HARRIET STRAUB Zerrissene Briefe Aus der Wüste "Ich wäre gern dabei, wenn die alten Götzen zusammenpurzeln, ich hab' hier, in der Stille der Wüste den Axthieb gehört, der ihre Wurzeln zerstört und wenn die Splitter fliegen, da wär' ich gern dabei, bei der Arbeit und beim befreienden Lachen." Lieber Freund, nächstens werd' ich den Eindruck bekommen, daß Europa nicht mehr ohne mich existieren kann; wenn Sie mich nämlich noch öfters mit solchen Briefen erfreuen. Also ich muß zurückkommen in die Kultur, es ist meine Pflicht, meine Gaben auszunützen und Sie schreiben gar: es sind Lücken da, "die Sie, gerade nur Sie ausfüllen können" usw. Wenn ich nicht hier in der großen Stille der Wüste ein sehr scharfes Ohr bekommen hätte, könnte ich fast eingebildet werden. Aber lieber Freund, verzeihen Sie, wenn ich so unkultiviert bin und auf Worte mit Wahrheiten antworte: Sie glauben ja selbst nicht, was Sie schreiben, Sie wissen selbst ganz gut, daß meine "Fähigkeiten" Ihretwegen ruhig vermodern könnten, wenn ich Ihnen z. B. die Mitteilung machte, daß ich nach Europa zurückkehren werde, um, sagen wir, Herrn Maier - Schulze - Müller zu heiraten. Aber da Sie gar so ehrlich betrübt zu sein scheinen über Ihr Unvermögen zu verstehen, wie ich es hier aushalte, da Ihre Unfähigkeit zu begreifen, was mich hier so fesselt, Sie wirklich nervös zu machen scheint und Sie gar aus dem "europäischen Gleichgewicht" zu bringen scheint, will ich versuchen, diese Last Ihnen von der Seele zu nehmen. Es macht mir selbst Freude in meinen Freistunden den Reiz meines Lebens hier mir zu zergliedern und was ich so aufschreibe, sollen Sie lesen, weil Sie nun einmal mein lieber Freund sind, und weil wir gar so gute Kameraden waren, wenn Sie, der 25jährige, die "Großen" im Stich ließen um mit mir zehnjährigem Mädel zu spielen, zu plaudern und zu lernen. Was verdank' ich Ihnen nicht alles! Sie waren so ein prachtvoller Kamerad und Sie wußten so viel. Ich mochte mit meinem unruhigen Kinderkopf Fragen stellen, die jeden zur Verzweiflung gebracht hätten, mein lieber "Onkel Doktor" wußte immer eine Antwort oder doch eine Beruhigung meiner unersättlichen Neugier. Ihre Anteilnahme an mir war so ungewöhnlich, daß Sie viel Neckereien sich gefallen lassen mußten und meine 18jährige Schwester beruhigte ihre verletzte Eitelkeit damit, daß sie mir hie und da sagte, wenn ich gar so stolz tat auf meinen großen Freund: "Dummes Ding, du meinst es gälte dir, das tut er ja nur um immer ungeniert zu uns kommen zu können". Aber ich war meiner Sache sicher, Sie gehörten mir und wir waren Kameraden. Die ganzen Jahre sind Sie durch dick und dünn mit mir gegangen, haben mich unterstützt in meinem Kampfe gegen die Vorurteile von Papa, Schwester und Schwager, waren erfreut über mein Studium, feuerten mich an, wenn ich müde werden wollte, immer derselbe gute Kamerad. Nur jetzt wollen Sie mich plötzlich nicht mehr verstehen. Seit ein paar Jahren schon sind Ihre Briefe voller Unzufriedenheit, bald lauter, bald leiser steht drin: man studiert doch nicht jahrelang, man nimmt doch nicht die ganze Kultur seiner Zeit in sich auf um sich dann in der Unkultur zu vergraben und alles brach liegen zu lassen. Und Sie, der Sie so schön mich haben meinen Weg gehen lassen, der Sie mir nur hie und da einen Stein aus dem Weg geräumt haben, meistens so ohne erst darüber zu reden, daß ich oft und oft erst rückschauend merkte, daß ich wieder einmal Ihnen verdanke so glatt weiter gehen zu können, Sie zerren jetzt an mir, behaupten ich wäre auf falschem Weg. Ja zum Donnerwetter, mein Weg ist doch mein Weg, ob er nun falsch oder recht ist, ich ginge ihn doch nicht, wenn er mir nicht recht schiene. Sind Sie plötzlich zu "klug" oder zu alt geworden um nicht mehr zu wissen, daß jeder seine eigene Nase anrennen muß, daß fremde Erfahrungen niemanden nützen? Außerdem was tu' ich denn? Ich lebe in der Unkultur? Menschenskind! Ist denn Kultur nur elektrisches Licht, Telephon und Luftschiffe? Das Andere, was wir bis jetzt Kultur nannten, das haben meine Wüstenbewohner - so kommt mir vor - mehr als die Herren Großstadtbewohner. Und ich "wirke" nicht meinen Fähigkeiten entsprechend! Die Weisheit, die Ihnen das eingeflößt hat, würde ich an Ihrer Stelle totschlagen; das ist eine ganz bornierte Weisheit. Erstens wirkt eine lebendige Kraft immer und überall (wie oft haben Sie mir das gesagt), und lebendig bin ich und wie. Zweitens aber liegt mir am "Wirken" gar nichts. Das ist der wunde Punkt, ich weiß wohl: der Mensch "soll und muß" wirken. Sie Energieapostel, Sie. In der ganzen "Energienützung" steckt immer noch das totgesagte und dabei so lebendige Christentum. "Wirket in der Zeit, so habt ihr in der Ewigkeit" oder so ähnlich heißt's in der Bibel und "du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen" usw. usw. Überhaupt: du sollst! Wer sagt das? Wenn's mich nun z. B. lockte, mein Licht unter den Scheffel zu stellen? Wer darf: "Du sollst nicht" sagen? Oh Ihr Christen im lieben alten Europa, Ihr kriegt den Widerhaken nicht aus dem Fleisch, ob es nun Energieerhaltung heißt oder soziales Gefühl oder ich weiß nicht wie, immer sitzt der strenge Jehova hinter einer Wolke und droht mit dem Zeigefinger. Hier in der Wüste ist der Himmel so klar, sind so wenig Wolken, da hat der liebe Gott kein Versteck, scheint mir; ich hab wenigstens seinen bedrohlichen Zeigefinger seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen, und das macht die Welt so hell und erfreulich. Was das für eine andere Perspektive gibt, den lieben Gott und die unsterbliche Seele für einige Zeit mal aus dem Gesichtskreis zu verlieren, davon kann man sich in Europa gar keine Vorstellung machen. Nicht daß die guten Muselmänner nicht fromm wären. Im Gegenteil, ihre Religion ist viel mehr mit jeder täglichen Hantierung verknüpft als es in Europa außerhalb von Klöstern je vorkommt; aber das ist eine so beruhigende, klare, praktische Religion, körperlich und aufs Körperliche bedacht. "Seele", natürlich gibts so was auch hier, aber man weiß es fast nicht. Die rege Wachsamkeit, zu der die große Natur hier jeden Einzelnen zwingt, die verhindert mystische Spekulationen. Wenigstens in der großen Menge. Und die Wenigen, die Abgeschlossenheit und Muße auf solche Wege führt, die werden mehr als Dichter anerkannt, mit Bewunderung und frommer Scheu anerkannt, aber sie dringen nicht durch ins Alltagsleben. In Europa redet jedes Schulkind mit beängstigender Sicherheit von seiner "Seele", hier ist alles das ein tiefes Spiel für wenige Feierstunden. Sehen Sie, lieber Kamerad, damit hängt gleich ein Umstand zusammen, der mir das Leben hier so erquicklich macht: die Stellung zu den Tieren. In Europa ist der Mensch der Herr der Schöpfung, und Pflanzen und Tiere sind zu seinem Nutzen und zu seinem Vergnügen da. Und das sitzt auch dem im Blut, der keine Schöpfung mehr anerkennt; seine gottgewollte Herrenstellung gibt er innerlich und äußerlich nicht auf, und wenn er auch an keinen Gott mehr glaubt. Wissen Sie noch, wie oft mich in Italien empörte das: una bestia, u n a b e s t i a , will heißen, ein Ding ohne Seele, so kann man's mit ruhigem Gewissen malträtieren. Da haben Sie das ganze verchristete Europa. Hier mußte ich allerdings viel Sentimentalität abwerfen, denn grausam wird daran festgehalten: was nutzlos ist, mag zugrunde gehen. Aber - und das versöhnt, es ist ganz gleich, ob das Nutzlose ein Tier oder ein Mensch ist oder was immer. Es ist einfach die "Grausamkeit der Natur", die Nutzloses zugrunde gehen läßt, unbekümmert, sorglos, aus unerschöpflichem Reichtum heraus. Einen alten kranken Menschen, ein altes Tier läßt man sterben wie es kann oder mag; wie's die Natur mit sich bringt. Die unsterbliche Seele macht in der Bewertung keinen Unterschied. Aber seinen treuen Kameraden, das Pferd oder den Hund, den Vogel, der ihn durch seinen Gesang erfreut, das hegt der echte Araber wie seinen besten Freund und kann sich kein Paradies vorstellen ohne sein Pferd und seinen treuen Slughi (arabischer Windhund, der für die Jagd benutzt wird). Ein kleines Beispiel, über das Sie, wenn Sie wirklich zum Nur-Europäer geworden sein sollten, das Kreuz schlagen werden. Die Frau eines Scheiks erwartete ein Kind, und ich hatte gesehen, daß eine Geburt ohne künstliche Hilfe unmöglich sein würde (Ein hier sehr seltener Fall). Ich hatte also dem Scheik gesagt mich rechtzeitig rufen zu lassen, was er dankbar versprach. Als ich wieder daran dachte, sah ich, daß die vorausberechnete Zeit schon vorüber war und wunderte mich ohne Nachricht geblieben zu sein. Ich ritt, sobald ich mich freimachen konnte, nach der etwa 40 Kilometer entfernten Oase und erfuhr da, daß Frau und Kind tot seien. Ich fragte den Scheik: "Warum hast du nicht nach mir geschickt oder bist selbst gekommen, Sidi?" Er sah mich erstaunt an und meinte: "Weiß du nicht, weise Ärztin, daß vor fünf Tagen, als die Frau an ihrem Ziele war, Feuer in der Luft war?" Ich war geärgert und sagte deshalb: "Ich wußte nicht, daß du von Wachs bist, Sidi." Er schüttelte ruhig den Kopf und sagte: "Ich nicht, kluge Frau, ich hätt' es wohl ausgehalten, ich habe gelernt mich zu schützen, aber mein Pferd wäre am Hitzschlag zusammengebrochen. Ich hatte Unruhe und Sorge im Blut, wie sollte ich da an das Pferd denken, wenn ich erst meiner Unruhe die Zügel gelassen hätte, um durch die glühende Wüste dich zu holen." Ich war nicht milder gestimmt durch die Antwort, sondern sagte heftiger noch: "Dann wär' das Pferd eben kaputt gegangen, aber Frau und Kind ... " Er hob beschwichtigend die Hand und unterbrach mich: "Rede nicht im Zorn.. was du nicht bedacht, oh Herrin. Welches Recht hätte ich, ein starkes Pferd zu opfern, meinen treuen Freund und meinen Retter aus mancher Gefahr, wegen einer schlecht geschaffenen Frau. Die starb, weil's Allah wollte und Allah ist weise, das Pferd hätte ich gemordet. Weise Ärztin, vielleicht hättest du die Frau gerettet, denn auch du bist weise, und doch war's nur ein Vielleicht, sicher hätte ich aber das Pferd getötet. Darf ich Vielleicht gegen Sicher wägen. Das wäre töricht und Törichte haßt Allah." Zählen Sie sich an den Fingern ab, aus was für nichtigen Gründen in Europa Pferde zu Tode gehetzt werden, und dann fühlen Sie vielleicht doch mit mir, daß ich bei der Antwort plötzlich etwas von ausgleichender Gerechtigkeit empfand. Dann später lernte ich die ruhige Natürlichkeit der Handlungsweise lieben, auch ohne den Hintergrund von Europa. Einen Charme ganz besonderer Art hatte auch folgende kleine Geschichte für mich. Mein Freund und großer Verehrer Sidi Abd-el-Kader ben Hamzu holte mich mal wieder zu einem kleinen Jagdausflug ab. Mir fiel eine Veränderung auf an seiner Ausrüstung, ich dachte aber nicht weiter daran und erst, als wir abends beim Zeltlager ankamen und er vom Pferde stieg, sah ich dann, daß er einen europäischen Sattel hatte, statt seines gewohnten, mit dem Überzug aus rotem marokkanischen Leder, mit der Goldstickerei und der hohen Rückenlehne. Ich fragte nun: "Hast du, Sidi, den englischen Sattel gewählt, weil er weicher ist als euere Sättel aus dem harten Holz?" Er lächelte leise und sagte nur: "Die englischen Sättel, Herrin, sind für Jockeys gut, nicht für unsere tagelangen Ritte durch die heiße Wüste." Eine Antwort war das eigentlich nicht, aber noch mal fragen auf diese ausweichende Rede wäre "europäisch" neugierig gewesen. Ich sprach also von anderem. Als wir im Zelt unsern Kaffee tranken, zeigte Sidi Hamzu nach dem Zeltpfosten in der Mitte, wo die Waffen und das Sattelzeug zu hängen pflegen und sagte: "Siehst du, weise Ärztin, deshalb habe ich den Sattel der Englischen heute benützt." Ich sah aufmerksam nach den vielerlei Dingen, die da hingen; die lange Flinte mit dem perlmuttereingelegten Schaft, ein großes Dolchmesser in silberner Scheide, bunt gewebte Futtersäcke aus Kamelwolle, Zaum und Sattelzeug, aber einen Grund den da hängenden Sattel nicht zu benützen, sah ich nicht. Mein Freund unterdrückte höflich ein Lächeln über mein verinutlich sehr dummes Gesicht und sagte nun ganz leise spöttisch: "Die du das Schöne liebst, kluge Frau, solltest du das Meisterwerk, das die Spinne zwischen Vorder- und Rückenlehne meines Sattels gesponnen hat, nicht sehen? Sieh, es fehlt nicht ein Faden." Und mit einer tiefen Kopfneigung gegen mich setzte er hinzu: "Nur dein Geschlecht, schöne Frau, kann so Vollendetes schaffen." Als ich immer noch schwieg, fuhr er nach einer kleinen Pause fort: "Es wäre grausam gewesen, so Schönes zu zerstören, es schien mir klüger, zu warten." Lachen Sie nicht, lieber alter Kamerad, sonst bin ich böse. Aber Sie haben ganz recht, das allein, die menschenwürdige Stellung zu den Tieren kann mich nicht bestimmen, mich hier zu "vergraben", wie Sie's zu nennen belieben. Nun könnt ich Ihnen mit sehr ernster Miene von meiner ärztlichen Tätigkeit hier schreiben. Nur wissen Sie leider zu gut, daß ich eigentlich gar kein Interesse für Medizin oder sagen wir richtiger für Krankenbehandlung, für die Praxis habe. Aber ich "behandle" auch hier so gut wie gar nicht, teils aus Mißtrauen gegen die Wirksamkeit europäischer Behandlungsweisen überhaupt, größtenteils aber aus Mißtrauen gegen meine eigenen Kenntnisse. Sie ahnen aber nicht, was für eine Unmenge interessanter kleiner Begebenheiten mir hier tagtäglich das Leben anregend machen, da ich mit diesem nützlichen Umhängeschild, dem Doktortitel, mit offenen Armen in die Familien aufgenommen werde und natürlich mit dem größten Respekt, der hier sonst einer alleinreisenden Frau nicht ohne weiteres entgegengebracht würde. Ich lerne mit Vergnügen von den "Medizinfrauen" der Eingeborenen, meistens Negerinnen, ihre uralten Vorschriften und ihre oft verblüffend einfachen Kunstgriffe und passe mich, soweit meine europäischen Begriffe von Hygiene das irgend zulassen, ihren Methoden an. Sie würden doch lachen, wenn Sie mich hier bei einer Konsultation sehen würden. Bei langwierigeren Krankheiten wird, bevor man überhaupt eine Behandlung anfängt, das Orakel befragt, ob der Kranke genesen wird oder nicht. Der Patient wird auf eine Matte gesetzt, wenn möglich in der Nähe eines fließenden Wassers. Dann schneidet man einem Huhn den Kopf ab und schleudert das Tier einige Meter vom Kranken fort; ist Wasser da, ins Wasser. Bleibt das Tier liegen und verendet, so wird der Kranke gesund; flattert es noch einmal auf und kommt in die Nähe oder bespritzt den Kranken gar mit seinem Blut, so wird der Patient sterben. So will's Allah, und nach dieser sichern Prognose wird der Kranke mehr oder weniger eifrig gepflegt. Natürlich wird auch während einer solchen Pflege sehr viel mit Besprechungen und Amuletten, hauptsächlich Koranversen, gearbeitet. Es wäre sehr verfehlt hier Rezepte schreiben zu wollen, weil die unfehlbar an Stelle der Medizin geschluckt würden. Der Muselmann hat eine festgewurzelte Verehrung für jede Art beschriebenen oder bedruckten Papieres; es könnte ja das Wort Allah darauf stehn. Eine sehr natürliche Meinung, da das einzige, was er an Gedrucktem durch lange Zeiten sah, eben nur der Koran war. Ein Araber wird kein Papierfetzchen herumfahren lassen, auch das kleinste und schmutzigste hebt er auf, mindestens vergräbt er es in die Erde, wenn er nicht Gelegenheit findet, es an einem geheiligten Baum aufzuhängen. Man sieht oft solche Bäume, von oben bis unten mit bunten Zeuglappen oder Papierfetzen behangen. Wunderlich genug sehen sie von weitem aus. Ich habe nie genau erfahren können, ob diese Bäume behangen werden, weil sie (von irgend einem Marabu) geheiligt sind oder ob sie heilig gehalten werden, weil sie behangen sind. Ich vermute das erstere, weil es meistens Johannisbrotbäume waren, die ich so behangen fand, die schon an und für sich in größter Verehrung stehn: ein Zweig davon in Wasser gestellt, nimmt dem Wasser alle schädlichen Bestandteile, die Rinde gibt einen heilsamen Tee gegen Wassersucht und Gliederreißen, die Wurzel wird zu allerlei Amuletten verarbeitet und selbst schon das Schlafen in seinem Schatten gibt freudige Träume und stärkt die Gesundheit, während z.B. das Schlafen unter einem Oleanderbaum Fieber, ja den Tod bringen kann. Soll ich rationalistisch sein und sagen, daß der Oleander allerdings immer am Wasser steht und Schlafen am Wasser wegen der Moskitos wirklich in diesen Gegenden Fieber und Tod bringen kann, während der Johannisbrotbaum an den trockensten Stellen gedeiht, da er ungemein tiefgehende Wurzeln hat? Wissen Sie, daß es mich sehr lebhaft beschäftigt, unter den vielen Geisteskranken, denen man hier begegnet, keinen einzigen Fall von gemeingefährlichem Irresein angetroffen zu haben. Ob nicht viel dazu beiträgt, daß man die Kranken in einer Art scheuen Verehrung frei herumgehen läßt und ihre Marotten geduldig erduldet ohne irgend einen Zwang, irgend eine Freiheitsberaubung auszuüben? Ich erinnere mich in Msila bei einem Festmahl einen solchen Irren gesehen zu haben. Der kam während wir aßen herein, ging von einem zum andern, griff sich von den Tellern bald da, bald dort ein Stück herunter, trank irgend eine Kaffeetasse aus, nahm dem anwesenden Mufti die angezündete Zigarette aus der Hand, und nachdem er seinen Hunger gestillt und in seiner Kapuze noch allerlei Vorrat verstaut hatte, ging er still wieder hinaus. Man hatte ihn ruhig gewähren lassen, niemand schien sich zu wundern; und erst nachdem er das Zelt verlassen, fragte ich, ob der Mann zum Stamm gehöre, und erfuhr, man wisse nicht woher er stamme, er wandere von Zeltlager zu Zeltlager, schließe sich manchmal wochenlang irgend einer Karawane an, sei wieder lange Zeit verschwunden, um halbverhungert in irgend einer Oase wieder aufzutauchen. "Seine Seele ist bei Gott", sagte mir der Mufti. Ich könnte endlos so weiter schreiben um Ihnen zu zeigen, wie alles hier sich so anders anläßt und anders angefaßt sein will. Was würden Sie z.B. sagen, wenn Sie zu einem Schwerverletzten gerufen würden, der seine große Fleischwunde folgendermaßen behandelt hat: erst eine tüchtige Prise Cayennepfeffer eingestreut, dann die ganze Wundfläche abgeschlossen durch eine Art Pfannkuchen d.h. Milch und Mehl in Fett gebacken, so heiß als möglich aufgelegt, wonötig noch mal erneuert. Die Wunden heilen sehr schnell und gut dabei; manchmal sterben die Leute im Starrkrampf, aber das hat Allah so bestimmt, da hätte ein regelrechter Kunstverband auch nichts daran geändert. Aber natürlich, oft genug muß ich doch energisch europäisch eingreifen, und dann ist's so erfrischend, weil man immer ein ganzer Kerl sein muß und alles selbst machen und erfinden muß; denn Apotheke, Instrumentenmacher, Verbandzeugladen und alles andere dazu ist nicht vorhanden. Das befriedigte Selbstgefühl kriegt man in Europa gar nie zu kosten, wie man's hier hie und da hat, wenn man in sich wieder mal eine neue Fähigkeit entdeckt. Man muß hier alles aus sich herausholen, was irgend in einem steckt, wenn man überhaupt das geringste leisten will, und man fühlt mit solchem Behagen, wie man sich dehnt. In Europa verkümmert so viel in uns, weil Staat und Polizeidiener für uns wachen und der Schuster sohlt und der Schneider flickt für uns, und das Wasser läuft uns (notabene in trinkbarem Zustand auch noch) ins Glas, und Kerzen und Zündhölzchen und Papier und Tinte und - und - und alles ist zu haben. Und hier hat man's nicht, und man lebt doch, und wenn man's will, dann muß man so erfreulich gescheit sein um's zu kriegen. Aber daß man hier zum schmeichelhaften Bewußtsein seiner Klugheit kommt, ist doch noch nicht Grund genug, meinen Sie, hier leben zu bleiben. Soll Ich Ihnen von der Schönheit der Natur hier schreiben? Ich habe Ihnen oft gesagt: ich weiß nicht, was ich mehr liebe, das Meer oder die Wüste. je länger ich hier bin, desto mehr neige ich dazu, der Wüste die größere Schönheit zuzusprechen, wenn's nicht so dumm wäre, so ein Werturteil. Aber das weiß ich: ich bin jetzt schon über ein Jahr lang nicht mehr an die Küste gekommen, habe das Meer nicht mehr gesehen und habe keine Sehnsucht es zu sehen; wie ich aber leben soll ohne die Wüste zu sehen, das kann ich mir vorerst nicht vorstellen. Ich brauche wahrhaftig nicht von irgend einer Fontana zu trinken wie in Rom, um die Sehnsucht in mir zu haben. Fünf Jahre bin ich jetzt hier, und ich habe noch keinen Tag ohne immer neues Entzücken gehabt. Ich möchte den Menschen mal hier haben, der von der "toten Wüste" spricht. Das ist das lebendigste, grausamste, schmeichlerischste, tobendste, bezauberndste Ungeheuer, das übermenschliche Phantasie sich vorstellen kann. Da ist wohl große atembeklemmende Stille manchmal, aber das ist die Stille, die Kraft sammelt zu vernichtendem Anprall, kein Tod. Oft wenn der Himmel wie eine stählerne Halbkugel aufliegt, wenn keine Wolke zu sehen ist, kein Windhauch zu spüren, wenn kein Sandkorn sich bewegt, rollt über die unbewegte Fläche ein knatternder Ton, ein starker dumpfer Trommelwirbel. Stille. Dann wieder anschwellend und langsam verhallend der drohende Wirbel. Alles hält den Atem an, dann wiehern die Pferde und werfen unruhig die Ohren, die Kamele schreien auf, fernher bellen die Schakale und noch einmal, noch einmal das dumpfe Wirbeln wie von Trommeln. Das Ungeheuer ist nicht tot, unheimlich schickt's uns die Mahnung, wir spüren erschauernd seine Stärke. Und daß unsere tastende Wissenschaft uns lehren möchte, daß der dumpfe Wirbel nichts sei, als der verstärkte Schall von Sandkörnern, die irgendwo vom Windhauch bewegt sich reibend rieseln, das verstärkt nur die schreckende Wirkung der Größe, in der verloren wir uns suchen festzuklammern. Selbst wenn die Wüste scheinbar farblos liegt, spürt man doch, daß sie alle Farben in sich hineingeschluckt hat. Ein leiser Windstoß und der rieselnde Sand flimmert, durchleuchtet vom aufgesogenen Licht. Und soll ich schreiben vom tollen Leben nach der kurzen Regenzeit, von den gelbgeschwollenen Flüssen, von der hetzenden Arbeit der Menschen in den Oasen, das kostbare Naß zu nützen? Vom Treiben und Wachsen der Pflanzen und Tiere, das man von Tag zu Tag zunehmen sieht mit sinnverwirrender Schnelligkeit? Und die Sonnenaufgänge und -untergänge und die gaukelnde Fata-Morgana, hundertmal ist's beschrieben worden und keiner kann's schildern wie's ist, wenn man darin lebt, keiner kann's wiedergeben, dieses selige Aufgelöstsein im Licht, das alle Schwere von uns nimmt. Aber "wenn alle Bäume Schreibrohre und das Meer und noch sieben Meere dazu Tinte wären", wie's im Koran heißt, könnte ich nicht ausschreiben, was ich gegen Europa auf dem Herzen habe und was mein Leben in der "Unkultur" mir Gutes tut. Fünf Jahre bin ich jetzt hier und immer ertappe ich mich noch gelegentlich mit der europäischen Brille auf der Nase. Mein Untertauchen in die Wüste ist ein Reinigungsbad, aber so durchseucht sind wir Europäer vom Christentum, daß wir fast keine Möglichkeit mehr haben in ein richtiges Verhältnis zur Natur und zu unsern Mitgeschöpfen zu kommen. Leben und Sterben, Blutsverwandtschaft, Ehe, Liebe, Kunst, wo Sie nur prüfend hinsehen, überall spukt das Christentum, wir haben gar keinen unbefangenen Blick mehr für unsere Umwelt. Auch die, die nicht an den persönlichen Gott, der die Haare ihres Hauptes zählt, glauben, auch die sprechen von gut und schlecht, von sollen, von schön und häßlich, von nützlich und schädlich, wie man doch nur sprechen dürfte, wenn der gottgeschaffene Mensch das Maß aller Dinge wäre. Denken Sie nur an Kleinigkeiten: eine Pflanze ist "schädlich", fort mit ihr, zerstören wir sie. Steckt nicht Gott hinter diesem Urteil, Gott, der die Erde geschaffen, dem Menschen zum Nutzen und zur Freude. Immer noch in all den Büchern, die mir aus dem alten Europa herüberkommen, und in den sogenannten monistischen am aufdringlichsten, weil die daher reden mit der protzigen Unsicherheit des Parvenü, fand ich und finde ich diesen "Zweck", dieses "Urteilen" und dieses "Gesetz". Und keiner lacht; bitter ernst nehmen sie sich, diese kleinen Herrgöttle. Nur einen, einen einzigen habe ich lachen gehört, aus seinem dicken schweren Werk heraus (das mein armes Lastkamel nun immer mitschleppen muß, denn nur langsam kann ich es lesen), der lacht über die Worte "Gesetze" und "Zweck" und "Ziel" und "sollen" und hat den Trug, der hinter den Worten steckt, eingesehen und aufgedeckt. Das Lachen klingt mir manchmal hier in der Wüste in die große Stille hinein; und ich lausche, wie die Pferde beim unheimlichen Trommelwirbel der fernher tönt lauschen, und die Kraft, die hinter dem Lachen steckt, greift mir ans Herz. Hört man's in Europa auch, oder ist da der Tageslärm zu groß? Ich werde Ihnen ein Versprechen geben: wenn ich mich ganz reif fühlen werde, wenn keine Bitterkeit und keine Ungeduld mehr in mir ist, dann komme ich ins alte Europa zurück. Ich wäre gern dabei, wenn die alten Götzen zusammenpurzeln, ich hab' hier, in der Stille der Wüste den Axthieb gehört, der ihre Wurzeln zerstört und wenn die Splitter fliegen, da wär' ich gern dabei, bei der Arbeit und beim befreienden Lachen. Dafür, aber nur dafür, tauschte ich gern mein Leben hier ein, mein Leben in Licht, Schönheit und Freiheit. Können Sie mir aber dagegen auch versprechen, daß ich samt meiner neueroberten Unkultur, d. h. meiner natürlichen Gott- und Pietätlosigkeit, meinem frommen Vertrautsein mit der Natur, drüben auch werde atmen und leben können, bei Euch "Christen"? Herzlich und treulich immer Ihre Ruth. LITERATUR - Harriet Straub, Zerrissene Briefe, Freiburg/Br. 1990 http://www.gleichsatz.de/b-u-t/221149/core1.html