass Empirie und Skepsis im Milieu der vital interessantesten alten Wissenschaftskultur: der Medizin, beheimatet ist!
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Wir müssen uns mit vernünftiger Oberflächlichkeit begnügen.
Wie alle andern Wissenschaften und Kompetenzen, droht auch die Medizin in Fachidiotien zu zerfallen. Der Glaube an das Wissen als zentrale Form der Wahrheit ist „gesellschaftlich konstituiert“.
Alles Wirkliche, irgendwie Vorstellbare, hat seine Kehrseite, von der wir falsche (nur ungefähr richtige, vereinfachende) Vorstellungen haben.
Auch jedes Du und all unsere Gottesvorstellungen haben ihre Jenseitigkeit.
Wir erleben die Wahrheit, und sie ist uns symbolisch, ungefähr orientierend, zu freier Verfügung zugesprochen.
Welchen Sinn hat ein Leben in dieser Gesellschaft? – : Jedermanns Leben hat zu vielerlei
Sinn und Widersinn für eine Antwort! Wir antworten durch die uns selbstverständlichen
praktischen Entscheidungen, – die wir zwar mitmenschlich zu verantworten haben, aber nie
allgemein befriedigend begründen können.
Im Witz überrascht die Kreativität, die zusammenbringt, was in verschiedene Zusammenhänge gehört.
Kein Mensch kann wirklich urteilen. Ich folge praktisch meinen idiosynkratischen Normen – im Grunde unsicher.
Auf einem stabilen Niveau binärer Vorentscheidungen sind die neuesten Vereinfachungen
selbstverständlich, – aber all die einzelnen Vorentscheidungen (selbstverständlich) vergessen. Die Entscheidungen aufgrund solcher Übervereinfachungen sind dann oft unerklärlich
verfehlt.
Alles hat seinen Grund: ein Zusammentreffen mehrerer Gründe.
Religion
Götter regieren lebendig (nicht starr) ihre Bereiche: natürliche Zusammenhänge und Normen.
Das primitive Gottkönigtum und, differenzierter, Caesaropapismus kommt auf mit der
Übermacht von Menschen über die Natur. Der Oberpriester und König (verbündet oder in
einer Person), vertritt, repräsentiert (fehlbar) den Volksgott.
Kult muss natürlich sein.
Erstickte Empörung fordert Kreuzigung des Herrn.
Die Metapher „Himmel“ heißt für uns konkret: Erlösung vom Übel.
Du
Ich postuliere ein fundamentales kognitives Assimilationsschema, „das schöpferische Du“,
implementiert immer durch eine hier und jetzt zentrale Person! Biographisch, implementiert
das zuerst die Person, die verlässlich mütterlich waltet (Winnicott‘s environment mother),
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eine lebbare Welt schafft und das Urmodell von „Person“ bleibt. H. S. Sullivan’s Ausdruck
significant other bietet sich an. (Die deutsche Übersetzung „Lebensgefährte“ lässt an eine
spätere Implementierung dieses Schemas denken.)
Mir scheint es grundlegend für den Gottesglauben der monotheistischen Religionen. Wir
können den Schöpfer nur schöpferisch denken*. Dem Menschen ist die Möglichkeit geschenkt, sein Ich im Gegenüber zu einem imaginären, großen Du als Identitätspartner zu
entwickeln. Dieses Phantasma regt integrative Kooperationsphantasien, kreatives Reagieren
an.
* Das ist eine Verallgemeinerung der Rede Luthers (in der großen Vorlesung über den Galater-Brief) von der fides creatrix divinitatis.
Sozialstrukturelle Probleme werden gern personalisiert. Solche Regression erleichtert es,
aktiv gezielt zu reagieren.
Man hat zunächst und zumeist ziemlich selbstverständlich ein Du. Im sog. Selbstgespräch
redet man es an.
Auch: „Ach, du lieber Gott!“ wird mit größter Selbstverständlichkeit, gedankenlos, ausgerufen. "Der liebe Gott“ ist so etwas Ähnliches wie der Weihnachtsmann, ein leicht verfremdetes Du, significant other.
Diese gedankenlose Selbstverständlichkeit verrät, dass wir es hier mit unserer menschlichen
Natur zu tun haben. Dagegen ist theologisch nichts einzuwenden. Sogar ein unreflektiertes*
„Ach Gottchen!“ ist kein Missbrauch des Gottesnamens im Sinne des Dekalogs!
* Wem der Gottesname Existenzsymbol ist, für den ist gedankenloser Gebrauch des Gottesnamens allerdings provokant.
Gott
In Polytheismen ist der höchste Gott (Zeus/Jupiter, Jahwe, Odin/Wotan) Rechtspfleger.
Auch über ihn herrscht das unpersönliche Schicksal.
Worauf kann man sich verlassen? Die Weltordnung ist Teil des Chaos!
Plato konzipierte die ewigen Ideen, „die reinen Formen“ (Schiller), und als deren Abschattungen die Gegenstände unserer materielle Welt.
Die biblische Glaubenssymbolik konzipiert mütterliche und väterliche Treue Gottes, des
Schöpfers unserer Welt.
Die Natura naturans ist ein immer wieder neu bedachtes, aber wenig bekanntes, philosophisches Konzept geblieben. Als unpersönlich, konnte sie nur in radikal feministischen Zirkeln zu so etwas wie „die Gott“ werden, – nicht elementarer als „der Gott“. „Der Gott“ ist
Kulturträger, Ordner.
In unseren chaotischen Zeiten geht mit dem Glauben an die Welt-Ordnung* auch der Glaube an Gott den Herrn kaputt.
„Der“ Gott wird heute (oberflächlich) als veraltete Phantasievorstellung verstanden.
Ich verstehe ihn als Repräsentanten des (geschlechtlich noch undifferenziert parentalen) archetypischen Du**.
* Dieser wurde da und dort auch atheistisch verabsolutiert.
** Ich konzipiere diesen Archetyp in Anlehnung an C. G. Jung. Bei dessen Archetypen geht
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es um Einheiten in der wesentlich unverstanden vorgegebenen Einheit, aus der wir Subjekte
mitsamt unseren Objektvorstellungen allererst erwachsen.
Der Mensch hat das Schicksal, sich Vorstellungen von der Welt machen zu müssen – zuerst von der mütterlichen Umwelt (environment mother), dann, differenzierter, von „Du“
und Zubehör, von Pflegepersonen, die einem alles geben können, so etwas wie Gottheiten.
Und er neigt dazu, sich (wesentlich kulturgeschichtlich bedingte) Vorstellungen von einem
Schöpfergott zu machen – und vom Leben als einem Geschenk.
So spricht der HERR: Lebt weiter, so gut ihr könnt! Nicht Maßregeln gebe ich euch vor,
sondern Erfahrungen – und den Verweis auf die Solidarität (Schicksalsgemeinschaft, „Liebe“).
Auch „der persönliche Gott“ ist eine natürliche Vereinfachung im gesunden Menschenverstand. Es ist etwas Wahres daran; sie ist – gewiss vielfach widersinnig – doch vielfach bewährt.
Gottes Wahrheit ist unserem Fassungsvermögen in verschiedenen Religionen zugesprochen.
Gott schenkt, in seiner persönlichen Zuwendung, orientierende Symbole.
„Er übet Gewalt mit seinem Arm“, singt Maria (Lk 1, 51). Das betrifft, genau genommen,
noch nicht den erst durch die Jesusgeschichte offenbarten (mit Luther zu reden: den Deus
revelatus), sondern den Deus absconditus von Jesaja 45, 15.
Die Interjektion „Ach Gott!“ meint Gott, aber denkt ihn nicht.
Der Fromme nimmt den – das weltliche Denken unterbrechenden – überlieferten Ruf zum
Anlass, diesem Ruf nachzudenken und über das gewohnte Denken hinaus zu phantasieren.
Wir müssen immer wieder neu fragen: „Dies, Gott, ist Deine Welt?!“
Jesus am Kreuz rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22)
Jesus war – sowohl bei seinen verheißungsvollen Auftritten wie in der Passion – der Ruf
nach Gott, als solcher: der Repräsentant Gottes!
In Psalm 22 ist ein Bruch: Zwischen v. 22 und v. 23 liegt nicht Wort, sondern Tat! Gott hat
„gehört“ und „sein Antlitz nicht verborgen“, sich offenbart (v. 25)!
Gottes Antwort an Jesus ist, christlich interpretiert: „Ich bin bei dir!“ Das „bei“ ist trinitarisch: „in dir“ (Geist), „um dich“ (Vater).
Der Glaube kann in Geborgenheit entscheiden, geborgen beim menschgewordenen Gott,
dem selbst Geschöpf gewordenen Schöpfer.
In Phil 2, 12f. flackert ein kompletter Widerspruch zwischen Gott vs. Mensch als Subjekt*;
das Paulinische Nebeneinander von Indikativ und Imperativ artikuliert – intellektuell beunruhigend – die schöpferische Hoffnung, die Wirklichkeit des Spiritus creator.
* Sowohl Luther mit seinem servum arbitrium wie Molina mit seinem concursus divinus
vereinfachen hier.
Der Schöpfer als Du, das ist eine biblische Idee!
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Wir sollen wachsen in der (vieldimensional) gestaffelten* Wahrheit; Gottesnähe wächst;
jeder Zweifel bringt uns Gott näher.
Wir rufen nach dem göttlichen Du – ins Jenseits unserer Erkenntnis. Gott antwortet: „Ich
bin bei dir!“
* Ich denke an den klassischen chinesischen Roman aus dem 16. Jh., der auf Englisch
(1942) betitelt ist: „Monkey“.
Woran kann ich mich halten? – : Immer wieder etwas anderes! Man hangelt sich durchs
Leben, wie der Affe durch die Baumkronen*. Alles, was man gelernt hat, muss jeweils mit
Verstand genutzt werden. Gewohnheiten und Regeln braucht man, aber man kann sich darauf nicht verlassen.
Worauf kann ich mich verlassen? – : Auf kein Ding, keine Person, keine Regel! die Geschichte und Vorgeschichte des Christentums bietet einen ganzen Strang hilfreicher Antworten, die dann aber doch nach einer Weile auch nicht mehr ganz befriedigten** (weshalb
immer neue Antworten folgten).
Ich selbst finde immer wieder Orientierung in der alten kirchlichen Antwort: „Auf den dreieinigen Gott!
* GOETHE: „und berührt mit dem Scheitel die Sterne“ (Grenzen der Menschheit, 1781).
** Im selbstverständlich gewordenen Gebrauch ergeben sich neue Fragen. Wenn man diese
gering achtet, werden die gewohnten Antworten abgenutzt und unversehens nichtssagend.
Der allgemeine Gottesbegriff (der allmächtige Schöpfer, παντοκράτωρ/omnipotens,
ποιητής/factor coeli et terrae), der kollektiv-subjektiv objektivierte Gott, das stabile Phantasma, imaginärer Attraktor* menschlicher Phantasien, muss persönlich, nur symbolisch,
kann nur notdürftig, angefochten, in Gebrauch genommen werden.
Wenn die realistische Spannkraft des Imaginären (das jeden auf seinem eigenen Weg hält)
zu schwach ist, wird aus der frommen Weisheit Sucht oder Wahn.
* Wesentlich „jenseits“ (wie schon bei Plato „das Gute“).
Die christliche Kirche bekennt sich zu einem Gott, der nicht in erster Linie Schöpfer ist,
sondern ἀγάπη*! Er hat, nach christlichem Bekenntnis, seine eindeutige Einheit – sit venia
verbo – „liquidiert“**: In Jesus – so wird gelehrt – ist er Geschöpf geworden, als Geschöpf
gestorben und als Geschöpf† auferstanden; als Heiliger Geist ist er in Menschenherzen ausgegossen.
* 1Joh 4,16. (Besser nicht mit „Liebe“ zu übersetzen, sondern mit „Solidarität“!)
** Wörtlich: „verflüssigt“.
† Jesus ist mit seiner humana natura „aufgefahren gen Himmel, sitzet zur Rechten Gottes
des Vaters“.
Der solidarische Gott – das ist eine ernüchternd abgründige Vorstellung, wenn nicht persönlich, dann Unsinn.
Wir möchten uns den Gott, von dem da so viel geredet wird, hypothetisch objektiv vorstellen, um uns ein Urteil bilden zu können. So wollen wir etwa wissen, ob und wo und wie er
in den Weltlauf eingreift.
Jede Rede evoziert Vorstellungen. Aber sinnvolle Rede von Gott ist persönlich, d.h. wesent-
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lich eine menschliche Lebensäußerung, wie Dichtung, – wo die Vorstellungen von nachgeordneter Wichtigkeit sind.
Jurisprudenz soll urteilen; sie kann weitgehend formalisiert und automatisiert werden. Dichtung aber und religiöse Rede sind nur persönlich zu verstehen, zu brauchen und zu beurteilen – von Subjekten mit je ihren verschiedenen Verständnishorizonten.
Wir können über religiöse Vorstellungen nicht objektiv, sondern nur subjektiv (auch kollektiv subjektiv) urteilen. Hier gibt es Predigten; und auch rational argumentativ kann da erfolgreich Überzeugungsarbeit geleistet werden. Was Gott macht und nicht macht, kann
gleichwohl jeder nur auf eigene Verantwortung sagen („bezeugen“). Für unseren Glauben
entscheidend ist letztlich, was uns wie angesprochen hat.
Unter dem Gesetz Gottes sind wir der Welt ausgeliefert und müssen uns persönlich zu einem unpersönlichen „Gott“ bekennen.
Im Evangelium spricht Gottes Solidarität uns persönlich an.
Die Welt macht uns glauben, dass unser Gott uns im Stich lässt.
Gottes Solidarität ist uns, im Geist Jesu, von der Kirche zugesprochen.
Unser solidarischer, liebender Gott ist eine unerschöpflich segensreiche Wunschphantasie,
eine Gottesgabe.
Verzweiflung verdammt diese Welt und gebiert eine Hölle.
Aber Gott verzweifelt nicht. Er hat zwar unserer Welt eine Ende gesetzt; aber einen neuen
Himmel und eine neue Erde verheißen, „worin Gerechtigkeit wohnt“ (2Pt 3, 13).
Diese Neue Schöpfung inmitten verzweiflungsvoller Anfechtung hat er mit Jesu wahnhaftem* Glauben schon beginnen lassen und uns – durch die wahnhafte Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten – in dessen Nachfolge berufen.
Mit der christlichen Symbolik wird der fast erstickte Ruf des Lebens** zur Solidarität belebend wiederholt. Gott der Versöhner und Erlöser ist Gott der Schöpfer!
Am stärksten wohl die christliche Gottestradition betont, dass unsere Gotteslehre, in all ihrer
Vielfalt, nur andeutend richtig, die Christusverkündigung nur andeutend wahr ist. Ohne diesen Ton ist auch sie ein Wahn.
* Ich denke dabei vor allem an seine Naherwartung des Endes dieser Welt.
** Die Öko-Bewegung nimmt ihn ernst.
Man kann in zweierlei Fällen von "Gotteserscheinung" reden: 1. Die Schöpfung und jedes
Geschöpf (für den Menschen besonders ein Mensch) ist eine Gotteserscheinung, 2. anschaulich sich ereignendes Gottesverständnis (Jesaja 6).
Gott ist tröstlich solidarisch mit uns. Die „kleinen Elfen“ im Beginn von Faust II sind mitleidig, auch Gotteserscheinungen!
„Ist Gott froh über die Welt?“ – : Ja! Und Er ist auch traurig über die Welt und ist froh,
dass sie auch ein Ende hat.
Gott soll in der Welt Trost finden und an seiner Schöpfung Freude haben.
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Schöpfer
Der Heilige Geist, der verheißene Geist der Endzeit, ein Geist der Innovation, spiritus creator!
Der Spiritus Creator ist Gott – und ist Menschen verliehen, die „Glauben haben“.
Dieser absolute Wortgebrauch (ohne Objekt) ist neutestamentlich. Er meint hier selbstverständlich den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus – an ihn als die verheißungsvolle, von Zeichen und Wundern begleitete Offenbarung der Liebe Gottes. (Jesu
Auferstehung ist da noch verstanden als Beginn des traditionell apokalyptisch erwarteten
Weltendes mit der Auferstehung aller Toten; noch nicht, wie heute, ein – mitsamt der ganzen Kirche – isoliertes Mirakel.) Dieser Glaube ist ein Wunder vom Schöpfer und ist selbst
schöpferisch.
In der Endphase des Ancien régime mit seiner religiösen Orthodoxie* kündigte sich revolutionäres Denken in der Genialität des sog. „Sturm und Drang“ an. Schon hier ging es um
das, was man heute Kreativität nennt **. In Form des (bewusst in Kauf genommenen) Prekariats der Dichter, spielten hier Kreuz und Glaube nicht ausdrücklich, aber biographisch
für die Kreativität eine Rolle.
Der Heilige Geist eint uns mit Gott, dem Schöpfer der Welt! Wir sind aus Gott und sind
eingelassen in Gott – und so sind wir eingelassen in die Welt.
* Sie hielt streng auf Distanz zwischen dem Herrn und Schöpfer und dem Geschöpf – mit
den Zwischenwesen Klerus und Obrigkeit.
** Man hatte nicht nur die Kreativität von Menschen im Blick. Klopstock konnte sagen:
„Schön ist, Mutter Natur, Deiner Erfindungen Pracht auf die Fluren verstreut.“ Aber erst gut
zweihundert Jahre später konnte man dem Menschen schlechthin „Kreativität“ zusprechen.
Es ist uns beschieden, in den Tag hineinzuleben, nicht verantwortungslos, aber kreatürlich.
„Kreatur“ ist das Komplement zum Schöpfer; der Mensch, der sich als Kreatur versteht, hört
auf den Schöpfer.
Die Enden passen nicht zusammen. Man muss dauernd wagen, Schöpfer zu sein, um sich
eine Welt beieinander zu halten.
Gott kann auch Schadenfreude vergeben – wie dem Apokalyptiker Johannes.
Ich soll zwischen Hölle und Himmel, Empörung und Begeisterung, Mitschöpfer und Mitvergeber sein.
Wir sind Mitschöpfer unserer Welt – und man merkt es ihr an.
Jesus
Jesu Gegenwart war Präsenz des Schöpfers.
Glaube
Alles, was uns faktisch umgibt, ist aus anderem entstanden. Und alles reale Einzelne und
auch alle Vorstellungen vom Ganzen, enden zwar in Misslingen. Alles hat eine Geschichte
des Gelingens hinter sich, vielleicht reich an Misslingen. Und ein Jedes hat sein Ende vor
sich.
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Aber das ist nicht das Ende dieser Welt! Uns bleibt: das Wunder des natürlichen Glaubens,
der Liebe und der Hoffnung (1Kor 13, 13).
Das Leben überhaupt ist unwahrscheinlich. Der natürliche Glaube an das Leben verdankt
sich immer wieder neu überraschenden Erscheinungen. Heutige und frühere Zeugen aus der
Wundertradition von Jesus, dem als Auferstandener erschienenen (1Kor 15) Gekreuzigten,
bestätigen das exemplarisch.
Was wir im Sinne der biblischen Tradition „Gottes Wort“ nennen, schafft nicht nur Glauben, sondern auch Zweifel. Gott ermutigt uns, alles, was wir glauben, zu bezweifeln.
Die Anfechtung des Glaubens vertieft die christliche Mitmenschlichkeit, die Zusammengehörigkeit von Glaube und Liebe.
Kirche
Die heutigen Kirchen sind selbsttragende Subkulturen.
Die Gesellschaft hat keinen Gott. Gedemütigt, vermisst man „ihn“. Mancher sucht ihn
manchmal – und findet, abseits von jeder Kirche, einleuchtend orientierende Symbole und
Sätze.
Jeremia, Jesus, Paulus, der Evangelist Johannes, Luther empfinden das gemeinsame Problem: Das überlieferte Gottesgesetz ist veraltet; Gottesfrieden kommt durch einen Neuen
Gottesbund.
Ortsgemeinden sind heute noch schmale Basen weit ausgreifenden kirchlichen Gemeindelebens. Wahrscheinlich geht die Entwicklung so wie in den elektronischen sozialen Medien
weiter: eine Unzahl mit einander kommunizierender kleiner, kurzlebiger Ortsgruppen entsteht – Basis für so etwas wie Kirchentage.
Die seelische Kraft der Bochumer Gefängnispfarrerin Uta Klose ist eindrucksvoll. Ich sagte ihr, sie sei für mich ein lebendes Fossil aus der Urgemeinde.
Ihr Arbeitsplatz im Bochumer Justizvollzug ist wie ihr auf den Leib geschneidert; die (in der
Neuzeit so problematisch gewordene) Bedingtheit des christlichen Glaubens ist hier nicht
nur kein Problem, sondern scheint ihrem Auftrag und Arbeitsbedingungen ideal zu entsprechen. Die (hier zahlreichen) Drogenabhängigen sind schon von sich aus gern „anderswo“.
Gefängnisse sind eine Welt für sich. Gefangene phantasieren über ihre reale Welt hinaus.
Gefängnisseelsorge bestärkt sie darin; die religiöse Symbolwelt, der Gottesdienst, unterstützt die Seelsorger darin.
Seine Religion vergrößert dem Menschen die Welt; die Realität bekommt ein quasiräumliches Jenseits. Die symbolische Kreativität bekommt größeren Spielraum – das ist ein
manchmal folgenreicher Zuwachs an Autonomie.
Gesellschaft
Feste Siedlungen mit Ackerbau und Viehzucht stehen auf Selbstbeschränkung. In konkurrenzloser Globalgesellschaft ist kollektive Selbstbeschränkung nicht durchzusetzen.
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Felix Lee zweifelt, ob heute noch 30% Chinesen die Politik im Geiste Deng Xiaopings
gutheißen. Dieser hatte, in der Nachfolge Maos, in einmalig kurzer Zeit viele Menschen aus
der Armut befreit. Jetzt leben zwar nur noch Millionen Chinesen unter der Armutsgrenze
und ziehen hungernd durchs Land, aber mehr als 70% der Bevölkerung wären trotzdem unzufrieden. Es herrscht Intransparenz; zugegebenermaßen grassiert die Korruption ( mit der
Erklärung des großen Pragmatikers: „Wer Türen öffnet, lässt Fliegen herein“).
Es fehle ihnen an Freiheit, Menschenwürde und Mitbestimmung. (Die protestierenden Massen auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989 waren hauptsächlich Studenten gewesen,
also tendenziell der Nachwuchs für Führungspositionen.) Allgemein werde eine tiefe Wertekrise der Gesellschaft und Orientierungslosigkeit empfunden. Es mangele allenthalben an
der Kardinaltugend des Sozialismus, der Solidarität; das wird als skandalös empfunden und
macht Schlagzeilen.
In erstarrten Herrschaftsstrukturen hält sich in einem Teil der Bevölkerung die Sprache lebendig, der privilegierte Teil verdummt. Das führt zu Revolution.
Opferbereiter Gemeinsinn von Individuen schafft der betreffenden Gemeinschaft (Pseudospezies) evolutionäre Vorteile und wird deshalb offiziell symbolisch gestützt.
Es kommt dann darauf an, wie heruntergewirtschaftet die Symbolik schon ist.
Herrschsucht und Rivalität einzelner kann der Gruppe Vorteile bringen. Oberschicht ist
evolutionär relevant.
Zu große Gesellschaften werden mit Gewalt und Schwindel zusammengehalten. Die Solidarität zerbröselt. Die harte Sozialstruktur ist zerbrechlich. Jeder hat Angst.
Im heutigen China herrscht (im Interesse der Sicherung* des kollektiven wirtschaftlichen
Aufstiegs aus den Tiefen eines enormen Nachholbedarfs) eine erzwungene Verantwortungslosigkeit, bedrückend resignierter Egoismus.
* Ihr diente auch das Tiananmen-Massaker 1989.
„Strukturelle Gewalt“ (J. Galtung) scheint erträglicher als Bürgerkrieg.
Einfache, von allen gleichförmig gedachte, also solide Sozialstruktur ist nur ungefähr realisierbar.
Eine steuerhinterziehende Oberschicht ist nicht nur empörend, sondern auch gefährlich.
„Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken.“ Oberschicht ist Vorbild.
Juristische Korruptionsprozesse in korrupten Gesellschaften sind kultisch isolierte Akte,
Opfer auf dem Altar einer Ideologie, an die niemand mehr glaubt.
Gesellschaft beruht auf gemeinschaftsfähiger Sprache.
Die Ungleichverteilung muss in einem erträglichen Verhältnis zur Größe der Gesellschaft
stehen.
Die soziale Schicht (Familie und Umgang) ist Ausbildungsstätte. Sie tendiert auf Ausbildung und Pflege einer nachhaltigen Standesmoral-Tradition.
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Heute ist Nachhaltigkeit schwer prognostizierbar. Wichtiger als Solidität und Ehrlichkeit ist
für den sozialen Erfolg Geschwindigkeit, das „schnelle Geld“ auf Kosten der Gesellschaft.
Im Gefühl fundamentaler Orientierungslosigkeit, ist so etwas wie Gottesdienst, als irrationaler solidarischer Hilferuf, natürlich.
Verschwenderischer Lebensstil sagt: „Ich kann es mir leisten!“ In wirtschaftlich sicheren
Zeiten gehört Konsum auf Pump zu den sozialen Erfolgsstrategien und setzt Maßstäbe.
Privilegien sind stereotypierte Vorurteile. Man „geht davon aus“, dass sie als Vorrechte
sozial hinreichend anerkannt sind.
Überall diese Gewaltherrscher mit einer Opposition, die sich nicht einigen kann!
Institution legitimiert Gedankenlosigkeit.
Für nachhaltiges Sozialverhalten in einer Globalgesellschaft ist der nackte Affe nicht ausgelegt.
Der Zusammenhang von Prestige und Macht ist nicht linear. Sowohl steigert Machterweiterung das Prestige mir abnehmendem Erfolg, wie auch mäßige Prestigesteigerung noch am
meisten Machtzuwachs bringt.
Die Einheit von Macht und Prestige ist konfliktgeladen.
Sie haben auch verschiedene Wachstums-Strategien.
In der Massengesellschaft findet der Gemeinsinn zu wenig stabilisierende Bestärkung. Es
bleibt nur „grobes Mitschwingen“.
Man versteht einander nur stückchenweise.
Je größer ein Kollektiv, desto unmoralischer/unmenschlicher, wilder* chaotisch ist es.
Unsere Nostalgie gilt dem milden Chaos der kleineren Einheiten.
* B. Mandelbrot: Unberechenbarer.
Die Alternative zur Uniformierung durch uniforme Massenware ist die Multiformierung
durch Massen von mehr oder weniger Ähnlichem.
Aus dieser kann leichter (durch mild chaotische Prozesse) Neues entstehen. Kleine Zusammenhänge sind menschlicher. Große Zusammenhänge verstehen wir nur in Form von Vereinfachungen.
Si vis pacem para bellum. Die Wahrheit dieses Satzes ist im Nachkriegs-Deutschland noch
immer nicht ganz ernst genommen
Jeder braucht Gemeinschaft und Symbolik. Man braucht das Wir. Zustimmung ist keine
Garantie für Richtigkeit; aber sie ermutigt.
Die Zeit der Kaiser ist bei uns seit 1918 vorbei. Der neue Herr war „das System“; und heute herrscht das Chaos der Systeme.
Man kennt und verkennt einander.
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Die Unterschicht muss großherzig sein oder rebellieren, um gesund zu bleiben.
Der Homo oeconomicus arbeitete einst wirklich zum Vorteil der Spezies (Adam Smith),
heute aber zum Nachteil derselben und ihres Lebensraums.
Solidarität der Lebewesen ist in mythologische Höhen erhoben durch die Wölfin, die
Romulus und Remus gesäugt hat.
Es gibt glücklicherweise Einzelkämpfer- und Mitläufertypen, Innovatoren und Stabilisatoren (bei den meisten allerdings wechselt das Modell).
Der Einzelne vermarktet bei uns immer weniger Lebenszeit als Arbeitszeit in Produktion
und Dienstleistung. Man „arbeitet“ weniger.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Ideal. Es ist bis jetzt gescheitert an der
menschlichen Natur, – in welcher Ideale doch nur neben andern Motivationen im Spiel sind.
Manto, Faust II: „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.“ Solches Begehren hat wenigstens
segensreiche Nebenwirkungen!
Menschliche Gesellschaft ist ein Filz von Vereinfachungen.
In den USA, im Land der Freiheit, sitzen zwei Millionen Menschen im Gefängnis.
Arbeit ist selten nur Material bearbeiten. Sie ist gewöhnlich ein vielfältiger sozialer Bezug.
Kaum je war man mit der Soziabilität der Menschen zufrieden.
In der heutigen Massengesellschaft werden die gigantischen „Verklumpungen“ und die
komplexen „Verflüssigungen“ beklagt, die die Individuen moralisch überfordern und krank
machen.
Kultur
Kultur setzt Natur voraus. Im Menschen bilden sie ein Verbundsystem.
Wo Ehrlichkeit sich verbietet, kann auch von Menschenwürde keine Rede sein. Wesentlich Ehrlichkeit ehrt den Menschen; und Würde setzt Ehre voraus.
Wo die Symbolik der offiziellen Sprache abgestorben ist, erstarren stabile soziale Strukturen, werden brüchig und müssen mit Gewalt verstärkt werden.
Mit dem Protest gegen die Fetischisierung von Kunst will das Leben sich seine künstlerische Freiheit erhalten.
Schwindel destabilisiert die Gesellschaft langfristig. Er mach die Symbolik unbrauchbar
für Interaktion.
Aus Pietät tut man gefühlsmäßig, was man selbst nicht versteht.
Die Welt regt kleine Kinder ständig zu unscheinbarer Kreativität an. Sie machen keine
Witze, aber sie sind „guter Dinge“; sie erleben. Die Alten erleben mit.
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Sensumotorik und Symbolik sind die beiden grundlegenden Systeme unseres Weltbezugs.
Über diesen hat sich als drittes entwickelt das Kontinuum vom kollektiv-subjektiven Wissen
(das Sachen und Sachverhalte definiert) bis zur Informatik, das ich hier kurz „Wissenschaft“
nenne. Hier wird nicht symbolisiert, sondern gedacht und bezeichnet. Dieses chaotische
System von kontroversen Ordnungsansprüchen ist für die ganze Ökosphäre die zentrale
Macht geworden.
Solidarität und Konkurrenz sind zwei Mechanismen, deren Zusammenspiel in den Kulturen der einzelnen Gesellschaften diesen ihre Selektionsvorteile in der natürlichen Zuchtwahl
verschafft.
Der Globalgesellschaft droht Selbstvernichtung im Chaos.
Jede moralische Beurteilung des sexuellen Verhaltens von Homosexuellen muss sich ihrerseits zu rechtfertigen versuchen auf dem Hintergrund der (bereits sehr komplizierten!) biologischen Geschlechtsdetermination. Diese stört die brutal einfach praktikablen sittlichen
und rechtlichen Normierungen der sozialen Ordnung.
Leben ist natürlicherweise Überproduktion, Kampf um Lebensbedingungen.
Kulturbasis ist Solidarität, d.i. differenzierte Identifikation.
Ideologien lehren hoffärtig Bescheidenheit. Sie widersprechen einander und bekämpfen einander. Kulturgeschichte kann nicht umhin, chaotisch zu verlaufen – demütigend!
Die Mobilität vervielfacht die Zahl unserer Bezugspersonen. Die natürliche Vieldimensionaliät menschlicher Beziehungen wird auf wenige Dimensionen projiziert (also: reduziert).
Bei reiner Funktionalität schweift der menschliche Geist ab. Das wird durch Spiel am
Zaum gehalten.
Gebrauchsgegenstände sind schön zu gestalten.
Ein Silberleuchter ist ein Ständer, dieser aber soll fließend aussehen, wellig.
Man redet von „Farbenspiel“. Spiegelnde Oberflächen „umspielen“ die Form.
Der nützliche Gebrauchsgegenstand (Maschine) wird „bedient“! Das wird möglichst
schön eingebettet, z.B. durch Musik, die im Hintergrund spielt!
Nicht nur Religion, sondern überhaupt Kultur ist nur andeutungsweise wahr – meist aber
ein Wahn, Vereinfachung, auf die man sich hat einigen können.
Schulen leben von Konsensfähigkeit ihrer Lehr-Inhalte.
Wissenschaft lebt von ihrem Sozialprestige.
Forschungsergebnisse müssen sich als Machtfaktoren in der scientific community durchsetzen.
Auch das Privatleben ist zunehmend vom Markt bestimmt.
Wert
Nutzen ist gut, ist etwas „wert“ („hat Wert“), valet (ist tauglich).
Ein Wert ist eine n-stellige Relation (n unbestimmt).
Oft ist nur eine nullstellige Relation gedacht (ein beliebiger Gegenstand, als Wert-
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Gegenstand betrachtet), vielfach auch eine einstellige Relation, eine Eigenschaft, der (absolut gedachte) Wert einer Sache (konkret ist dann meist ein Marktwert gemeint).
Wird der Preis einer Ware genannt, so ist ein Konsens über den Bezugsrahmen (hier: „der“
Markt) vorausgesetzt.
Fehlt die explizite Näherbestimmung* einer mehrstelligen Relation, so ist das Hier und Jetzt
maßgebend.
* Beim „Ein Königreich für ein Pferd!“ setzte SHAKESPEARE die ungemütliche Situation
Richards III. voraus.
Recht
Die Rechtsordnung stereotypiert Verantwortungen sozial handhabbar; die Rechtsprechung
muss da und dort über die Anwendbarkeit entscheiden.
Moralisch aber kann es für den Menschen als Animal sociale nur Mitverantwortung und
Hauptverantwortung geben – sowohl für die eigene Person, wie für die Mitmenschen.
Jeder muss essen, schlafen und eine wohltemperierte Umgebung (Kleidung, Wohnung)
haben. Erst dann kann das Recht Forderungen erheben.
Gleichheit vor dem geltenden Recht setzt ein ideales Recht voraus. Justiz ist zwangsläufig
grob. Hier ist Heuchelei Pflicht – symbolisiert durch die Robe (wie Talar und umgedrehter
Kragen für den Klerus).
Wirtschaft
Der freie Markt herrscht; er ist Machtzentrum. Die Massentierhaltung ist jedermann widerlich; aber Hähnchen-Dumping ist stärker als Tierschutz.
Man soll sich nützlich machen. Das ist lohnenswerte Arbeit. Nützlichkeit ist das klassische
Maß für die gerechte Verteilung der knappen Güter. Zahlen soll der, dem die Arbeit nützlich
ist. Das ist aber oft schwer abzugrenzen.
Und der Nutzenbegriff ist zu eng; denn die Menschen sind eine Schicksalsgemeinschaft, wo
Menschlichkeit Solidarität ist.
Noch immer ist der Tausch das logische Grundmodell der Wirtschaft. Aber quantitativ ist
es völlig überwältigt von den immer undurchsichtigeren situativen Bedingungen des jeweiligen Geschäfts.
Nicht „die Nachfrage krankt“, sondern die Wirtschaftskultur krankt, die im Zeitalter der
Roboter immer noch am Leitbild prätechnischer Normalität festhält.
„Arbeit“ ist Sich-Plagen und Sich-nützlich-Machen. Die Nützlichkeit ist das Maß für die
gerechte Zuteilung von knappen Gütern.
Wirtschaft ist Zirkulation des Geben und Nehmens in der Gesellschaft. Aber weder dem
Nehmen noch dem Gegeben ist Zirkulation wesentlich.
Ein Wert ist ein Gut; „wert“ ist „gut“. Näherbestimmung des relevanten Kontextes ist hier
unerlässlich!
Gesellschaftlich zentrale Bezugsgröße ist das Geld, genauer: der Geldwert, den der Markt
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ermittelt.
Was ist ein Menschenleben wert? Was bin ich jetzt wem wert? Für die persönliche Wertschätzung einer Sache ist ein etwaiger Marktwert oft gleichgültig. (Dieser hängt von jener
ab.)
Arbeitsbeschaffung ist so hoch geschätzt, dass es auch sinnlose Arbeit sein darf, – doppelt
wertvoll, wenn sie wesentlich darin besteht, dass im großen, kostspieligen Konkurrenzkampf einer dem andern Arbeit macht.
Gesucht sind aktuell qualifizierte Kräfte für individualisierte Beratung und Hilfe.
Von Arbeitslosigkeit am wenigsten bedroht sind hochqualifizierte Führungskräfte der
Dienstleistungs- und Produktionsmaschinerie.
Der Markt wird immer unberechenbarer, weil zu viele Berechnungen im Spiel sind.
Immer noch ver-„dien“-en die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt durch (finanziell
vermittelte) Teilnahme an Wertschöpfung.
Seit der Steinzeit gab es immer mehr Mittel zur Multiplikation der Wertschöpfung. Längst
hat, wer sie besitzt und andern zur Nutzung verleiht, ein arbeitsloses Einkommen. Arbeit als
Schlüssel zur gerechten Verteilung der knappen Güter wurde (bislang auch wohlbegründet)
gepredigt (2Thess 3, 10) und geglaubt. (An die Notwendigkeit der machtbedingten Ausnahmen von dieser Regel zu glauben, war, um des sozialen Friedens willen, Bürgerpflicht.)
Aber der technische Fortschritt hat die Sozioökonomie nun unleugbar auf den Kopf gestellt;
die bedrückend triftigen Gründe für Geldver-dien-en durch Arbeit sind beseitigt. Die Wirtschaft floriert, aber Arbeitsplätze werden massenweise abgebaut. Dringend gesucht sind
heute bekanntlich immer noch speziell qualifizierte, aber weniger normale* Arbeitskräfte
denn Arbeitsplätze! Unser Problem in dieser Sache ist bekanntlich die sog. Arbeitslosigkeit!
Mit der zentralen Bedeutung der Arbeit ist unsere Kultur so gründlich in Frage gestellt, dass
die Gesellschaft das Problem bagatellisiert; sein Ernst wird tabuiert. Wir haben kein wohlbegründetes Kriterium mehr für Verteilungsgerechtigkeit! Angst wie vor einer Kulturrevolution scheint die Diskussionslage zu beherrschen; Heuchelei herrscht in den zuständigen
öffentlichen Organen, wie einst in den Kirchen gegenüber der aufziehenden Aufklärung. Im
Namen des Glaubens an die Arbeit als maßgebend für gerechte Verteilung, werden, in schöner Einmütigkeit, die sozial Schwächsten wie Schuldige behandelt. Dem Glauben an die
Menschenrechte, bislang wesentlich operationalisiert durch die die Arbeitsideologie, ist ein
gutes Stück seier praxis pietatis weggebrochen.
Schon heute bauen wir an der „Festung Europa“, um unsern Wohlstand zu schützen. Ein
bedingungsloses Grundeinkommen ist, wegen des dann drohenden Einwanderungsdrucks,
wohl innenpolitisch nicht mehrheitsfähig. Soviel Gleichheit wollen wir nun wieder nicht!
Die Operationalisierung eines Ideals ist immer Sache des Augenmaßes. Angesichts des Versagens der Arbeitsideologie vor der modernen Technik wäre bedingungsloses Grundeinkommen ein vernünftiges, aber sehr langfristiges Vorhaben internationaler Koordination.
* Was diese können, leisten zunehmend Maschinen viel billiger und oft besser. Individualisierte (aber nicht hochqualifizierte) Arbeit jedoch wird wohl gefragt bleiben.
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Einkommen/Arbeit: Im Normfall ist „Einkommen“ eines Einzelnen, nach Tauschlogik, finanzielle Gegenleistung für die Arbeit dieses Einzelnen.
Diese Vereinfachung ist notorisch nur noch selten sinnvoll anzuwenden. Der Wert des Geldes und der Arbeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist bestimmt durch eine Menge näherer, weiterer und unüberblickbarer Zusammenhänge. Die meiste Arbeit hat ihren Marktwert
nur als Stück einer unzuverlässigen Zusammenarbeit; und der Wert des Geldes ist unzuverlässig durch die (zuständige, aber international abhängige) Staatsmacht garantiert.
„Der Markt“ standardisiert die Wertschätzung nicht mehr so einfach, statistisch, „natürlich“ wie früher den Tauschwert. Auch „der Markt“ ist eine Vereinfachung. Der Markt ist
heute Artefakt der Zusammenarbeit von Finanzkünstlern, im wörtlichen Sinn ein „Concerto“ grosso – um nicht zu sagen: grottesco.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist per definitionem von der Arbeit abgekoppelt.
Die rechtliche Entkoppelung steckt, prinzipiell, schon in der herkömmlichen Sozialgesetzgebung. Zugrunde liegen der jetzt vorgeschlagenen, vereinfachenden Radikalisierung der
Sozialgesetzgebung zwei Annahmen:
1. Menschen wollen, so gut sie es verstehen, gut sein, Gutes tun und in diesem Sinne auch
arbeiten.
2. Die Eigenstruktur der modernen, globalen Wirtschaft legt fast jeder Arbeit einen Marktwert bei – jeweils allzu unvorhersehbar, in sozial unverantwortbarer und in weiterem Zusammenhang: unwirtschaftlicher Weise. Das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit ist
relativ neu und wächst – gefährlich für den Weltfrieden. Die Entkoppelung von Arbeit und
Einkommen wäre eine rationale Anpassung an die kulturelle (dominante) Evolution des
Homo sapiens.
Zurückweisung von normal-menschlicher Arbeitswilligkeit, institutionalisiert als Arbeitslosigkeit, ist eine Aufforderung, sich unter dem Preis zu verkaufen; und das ist kränkend.
Kränkung ist eine leise Anregung zur Selbstzerstörung; Arbeitslose werden häufiger krank.
Sie, als schwächstes Glied, geben damit der Last nach, die gleichmäßig auf allen liegt: dass
wir einander zu viele geworden sind.
Finanzen
Geld ist verselbständigte soziale Macht, flexibler als jede Kontrolle.
Geld ist ein Kulturprodukt höherer Ordnung. Es setzt Weggebenkönnen, Abwägen,
Tausch, Schnitt zwischen Sein und Haben voraus.
Der Gott Mammon macht Menschen durch Organisation von Egoismus zu seinen Dienern.
Geldentwertung ergibt sich, wenn Mammon in seiner Umwelt Raubbau betrieben hat. Das
angehäufte Geld findet dann immer weniger Begehrenswertes zu kaufen. Für sustainable
development (die wirtschaftliche Stabilität, die das moderne Geld braucht) sind checks and
balances nötig.
Geldentwertung ergibt sich, wenn der Mammon Raubbau getrieben hat. Das angehäufte
Geld findet immer weniger zu kaufen und verliert entsprechend an Wert.
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Geld ist die rational skalierte Wertmenge, auf welche Konsumgüter am Einfachsten in ungefähr konsensual anerkannter Weise abgebildet werden können.
Geld ist ursprünglich und noch heute im privaten Alltag: als einfach handhabbar verselbständigter Tauschwert, eine meist unscheinbare Form wirtschaftlicher Macht, die aber, zunehmend bedrohlich, auch zu politischer und militärischer Bedeutung anwachsen kann.
Man versucht jetzt, das emanzipierte Geld zu bändigen.
Geld spielt auch für die neutestamentliche Moral eine bemerkenswerte Rolle. Mammon ist
hier* eine Alternative zu Gott!
Aber auch sonst in unserer klassischen Antike gibt es Gegenkulturen zur Macht- und Marktorientierung, in denen Weisheit und Frömmigkeit kommuniziert werden.
* „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
Die Menschheit ist durch zunehmend differenzierte Zusammenarbeit gewachsen. Aus der
Tauschwirtschaft ist Tauschmittelwirtschaft erwachsen. Geld ist heute das zentrale, ein unverzichtbares Lebensmittel.
Die steigende Komplexität unserer Wirtschaft macht unsere Lebensbedingungen zunehmend unvorhersehbar. Angst und entsprechend immer anspruchsvollere Sicherungsbedürfnisse beherrschen die Weltgesellschafft beängstigend – Teufelskreis eines Wettrüstens, in
welchem das grobe Militär an Bedeutung verliert; Terror und Geld sind subtiler und zweckdienlicher.
Der Wert des Geldes ist der Glaube an das Geld. Dieser ist Glaube an die Kooperation der
Marktteilnehmer; und diese unberechenbar.
Starke Ungleichverteilung des Geldes reduziert den Konsum der Massen, aber destabilisiert die Gesellschaft.
Das bedingungslose bescheidene Grundeinkommen würde einerseits den Konsum der Massen leicht anheben, anderseits (nach Götz W. Werners Konzept: wegen Konsumsteuer) Verschwendung dämpfen.
Arbeit
Der Begriff „arbeitslos“ beruht auf dem verengten Arbeitsbegriff der arbeitsteilig organisierten Wirtschaft. Er erklärt den Betroffenen nicht zum Selbständigen, sondern zum
Nichtsnutz.
Der Bettler und der Angebettelte schämen sich beide im Licht des égalité-Ideals. Die Bürger, die sich schämen, sollten sich zusammentun für die Anerkennung arbeitslosen Einkommens. Die genießt bislang höchstens der Arbeitsuchende.
Arbeit ist ein personaler Beitrag zum Wohl der Gesellschaft; sein Wert ist in der Regel
durch Produktionsmittel und Kooperation vervielfacht. Er wird herkömmlicherweise (vermittels Geld) entgolten durch Teilgabe an verfügbaren knappen Gütern für eine angenehmere Lebensführung. Arbeit ist ein gesellschaftlich zentraler Tauschwert, der, ausweislich der
Arbeitslosigkeit im Zeitalter der schnell sich perfektionierenden Maschinen, an relativem
Wert verliert.
Immer noch hält unsere Kultur an der Arbeit als Norm für den Anspruch auf Lebensunter-
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halt fest. Empfang von Sozialleistungen gilt als unnormal und verächtlich; Betteln ist eine
demütigende Arbeit. (Angebettelt und almosengebend muss sich der anständige Vollbürger
einer Gesellschaftsorgung, die er mitbestimmt, mitmenschlich als Versager fühlen, und reagiert indigniert.)
Solidarität
Solidarität ist ständiges Bemühen, der Einsicht in die Gemeinsamkeit zu entsprechen
durch (schöpferisch konkurrierende) Kooperation.
Solidarität in der Fremdheit bei räumlicher Nähe ist moderne Menschlichkeit.
Solidarität, Schicksalsgemeinschaft, Teilidentität (mit sog. Teilidentifikation) bedeutet
praktisch ein von außen determiniertes Chaos der Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Kooperation.
Solidarität tröstet und bestätigt die stabilen, substanziellen (generischen oder spezifischen)
Eigenschaften des Einzelnen und stärkt damit auch seine innere Harmonie.
Jeder soll an seinem Ort im Chaos mitfühlend Schöpfer sein – und sei es: wie Jesus. (Der
hat ja Jünger ausgesandt nicht nur zu predigen, sondern auch Wunder zu tun.)
Solidarität ist ein Ideal. Menschen billigen einander nur bedingt Existenzberechtigung zu.
Auch der Mensch hat animalisches Mitleid.
Solidarität ist Mitfühlen, Verstehen, Horizonterweiterung, schöpferische Selbsttranszendenz, ein Zugang zu Gottes Schöpfung, zu Gott.
Unser Wort „Liebe“ bezeichnet primär eine erotische Beziehung zwischen Individuen.
Unser Begriff „Solidarität“ geht aufs antik römische Schuldrecht zurück. (Hier geht es um
Haftung in solidum, wörtl.: „für die Gesamtsumme“!). Wer für ein gemeinsames Eigentum
so haftet, dass die Gesamtschuld auf ihm allein hängen bleiben kann, der „haftet solidarisch“. In einer Solidargemeinschaft ist der Einzelne mit deren Interessen identifiziert. Hier
knüpft der moderne Sprachgebrauch an.
Das biblische Gebot der Nächstenliebe betrifft eine Rechtsgemeinschaft; im Alten Testament ist „der Nächste“ zunächst der Nachbar, – mit dem man Frieden halten und nötigenfalls Nachsicht üben soll (3Mos 19, 17). Dem steht unser Wort „Solidarität“ näher als „Liebe“.
Ohne Gott, muss man sich das Leben in dieser Welt selbst erfinden. Basis bleibt das Solidaritätsgebot.
Wir glauben immer weniger an die Öffentlichkeit. Unsere Welt wird uns zu groß. Wir vereinzeln. Aber wir werden darin solidarischer! Wir sind vereinzelt, aber empfinden uns zunehmend Schicksalsgenossen.
Zugrunde liegt der modernen Solidarität das „ozeanische Gefühl“*, ein Gefühl allseitigen
Zusammenhangs, handlungsrelevanter Zugehörigkeit in der chaotischen Einzigkeit.
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* Diesen Ausdruck zitiert FREUD Zur Einführung des Narzissmus von einem seiner Patienten.
Solidarität ist, dem ursprünglichen Wortsinn* nach, nicht eine Tugend, sondern eine spezielle Schicksalsgemeinschaft.
Die (im 19. Jahrhundert, im Französischen**) so genannte Tugend ist ein entsprechendes
Verhalten.
* Aus dem klassischen Römischen Recht: solidum = das Unteilbare.
** Hier ist an den zu Unrecht vergessenen Pierre Leroux zu erinnern.
„PIERRE LEROUX ersetzt* ausdrücklich den Begriff der christlichen Nächstenliebe durch
den der solidarité humaine.“**
* De l'Humanité, de son principe, et de son avenir, où se trouve exposée la vraie définition
de la religion et où l’on explique le sens, la suite et l’enchaînement du Mosaïsme et du
Christianisme, Paris, Perrotin (1840; 2° édition 1845).
** A.WILDT in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.9 (1995), im Artikel Solidarität.
Sich solidarisieren ist Willenssache, schafft eine künstliche Gemeinschaft. Echte Solidargemeinschaft aber beruht auf einem solidum, ist Faktum/Tatsache.
Der Grundbegriff der christlichen Gottesoffenbarung ist nicht „Schöpfer“, sondern
ἀγάπη/Solidarität (1Joh 4,16); ἀγάπη ist schöpferisch. Solidarität ist Mitsein; man kann sie
nicht hinterfragen.
Man will helfen und kann nicht; der hilflose Helfer, sagt man, „leistet Fürbitte“: Gott soll
helfen zu helfen. Eine „Leistung“ der Verzweiflung!
Wissenschaft ist keine individuelle Fitness, sondern Gemeingut der Spezies, solidum. Insofern begünstigt sie Solidarität der im Konkurrenzkampf Verkrümelten.
Der νόμος / das Gesetz der „Auto-nomie“ ist milde chaotisch. Anspruch auf Autonomie
hat nur der Solidarische.
Wozu leben wir? Früher war die Antwort: Zum Lobe Gottes!
Heute eher: Für die „Nächsten“ im natürlichen Verbund. Aber sind Familie, Nachbarschaft,
Volk, Menschheit, Biosphäre und Leben Selbstzwecke?
Jeder gehört nicht nur zu seiner Frage, sondern auch zur Antwort selbst dazu: Schicksalsgemeinschaft, Solidarität!
Individuum
Ein Lebensweg ist eine Geisterbahn. Ohne konstante Weggefährten ist man verloren.
Man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, bemerkte Heraklit. In diesem Sinne
ist der Mensch ein Fluss; er ändert sich ständig.
Man ist nur ungefähr mit sich selbst identisch.
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„Wenn’s etwas gibt gewalt’ger als das Schicksal, so ist‘s der Mut, der’s unerschüttert
trägt“ (Emanuel Geibel). Nein! Es ist die Liebe, die durch die Erschütterung wachgerüttelt
wird! (Für Schopenhauer war die Hauptsache das Mitleid, – das er ja auch beim Buddhismus im Zentrum fand.)
Menschliches Leben ist eine Abfolge von normalverteilten Wagnissen eigenen Lebens
und teilnehmenden Erlebens mit sowohl Angst vor Schmerz und Verlust wie Hoffnung auf
Glück.
Der Psalmist (116,11) sagt: „Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind Lügner!“
Paulus (Rm 3, 4) verabsolutiert das.
Fürs Handeln konzentriert man seinen Blick auf eine Zielvorstellung, also auf etwas, was
noch nicht ist. Voraussetzung ist ein empfundenes Ungenügen.
Wir leben in Illusionen, auf die wir, genau lebenslang, verpflichtet sind. Wir sind Illusionen.
Morituri omnia solvunt.
Der Säugling macht Totalbewegungen mit allen Vieren. Allmählich differenziert er mit
Entdeckerfreude einzelne Bewegungen aus, bis zu den Zehen! Spiel, auch Zusammenspiel
mit andern, ist beglückende Selbstentgrenzung in die Umwelt hinein.
Hölle ist erstickte Empörung.
Das Leben in mir und um mich nimmt mich mit.
Mitgefühl bedroht das Selbstgefühl.
Der Anblick des sich bewegenden Zehs nach einer Fuß-Lähmung unterstützt die Bewegung. Man fühlt sich nicht mehr nur von innen, sondern sieht sich auch von außen: Jubilation (Lacan über den Säugling vor dem Spiegel)! Innen und Aussen werden erlebt als zwei
Seiten derselben Sache; ich bin Subjekt und Objekt – größer als gedacht.
Wer keine Freude am eigenen Leben hat, kann sich doch mitfreuen am Leben anderer.
Geduld lebt von gespeicherter Freude als Vorfreude.
Von Natur hält jeder sich für im Grunde gut. „Gegen mich zu sein, ist, zunächst einmal,
schlecht.“ Hat man Schwierigkeiten mit seiner sozialen Umwelt – und gewöhnlich hat man
das – , so ist diese schlecht.
Identifikation mit der Schlechtigkeit der Mitmenschen wäre rational naheliegend – wie
wahrscheinlich ist es schon, dass ich die große Ausnahme bin ?! – , ereignet sich aber sehr
selten. (Die Erzählung von Adams Fall war ein Anleitung dazu.)
Ich bin ein Stück der animalischen Evolution.
Trauer
Dem Trauernden fehlt die richtige Anregung zur Kreativität. Er mag etwas witzig finden;
das ist dann ein Lichtblick, der die Trauer beleuchtet und ihn schnell noch trauriger macht.
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Ihm fehlt die Kraft, kreativ die verbliebene Chancen-Vielfalt zu sehen.
Es fehlt das angemessen tröstend-ermutigende, beruhigend anregende, mütterliche* Entgegenkommen.
* Bessy Smith sang: „Sometimes I feel like a motherless child.“
Trauer ist: Erinnerungen durcharbeiten, um sie weitertragen zu können.
Trauer verarbeitet Erinnerung und modifiziert die beschädigte Symbolik. Ein Schock unterbricht diese Arbeit.
Trauer ist trauernde Liebe.
Erinnerung an verlorenes Liebesglück ist schmerzlich. Der Schmerz verlangt innere Arbeit, und die ist Anfang eines neuen Lebens. Sie kann Liebe freisetzen.
Überwältigung
Umsicht
Jammer
Ich
Schweigen
Weitermachen
Wort
Staunen
Ein Gestorbener wird von vielen, auch vergessen, doch innerlich weitergelebt.
Man muss entweder dumm sein oder verstehen lernen und großherzig werden, um angesichts alles Traurigen nicht deprimiert zu werden.
Man fängt in Gemeinschaft nicht an zu heulen. Heulen ist: sich, aus der strukturierten
Gemeinschaft hinaus, gehen lassen und auf einen Neuanfang warten.
Moral
Als ich jung war, war Dezisionismus modern. Bei Carl Schmitt, beim frühen Heidegger,
bei Bultmann und in der Bekennenden Kirche spielt die existenzielle Entscheidung eine
zentrale Rolle. Vorläufer war der Neupietismus.
Dezisionismus legitimiert Skrupellosigkeit. Dieser Relativismus ist aber überlebt. Er ist unbescheiden, unmenschlich-übermenschlich. Keine unserer Entscheidungen soll unsere Bedenken restlos ausräumen!
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Es gibt so viel ins Leere laufenden guten Willen! Das demoralisiert nicht, aber schwächt.
Niedergang ist, für die Umwelt gewöhnlich eindrucksvoll und lehrreich, in unreifer und in
reifer Menschlichkeit lebbar.
Das Richtige aus falschen, das Falsche aus Richtigen Gründen zu tun.
Dankbarkeit für Entgegenkommen gibt es nicht vor der Trotzphase.
Moral wird eingespielt, wo die Argumente ausgehen.
Gott inspiriert uns zu einem Verständnis der Schöpfung, aus dem heraus sich unser Verhalten selbstverständlich ergibt.
Liebe zu Wirklichem belastet. Es entsteht auch Liebe zur Belastung, die sich zu Masochismus verselbständigen kann.
Ich bin allein, irre herum, suche Beistand und sage wieder einmal gedankenlos: „Ach
Gott! Was ist das alles?“
Adam sollte den Tieren einen Namen geben und so sollten sie heißen (1Mos 2,19). Im Auftrag Gottes repräsentiert Adam Gott; er ist zum Bilde Gottes geschaffen (1Mos 1, 26f.).
Auch ich bin eine Gotteserscheinung.
„Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an“*; aber ich soll aufhören zu jammern**. Ich
kann und soll in der Schicksalsgemeinschaft dieser Welt Trost finden und ein Trost sein.
* GOETHE, Faust I, Kerkerszene.
** Goethe lässt Faust II folgen.
Adam sollte, trotz all seiner Borniertheit, den Dingen in seiner Welt einen Namen geben
(1Mos 2, 19f.). Es folgte (1Mos 11) die Sprachverwirrung (mit dem Erfordernis, offen zu
sein für die Symbolik des anderen); dann das Sprachwunder (Apg. 2): Wo im Geist Gottes
geredet wird, kann man sich verstehen.
Die primitive Frage („Ach Gott, was ist das alles?!“) muss ergänzt werden: „Ach Gott! Was
ist das alles vor Dir für mich?“
Leid mitzuerleben bewirkt Identifikation, erregt Solidarität, Gefühle, Verständnis, Handlungsimpulse. Schadenfreude über Leid ist seltener.
Geben ist kulturell erblich und ansteckend.
Ich will sterben; und ich will leben. – Was nun? Eins nach dem andern!
Hoffnung
Fanatismen haben heute Zugang zu gefährlichsten Waffen. In der Normalität hoffnungslos
Frustrierte suchen im Kampf für ihren Gott groß herauszukommen. Diese Hoffnungslosigkeit ist das Kernproblem – aber sie hat viele Gründe, und man wird ihrer wohl nicht Herr
werden.
Unrealistische Hoffnung kann phylogenetisch nützlich sein; die Überlebenden und Nachkommen können „Entschädigung“ erleben.
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Die imaginierte Ruhe in der Ur-Einheit ist ein mentaler Attraktor, nie realisiert, aber geahnt. Jeder repräsentiert sie in lokalen energetischen Minima, kleinen Zielen, die er in der
Zeit erreichen* und dann mit Genugtuung feiern kann, – eingebettet in größere Verschiebungen seiner Welt, an denen er, ohne Überblick beteiligt ist.
Auf der Reise in den Weltuntergang repräsentiert Solidarität die Ruhe der Ur-Einheit.
Als Hoffnung für die Gesellschaft bleibt: Gemeinsamer Untergang im Modus der Solidarität
– das ist: Einheit, Identität mit Menschen, Tieren, Pflanzen, ja allen Dingen.
* Kunst und Religion können die ewige Seligkeit ahnen lassen.
Die Hoffnung der Jugend ist evolutiv: differenzierend, selektiv, kämpferisch, expansiv;
die Hoffnung des Alters ist involutiv: solidarisch.
Man muss überkommene Erwartungen in realistische eigene Erwartungen verwandeln.
Diese so traurige Welt ist Gottes Welt. Sie ist aber, für uns, noch gewaltiger erfreulich als
sie traurig ist: unscheinbar hier und da verwunderlich überwältigend sichtbare, unergründliche Quelle von Hoffnung!
Die kirchliche Eschatologie redet davon mythologisch, aber man kann es auch im Alltag erleben.
Die älteste Gemeinde sprach von Zeichen und Wundern. Es kann aber auch ein so unscheinbares Zeichen sein, wie, nach synoptischer Überlieferung, Jesus jenen Feigenbaum
(Mk 13, 28f. parr.) sah – und als Quelle der Hoffnung sehen lehrte.
Gegenwart
In dichten Fußgängerverkehr laufen die Leute heute ohne Blickkontakt auf einander zu.
Die Solidargemeinschaft zerbröselt zur Massengesellschaft.
Unsere Lebenswelt und die Gesellschaft zerkrümelt.
Die moderne Entfesselung der Intelligenz führt ins Chaos. Die uralte Angst vor dem Denken (mit dem Lucifer als Gott-sei-bei-uns) war begründet.
Unsere Welt zerbröselt. Es gibt nur noch kurzzeitige Berührungspunkte und Begegnungsräume zwischen den Menschen, keine Berührungsflächen.
Das klassische Gefühl, das Wesentliche zu verstehen, verdampft.
Ich bin süchtig nach der virtuellen Realität des Computers, sowohl mit Telekommunikation (Nachrichten, eMail, Wikipedia) als auch mit der eigenen Produktion. Da ist man ailleurs/„anderswo“, auf Ferien von der bedrängenden Wirklichkeit .
Aber jedermanns Realität wird zunehmend durch Virtualität ersetzt! Die Weltgesellschaft ist
virtuell strukturiert. Die Menschheit ist süchtig, – bezüglich der (immer wilder chaotischen)
Realität: resigniert. Der Fortschrittsglaube schmilzt, diffuse Nostalgie kommt auf.
Die Kreativität der Menschheit wird uns unheimlich. Die Tradition hatte vom „Schöpfer“
und Vollender gesprochen und Gottesfurcht gelehrt.
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Die Zahl der Menschen und der Wissensfetzen überwältigt zunehmend die Fassungskraft
der Individuen. In der arbeitsteiligen Gesellschaft wächst zwangsläufig die Fachidiotie. Die
Globalgesellschaft wird zerbrechlich wie Kristallglas; „die einsame Masse“ (David Riesman) wird sich selbst gefährlich.
Man hat mit dem Selbstverständlichen genug Sorgen und meidet Verunsicherung. Das
aber begünstigt ein soziales Chaos, das dann alle Selbstverständlichkeiten hinweg spült.
Ausblick
Der Weltklimarat warnt vor Not und Gewalt.
Das Gefühl, es gebe zu viele Menschen, ist schon älter als unsere Klimaprobleme und verbreiteter als das Nachdenken und öffentliche Reden darüber.
Wie die Menschen in der Fußgängerzone aus der Wäsche schauen, das passt dazu. Und was
man über die gegenwärtige Sozialkultur in dem Massenland China vernimmt, stimmt dazu.
Hier ist jeder höchstpersönlich betroffen: Bin auch ich einer zu viel? Schon unbeantwortet,
ist diese Frage belastend. Aber sie kollektiv zu verdrängen, wäre besorglich.
Die Baby Blues sind nicht demografisch, sondern durch die Höhe des modernen Anspruchsniveaus begründet, – das nun auch den bislang Unterprivilegierten bedenkenlos zugebilligt
wird.
Die gesteigerte Geschwindigkeit der menschlichen Evolution (im Verbund mit Maschinen,
die der Mensch „bedient“) lässt keine angemessene Zeit, Erfahrungen mit den direkten und
indirekten Auswirkungen der Neuerungen sowie deren Zusammenspiel zu sammeln. Wildes
Chaos ist zu erwarten; aber das Leben ist auf mildes Chaos angewiesen.
Entwicklungsgeschwindigkeit kann durch den Trägheitseffekt überwältigend (und überwältigend teuer) werden.
Die Weltgesellschaft ist chaotisiert, Opfer der partiellen Aufklärungen, einer durch technische Möglichkeiten verführten Wissenschaftlichkeit.
Die klassische Humanität ist ein Auslaufmodell. Die Globalgesellschaft betreibt dehumanisierende Zuchtwahl. Die Konkurrenz macht den Menschen zur Maschine: Sie reduziert
ihn auf akut systembedingt optimierte Funktion, schnelles, zwangsläufig oberflächliches
Reagieren auf immer wieder neuartige Reize.
„Wachstum“, Konsumbelebung und Keep up with the Browns führen in den Abgrund.
Allein mehr kultivierte Arbeitslosigkeit (Muße, mitmenschliches Interesse, Besinnung statt
Betriebsamkeit) läßt auf sustainable development hoffen!
Die alttestamentlichen Zukunftsprognosen widersprechen einander, das Neue Testament
endet mit Himmel und Hölle.
Wir glauben an das früher oder später bevorstehende, definitive Ende der Ökosphäre, wissen aber, dass unsere längerfristigen Ausblicke unsicher sind.
Lichtblick, Grund zur Hoffnung: Die Einsicht in die Schicksalsgemeinschaft und die entsprechende „Tugend“ der Solidarität greifen um sich.
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Die menschliche Kreativität hat Gesellschaft und Umwelt überwältigend unberechenbar
gemacht. Die Technik ist der neue Urwald. Hier sind wir wieder „Jäger und Sammler“. Wir
haben willkürliche Wahl menschlich individueller Beziehungen in einer (eben dadurch ausgedünnten) artifiziellen Umwelt.
Die „Jäger und Sammler“ lebten in festen Gruppen, heute lebt man wieder in einer unberechenbaren Wildnis, aber als loneley crowd (D. RIESMAN) mit kurzlebigen Gruppen und nun
undifferenzierter Mitmenschlichkeit.
Kreativität ist eine unabdingbar jetzt weiter zu erschließende, sustainable Glücksquelle
(nach Götz W. Werner: die Ressource des 21. Jahrhunderts!), welche die herkömmlichen,
ökologisch gefährdeten Glücksquellen entlasten kann.
Nach dem Fortschritt kommt die Sinnkrise, widersprüchliches Nebeneinander. Solidarität
in der Ratlosigkeit wird allmählich entdeckt, wird artikuliert und wird kreativ.
Für das Leben in der neuen Menschenmasse sind wir nicht ausgelegt; wir sind einander zu
viele geworden. Eine neue Kultur (Menschlichkeit, Solidarität) ist gefragt.
Kultur ist wesentlich Selbstbeherrschung – die man sich an überzeugenden Beispielen abgeguckt haben muss und autonom gestaltet. Persönlichkeit (Charakter) ist konkret der Umgang
mit Frustration.
Adrienne Goehler erwartet die erforderliche, neue Kultur von („der Potenzialität von“) Wissenschaft und Kunst, weil diese ursprünglich das Selbstverständlich-Gewordene hoffnungsvoll in Frage stellen – wie Kinder. Aber Kunst und Wissenschaft sind institutionalisiert und
bereits gefährlich kommerzialisiert.
Aus primitivster Solidarität muss, lange Zeit unbemerkt (!) unscheinbare Meditation erwachsen, Demut im Krieg aller gegen alle, suchende Ansätze, unscheinbar neue Symbolik,
die ungeplant im Alltag entsteht.
Jedermann will mitwirken, mitdenken, sich einbringen; und das Medium menschlichen Miteinanderlebens ist Symbolik. Die extrem versachlichte (jetzt durch ihre eigenen Erfolge bedrohte) Zivilisation aber war nicht auf Symbolik, sondern auf Signifikation von Definiertem
aufgebaut.
Wir sind ausgelegt für ein Leben unter mild chaotischem Wechsel der Bedingungen (Sonne, Mond, Niederschläge, Wind, Infektionen, instabile Symbiosen) zwischen Entmutigung
und Übermut mit den Kontaktlauten Jammer und Jauchzen.
In seinem Nahbereich kann der Mensch die Chaotik der Natur mildern. Hat er damit zu großen Erfolg, so schlägt die Chaotik wild zurück.
Geld ist Möglichkeit; wer mehr Geld hat, hat mehr Möglichkeiten. In einem Klima der
Angst vor der Zukunft ist das wichtiger als der Besitz klassisch wichtiger Realien. Diese
Einschätzung aber treibt die Jagd nach dem Geld so inflationär an, dass der Sicherungswert
auch des Geldes schwindet.
Wir sind in einem bedrohlich sich beschleunigenden Fortschritt begriffen. Wir leben unter
einem Hagel von immer schneller unausgereift innovierender Massenproduktion. Der Einzelne ist den Forderungen der kollektiven Entwicklung nicht mehr gewachsen; die Massen
sind resigniert.
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Menschlichkeit überlebt in der Idiosynkratik kleinster Begegnungen.
In kleinen Grüppchen unterwegs auf der Straße, gucken die Einzelnen nicht, worauf sie zu
laufen. Auf dieser Basis kann sich keine neue Lebenskunst sich entwickeln.
Verantwortung, sogar Mitverantwortung ist kaum noch realistisch. Massendemokratie war
wohl schon immer ein hölzerner Eisen.
Die neue Oberschicht sind Computer und Roboter.
Die Generation der heutigen Kinder (vermehrt Einzelkinder von instabileren Elternpaaren,
in der Kindertagesstätte sozialisiert) wird ein anderes Grundmodell von menschlichen Beziehungen ins Leben einbringen. Es werden vielleicht gute, aber instabilere Beziehungen
sein.
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