Thomas Bonhoeffer Korb15 SOLIDARITÄT IN DER RATLOSIGKEIT In diese Richtung weisen m. E. auch sowohl Buddha wie Paulus. Inhalt Struggle for Life....................................................................................................................... 2 Wirklichkeit ............................................................................................................................. 2 Symbolik.................................................................................................................................. 3 Existenzsymbolik ................................................................................................................ 3 Interjektion .......................................................................................................................... 3 Religion ............................................................................................................................... 4 Erkenntnis ................................................................................................................................ 4 Chaos ....................................................................................................................................... 4 Vereinfachung ......................................................................................................................... 5 Schöpfung ................................................................................................................................ 5 Gott .......................................................................................................................................... 6 Gesellschaft ............................................................................................................................. 6 Staat ..................................................................................................................................... 8 Macht ................................................................................................................................... 8 Wirtschaft .......................................................................................................................... 10 Geld ................................................................................................................................... 10 Individuum ............................................................................................................................ 12 Moral ................................................................................................................................. 13 Solidarität .......................................................................................................................... 13 Alter ................................................................................................................................... 14 Trauer ................................................................................................................................ 14 Gegenwart.............................................................................................................................. 15 Ausblick ................................................................................................................................. 17 Struggle for Life Das exponentielle Wachstum auf eine Katastrophe hin ist ein Gesetz des Lebens, – biblisch: der „gefallenen Schöpfung“. Größere Stabilität (die gottgewollte „Schöpfungsordnung“) ist jeweils eine glückliche Ausnahme. Höheres Leben ist neugierig und will nicht sterben. Der Sinn des Lebens ist Verwandlung. Lebewesen verwandeln und werden verwandelt – zu Lebzeiten und postmortalisch. Auferstehung zum Gericht war die befriedigende Modellvorstellung von Verwandlung, die die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft mit nach Hause gebracht hatten. Die Auferstehung des gekreuzigten Jesus als Anfang der allgemeinen Auferstehung (1Kor 15, 35-57) wurde die Modellvorstellung* des christlichen Abendlandes von der Verwandlung, die der Sinn des menschlichen Lebens ist. * Aus der Stimmung dieser archetypischen Vorstellung stammen die neutestamentlichen „Zeichen und Wunder“. Neugier hofft auf lebensfreundliche, belebende Überraschungen. Lebewesen haben Voreinstellungen; Tiere haben affektiv-kognitive Erwartungen; höhere Tiere haben Vorstellungen, sind neugierig, haben Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen und phantasieren voraus. Töten gehört in die strittige Ordnung der mild chaotischen Lebenswelt. Mortificatio war eine Tugend konservativer Kulturen. Sich auf Leben verstehen ist auch: sich aufs Sterben verstehen; und umgekehrt: Sich aufs Sterben verstehen ist: sich aufs Leben verstehen! „Erbsünde“ ist die biblisch verstandene, tragisch-mörderische menschliche (im Grunde: alles evolutionär höheren Lebens) Natur. „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo“* heißt: Lebe aus der Vergebung! * Luther (Brief vom 1. August 1521 von der Wartburg) an den angefochtenen Melanchthon. Recht als Struktur real existierenden Friedens ist auch Strafrecht. Auch in der biblischen Apokalyptik kommt, moralisiert als Strafphantasie, Lust am Leiden zum Ausdruck. Grausamkeit gehört zu den Mechanismen der Evolution des Lebens. Diese Hässlichkeit müssen wir in unser Selbstbild aufnehmen! Nach dem Zweiten Weltkrieg haben besonders die Deutschen sich Kriegslust und dergleichen (was doch im Volkslied Raum hatte) wegzensiert; das Problem war einfach unerträglich. Wirklichkeit „Wirklich“ sind Ereignisse. Alles andere ist hiervon abstrahiert zur Konstruktion von Kontinuitäten. Auch „Wirklichkeit“ ist solch ein Kontinuum. Hier herrschen „Gesetze“, feste Strukturen. Das „Kontinuum“ ist eine angstumwitterte praktische Vereinfachung; eine Menge von Ereignissen, eine „Vorstellung“, die zwischen dem Denken und der Wirklichkeit vermittelt. Alles Wirkliche* hat ein Ende, ist ein Ereignis. * Wirkung = Energie mal Zeit. Wir denken gewöhnlich bei „Wirklichkeit“ hauptsächlich an Masse/Materie; aber Form ist auch Energie. Ereignisse sind Ereignismengen. Die Kategorie des Ereignisses hatte bei Gerhard Ebeling fundamentaltheologische Bedeutung („Sprachereignis“). Hier ist die Zeitlichkeit ist konstitutiv. Offenbarung ereignet sich. Gott ereignet sich. In der alltäglichen Routine soll man dann und wann Abstand nehmen und bemerken: Unsere Objekte stehen in noch ganz anderen Zusammenhängen; sie sind alles Gottesgaben, die uns in einem vielstimmigen Chor die unerschöpfliche Bedeutung der Wirklichkeit artikulieren, die wir so vereinfacht handhaben. Symbolik Die Etymologie von „Rat“ weist bemerkenswert viele Zusammenhänge von Dingen auf, die wir selbstverständlich weit auseinanderhalten. Unsere Phantasie muss da ein Bedeutungszentrum* konzipieren, das ein uns ganz fremd gewordenes Existenzverständnis repräsentiert. *Am nächsten steht diesem wohl unser Wort „Vorsorge“. Und das erinnert allerdings an die zentrale Bedeutung, die in Heideggers Existenzialphilosophie (in Sein und Zeit, 1927) die Sorge hatte. Das Kollektiv wird weitgehend durch dieselbe Symbolik strukturiert wie der Einzelne. Existenzsymbolik Die Einheit im Vielerlei, ein instabiles Gleichgewicht, ist der Sinn des menschlichen Lebens. Begriffe wie Qualität, gut und Wert sind doppeldeutig. Sie scheinen eine Eigenschaft/Beschaffenheit, d.h. eine einstellige Relation, zu bezeichnen. Aber das ist eine subjektive Vereinfachung, die nur für Kommunikation in einem engen Kreis von Selbstverständlichkeiten brauchbar ist. In Wirklichkeit handelt es sich um mehrstellige Relationen. Etwas hat einen bestimmten Wert nur in bestimmten Zusammenhängen! Was die Liturgik als „Sammlung und Sendung“ unterscheidet, ist wie die Aufforderung zum natürlichen Laufen mit zwei Beinen: Gewichtsverlagerungen und Wechsel. Der Mensch erlebt von Schritt zu Schritt leicht veränderte Gesichtskreise. Wir hinterlassen in unseren Mitmenschen Spuren, die uns überleben; wir werden Teile von deren Weltbild. Das Weltbild ist dem Menschen anderseits ein Bild der unergründlichen, ganzen Wahrheit. Wir repräsentieren einander jeder in seiner Weise die ganze Wahrheit. Das ist der tiefste Sinn unseres Lebens. Lieder, Gedichte und religiöse Texte sind von Traumlogik durchzogen. Reime und rhythmische Wiederholungen insinuieren Zusammenhänge. Unser realistisches, bewusstes Denken überlagert unbewusstes, traumlogisches Denken – das sich doch auch bemerkbar macht. Das ist die Menschlichkeit unseres Realismus. Interjektion Interjektionen sind je Existenzsymbole. Auch „Mein Lieber!“ u. Ä. ist Interjektion (Ruf, Ausruf, Anruf, Hilferuf); so auch das „Lieber Gott“ ( = „Lieber Gott, ereigne dich!“). Da kommt nicht Liebe zur Sprache, sondern die erregende Situation ist die Hauptsache; alle Vorstellungen und alles Denken sind sekundär! Tempel, Glockenläuten, Gottesdienst sind soziale Interjektionen. Jeder Ruf (nach wem auch immer) ruft im Grunde Gott: ruft alle zusammen an; er „steht im Raum“. Das Chaos, die Fülle der Ereignisse, ermüdet uns und langweilt endlich. Aber immer wieder spricht doch einzelnes uns belebend an, provoziert und fordert heraus. Ein Ruf ist eine Herausforderung, „heraus“ aus der gesichert betrachtenden Rezeptivität. Ein Ruf ist eine Interjektion. Wirklichkeit ist immer ein happening. Das Weltgeschehen, als Tat Gottes ausgerufen, ist ein Ereignis. Religion Der Sündenbegriff gehört in die Rahmenvorstellung von einer Weltordnung, eine Vorstellung wie sie auch die monotheistischen Religionen haben. Die besonderen Paradoxien des Christentums allerdings machen die Frömmigkeit von dem Glauben an eine Weltordnung unabhängig. Offenbarung, ἀποκάλυψις, ist eine erhellend ergänzende Vereinfachung. Das Evangelium von dem gekreuzigten Jesus stellt unsere ordentlichen Selbstverständlichkeiten in Frage. Es geht um Verwandlung, den Anbruch der neuen Schöpfung inmitten der alten. Erkenntnis Der Glückliche sieht viel vom Leben; aber er übersieht auch Wichtiges. Der Unglückliche sieht weniger, aber versteht manchmal mehr und er kann etwas davon weitergeben – sogar als Projektionsfigur! In manchen Fällen ist eine allgemeine Wahrheit ganz richtig, manchmal deren Gegenteil, und manchmal beides nicht. „Information“ ist ein Element in einer Kommunikationsstruktur, die Systeme akzidentell formt. Wir verstehen bedingt und ungefähr. Das Ungefähr mit seiner vieldimensionalen chaotischen Streubreite bedeutet Unsicherheit unseres Realitätsbezugs. Der Übergang von einem Ereignis zum nächsten ist prekär. Aber Ereignisse sind im Kontinuum der Vernunft stabil ungefähr abbildbar. Denken ist eine Ereignisfolge. Numerische Größenordnungen einer homogenen Menge kann man sich als räumliche Dimensionen vorstellen. Moderne Wissenschaft, jetzt potenziert durch die Informatik, hat die Dimensionszahl für unseren Lebensraum so vervielfacht, dass wir uns fast nur noch künstlich, jeweils partiell, und kaum noch natürlich ganzheitlich orientieren können. Repräsentation ist die einem erkennenden Subjekt zugewandte Seite eines Objekts. Wir verstehen viel, aber alles nur oberflächlich. Wir verstehen uns aufs Leben. Verstehen ist Miterleben-können. Erkenntnistrieb ist natürlich. Das evolutionär höhere, anpassungsfähigere Leben ist durch Neugier ausgezeichnet. Chaos Alles Wirkliche repräsentiert das Chaos, die unüberschaubare Menge der Ereignisse. Das Chaos von Ereignissen ist der Horizont unseres jeweiligen Verstehens, genauer: des Kontinuums, das unser Verstand kühn postuliert. Wir erleben das Weltgeschehen als überraschungsvoll und objektivieren das als chaotisch. Zur Schöpfungsordnung gehören die vorhersehbaren und die unvorhersehbaren kleineren und größeren Systemzusammenbrüche. Wir versuchen, mit Gottes Hilfe der Natur ins Handwerk zu pfuschen und die Chaotik zu mildern. Ich möchte Zukunft gestalten, fühle mich aber auf einer „schwimmenden Insel“* leidlicher Ordnung (mild randomness**) im Chaos-Meer. Das ist heute wohl keine Seltenheit. Doppelbödigkeit des Lebensgefühls sehe ich auch im Gegenwartsverständnis des Paulus: Das Wunder der Gottesherrschaft hat schon angefangen! * Das ist ein subjektives Bild für ein Gefühl, Kindheitserinnerung an das floating island in HUGH LOFTINGs The Voyages of Dr. Dolittle. (Dass objektiv ein Chaos guten Teils aus einer Menge Ordnungen besteht, weiß man nur.) ** Benoît Mandelbrot. Vereinfachung Vom Betrachten und Bedenken (dem „Probehandeln“*) führt Vereinfachung über das Urteilen zum Handeln. * Sigmund Freud. Ewigkeit ist eine vereinfachende Idee. Wirklich sind Epochen – mit unbestimmtem, unscharfem Rand. Praktische Identitäten müssen ähnlich bedingt sein. Ähnlichkeit ermöglicht Vereinfachung, – die unentbehrlich ist für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit*. Multiplikation und Potenzierung und die ganze neuzeitliche Ökonomie setzen verführerische Vereinfachungen voraus, – die sich plötzlich als tückisch erweisen und Chaos stiften. * P. BERGER und TH.LUCKMANN 1967. Je komplizierter die Gesellschaft, desto erfolgreicher die schrecklichen Vereinfacher*. Das Phänomen ist alt; aber es steigert sich natürlich mit der Größe der Gesellschaft – bis hin zur Globalgesellschaft. * Jacob Burckhardts „terribles simplificateurs“ (1889 – Ironie der Geschichte: Geburtsjahr Adolf Hitlers!). Boko Haram bringt das allgemeine Vereinfachungsbedürfnis mit seinem Fluch über die [westlichen] Bücher verheerend vereinfachend auf den Punkt – eine Kulturrevolution! Schöpfung Das Gebets-Du ist ein höchstpersönliches existenzsymbolisches Ereignis und hat, als Ereignis*, immer seine Zeit. Es ist ein persönlich verantwortlicher kreativer Zugang zur Welt. * Die Physik spricht von „Wirkung“. Vor der Schöpfung war die Welt ein Tohuwabohu, zum Heulen. „Ich mach etwas daraus!“, sagt Gott in diese Finsternis; und dann zum Menschen: „Mach mit!“ Echte Kreativität ist selbstverständlich. Die Kreativität des Menschen ist ein entwicklungsgeschichtlich neuer, exponentiell wachsender interspezifischer Selektionsvorteil, der nunmehr die Stabilität des Ökosystems bedroht, das uns trägt. Früher idealisierte man Gott moralisch und stellte diesem Ideal die natura corrupta des Menschen gegenüber. Dieser Idealismus weicht heute einem ratlos bescheidenen Realismus. (Reaktionäre Gewalttätigkeit bäumt sich dagegen auf.) Auch Sterben ist ein Schöpfungsakt. Gott Gottes Namen heilig halten – als einen Ort, der Sammlung begünstigt, wenn wir ratlos sind. Wie ein Vater, führt Gott persönlich uns als Einzelne in die beängstigend reiche, verbindende Wirklichkeit ein. Wir leben mit Daten („Gegebenheiten“). Gott eignet sich dem Menschen zu als Du – ungefähr abbildbar als Geber. Liebe vitalisiert nicht nur als geschlechtliche Zuneigung. Die Liebe hat ein Du, ein temporäres Gottesbild gefunden, ein Geschöpf, das den Schöpfer repräsentiert. Man geht am Bettler vorbei. Aber durch ihn sagt, bedeutet uns Gott etwas. Man muss zugeben: Auch er kann auf seine Berufung zum Zeugen Gottes stolz sein. Den im Gekreuzigten verkörperten Gott zu repräsentieren, Glied am Leibe Christi zu sein: das ist, wes sich Paulus rühmt. Der Gottesname ist der Nullpunkt der Sprache*. Er benennt unser angeborenes, unter Reifizierungen (Mutter usw.) vergessenes, archaisches „Du“. Der beredten Weltlichkeit plötzlich überdrüssig, spürt der einzelne das Bedürfnis, seine Sprache zu justieren – an ihrem Nullpunkt. * Ich schrieb vor einem halben Jahrhundert in der RGG (Art. Sprache, IV): „Das Wort Gott ist das bloße Wort schlechthin, das reine Glaubenswort.“ „Es ist gefährlich. Aber wenn unbedingt du willst, tu es – in Gottes Namen!“ Was heißt das? „Gott“ ist „der Schöpfer“, unser archaisches, angeborenes Du, an das uns zu erinnern und das anzurufen wir uns scheuen; so riskieren wir lieber, in der dritten Person* davon zu reden. Die Schöpfung, das sogenannte Weltgeschehen, ist ein Zusammenspiel unserer eigenen Kreativität und unserer Umwelt. * Von dem creator aller Kreativität. Die grammatische zweite und dritte Person hat mit der ontogenetischen Dyade und Triangulation zu tun. Weil es uns bei „Gott“ nicht so sehr ums Vor und Über der Welt wie ums aktuelle Weltgeschehen geht, werden wir mit der Gottesfrage nie fertig. Die Überlieferung des Gottesnamens ist ein Steckschuss. Gesellschaft Man weiß es, wir sind etwa sieben Milliarden Menschen. Man erlebt das, bei einer Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln mit Umsteigen durch unbekannte Stadtviertel, stichprobenweise. Man mag sich mit all diesen verschiedenen Leuten identifizieren; „Wir“ sind unheimlich viele! Aber das Wir wird momentweise übermächtig – eine Masse, in der ich mutterseelenallein allein bin. Um die griechische Identität ist es, historisch bedingt, schlecht bestellt. Die inneren Kämpfe der klassischen Zeit und die lange Sequenz von Fremdherrschaften haben den Volkscharakter geprägt, sind aber aus dem Bewusstsein ziemlich verdrängt. Die Oberschicht ist asozial; das Volk ist resigniert. Kirche, Militär und Politik bieten den Griechen realitätsfremde, paranoide Identitäten. Leben, auch das menschliche – soziale und individuelle – Leben, ist spannungsvoll und begrenzt stabil. Der Mensch ändert die Lebenswelt, auf die wir uns verstehen, jetzt so schnell, dass wir immer häufiger mit unseren Begriffen von gestern das Heute missverstehen und besten Willens Unglück anrichten. Unsere Lebenswelt ist ein Verbundsystem. Jeder ist, mit Eigendynamik, ein Element in mehreren Subsystemen, die je auch ihre Eigendynamik haben und einander ändern. Der „Fortschritt“ ist mit viel Leid und Unrecht bezahlt. Man ist gewohnt, Schuldige zu suchen. Aber „schuld“ sind weniger Gruppen oder Einzelne als die Dynamik der Systeme. Konstruktiv und destruktiv, geht die Schöpfung weiter! Kritisch konstruktives, selbständiges Denken vereinzelt. Aber die Gesellschaft braucht es gegen die gemeingefährliche Vermassung. Die elektronische Kommunikation, von der wir nun abhängen, chaotisiert die Machtverhältnisse. Wenn der Sozialdarwinismus (der Darwins survival oft the fittest von den Spezies auf die menschlichen Individuen übertragen hat) nicht ergänzt wird durch einen Ideendarwinismus, wie ihn Richard Dawkins konzipiert hat, führt er zu dummer Brutalität. Die Dynamik der Meme ist allerdings wohl noch komplizierter als die infrahumane Biologie! Der Mensch ist ein Verbundsystem. Je mächtiger einer schon ist, desto mehr kann er, solange er nicht als bedrohlich empfunden wird, weiteren Beistand erwarten. Es fällt auf, dass in Europa den Mittelmeerländern die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer fällt. Es sind heute Ferien-Länder für die tüchtigen Nordländer. (Für Arbeit ist gemäßigtes Klima am günstigsten!) Die alten mediterranen Hochkulturen hatten eine ausbeuterische Arbeitsteilung zwischen Sklaven und einer imperialistischen Oberschicht, die Kampfspiele liebte und in den Pausen (σχολη) Diskussionen, umsichtige Überlegung und Besinnung übte (schola/Schule). (Das Interesse ihrer Söhne an den diskussionsfreudig gesellschaftskritischen „Weisheitsfreunden“ allerdings sah die Oberschicht oft nicht gern. Die aktuelle griechische Wirtschaftskrise verunsichert die Märkte weltweit. Wo aber Misstrauen herrscht, bricht die Gesellschaft zusammen; Weltbürgerkrieg schafft Wirtschaftsflüchtlingsmassen. Führertypen erwecken hier und da hoffnungsvoll handlungsrelevanten Aberglauben – mit Menschenopfern. Unsere Schwarmintelligenz schreibt die Geschichte. Im heutigen hochkomplexen Machtgeflecht ist es kaum noch zu verantworten, Verantwortung zuzuschreiben. Kooperation ist ein kompliziertes, spannungsvolles Verhältnis. Die Partner müssen sich, einer in den andern, einfühlen, einer mit dem andern, im Bösen wie im Guten, ein Stück weit sich identifizieren können. Jedes Wachstum verändert in seinem Kontext Proportionen und gefährdet dadurch dessen Stabilität – ohne böse Absicht doch Folgen, die böse machen. Auch die intraspezifische Aggression (Konkurrenz) wächst, im Rahmen der jeweils beschränkten Ressourcen, exponentiell. Wirtschaft und Politik müssen kooperieren; aber die Kooperation ist labil. Sowohl Fusionen wie Konkurrenz führen immer wieder zu gesellschaftlichen Zusammenbrüchen. Staat Modern friedliche Staaten liegen mit einander im Steuerkrieg. Demokratische Entscheidungen sind sinnvoll, wo das Wählervolk kompetent urteilen kann. In der hyperkomplexen modernen Globalgesellschaft aber sind alle überfordert, Demokraten, Bürokraten und Autokraten. Schnelle Autokraten-Entscheidungen sind oft kurzfristig zweckdienlicher; aber – heute mehr denn je – können auch wohlerwogene Entscheidungen ihren Zweck verfehlen. Konsensual legitimierte Gewaltordnung ermöglicht lebensfreundliche Milderung des sozialen Chaos. Die Griechen sind kein Staatsvolk. Allenthalben scheitern Staaten; auch Griechenland ist ein failing state. Maßgebend für Privatisierung von Staatseigentum müssen die öffentlichen Aufgaben sein, denen es zu dienen hat! Der griechische „Treuhandfonds“ ist ein schlechter europäischer Kompromiss, eine borniert kapitalistische* Naivität, ein totgeborenes Kind, das sich im Sand verläuft! Er ist innenpolitisch nicht durchsetzbar und wird das Chaos vergrößern. * Grexit, Hans-Werner Sinns und Schäubles (erster, abgelehnter) Lösungsvorschlag, hingegen war kultiviert! Demokratie ist eine alte athenische Idee, – ein Ideal, das die Menschen überfordert. Heute herrscht resignierte Apolitie*. Das entscheidende Problem Griechenlands heute ist nicht die Verschuldung, sondern die politische Resignation, die das Land in seiner Geschichte gelernt hat. * Dieser Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, hat sich aber nicht durchgesetzt. Es wird auf Ludwig Börne verwiesen. Der Staat muss sich das Wohlwollen des Geldadels verdienen. Die ungenügende Besteuerung der Reichen ist das wirksamste Mittel gegen Steuerflucht. Für den sozialen Frieden braucht der Staat eine tragfähige Symbolik. Sie entsteht im Sprachgeschehen des Alltags, wird ausgearbeitet im öffentlichen Diskurs und juristisch verbindlich in den „Parlamenten“ – wo man eben prinzipiell mit einander „redet“ (statt sich zu prügeln). „Kriegskunst“ (Hans Delbrück) ist Aggressionskultur. Intraspezifische Aggression ist durch Kultur inhibiert. Aggression ist triebhaft auf Lustgewinn aus. Auch das muss solidarisch in Kultur eingebunden sein. Macht Je dominanter in der Gesellschaft das sich bereichernde Finanzsystem wird, desto größer die Frustration der Benachteiligten des intransparent herrschenden Ausbeutungssystems und die Neigung zu Kriminalität. Die menschliche Gewaltbereitschaft organisiert sich, je nach Kultur, nicht nur staatlich, sondern auch kriminell. Koch Industries sind eine wirtschaftliche, finanzielle und also staatlich garantierte Macht, die durch Bestechung die Macht des Staates delegitimiert und das Gemeinwohl unterminiert. Ein politisches Problem! Das Geld ist ein soziales Subsystem: die zentrale Macht der Globalgesellschaft. Die vereinfachende Rationalität des Geldes steigert die Konsensfähigkeit und tendiert dazu, Demokratie auszuhebeln. Politische Macht ist wesentlich personbezogen, wirtschaftliche Macht ist wesentlich anonym. Beide haben einen breiten, übel beleumdeten Rand; „Politik ist ein schmutziges Geschäft“ – und die Wirtschaft steht nicht besser da. In der Intransparenz der heutigen großen Entscheidungsprozesse muss „Geschäft“ allzu oft ein „Erlisten, Erraffen“ sein (wie schon SCHILLER in der Glocke als allgemeine Wahrheit formulierte). Ungleichverteilung von Vermögen wächst. Akkumuliert aber, verliert das Vermögen von seinem Gebrauchswert. Aber es hält die Politik (organisierte Gewalt) mit der Drohung schneller Gewalt (organisierter Kriminalität) an der kurzen Leine. Je größer die Gesellschaft, desto stärkere Ungleichverteilung der Macht ist stabil. Fremdherrschaft macht aus Schichtung Spaltung, also Schwächung der Solidarität, die die Machtverhältnisse sozialverträglich, stabil statt starr, gestalten muss. Kultur Die oft beklagte Geschichtsvergessenheit ist die Kehrseite des überwältigenden Innovationsreichtums unserer Zivilisation. Man soll zukunftsorientiert aus der Geschichte lernen; aber unsere Intelligenz ist beschränkt. Mit seinen Vorauswahlen erspart Google dem im Internet Suchenden das Gefühl der Verlorenheit in der Masse und verschafft ihm den angenehmen Eindruck, mit seinen Interessen in repräsentativer Gesellschaft zu sein. Die dem Geld wesentliche Austauschbarkeit stößt auf das Unverhandelbare, bei dem die Identität des einzelnen Menschen auf dem Spiel steht. Die These, jeder Mensch sein bestechlich, es komme nur auf die Summe an, ist, in dieser Eindimensionalität, sicher falsch. Mehrdimensional ist die soziale Operationalisierung der Identität zunächst allerdings Verhandlungssache. Menschliche Identität ist entwicklungsfähig, aber nicht beliebig; sie kann beschädigt werden. Das muss die Kultur verhüten. Jede Kultur vereinfacht; und jeder Kultur hat eine barbarische Rückseite (wo die revolutionären Barbareien ihren Ursprung haben). Gesellschaft ist Kooperation. Wirtschaft ist geregelte Kooperation. Recht ist Koordination. Recht gehört zur Kultur einer Gesellschaft; die Kultur ist die Struktur einer Gesellschaft. Aus dem Tausch entwickelte sich die Marktwirtschaft. Der Markt entwickelte Geld, ein Tauschmittel, die maximal konvertible Form von Vermögen (d. h. Macht). Die Machtstruktur ist Teil der Kultur. Der Staat ist Teil der Machtstruktur und hat das Gewaltmonopol. Unsere Intelligenz ist beschränkt. Deshalb hat jede Gesellschaft eine konstitutive Ideologie nötig – mit deren Hoffart*. Der Mensch lebt, mit brüchiger Selbstverständlichkeit, symbolisch orientiert, in mehreren Welten, die nur widersprüchlich zusammenpassen. Man fühlt sich nicht ganz sicher in der herrschenden Ideologie mit ihrem „Gesetz“ (Luther präzisierte: Usus politicus/civilis legis**). Diese Einsicht meiden wir; sie demütigt unsere natürliche Hoffart und chaotisiert den Ernst des Lebens. ISIS-Kämpfer leben (hoffärtig) als Teufel, die die Hoffart der Gesellschaft bestrafen. * Klassisch werden superbia und (von Luther) securitas nur individuell thematisiert. Das Problem betrifft aber auch soziale Einheiten, mit denen die Individuen irgendwie identifiziert sind. ** Unterschieden vom usus theologicus, der Gottesfurcht. Dass die international so mächtigen Saudis heute ihre politischen Entscheidungen von der Angst vor den Djihadisten bestimmen lassen, zeigt die Macht des globalisierten Hasses, den die Überforderung durch die globalisierte, hyperkomplexe Zivilisation hervorgebracht hat. Am Hof des Herrscher herrschte „Höflichkeit“ – eine bei zu vielen Bezugspersonen notwendige Oberflächlichkeit. Wirtschaft Der Markt ist gesättigt – nicht die Gesellschaft! Den Hungrigen fehlt das Geld für den Marktzugang. Die berühmte „unsichtbare Hand“ bei ADAM SMITH* ist der Marktmechanismus, kraft dessen der Egoismus der Produzenten unbeabsichtigt dem Gemeinwohl dient. In diesem einfachsten Marktmodell sind Verkäufer und Käufer als Einzelkämpfer vorausgesetzt. J. K. Galbraith wies drauf hin, dass die invisible hand praktisch durch das shakehands der Unternehmer ersetzt ist. Kleine Gruppen (Unternehmer) können effizienter kooperieren als große (Kundschaft). Die Folge heißt in der Fachsprache „Marktversagen“. Der Staat repräsentiert (mildernd) die Chaotik die Gesellschaft. Aber er soll, kraft seines Gewaltmonopols, für einen – gewiss spannungsvollen, unbefriedigenden, doch allseits zumutbaren – Frieden sorgen. * Eine beiläufige Metapher in: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, Book IV, Ch. II (Of Restraints upon the Importation from Foreign Countries of such Goods as can be Produced at Home), IV. 2. 9. Das weltweite Problem der (durch die Industrie entstandenen) Arbeitslosigkeit für Minderqualifizierte verlangt höchstqualifizierte Arbeitsvermittlung! Spezialisierte Gelegenheitsarbeiter sind gesucht. Für zielgenaue Vermittlung sind die Möglichkeiten der Informationstechnologie unverzichtbar. Auftraggeber und Auftragnehmer haben in der Massengesellschaft, mit unbekannten einzelnen als Partnern, Sicherheitsprobleme; diese sollten aber mit öffentlicher Hilfe lösbar sein. Der Steuerausfall durch Schwarzarbeit kommt in vielen Fällen wahrscheinlich den Staat nicht so teuer wie eine entsprechende Sozialhilfe. Wirtschaft ist ein instabiles, nur teilweise verstandenes Aggregat von stabileren und einfacheren Subsystemen. Im allgemeinen exponentiellen Wachstum wachsen die Kleinsten am schwächsten und fallen immer tiefer zurück aufs soziale Existenzminimum. Individualisiertere (also teurere) Fortbildung und Arbeitsvermittlung könnte sich für alle Seiten lohnen! Nicht nur feste Stellen für Fachkräfte sind unbesetzt; auch spezialisierte Gelegenheitsarbeiter sind gesucht! Aber Arbeitsnehmer und Arbeitgeber brauchen da Sicherheit. Geld Der Finanzsektor ist heute der lohnendste Markt für Geldanlagen. Das kann nicht lange gutgehen. Das Finanzsystem ist ein gesellschaftlich zentrales Subsystem. Aber es ist ein Chaos von Ordnungen. Wissenschaftlich kann man Epochen betrachten und Epochentypen, die durch Übergangsphasen getrennt sind; diese Phasen aber sind nicht nomothetisch, sondern nur ideographisch zu verstehen. Die Kraft der wirtschaftlichen Imperative beruht auf den hier koordinierten Wünschen und Befürchtungen der Menschen. Sie sind koordiniert im Finanzsystem, der zentralen Weltmacht, die niemand beherrscht. Leben ist Verwandlung. Geld ist ein emergentes Phänomen menschlichen Lebens, – ein konvertibler, sozial definierter „Wert“, chaotischer als das Leben! Geld ist Macht. Macht ist zunächst selbstverstärkend. Als Übermacht wird sie für das Gesamtsystem destabilisierend und endlich brüchig. Die Austauschbarkeit verliert, die Konkretheit des organisch „zusammengewachsenen“ gewinnt an Wert. Geld ist von staatlicher Gewalt verbürgte Macht. Unter der Last solcher Bürgschaft können Staaten zusammenbrechen. Kriminalität ersetzt dann die staatliche Gewalt. Geld ist ein immer wieder überraschendes, emergentes Phänomen. Geld ist Sicherheit durch Konvertibilität von Lebenswerten, begrenzt durch Kultur als Teil der menschlichen Natur. „Geld regiert die Welt,“ ist ein altes deutsches Sprichwort. Die Optimisten des Kapitalismus Ayn Rand, Alan Greenspan und Sarah Palin mit der Tea Party sind vorbei, aber Larry Page macht in ihrem Sinne weiter Google. In der Tat gibt es bis heute keine überzeugende ordnungspolitische Alternative zu dieser, immer wilder katastrophenträchtigen Ausrichtung. Im wohlhabenden Milieu versteht man Steuern gern als Raub. Man bevorzugt private Wohltätigkeit nach eigenem Gutdünken und lässt – mit Hinweis auf (unleugbare) staatliche Misswirtschaft* – dem Fiskus, der doch den Frieden im Lande finanzieren muss, lieber weniger. Auch die Reichen profitieren vom sozialen Frieden, aber sie sind darauf nicht so angewiesen wie die Armen; sie können ausweichen (und sogar von Krieg profitieren)! * Intransparenz herrscht beim staatlichen wie beim privaten Großkapital. Geldwert ist ein praktischer Durchschnittswert. „Der Markt“ ist eine vereinfachende Selbstabbildung der jeweiligen gesellschaftlichen Interessenlage. Geld, der abstrakte, eindimensionale Wert, setzt sich in der Globalgesellschaft durch als zentrale Weltmacht – gegen die traditionellen Werte. Seine oberflächliche Rationalität ist bestechend, sie ist seine Macht. Mit dem Zusammenbruch des globalen Finanzsystems droht der Gesellschaft das Chaos. Macht kann Macht abgeben; Gewalt kann in gewissem Umfang Macht zuteilen. Geld, der abstrakteste, konvertibelste Wert, ist ein Machtversprechen einer monopolisierten Gewalt. Statt sanktionierter verlässlicher Regeln herrscht über das Geld der Zufall des Zusammenspiels der Willkür der politischen Gewalten. Die Erdöl-Geld-Menge sprengt die überlieferten kulturellen Hemmungen. Die neue Kultur der Ausbeutung der Bodenschätze ist Kapitalismus; Ausbeutung ist eine borniert subsystemare Perfektionierung. Geld ist wirtschaftswissenschaftlich negativ definiert als „ungebundene Mittel“. Dem Staat ist in der Finanzmacht eine ernsthafte Konkurrenz als Ordnungsmacht erwachsen (aktuelles Beispiel: Griechenland.) Sie setzt sich durch vermittels modernster Technik. Gleichmacherei und Kalkül stellen, an Stelle der verschiedenen herkömmlichen Sozialordnungsmodelle, genaue, menschlich nur allzu partiell nachvollziehbare, „intransparente“ (aber leicht berechenbare) Muster zur Verfügung. Und in dieser Konkurrenz entarten die Staatsformen. In einer lebendigen Wirtschaft wachsen Schulden, wie die Vermögen, exponentiell. Die Profite aus dem Highspeed-Finanzmarkt laufen mit Hochgeschwindigkeit einer konsensfähigen Gesetzgebung davon. Information kann man kopieren; Geld kann man drucken. Beides hat realen Wert nur in sehr bestimmten Zusammenhängen. Es gibt aber, den menschlichen Bedürfnissen entsprechend, typische Zusammenhänge; und so kann sich, je für typische Situationen, ein Marktpreis normalverteilt einpendeln. Dysfunktionale Verteilung des Geldes führt zu allgemeiner Entwertung dieses Tauschmittels. Der Schaden trifft die Armen am ärgsten. Geld ist der beweglichste Teil des Vermögens; wegen seiner Abstraktheit kann man damit regelrecht genau rechnen. Das weitere Vermögen wird als Marktwert (unsicher) geschätzt und in Geld beziffert. Die Globalgesellschaft in ihrer Vielfalt lebt so sehr vom wirtschaftlichen Austausch, dass ein sehr bewegliches Tauschmittel wie Geld einem vitalen allgemeinen Erfordernis entspricht – trotz der Verwüstungen, die es mit seiner Gleichgültigkeit anrichtet. Individuum Ind: Man möchte sein Potenzial realisieren. Das ist das Ideal. Und da gibt es gesellschaftliche Standardformen. Aber das eigentlich menschliche Potenzial realisiert paradigmatisch der Krüppel in seinem eigensten schöpferischen Realismus seiner Nicht-Realisierung – wie Gott vor der Schöpfung. Ind: Menschliches Leben ist Mitleben – zuerst egozentrisch, dann soziozentrisch und endlich dezentriert. Ind: Der Einzelne ist Teil mehrerer Systeme (sozusagen eine Überschneidungsmenge). Wenn es viele Systeme sind, braucht er für seine persönliche Kohärenz identifikatorische Unterstützung durch eine Gruppe von Individuen mit ähnlicher Konfiguration von Zugehörigkeiten. Je größer die Gesellschaft, desto größer wird die Vielfalt und desto rarer und schwächer wird diese Stärkung. Der Einzelne reagiert, das Individuum, die Persönlichkeit, entsteht und vergeht, in seiner Selbstwahrnehmung, mit großer Selbstverständlichkeit. Die Außenwahrnehmung und der sich weitende Blick aufs Ganze erlebt Wunder. Das Leben des Einzelnen ist größtenteils Untergehen im Mitleben. Alter ist Zerfall, Auflösung von Continua. Ich war und bin ein Ereignis mit Resonanzen – auf dem Weg in die Müllgrube. Egoismus neigt eher zu Angst, Solidarität zu Trauer. Ein Ja zum Leben ist auch ein Ja zum Sterben. Mit dem Alter wird man für beides zu schwach. „Es lebt mich“ und „es stirbt mich“; das Ich schwächelt. Da muss ein alter Mensch nach Gottes Willen bisweilen allein durch – wie der Psalmist (22, 1) und das Gotteskind, der jung sterbende Jesus (aber das war ja noch nicht das letzte Wort). Moral Man soll den alltäglichen Kleinkrieg nicht letztlich ernstnehmen; nur so ernst wie das eigene Leben – ein Einzelereignis, das uns das Chaos repräsentiert, das uns Gott repräsentiert (den uns anfangs die Eltern repräsentierten). Das ist der existenzsymbolische Ernst. Es gibt eine Belastungsgrenze der Normalität. Da kann man nur dreinschlagen oder verzweifeln. Normalerweise fühlt man sich gut, wenn man Gutes tut. „Menschlichkeit“ im prägnanten Sinn ist: Solidarität in der Ratlosigkeit. Hemmungen sind lebenswichtig: Das Zentralnervensystem inhibiert; wenn die zentrale Steuerung gestört* ist, kommt es in der Peripherie zu ungehemmten Muskelaktivitäten, schmerzhaften Krämpfen. In der Gesellschaft hemmen Kultur und Erziehung Impulse des Einzelnen. Staaten inhibieren durch Gewaltdrohung (Polizei) die egozentrischen Impulse der Bürger. Einander inhibieren die Staaten durch Abschreckung (Militär). Könige hatten Ratsherren, die anstehende Entscheidungen mit ihnen durchdenken, Alternativen durchspielen und durchsprechen und die königlichen Entscheide mittragen. Die Beratungen mögen aufregend sein, aber im Wesentlichen geht es bei Hof um so große Entscheidungen, dass man, um der erforderlichen Sachlichkeit willen, „höflich“ (also: gehemmt) sein muss. * Zum Beispiel durch Druck auf die Spinalnerven bei Verengung von Zwischenwirbellöchern im Rückgrat. Geben und Nehmen sind zunächst subjektiv situationsbedingte Selbstverständlichkeiten, die nichts mit einander zu tun haben, und führen deshalb immer wieder zu Konflikten. Gerechtigkeit und Tausch sind Vereinfachungen. Sie setzen Vergleichbarkeit und Gleichgewicht, also – nicht theoretische, aber praktisch (auch emotional) belastbare Begrifflichkeit voraus. Opfer setzen so etwas wie Idealismus, also tragfähige Ideen voraus. Mit Gottes Hilfe nach Gottes Rat kreativ weitermachen! Idealismus schätzt Selbstbeherrschung und ist überhaupt herrschsüchtig. Brutalität wird gelebt in tierischem Vertrauen in die Regenerationskraft der Natur. Unser ganzes banales Leben ist eine Sendung, Mission, Beruf, κλῆσις (1Kor 7, 20)! Ein solidarisches Ja zum Leben gibt es, unabhängig von all unsern Gottesvorstellungen, nur mit Gottes Hilfe, sola gratia. Solidarität Der Grundsatz Solidarität ist jedem Menschen angeboren. Das führt zur Bildung von Solidargemeinschaften – und zu Konflikten in der Begegnung von verschiedenen Solidargemeinschaften. Die aktuelle Tragödie der griechischen Wirtschaft ist Ergebnis einer langen Reihe von historischen Zufällen, deren Auswirkungen einander unglücklich verstärkt haben. Auch hier lautet das erste Gebot: Solidarität in der Ratlosigkeit! Der Steuer-Vermeider profitiert doch selbstverständlich von den öffentlichen Diensten (die Geld kosten). Nach christlichem Verständnis ist Solidarität die Wirklichkeit Gottes. Kollektive Solidarität, opferbereite Menschenfreundlichkeit (Philanthropie) braucht einen wahnhaften Kern (Ideologie, Religion, Nationalismus), eine Symbolik: „Wir sind gut! Wir warten, pflegen, bewähren uns in unserer Umwelt, korrigieren einander, bilden eine stabile Einheit und laden zu Kooperation ein.“ Das ist Schwarmintelligenz mit einem Kern. Liebe ist eine Mischung aus ἔρως (libido/Anziehung) und ἀγάπη (Solidarität/Identifikation/Narzissmus). Über den alten juristischen und den neuzeitlich-christlichen Begriff hinaus (bei Pierre-Henri Leroux als Ersatz für charité), schließt „Solidarität“ die Destrudo* nicht aus, sondern ein**! * Analog zu Libido, 1935 von dem italienischen Psychoanalytiker Edoardo Weiss vorgeschlagene Bezeichnung für den von S. Freud konzipierten Todestrieb. ** In diesem Sinne hat mich das altdeutsche Hildebrands-Lied schon immer beeindruckt. Alter Die Bedeutung der vielfach vertrauten Außenwelt, als Stütze der eigenen Identität in der Zeit, nimmt mit dem Alter ab. Die Welt wird befremdlich, die eigene Existenz haltlos. Die Vergangenheit verliert von ihrer Bedeutung, die Gegenwart ihren selbstverständlichen Sinn von „Weiter so!“, die Zukunft wird bedrohlich dunkel. Das Reale ist nicht verlässlich. Greifbaren Halt hat man am ehesten in der Symbolik der überlieferten, und uns zugeeigneten Sprache. Sie solidarisiert; die verdinglichte Einsamkeit wird suspendiert. In der (mit dem Alter zunehmenden) Vereinsamung, überkommt den Menschen die Trauer – ein Heimweh nach dem schöpferischen Ursprung des zeitlichen Daseins. Trauer Trauer ist Liebesbedürftigkeit. Das Weltgeschehen macht traurig. Aber man nehme auch die (meist unscheinbar allenthalben gelebte, immer wieder beschämend überraschende) vielfältig kreative Solidarität wahr! Das Traurige bleibt traurig; aber die lebendige Solidarität tröstet, ermutigt und stärkt. Man muss sich allenthalben verabschieden. Über einen Verlust tröstet einer den andern; und man muss, soll und darf und kann sich – in guten Treuen! – trösten mit etwas anderem. Lebenslang lebt man, mit vernünftig beschränkter Solidarität, an der Not anderer vorbei. Wenn man selbst sich verlassen vorkommt aber, kann eine unerwartete Erinnerung daran einen in das hilflos heulende Elend stürzen, dem man ausgewichen war. Aber Solidarität ist und bleibt schöpferisch. Nicht nur Aktivität, sondern selbst Gott zu sein, befiehlt dem Trauernden der dreieinige Gott. Leid endet. Trauer verwandelt es in Ernst. Das Leben ist gefährlich. Dem entspricht man entweder mit Angst und Flucht oder mit Hass und Kampfbereitschaft. Hass ist gemeinhin verboten. Das Verbot hasst den verbotenen Wunsch und macht resigniert und traurig. Nicht nur Menschen, sondern auch Schimpansen, Paviane, Elefanten, Raben, Mäuse und Ratten trauern, allein und zusammen deprimiert. Hunde nehmen Teil an der Trauer von Menschen. Solidarität ist ein soziales Befinden des Einzelnen. Liebe ist aktive Solidarität. Sie führt schöpferisch aus der Trauer hinaus. Gegen Trauer und Angst: Kreativität, mit Gottes – unerbetener und erbetener – Hilfe! Wenn kleiner Kinder fragen, wo der kürzlich verstorbene, geliebte Großvater sei, antwortet man, er sei „im Himmel“, „beim lieben Gott“. Eine Notlüge. Der Erwachsene will das Kind nicht überlasten mit dem, was ihn selbst immer wieder überwältigt und aus der Fassung bringt. Aber sollte man nicht vielleicht besser mit dem Kind zusammen zu trauern wagen? Wir erinnern uns an die Fliege, die wir im vorigen Sommer totgeschlagen haben. Wo ist sie? Man hat sie aufgefegt und in den Müll getan. Den Müll hat man irgendwohin weggeschafft, und dort wird sie allmählich zu Erde; die Erde, aus der alles wächst, besteht zum großen Teil aus Gestorbenem und Verwestem. Nicht nur Fliegen, sondern auch Pflanzen und Tiere und alle Menschen leben und sterben. Jeden Abend knipsen wir das Licht aus und schlafen ein. Wenn wir träumen, wacht unser Ich in unserer Phantasiewelt wieder ein Bisschen auf. Eines Tages verlöscht es – wie beim Einschlafen, aber für immer. Davor haben wir Angst; und es ist traurig. Großpapas Ich ist verloschen. Alle Körper werden Erde; aber an viele erinnern wir uns. Wo sind sie? Sie sind in unserer Erinnerung; und in unserer Phantasie sind sie lebendig! (Wir können uns vorstellen, dass sie vom Himmel auf uns herunter gucken.) Wir können sogar mit ihnen reden! Wenn wir etwas tun wollen, können wir sie fragen, was sie freuen würde und was sie nicht mögen. So leben sie mit uns und wir mit ihnen weiter. Gegenwart Man lebt immer mehr neben einander her. Der Mitmensch spielt eine Rolle repräsentiert durch Repräsentanzen, die repräsentiert werden durch Repräsentanzen, die repräsentiert werden, – und ungezählte Male so weiter. Schließlich darf der Computer „Ich“ sagen! Das verbreitete frustrierende Grundgefühl widernatürlicher Distanz scheint die Menschen wieder zu bewussteren Mitmenschen zu machen. Freundlichkeit wird wieder geschätzt – aber das macht sie auch noch nützlicher für Betrug! Weltweit hat die Überzahl immer weniger Anteil an der „Überflussgesellschaft“. Man hat heute als Erdenbürger mit einer Überfülle von winzigen Subsystemen zu tun, die mit einander nichts zu tun haben. Das ändert die Persönlichkeitsstruktur. Zugleich: „Das Weltende ist schon angebrochen!“ und: „Das Reich Gottes ist schon angebrochen!“ Das war das chaotische Welt-Erleben der ersten christlichen Gemeinden. Die Neuzeit erlebte Wissenschaft, Technik und Fortschritt hoch ambivalent. Heute gibt es wieder kleine, zu Herzen gehende Gemeinschaften eines gelebten Glaubens von Einzelnen in „den letzten Tagen der Menschheit“*. * KARL KRAUS, 1915 – 1922! Das Gefühl, in die richtige Richtung zu gehen, kollektiv und individuell, ist rar geworden. Der moderne Mensch wird immer intelligenter. Er ist Städter, einer in einer anonymen Menschenmenge, mit der man sich nicht identifiziert; und er erlebt deshalb weniger Leben und Sterben. Lebenserfahrung aber ist die Basis der Weisheit. Das Internet, eine neu entdeckte Dimension (ein Geschenk wie in SCHILLERs Teilung der Erde), wird von Reklame beherrscht, eine Welt der Wegelagerer – zum Auswandern*! * „Was tun, spricht Zeus, die Welt ist weggegeben. Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein. Willst du in meinem Himmel mit mir leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein!“ Jeder möchte sich einbringen in die Ausrichtung der großen (heute globalen) Schicksalsgemeinschaft. Aber je größer die Gesellschaft, desto kleiner ist der Einfluss des Einzelnen. Unterdrückte haben natürlich starke, besonders primitive apokalyptische Bedürfnisse; aber das chaotisierende Potenzial steigt auch in der Mitte der Gesellschaft. Der moderne Mensch wird immer intelligenter. Er ist Städter und erlebt deshalb weniger Leben und Sterben. Lebenserfahrung aber ist die Basis der Weisheit. Vermassung ist gemeingefährliche fundamentale Verdummung. Die neutestamentliche Naherwartung war handlungsrelevant. Sie führte zu opferbereiter Solidarität. Unsere heutige Naherwartung des Endes ist ratlos. The Limits to growth, die Publikation des Club of Rome, machte 1972 Furore; heute herrscht Resignation. Es gibt allerdings, inmitten unserer ratlosen Weltgesellschaft, kleine idealistische* Symbolgemeinschaften, ähnlich den ersten christlichen Gemeinden (die sich, mit Hoffnung wider alle Hoffnung** in der allgemeinen Verdammnis, verstanden als den heiligen Rest von Gottes auserwähltem Volk, den späte Propheten des AltenTestaments erhofft hatten). * Plato meinte, es sei besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. ** Paulus (Röm 4, 18). Wertbeständigkeit ist in unserer Fortschrittswirtschaft kaum noch möglich. In unserer heutigen Welt der (uns selbst gefährlich) groß gewordenen Macht der Menschheit, sind Hass und Bosheit tabuiert, und jeder projiziert seinen Teil zur Hauptsache auf die anderen. (Wir sehen uns als Partner und vielleicht als Opfer, und nur reaktiv als Angreifer.) Das steigert die Gefährlichkeit. Es legt sich zunehmend nahe, ein baldiges Ende der Menschheit zu befürchten. Man muss sich fragen, mit welcher Moral man dem entgegengehen will. Aber damit lassen wir uns Zeit. Kaum jemand geht davon aus, dass das Ende schon begonnen hat! Das öffentliche Leben ist, durch die Ökonomie der Massenmedien gefiltert, zum veröffentlichten Leben, öde sensationell geworden. Es geht um Macht und Geld und Sex. Die vieldimensionale Menschlichkeit zieht sich allenthalben, individuell und in kleinen Gruppen, in die Privatsphäre zurück. Das Geld wird, wegen seiner Abstraktheit, globalgesellschaftlich zentral bleiben. Aber individuell und in kleinen Gruppen (z.B. sharing economy) wird die Geldwert-Orientierung, heute wieder zunehmend, relativiert durch Wertschätzung von Dingen, Qualitäten und Beziehungen, die nicht so leicht austauschbar, so „konvertibel“ sind wie Geld. In der (heute sehr verunsicherten) „einsamen Masse“* kommt Solidarität auf. * Begriff und Titel des Bestsellers (The lonely crowd, 1950) von DAVID RIESMAN et al. Die Lohnminderung der Zusteller der Deutschen Post entspricht der Wirtschaftsentwicklung. Minderqualifizierte Arbeit wird durch die Technik natürlich entwertet – und die soziale Ungleichheit wird immer schamloser. Lokale Bestimmung der Entwicklung wird ersetzt durch global konforme. Die economy of scale uniformiert die Erde. Allenthalben muss eine künstliche sektorielle Identität einspringen, eine PIN ( = personal identification number), weil man seinen jeweiligen Bezugspersonen meist nicht mehr „der Person nach bekannt“ ist. Im Marktwert der Arbeit steckt der Faktor Zeit, ein Stück Lebenszeit des Arbeiters. Anfangs ging es in der Industrie um „ungelernte“ (also etwa gleichwertige) Arbeit; da wurde Arbeit nach Zeit bezahlt. Inzwischen hat dieser Faktor gegenüber der (vieldimensionalen) Qualität der Arbeit für die Entlöhnung an Wichtigkeit verloren: Hochqualifizierte Arbeit ist lohnender und teurer geworden; einfache Arbeit aber hat am Markt kaum noch genug Wert für die Lebenskosten. Das ist eine globale, neue, sozial explosive Situation. Nicht die Ungleichverteilung ist das entscheidende Problem der modernen Globalgesellschaft, sondern der Raubbau, den die Menschenmasse betreibt. Exzessive Ungleichverteilung verstärkt allerdings den Raubbau. Die große Zeit der Privatautos geht zur Neige; Ikea strebt vom Stadtrand zurück zum Zentrum! Eine Kultur- und mit ihr eine Wirtschaftsepoche endet. Die Technokratie löst die Demokratie auf – und, in unsern Tagen: ab. Was soll ein unterdurchschnittlich begabter Junge heute machen? – : Sich beim Arbeitsamt hinten an die Schlange stellen! In der globalen Gesellschaft wird die öffentliche Ordnung immer prekärer. Die Staaten werden ihren Aufgaben immer weniger gerecht; sie scheitern. Seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert sind failing states ein Thema, – das auch uns immer näher auf den Leib rückt. Statt Anpassung an die Gleichgültigkeit der Geldherrschaft über die Menschheit, wird zunehmend Solidarität, als menschlich befriedigender, entdeckt und gelebt. Zwischen Ratlosigkeit und Fanatismus wird es eng. Vernunft ist in aller Stille gedemütigt, Glaubenssache geworden. Kampf aller gegen alle – aber im Rahmen von Solidarität! Die Gesellschaft ist ein Chaos: viel Ordnung; aber einige gravierende Ordnungswidrigkeiten. Effiziente Solidarität in großen Kollektiven ist kompliziert und braucht vereinfachende Repräsentanzen. Diese können wahnhaft sein, können institutionalisiert und dogmatisiert werden. Wenn die funktionale Einbindung eines Systems (z.B. Finanzwelt) für die Umgebung notorisch dysfunktional wird, droht ihm partieller oder totaler Zusammenbruch. Borniertheit einzelner fällt peinlich auf nur, wo sie sich nicht in den richtigen (professionellen und gesellschaftlichen) Zirkeln halten. Diese pflegen die nötige Distanz zu einander, was sich dann und wann in – unter Umständen schweren – Konflikten entläd. Nach demselben Modell entstehen Kriege – unvermeidlich, weil alle Geschöpfe borniert sind. Die Menschheit als ganze entwickelt sich zappelnd wie ein kleines Kind. Ausblick Im Schoß der Globalgesellschaft droht zunehmend soziale Desintegration. „Sehe jeder, wo er bleibe“ (GOETHE, Beherzigung), jeder Einzelne! Das Gefühl, dass das Weltende schon angebrochen sei, flackert immer wieder auf. Es hat sich aber doch noch nicht durchgesetzt. Es ist zu deprimierend. Die immer wieder propagierte Umkehr, der geordnete Rückzug in ein sustainable development, ist der Menschheit nicht zuzutrauen. Schon manche Spezies hat ihre große Zeit gehabt und ist – unter ökologischen Begleitumständen – untergegangen. Leben ist ein Ereignis; es lässt sich nur beschränkt institutionalisieren. Hoffung und Hoffnungslosigkeit haben immer nur einen dimensional beschränkten Voraussagewert. Wirtschaftliche Imperative beherrschen die Globalgesellschaft. Hilflos zunehmend besorgt, verbraucht die Menschheit zunehmend Natur und produziert Müll. Die Natur des Menschen hat sich als entwicklungsfähig erwiesen; aber es steht nicht zu erwarten, dass die Menschen, wie sie nun einmal sind, diese Zerstörung ihrer Lebensgrundlage in nützlicher Frist unter Kontrolle bringen können. Das apokalyptische Lebensgefühl ist mehrfach begründet. Der Einzelne ist an der wirklichen Ereignisfolge nach seinem Tod interessiert; er phantasiert über seinen Tod hinaus. Er empfindet seine Begrenztheit nicht als konstitutiv für sein Leben, sondern als ein zusätzliches sinnloses factum brutum. „Wachstum“ heißt in unserer tagespolitischen Diskussion das Medikament gegen Wirtschaftskrisen, Nachhaltigkeit ist eher ein Thema für Philosophen*. Aber der Umschlag von Quantität in Qualität ist tückisch, gefährlich für alle; Qualität ist keine stetige Variable sondern eine Nominalskala. * Schon der berühmte Seneca formulierte, lange vor Hegel und Marx, den Umschlag von Quantität in Qualität: "Nach vielem Zuwachs bringt der letzte quantitative Zusatz manche Dinge zur Wende und prägt ihnen eine neue und im Vergleich zu ihrer bisherigen Beschaffenheit andere Beschaffenheit auf." „Postwachstumsgesellschaft“ ist eine traumhafte Idylle. Ich erwarte ein immer wilder wachsendes globales Chaos. Plastik-Partikeln im Meer, in der Luft*, im Regenwasser; im Fisch, im Honig! Der Mensch des „wissenschaftlich-technischen Zeitalters“ bewirkt mehr, als er weiß, beurteilen und unter Kontrolle halten kann. Unser Horizont bleibt chaotisch. * Im Ruhrgebiet erinnert man sich an die Steinstaub-Lunge. Unsere intraspezifische Aggression hat Ausbreitung unserer Spezies zur Folge gehabt. Sie hat auch zu Erschließung neuer Dimensionen geführt. Die Aussichten heute aber sind demotivierend, bremsend, deprimierend. Überflussgesellschaft ist nicht nachhaltig: Die Mittelschicht verarmt. Die Unterschicht bleibt arm. Wer Geld hat, steckt es am besten in Dauerwerte und in billige Produktion von Luxusgütern, die nur in der Wegwerfgesellschaft lohnt, die die Kosten auf die Kinder überwälzt. Die Menschheit ist eine – sich rasant beschleunigende – ökologische Katastrophe. Wie die weitere Zukunft aussehen wird, mag man sich nicht ausmalen. Wir müssen demütig unseren Horizont verengen. Wir haben heute gemeinsame Befürchtungen, wir haben allerlei Ziele, aber keine motivierende gemeinsame große Zielvorstellung. Die Ziele sind Symbole für das imaginäre Ziel, mit dem das Subjekt identifiziert ist: „das Gute“! Früher hatte man davon Vorstellungen, an die man glauben konnte. Heute geht man auf ein Ende alles Vorstellbaren zu. „Bewahrung der Schöpfung“ (K.F. v. Weizsäcker) war der letzte Schrei einer jetzt untergegangenen Kultur. Unsere künstlichen, vereinzelten Inseln „nachhaltiger“ Ordnung sind Symbole aussichtsloser Hoffnung. Es kann nur noch um liebevoll „geordneten Rückzug“ gehen. Die sechste Welle von massenhaften Artensterben auf Erden ist seit wenigen Jahrhunderten im Gang*. Diesmal aber geht es mehr als hundertmal schneller denn je zuvor! Die Existenz der Species humana (deren Aktivitäten Hauptursache dieses Prozesses sind), steht mit auf dem Spiel. In solchen Horizonten nimmt sich unsere gewöhnliche Sinnfrage noch unsinniger aus. * GERARDO CEBALLOS u.a., Accelerated modern human-induced species losses: Entering the sixth mass exstinction, in: Science Advances 2015, Vol. 1, No.5. Das Leben geht weiter; aber „die Wanne wird zu enge für dieses Kampfgedränge“*. Der Kampf ums Dasein verschärft sich. Wir müssen gefasst sein auf den nächsten (mit den neuesten, fürchterlichsten Machtmitteln geführten) Krieg – klassisch organisierten Massenmord und/oder modernen Terror sowie große und verbreitete Kriminalität – auch hier zu Land! Die Sinnfrage greift wieder nach der Herrschaft und demoralisiert. * WILHELM BUSCH, Das Bad am Samstag Abend. Das Befürchtete auszusprechen, entlastet einen, indem es die andern belastet. Es ist ein Appell – mit ängstlicher Hoffnung auf Abhilfe. Technokratie verlangt maximale Vereinfachung. In der allgemeinen Gleichmacherei diskriminieren und profilieren nur wirtschaftlich aktuell nützliche Qualifikationen. „Unqualifizierte“ können sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr halten. Wer nichts Brauchbares gelernt hat, soll wenigstens lernen, dass er nichts wert ist, und – bitte wenigstens aus dem Straßenbild – verschwinden. Arbeit unter anständigen Bedingungen integriert und sozialisiert; aber die Gesellschaft kann so viel Arbeit, wie die Technik freigesetzt hat, nicht brauchen. Massenarbeitslosigkeit aber, besonders von Jugendlichen, führt unversehens zu (kurzlebig wohlorganisierter) Banden- und Massenkriminalität; aktuellstes Beispiel: der „Islamische Staat“. Die wachsenden Machtmittel lassen auch die Größenordnung dieser Bedrohung wachsen.