(Mk 10,43) - Stigmatisierung HIV

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Grundtvig Treffen 21. Februar 2013
"Bei euch aber soll es nicht so sein" (Mk 10,43) Stigmatisierung HIV-Infizierter im kirchlichen Dienst:
Erfahrungen und Erwartungen
Vorbemerkung
Als erstes möchte ich mein Erstaunen darüber zum Ausdruck
bringen, dass Sie Interesse zeigen an diesem Thema, handelt
es sich doch nachweisbar um ein Minderheitenthema. Genau
genommen schauen wir ja auf eine Minderheit innerhalb einer
Minderheit, wenn wir unser Augenmerk auf HIV infizierte
kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richten. Diese
Einschränkung gilt aber nur bezogen auf die westeuropäische
Welt, in Afrika und auch Lateinamerika kann man schon nicht
mehr von einer Minderheit innerhalb einer Minderheit
ausgehen, dort sind die Zahlen derer, die mit dem HI Virus mit
denen hier nicht zu vergleichen, auch im Blick auf pastorale
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ich möchte zunächst in einem allgemeinen Verständnis auf das
Zitat aus dem Markusevangelium eingehen. In einem zweiten
Gedankengang suche ich eine Annäherung an den Begriff
"Stigma", bevor ich dann auf die Zwiespälte einzugehen
versuche, denen Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen ausgesetzt
sind, die mit dem HI-Virus leben.
Enden möchte ich mit einigen provokanten Erwartungen, die
HIV infizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Kirche
stellen könnten, wenn sie denn gefragt werden würden.
"Bei Euch aber soll es nicht so sein"
Auch ohne den biblischen Zusammenhang genau zu kennen,
aus dem heraus diese Überzeugung Jesu erwachsen ist (denn
er ist der Redende), klingt doch eines ziemlich deutlich durch:
Es geht um eine Alternative zum Bestehenden. Diejenigen, die
dort angesprochen werden, sollen anders handeln, anders
reden, womöglich sogar anders sein. Dazu fällt mir spontan
ein: Wer anders ist, der fällt auf. Aufzufallen wiederum, das
ist anstrengend, denn es geht in der Regel einher damit, sich
rechtfertigen zu müssen, warum man aus dem Rahmen fällt,
warum man anders handelt, redet, lebt. Wer auffällt, der
wird sich damit auseinandersetzen müssen, dass das Leben
anstrengender wird, gewiss auch aufregender, womöglich
auch widerspenstiger, denn Menschen, die auffallen, werden
angefragt, auch hinterfragt. Eine weitere Schlussfolgerung
folgt der ersten: wer auffällt, und dies aus freiem Willen und
ganz bewusst, der tut dies mit der Intention, verändern zu
wollen. Ohne dem Redenden (ich benutze diese neutrale Form
der Personenbeschreibung, um der Gefahr zu widerstehen,
meine Gedanken in die Form einer Katechese oder eines
exegetischen Diskurses zu drängen) zu nahe treten zu wollen,
propagiert er also folgenden Lebensweg kurz gefasst:
Anderssein, auffallen, verändern wollen.
Ich weiß sehr wohl, dass dieser Abschnitt aus dem
Markusevangelium im Zusammenhang gelesen werden muss
und nur in diesem Kontext theologisch angemessen
interpretiert werden kann. Der Redende - und jetzt sage ich
bewusst: Jesus - will seine engsten Freunde auf die
Unmöglichkeit des Verdienstes der Zuneigung Gottes
hinweisen; er erinnert an eine dienende
Glaubensgemeinschaft anstatt einer herrschenden und er
erinnert seine Freundinnen und Freunde daran dass es im
Gedanken Gottes keine Hierarchien geben kann.
All das weiß ich und ich weiß auch, dass die heutige verfasste
Kirche von diesem Ansinnen Meilen entfernt ist. Aber gerade
weil ich das weiß, erscheinen mir die drei Begriffe:
Anderssein, auffallen, verändern angemessen und
bedenkenswert im positiven Sinn. Aber was selbstverständlich
nicht im Gedankengang unterschlagen werden darf: Diese
Begriffe sind interpretationsoffen und je nach Überzeugung
und Erfahrungshintergründen werden sie auf die eine oder auf
eine andere Weise mit Leben gefüllt. Anderssein, von der
Mitte abweichen also, kann ich, indem ich entweder nach
rechts tendiere oder nach links. Diese beiden
Richtungshinweise beschreiben im Blick auf das kirchliche
Leben nicht nur Wege, sondern auch innere Haltungen.
Stigmatisierung HIV-Infizierter im kirchlichen Dienst
Als ich einem befreundeten Kollegen von dem heutigen
Euregionalen Aids Kongress erzählte und das Thema erwähnte,
mit dem ich mich auseinandersetzen soll, da kullerte er mit
seinen Augen und fragte, ob der Begriff "Stigmatisierung" in
einem kirchlichen Kontext nicht zweideutig verstanden
werden könnte. Dabei verwies er auf den Umstand, dass eine
Stigmatisierung theologisch betrachtet eine wundersame
Identifizierung eines Menschen mit den Leiden Christi
versichtbare und so einer Auszeichnung gleiche, wenn auch
einer schmerzhaften. Unser gemeines Verständnis dagegen
assoziiert mit diesem Begriff eine ungerechte und
unrechtmäßige Ausgrenzung, die es zu vermeiden gilt. Das ist
mir erst in diesem besagten Gespräch klar geworden, dass der
gleiche Begriff in einem Sinn Wertschätzung, in einem
anderem aber genauso Abwertung bedeutet.
Wir sind heute im Gespräch, um Wege und Möglichkeiten zu
erörtern, Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Und in der Tat
gibt es in diesem Sinne im kirchlichen Umfeld großen
Handlungsbedarf. Aber ich wage jetzt eine für viele von Ihnen
vielleicht unverhoffte These: Wir können der Stigmatisierung
HIV Infizierter Im Sinn einer Ausgrenzung nur dann wirksam
entgegentreten, wenn wir die Stigmatisierung der Betroffenen
im Sinne einer Seinsbestimmung wert zu schätzen lernen."
Diese Behauptung führt mich zu einem weiteren religiös
besetzten Begriff: Die katholische Kirche spricht zum Beispiel
im Blick auf einen getauften oder auch zum Priester
geweihten Menschen von einem charakter indelebilis,
übersetzt also von einem unwiderruflichen Charakter, einer
Eigenschaft, die durch nichts genommen werden kann, die zu
dem konkreten Menschen unauslöschbar dazugehört.
Wer dann Möglichkeiten findet, sich diesem Lernprozess
konstruktiv auszusetzen, der kommt psychisch und geistig
gestärkt daraus hervor. Das Virus schwächt nicht nur, es stärkt
auch. Jede und jeder Infizierte steht irgendwann vor der
Frage: Wehre ich mich gegen diesen Teil meines Lebens oder
integriere ich ihn. Und da sich zu wehren zwecklos ist, bleibt
nur das Bemühen zur Integration.
Nun gehört ohne Zweifel das HI-Virus unauslöschbar zu einem
infizierten Menschen dazu, das Virus lebt mit dem Menschen
und der Mensch lebt mit dem Virus. Dank retroviraler
Therapiemöglichkeiten ist ein solches Leben heute kraftvoll
möglich, wenngleich ein vom Virus betroffenes Leben ein
anderes Leben ist, ich möchte sagen ein ungewisseres Leben.
Das Leben ist für die Infizierten nämlich nicht nur - wie bei
nicht infizierten Menschen - von einem selbst und von der
Umwelt geprägt, sondern eben auch von diesem Virus, das
sich im Organismus des Betroffenen wie in der Psyche des
Menschen eine "Mitsprache" über die Gestaltung des Lebens
offen hält. Das Virus ist ein charakter indelebilis für einen
jeden Betroffenen, es ist Teil und Bestandteil seines Lebens
und es kann nicht genommen werden.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, einen lieben Freund zu
zitieren, der das Erlernen seines Lebens mit dem Virus in
vielen Büchern festgehalten hat. In seinem vorletzten Buch
"Unwiderruflich glücklich" schreibt er an einer Stelle: "Warum
finde ich für das neue Wunder in meinem Leben keinen echten
Ton? Wahrscheinlich bin ich überfordert vom pathetischen
Drehbuch meines Schicksals. Seit fünfundzwanzig Jahren
sterbe ich HIV-positiv mehr oder minder vital vor mich hin.
Christoph hebt sein Weinglas und prostet mir zu.
'Glückwunsch, mein Freund. Ich freue mich mit dir', sagt er
leise. Vielleicht erinnert er sich in diesem Augenblick an
meine erste Krebsdiagnose vor fünfzehn Jahren.... Das
Wunder, dem ich seit fünfundzwanzig Jahren mein
Immernochdasein verdanke, trägt die Namen meiner Freunde.
..... Ich lebe und bin einer von ihnen und gehöre dazu. Etwas
in mir kann es immer noch nicht glauben. Nach all den vielen
Jahren hätte ich es dem Wunder nicht übelnehmen dürfen,
wenn es auf meiner Seite müde geworden wäre. 'Vielleicht
meinen die Engel, dass ich mir meine Unsterblichkeit noch mit
einigen guten Büchern verdienen muss', lache ich......
Es bedarf eines Lernprozesses, mit diesem Teil des Lebens
umzugehen. Diesem Lernprozess kann sich ein Infizierter nicht
entziehen, er muss lernen, sich zu dem Virus zu verhalten.
'Ich weiß nicht, was deine Engel denken, aber ich denke, dass
wir beide ein Buch über das Glück schreiben sollten', sagt
Christoph, und schaut wach aus dem Fenster...."
Der im Text erwähnte Christoph bin nicht ich, es handelt sich
um Christoph Klimke, einem Theaterdramaturgen und
Schriftsteller, aber bei diesem besagten Gespräch vor 25
Jahren durfte ich auch mit anwesend sein und mir persönlich
ist diese Begegnung bis heute Lebensermutigung und
Lebensantrieb, wenn ich kraftlos bin. Diese im Ringen sich
erarbeitete positive Lebenseinstellung von Mario formiert das
Verhältnis des Betroffenen zum Virus und bringt es auf den
Punkt: Verteufel ich das Virus oder vergöttere ich es, ein
neutraler Blick auf ihn wird nicht gelingen.
So erweist sich für jede und jeden Betroffenen, aber erst
recht für einen aus dem Glauben und für den Glauben
Lebenden: Das Virus ist als charakter indelebilis ein Stigma: es
zeichnet aus, wie es zugleich auch ab- bzw. ausgrenzt. Es
zeichnet aus, weil es den Menschen befähigt, das Leben lieben
zu lernen im Wissen einer unwiderruflichen Begrenztheit des
Lebens; und das Virus hilft, Krankheit, ja sogar Leiden nicht
als unerklärbaren Störfaktor im Getriebe des Lebens zu
erkennen sondern gerade als einen wesentlichen Bestandteil
dessen. Gleichzeitig stigmatisiert das Virus aber auch, weil es
die Infizierten absondert von einer Welt, die sich einem
ungesunden Fortschrittsdenken verpflichtet und das Leben auf
ein Kräftemessen reduziert.
HIV infizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten in
einer offenen Kirche Vorreiter sein, diesen Spagat des Lebens
glaubwürdig gestalten zu helfen, stattdessen werden sie in der
Kirche (den Kirchen) zu einer schizophrenen Spaltung ihrer
Lebenswirklichkeit genötigt, indem sie einerseits in ihrer
Person dem (unwahrhaftigen) Bild einer heiligen, das heißt:
vollkommenen Kirche zu entsprechen genötigt werden,
andererseits aber gerade (wahrhaftig) die Unvollkommenheit
allen Lebens verkörpern könnten.
Erfahrungen:
Das Thema HIV und Aids wird im kirchlichen Leben
ausschließlich betrachtet als Lebenswirklichkeit der anderen:
der Schwulen, der Untreuen, der Schicksalhaften (bei den
Blutern zum Beispiel); ein eigenes Berührt sein, ein eigenes
Betroffen sein ist nicht zu erkennen. Die einzelne Aussage
eines Bischofs (ich glaube Desmond Tutu war es), die Kirche
hätte Aids, erlaubt es beileibe nicht zu behaupten, dass die
Kirche (die Kirchen), einen positiven Zugang zu dieser
Infektion gefunden hätten. Dies wird ihr auch so lange auch
nicht gelingen, so lange sie der verlogenen Vorgehensweise
anhängt, dem Betroffenen Barmherzigkeit zuteilkommen zu
lassen (in der Pflege zum Beispiel), andererseits das Virus aber
als Versichtbarung von Unmoral und Sünde ansieht, während
andere Krankheitssymptome wertfrei als Versichtbarung der
Begrenztheit des Menschen gesehen und gewürdigt werden.
Eine zweite Erfahrung: Es gibt HIV Positive Mitarbeiter. Aber
diese sind in der Kirche einem erhöhten psychischen Druck
ausgesetzt, insofern sie nicht nur als einzelne Persönlichkeiten
gesehen werden, sondern in ihnen immer auch die ganze
Institution, die wiederum den Anspruch erhebt, in
Stellvertretung und im Namen Gottes aufzutreten.
Bezeichnungen wie: "Mann Gottes" oder im liturgischen
Kontext "in Persona Christi" unterstreichen dies. Der konkrete
Mensch verschwindet hinter seiner Beauftragung. Die Folge
ist, dass dem in der Seelsorge tätigen Menschen
übermenschliche, gleichsam: göttliche Eigenschaften
zugetragen werden. Die Zölibatsverpflichtung für kath.
Priester unterstreicht dies. Ein HIV positiver Priester oder
Mitarbeiter/ Mitarbeiterin ist also nicht nur als Person
betroffen, in ihm fühlt sich gleichsam die Institution Kirche
bloßgestellt. Und hier gilt die Weisheit des bekannten
Sprichwortes: Was nicht sein kann, das darf auch nicht sein.
Auch hier könnten Infizierte Vorreiter sein für mehr
Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, ja sogar Demut.
Eine dritte Erfahrung: Es gibt HIV Positive Mitarbeiter im
kirchlichen Dienst. Es gibt sie, und es gibt sie doch nicht, über
sie wird in der Kirche nicht gesprochen. Auf eine Rückfrage
hin, ob seitens der Bischofskonferenz schon einmal über diese
Wirklichkeit reflektiert wurde, bekam ich die Antwort, dass
dies bisher noch nicht geschehen sei. Ein Bemühen
international ist schwierig.
Am kommenden Donnerstag werde ich mich in Frankfurt mit
einem Kollegen aus Südafrika treffen und 3 Kollegen aus
Nordamerika. Gemeinsam wollen wir Möglichkeiten erörtern,
die Kommunikation Betroffener aus dem kirchlichen Dienst zu
intensivieren. So lange das ungeschriebene Gesetz bestehen
bleibt, dass über die Tatsache, dass zum Zölibat verpflichtete
Priester infiziert sind, nicht gesprochen werden darf, so lange
werden die Betroffenen genötigt, sich Parallelwelten zu
suchen, in denen sie frei und offen reden, leben und sein
können. Die Wahrung des Systems wird höher bewertet als
eine mögliche und notwendige Gestaltungsmöglichkeit
einzelner Glieder des Systems. Das kann nur von Übel sein.
Eine vierte Erfahrung: Es gibt HIV Positive Mitarbeiter im
kirchlichen Dienst, aber es gibt sie nur vereinzelt. Eine
Solidarisierung und noch problematischer: eine Integration in
die Arbeitswelt scheitert an einer Vielzahl von Ängsten: Angst,
die Arbeit und damit eine Lebensgrundlage zu verlieren;
Angst, Ansehen und Respekt zu verlieren; Angst vor
Verdächtigungen und Bloßstellungen; Angst aber auch, dass
eigene projizierte Bilder von sich zerbrechen.
Eine fünfte Erfahrung: Es gibt HIV Positive Mitarbeiter im
kirchlichen Dienst. Der Arbeitgeber und die
Arbeitsbedingungen machen es ihnen aber schwer, sich
konstruktiv und heilsam mit der Infektion
auseinanderzusetzen.
Eine Integration der Infektion in den Alltag des Lebens wird
behindert dadurch, dass ein angstfreies und offenes Umgehen
mit ihr nahezu ausgeschlossen ist und wenn, dann in der Regel
in parallelen Lebensstrukturen.
Erwartungen:
Die Kirche muss ihre Einstellung zur HIV Infektion grundlegend
überdenken. Die verfasste Kirche entwickelt sich zunehmend
zu einem von Angst geprägten Lebensraum für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist an der Zeit, dass die
verfasste Kirche den Ansprüchen gerecht wird, auf die sie sich
selbst beruft und die sie als von ihrem Glaubensgründer
gesetzt verkündet. In einem Gottesdienst dieser Woche
predigte der neue Papst folgendes: "Moralisten sind kleine,
feige und talentlose Intellektuelle, die nichts von Güte, Liebe
und Wahrheit wissen und nur Museumsschönheiten kennen".
Die verfasste Kirche hat sich in den letzten Jahren selbst zu
einer Moralinstanz degradiert und damit ihren eigentlichen
Auftrag vergessen gemacht, nämlich Lebensraum zu sein und
zu bieten Menschen, die auf der Suche sind nach Perspektive
in der Zeit und über die Zeit hinaus und nach Sinn in einer
Zeit, die von Nutzbarkeit geprägt ist.
Was aber noch verhängnisvoller ist: die Kirche beraubt sich
der Möglichkeit, ihrem eigentlichen Auftrag nachzukommen.
Anstatt die Lebenserfahrungen und Lebensrealisierungen von
HIV infizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern heilsam zu
nutzen, drängen und nötigen sie diese, all dies zu
verheimlichen.
Anderssein, auffallen, verändern wollen. Jetzt, am Ende
meiner Gedankengänge, möchte ich die These und die
Behauptung zur Diskussion stellen, dass die Weise, wie die
verfasste Kirche mit HIV infizierten Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern umgeht, der Lackmustest dafür ist, ob Kirche
wirklich anders sein will, auffallen will und verändern will.
Diese These ist ohne Frage überzogen, vielleicht klingt sie
sogar aus der Sicht Nicht-Infizierter arrogant. Aber es gibt so
viele HIV Infizierte, die Vorbild sein können für diesen
Lebensdreiklang. Mario Wirtz ist einer, ich habe ihn eben
schon in einem Zitat zu Wort kommen lassen. Und ohne Frage
wären HIV infizierte Seelsorgerinnen und Seelsorger,
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirchen, die die
Begrenztheit wie die Freiheit ihres Lebens in Verkündigung
und Erziehung als Lebensquelle mit hineinnehmen könnten,
eine Bereicherung für eine Kirche, die immer wieder um
Glaubwürdigkeit ringen muss.
Diese unerschütterliche Wertschätzung des Lebens, diese
ungebrochene Kraft, dem Leben einen Sinn abzuringen und
das verzehrende Verantwortungsbewusstsein, für Respekt, für
Lebensvielfalt, für ein solidarisches Miteinander einzutreten;
all das steht einem kirchlichen System gegenüber, das geprägt
ist von Besitzstandwahrung, Rechthaberei und einem
biologistischen Menschenbild. Und selbst im Blick auf das
Thema, für das die Kirchen einen exklusiven Anspruch auf
Beantwortung hegen, nämlich der Frage nach Sinn im
Angesicht des Todes, so scheint es, vermögen viele HIVInfizierte einen viel menschlicheren und ermutigenderen
Beitrag zu leisten als so mancher Kirchenvertreter, nicht
zuletzt deshalb, weil diese Frage für sie keine theoretische
ist. Ich darf auch hier noch einmal Mario Wirtz zu Wort
kommen lassen, der am Fronleichnamstag dieses Jahres
verstorben ist und damit meine Ausführungen beenden mit
einem Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
"So lange schon kämpfe ich mit Hilfe meiner Freunde gegen
die Diagnosen und Prognosen meiner pathetischen
Krankengeschichte. Immer wieder haben sich die Engel und
Wunder auf meine Seite geschlagen und mir Zeit geschenkt.
Diesmal werde ich die Einladung des Todes annehmen müssen.
Er hat lange geduldig gewartet....Versteckt im Bernsteinring,
den Jan uns geschenkt hat, sind Licht und Schatten unserer
Liebe, die uns stark und verlässlich auch durch die
Kummerjahre getragen hat... Siebenundzwanzig Jahre leben
und lieben wir auf dem Seil, immer in der Nähe des Todes,
den wir als Untermieter dulden mussten.
Wir wussten, dass irgendwann die Wunder auf unserer Seite
müde werden könnten, und doch sind wir jetzt in diesem
traurigen November immer noch Amateure vor unserem
Schicksal, furchtsame Anfänger vor dem Tod. In der
Schatzkammer hüte ich die glücklichen Stunden. Sie sind
unvergänglich und leuchten auch jetzt.... Meine Sterblichkeit
bleibt stumme Wirrnis. Auch für meine ruhelosen
Selbstgespräche finde ich keine Worte. Ein altes dünnes Kind
liegt im Bett und ruft seinen Engel. Manchmal erscheint er an
meinem Bett und lächelt nachsichtig. 'Der Tod ist ein großes
Rätsel, viel zu schwer für ein kleines Menschenleben', sagt er.
Nun schlaf und fürchte dich nicht."
Am Fronleichnamstag 2013 ist Mario gestorben. Im Oktober
wird sein letztes Buch, ein Gedichtband, noch erscheinen.
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