1 Umgang mit Sprachen in der Schule Helga Schwenk In dem Beitrag wird die folgende Frage erörtert: wie kann und muss man den schulischen Sprachunterricht insgesamt verändern, um der neuen Ausgangslage der Schülerschaft in Deutschland gerecht zu werden? Dabei wird die Mehrsprachigkeit als übergeordnetes Konzept auf die existierenden bildungspolitischen Ausrichtungen und schulpraktischen Realitäten bezogen. Ins Blickfeld geraten somit konkret der schulische Sprachunterricht mit seinen Traditionen sowie die zugeordnete Lehrerbildung. Ein sprachenübergreifendes Arbeiten wird postuliert. Als Zukunftsaufgabe ergibt sich daraus die Erarbeitung eines Kanons von linguistischem Basiswissen für den pädagogischen Kontext. Vorgeschlagen wird die Einführung eines allgemeinen Linguisticums (anstelle des Latinums). 1. Zur Situation 1.1. In den Schulen finden wir Sprache in vielfältigen Erscheinungsweisen vor. In jedem Unterricht dient sie als Werkzeug, in den Sprachfächern als Gegenstand und im weiteren Raum als Verständigungsmittel. Zudem ist sie als Sprachkompetenz der Schüler und Lehrkräfte und im Unterrichtsmaterial vorhanden. Traditionell scheint es eine gefestigte Ordnung zu geben, die der Sprache als Kommunikationsmittel, als Unterrichtsgegenstand und als Sprachbesitz bestimmte Positionen zuweist. Das lässt sich an den didaktisch orientierten Bezeichnungen der Fächer festmachen, die muttersprachlich bzw. fremdsprachlich charakterisiert werden. Darauf beruht die in den Schulen in Deutschland als selbstverständlich angenommene Ausgangslage der sprachlichen Bildungskonzeptionen. So hat das Deutsche einen Doppelcharakter als Unterrichtssprache und Unterrichtsgegenstand, die Schulfremdsprachen Englisch, Latein etc. werden als Fremdsprachen additiv dazu als Unterrichtsgegenstände eingebracht. Als sprachliche Lernbasis gilt die altersgemäße Beherrschung des Deutschen der Schüler, und die Sprachkompetenz der Lehrkräfte wird mit einer muttersprachlich deutschen Ausgangslage und einer guten Beherrschung der zu unterrichtenden Fremdsprache als Normalfall angesetzt. So hat sich Deutsch als unbestrittenes Hauptfach etabliert, während die hinzukommenden Schulfremdsprachen wechselnde Positionen in der Rangfolge und Bedeutung in der Schule einnehmen. Dieses Bild ist nun seit einiger Zeit nicht mehr zu halten. Das System Schule ist mit seinen sprachlichen Grundannahmen mächtig ins Wanken gekommen und macht gegenwärtig eher den Eindruck eines Schiffes im Wellengang bis hin zur Seenot. Hauptgrund ist die Veränderung der Schülerschaft mit ihrer immanenten Mehrsprachigkeit infolge der Migrationsbewegungen. Als Rettungsanker erscheint der neu gegründete Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ) mit dem Aktionsplan der frühen und intensiven Sprachförderung im Deutschen, um die Stabilität wieder herzustellen. Jedoch dürften Zweifel angebracht sein, ob diese Strategie dauerhaft funktionieren kann und die gewünschte Wirkung zeitigen wird, die darin bestehen soll, das überproportionale Scheitern der Schüler mit Migrationshintergrund zu verhindern und Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Denn die Gründe liegen tiefer, wie gezeigt werden soll. 2 Worum geht es? Das komplexe Feld der „Beschulung“ kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht vollkommen dargestellt werden. Ich beschränke mich bewusst auf die sprachliche Bildung mit ihren Voraussetzungen, Erscheinungen und Konsequenzen – und muss auch hier eklektisch vorgehen. Das geschieht jedoch in der Überzeugung, dass dieses Feld bisher im bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskurs seiner Bedeutung entsprechend noch nicht wahrgenommen worden ist und daher manches Potenzial für eine adäquatere pädagogische Herangehensweise an die sprachliche Bildung in der Schule bisher ungenutzt blieb. Zwar war die Chancengleichheit bzw. Bildungsgerechtigkeit immer nur eine Wunschvorstellung – durch die regelmäßig erscheinenden nationalen Bildungsberichte ist die dauerhaft vorhandene Ungleichheit bezüglich der Kinder von Zuwanderern und anderer benachteiligter Schüler nun unübergehbar, da sie ständig statistisch belegt und dokumentiert wird.1 Das deutsche Schulsystem mit seiner prinzipiellen Dreigliedrigkeit steht ja schon seit langem in der inneren und internationalen Kritik. Dazu kommt nun das Verlangen nach Inklusion von benachteiligten Gruppen, vorrangig der Behinderten. Das führt allgemein zu Forderungen nach Umgang mit Diversität im Klassenraum und dem Ruf nach Förderungsaktivitäten, die letztendlich alle dem „Regelunterricht“ zuarbeiten sollen. 1.2. Das schlechte Abschneiden der Schüler mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungswesen hat neben dem sozialen und kulturellen Aspekt zweifellos wesentlich mit dem monolingual praktizierten Sprachen-Unterricht zu tun. Hier setzten meine Überlegungen an. Die bisherigen Reaktionen der staatlichen und überstaatlichen Bildungspolitik und auch der außerschulischen Akteure sind m.E. nicht ausreichend, eher kurzfristig angesetzt und oberflächlich konzipiert. Das ist verständlich, wenn man die Geschwindigkeit politischer und demografischer Veränderungen in die Bewertungen mit einbezieht. Deutlich erkennbar wird dies bei der Betrachtung der einschlägigen Begrifflichkeiten, die personenbezogen vom Gastarbeiter zum Zuwanderer sich erstrecken und vom ausländischen Kind bis zum anderssprachigen Schüler, der als n.d.H. (nicht deutscher Herkunft) oder als solcher mit ausländischen Wurzeln bezeichnet wird und nun als Zweitsprachler geführt wird.2 Mittlerweile erkennt man die Hintergründe dieser Redeweisen und versucht auf die Details einzugehen. Dabei bleibt der Begriff der Muttersprache weiterhin ein Feld für Missverständnisse, wenn es um entsprechende Bildungsangebote geht. In den siebziger und achtziger Jahren war ja der Herkunftsprachen-Unterricht für die Schulträger nahezu verpflichtend; und, als Ergänzungsunterricht bezeichnet, war er selbstverständlich „muttersprachlich“ konzipiert, da man auch die Rückkehrfähigkeit der Kinder im Auge hatte. Gegenwärtig spielt er im bundesrepublikanischen Kontext eine eher geringe Rolle. (Reich 2008) Eine Alternative steht aus; für die Schülerklientel mit anderen Muttersprachen als Deutsch ist m.E. noch kein schlüssiges Sprachbildungskonzept in Sichtweite. 1 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft e.V. bereits im Jahre 2007 ein Jahresgutachten „Bildungsgerechtigkeit“ erstellt hat, in dem ausführlich auf die Heterogenität der Schülerschaft und die mangelnde Anpassung des Unterrichts eingegangen wird. 2 Jetzt zudem auch diagnostisch differenziert als „Schüler mit Förderbedarf“ ausgewiesen. – Vor Jahren bezeichnete eine Studentin mir gegenüber solche Kinder sogar als „defizitär“. 3 Versucht man heutzutage einen Blick von oben auf die vorhandenen vielfältigen sprachbezogenen pädagogischen Ansätze zu werfen, so zeigt sich einem ein sehr buntes Bild, das zentrale und randständige, schulische und außerschulische Aktivitäten aufweist und verschiedene Altersgruppen betrifft. Als wichtige Akteure mit guter Ausstattung und weitreichenden Zielen sind folgende zu nennen: - - - Die Initiativen des Europarats für eine aktive Mehrsprachigkeitspolitik zur Förderung der Mobilität ihrer Bürger. Von entscheidender Bedeutung war die Entwicklung des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.(GER) Das Ministerium für Bildung und Forschung BMBF in Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz KMK, das einschlägige wissenschaftliche Projekte zur spracherwerbstheoretischen und anwendungsbezogene Grundlagenforschung unterstützt.3 Private Stiftungen wie die Mercator Stiftung mit dem „Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache“, das an der Universität Köln angesiedelt ist (seit 2012). Nimmt man die Entwicklung und gegenwärtig bevorzugte Ausstattung mit Forschungsgeldern und Hochschullehrerstellen des Faches Deutsch als Zweitsprache (DaZ) an Universitäten zur Lehrerausbildung hinzu und würdigt die Bemühungen der Lehrerfortbildungsinstitutionen, sollte man annehmen, dass die Mehrsprachigkeit der Schüler generell einer angestrebten Chancengleichheit nicht so stark im Wege steht. Die Gründe für die unbefriedigende Realität liegen m.E. in der Kurzfristigkeit der anvisierten Maßnahmen und der Tatsache, dass das Anliegen insgesamt noch nicht im Mainstream des Regelunterrichts der Schulen und der Bezugswissenschaften, bzw. der lehrerbildenden Disziplinen der Hochschulen angekommen ist. Kurz: eine neue Sprachen-Didaktik ist gefragt! 2. Die sprachlichen Fächer 2.1. Die empirische Wende in den Bildungswissenschaften und die internationalen Schulleistungsvergleiche haben neuen Orientierungen in der allgemeinen Didaktik Geltung verschafft. Ging es zuvor meist um Lernziele und Lerninhalte/Unterrichtsgegenstände, die im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als lehrbar angesehen wurden, so erfolgte nun eine konsequente Ausrichtung auf den Output, der als Schülerkompetenzen zu verstehen ist und nachweisbar sein soll. Dieses Konzept wurde staatlicherseits aufgegriffen und ist konkret in den Bildungsstandards für die Schulfächer umgesetzt und festgeschrieben worden. Dabei ist die Fächerordnung im Kern unangetastet geblieben. (s. Klieme et al. 75) Dieses Vorgehen mitsamt der Notwendigkeit der steten Leistungsmessungen hat jedoch neben manchen Vorteilen fatale Auswirkungen bezüglich der gesamtsprachlichen Kompetenzen mehrsprachiger Schüler. Denn die zu messenden Leistungen sind charakterisiert als Lernzuwächse aufgrund von Unterricht in den Schulfächern. Im sprachlichen Bereich ist die Heterogenität der Ausgangslagen und Lernweisen von monolingualen deutschen Kindern und 3 S. Ehlich, K., Bredel, U., Reich H.H. 2008: Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung; BMBF Bildungsforschung 29/I u. II sowie das Bund-Länder Modellprogramm Förmig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) 2004-2009 mitsamt Nachfolgeinitiativen in den Bundesländern. Neu ist das Programm Bildung durch Sprache und Schrift (BISS) mit einer Laufzeit von 2012-2017. 4 solchen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit jedoch ein unübergehbarer Faktor, der bei standardisierten Lernfortschrittskontrollen nicht berücksichtigt wird. In der Deutschdidaktik konzentriert man sich auf die traditionell gewachsenen Teilbereiche, die als Handlungsfelder verstanden und als hierarchisch hoch stehend beschrieben werden. Das zu Grunde liegende niedere Sprachstrukturwissen wird als immanent mitlaufend angesehen und behandelt.4 Somit war und ist ein Dilemma entstanden für die Schüler, die einen kontrollierteren Sprachausbau benötigen, der Strukturwissen und Wortmaterial einschließt.5 Im Bereich der Deutschdidaktik beschäftigt man sich mit der materialen Sprache vornehmlich nur im Erstlese- und Schreibunterricht und in der Rechtschreibung. Weiterhin ist der Bereich Sprachbetrachtung/Reflexion relevant, wird aber noch nicht hinreichend genutzt. Vor der verstärkt einsetzenden Zuwanderung konnte man für das Hauptfach Deutsch davon ausgehen, dass die Schüler ihre Kerngrammatik im morphosyntaktischen Bereich in der vorschulischen Zeit weitgehend erworben hatten und nahezu fehlerfrei anwenden konnten. Im fremdsprachlichen Lehrkontext wird sie traditionell als Lerngegenstand bewusst gemacht und als deklaratives Regelwissen mitsamt Übungen den Lernern zur Automatisierung dargeboten. Dieses Vorgehen wurde bei dem kommunikativ ausgerichteten Unterricht, der in den 70er Jahren sowohl im muttersprachlichen als auch im fremdsprachlichen Kontext in Geltung kam, als überholt angesehen. Gegenwärtig könnte nun das außerhalb des Regelunterrichts stehende Fach Deutsch als Zweitsprache eine Brückenfunktion zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Lehrkonzepten einnehmen, da dort die Notwendigkeit, auf Sprachstrukturelles explizit einzugehen, immer deutlicher wird. (Rösch 2014) Wichtig ist in jedem Falle erhöhte Aufmerksamkeit auf einen geeigneten Input zu legen und, wie ich meine, die Berücksichtigung der anderen Sprachen im Kopf der lebensweltlich mehrsprachigen Lerner. In den meisten einschlägigen sprachdidaktischen Publikationen kommt das Thema Mehrsprachigkeit in der einen oder anderen Weise vor. Es erscheint jedoch durchweg als unvermeidlicher, wenig eingearbeiteter Zusatz bzw. als Rechtfertigung für eine NichtBerücksichtigung. Während die Thematik Interkulturelle Bildung in den pädagogischen Kontext und in die Fremdsprachdidaktik natürlicherweise aufgenommen worden ist, scheint im Deutschunterricht eher eine Abwehrhaltung zu dominieren. Als Beispiel sei hier auf das Kapitel 3 der Sprachdidaktik Deutsch von J. Ossner verwiesen, der im Vorwort zur 2. Auflage (2009) auf seine Überarbeitung dieses Teilbereichs hinweist. Dort konstatiert er klipp und klar, dass die Basis, von der aus Interkulturalität gedacht wird, die jeweilige Amtssprache sei (S.52), was einen grundlegenden Perspektivenwechsel dann wohl ausschließt. Sodann unterscheidet er die innere Mehrsprachigkeit von der äußeren und grenzt aus didaktischer Sicht die innere auf Dialekt und Hochsprache ein. Die äußere bezeichnet er als sprachenübergreifende Mehrsprachigkeit und kennzeichnet die betroffenen Schüler als Zweitsprachler (59). Insgesamt enthält das Kapitel verschiedenartige Informationen zu dem 4 Das gilt besonders für das sehr anspruchsvolle Schreiben. Ich gehe davon aus, dass ein Vorgehen entsprechend der konstruktivistischen Lerntheorie in ihrer radikalen Form – wonach Regeln und Strukturen vom Lerner aus dem Input erschlossen werden - für Zweitsprachlerner nicht optimal ist. 5 5 Thema, die unverarbeitet hintereinander gereiht wurden und zeigt damit überdeutlich den unausgereiften, prekären Zustand des Faches DaZ. 2.2. Ein Blick auf die Bildungsstandards für Deutsch führt Ähnliches zu Tage: In den Standards Primarstufe geht man auf die Unterschiedlichkeit der sprachlichen Lernausgangssituationen ein, was dann scheinbar unbestritten und logisch zu einem generellen Förderansatz hinführt, der jedoch einzig auf der Vorstellung von linear gedachten Entwicklungsstandniveaus im Deutschen beruht.6 Grundlage der Standards ist durchgehend die Einschätzung der Altersangemessenheit, die aus der muttersprachlich erarbeiteten didaktischen Tradition hervorgegangen ist. Wie sehr das Denken aus der rein deutschen Perspektive erfolgt, zeigt sich überdeutlich in der folgenden Ausdrucksweise: „Viele Kinder … verfügen … über andere sprachliche Erfahrungen und Kompetenzen als einsprachige Kinder. Der Deutschunterricht sollte dies auch für eine interkulturelle Erziehung aller Kinder nutzen“ (S.6, Primarstufe). Und in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss liest man: „In die Arbeit an Sprachfragen bringen Schülerinnen und Schüler mit divergenten Spracherfahrungen wichtige, eigenständige Beiträge ein. Erfahrungen der Mehrsprachigkeit führen zu vertiefter Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit“ (S.7). Die Bilingualität der Schülerklientel erscheint hier m.E. völlig unangemessen berücksichtigt, nahezu als „schmückendes Beiwerk“.7 Die Grundgedanken dieser Vorgehensweise lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Es gibt eine altersgemäße Entwicklung in der deutschen Sprache, die etwa auch Leseinteressen einschließt. Fördermaßnahmen sollen dazu dienen, Abweichungen von der Norm auszugleichen. Bilinguale Schüler haben häufig Förderbedarf, der durch Diagnosen ermittelt werden kann. Die Didaktik DaZ ist zuständig für die Überbrückung von Unterschieden und die Angleichung der Zweitsprachler an die Erstsprachler. Der Regelunterricht setzt die Inhalte und den Maßstab für sprachliche Leistungen im Deutschen fest; und in den fremdsprachlichen Fächern ist die jeweilige Zielsprache ausschlaggebend. Das zögerliche Eindringen der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit der Schüler mit ihren Familiensprachen in den curricularen Bereich hat zweifellos mit der Hilflosigkeit der Lehrerschaft unbekannten fremden Sprachen gegenüber zu tun. Entscheidend ist auch hier die strikte Fachbezogenheit. Ein Blick auf die Länderprofile Lehrerbildung von 2008 bestätigt diese Annahme.8 Relevant sind die sprachlichen Fächer „Alte Sprachen“, „Deutsch“, „Neue Fremdsprachen“ und das Fach „Grundschulbildung“. Für das Fach Deutsch ist eine klare Dreiteilung vorgegeben in Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Fachdidaktik. Die Konzeptionen der weiteren sprachlichen Fächer sind in ihrer Unterschiedlichkeit besonders aufschlussreich. Die Alten Sprachen und Neuen Fremdsprachen enthalten je einen Punkt zum Spracherwerb. Bei den Alten Sprachen wird “Wortschatz, Syntax, Grammatik als Grundlage für die Texterschließung und für das Erlernen und die Analyse von alten und 6 Im Vorspann werden nacheinander ganannt: „Kinder mit verzögerter Entwicklung“, solche mit „spezifischer Begabung“ und solche mit nicht-deutscher Muttersprache. 7 Siehe hierzu auch den Beitrag von Dirim u. Döll 2010. 8 Der volle Titel lautet „Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.10. 2008 i.d.F vom 8.12.2008) 6 modernen Sprachen“ aufgeführt. (Unterstreichung H.S.) Ein weiterer Punkt lautet „Legitimation der alten Sprachen im Bildungs- und Fremdsprachenunterricht der Schule“. Bei den Neuen Fremdsprachen finden wir Aussagen zum „interkulturellen Lernen“ und „Anforderungen an bilinguales Lernen und Lehren“. In beiden fremdsprachlichen Fächern erscheint weiterhin ein Verfügungswissen über sprachliche Mittel und der Punkt „Übersetzung“ – mit dem Oberbegriff „Sprachmittlung“ bei den Neuen Sprachen. Wir können in den fremdsprachlichen Fächern also deutlich sprachenübergreifende Ansätze feststellen, die konkret in die Profile eingegangen sind und auf wissenschaftlichen und pädagogischen Traditionen aufsitzen, wobei die Alten Sprachen den Anspruch einer Vorarbeit leistenden Disziplin vertreten – und ein entsprechendes Sprachwissen durch eine schon zuvor abgelegte Prüfung, nämlich das Graecum/Latinum, verlangen. Wie stellt sich das Fach Deutsch dar? Im Bereich Fachdidaktik geht man unmittelbar auf die Teilbereiche des Unterrichts ein, die durch die Sprachhandlungen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegeben sind. Im zweiten Punkt erscheinen recht unvermittelt die Begriffe „Mehrsprachigkeitsorientierter Deutschunterricht, Zweitspracherwerb“. Auch in der Abteilung Sprachwissenschaft taucht der Ausdruck „Mehrsprachigkeit“ auf und wirkt geradezu wie eingeschoben. Für die Umsetzung dieser Studieninhalte kann man gewiss auf keine stabile Forschungstradition zurückgreifen! Sie könnten und sollten aber ein legitimer Ausgangspunkt für neue sprachdidaktische Ansätze werden. Soweit die staatlichen Vorgaben für die einzelnen Sprachfächer im Regelunterricht. Die neue Situation aufgrund der Globalisierung erscheint in dem Zusammenhang lediglich peripher. Im folgenden Abschnitt soll zunächst auf einige Denkansätze eingegangen werden, die als explizite Antworten auf die neuen Herausforderungen zu sehen sind. Danach werde ich skizzenhaft eigene Vorschläge einbringen. Alle eingebrachten Reformansätze zeigen durchweg deutlich die Handschrift der Verfasser in dem Sinne, dass man erkennt, welcher wissenschaftlichen Disziplin sie entstammen. Zugleich sind sie noch weit davon entfernt, die notwendige Durchsetzungskraft zu haben. 3. Neue Denkmuster 3.1. Alle Schulfächer stehen vor der Aufgabe, die individuelle Entwicklung der einzelnen Schüler zu berücksichtigen und die Vorgaben der Standardisierung zu erfüllen. Für die Sprachbildung ist diese um ein Vielfaches größer als in anderen Bereichen, da die gegenwärtigen Kräfte im Interesse der europäischen Sprachpolitik mit einer Erziehung ZUR Mehrsprachigkeit und der pädagogischen Intention zum Einbezug der Familiensprachen VON der Mehrsprachigkeit der Kinder HER in Einklang zu bringen sind. Dabei wird generell erwartet, dass bestehende Bildungsungerechtigkeiten abgebaut werden. Die bisherigen Initiativen aus verschiedenen Richtungen können nicht befriedigen. OomenWelke (2003: 60 ff.) hat aus der Deutschdidaktik kommend sechs Antworten aufgereiht, wovon die folgenden an dieser Stelle wichtig sind: alle gleichmachen (1), Europa lehren (5) 7 und vielsprachiger Deutschunterricht (6)9. Für die letztere hat sie sehr viele Anregungen publiziert, die jedoch kaum je in den Kerndiskurs der Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts eingedrungen sind. Die erste Antwort (alle gleichmachen) wird von der Bildungspolitik deutlich favorisiert und mit Fördergeldern für alle Ebenen – Forschung, Lehrerbildung und Unterricht – ausgestattet. Den Rahmen dazu liefert die empirische Bildungsforschung, die die Sprachdiagnostik zur Ermittlung von Förderbedarf und darauf aufbauende Interventionen vorsieht, deren Wirksamkeit sodann nachweisbar und messbar sein soll.10 Als Steigbügel gewissermaßen dient das Fach DaZ, das in manchen Bundesländern als Modul in der Lehrerbildung verankert wird und in der Schule eingesetzt, entsprechende Wirkungen zeigen soll. Diese Bemühungen zielen ab auf die vollständige Eingliederung der Schüler in den bestehenden Regelunterricht. Die Kinder werden mit ihrer spezifischen mehrsprachigen Spracherwerbssituation folglich nicht ernst genommen und akzeptiert sondern eher adoptiert. Durchweg geht man von einer gemeinsamen Konzeption deutschsprachiger Förderung für einheimische monolinguale und potenziell bilinguale Kinder aus zugewanderten Familien aus. Andere Sprachen bleiben unerwähnt. Ohne Zweifel ist die sehr gute Beherrschung der deutschen Sprache für alle Schüler unumgänglich und eine unverzichtbare Zielangabe. Man muss sich jedoch die Frage stellen, ob der einzige und effektivste Weg dorthin über eine quasi Monolingualität verläuft und überhaupt gangbar ist, und ob nicht dabei schädliche Nebenwirkungen hervorgerufen werden, die mit der Identitätsentwicklung und den Selbstkonzepten in Zusammenhang stehen. Ein mit dem dargestellten Vorgehen verwandter Denkansatz ist in der Arbeit von Rita Zellerhoff (2009) zu erkennen, welche den Titel „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ trägt. Die Verfasserin kommt aus dem sonderpädagogischen Bereich der Sprachheilkunde und propagiert die Nutzung von Synergien in der Förderpraxis. Hier steht die allgemeine Didaktik im Hintergrund, die additive und relationale Konzeptionen unterscheidet und auf natürliche Settings mit dialogischem Charakter abhebt. (Reinmann 2011:11) Zellerhoff bezieht sich explizit auf Kersten Reich mit seiner Arbeit „Inklusion und Bildungsgerechtigkeit“ (2012), in der er den grundlegenden Perspektivenwechsel anmahnt, wenn er schreibt „die neue Norm sieht in der Diversität mehr Vor- als Nachteile“ (7). Die Inklusion müsse gelebt werden durch explizite Stärkung der Benachteiligten aus verschiedenartigen Gründen. Sprache ist hier ein integrierter Bestandteil von Förderungskonzepten. Im Blick ist vor allem die Unterstufe der Schulen. Völlig andere Denkmuster kommen aus dem Bereich des fremdsprachlichen Unterrichts der Sekundarstufe. Hier ist die Europäische Dimension der Hauptmotor und die internationale Ausrichtung der Fachvertreter lässt eine Vielzahl von neuen Reformideen in die Schul- und Forschungslandschaft einfließen. Die Gesamtkonzeption vom schulischen Fremdsprachenunterricht, der als L2, L3 etc. anzubieten ist, wird in Frage gestellt, wenn nun Englisch, die vormals „erste Fremdsprache“ bzw. L2, jetzt als Tertiärsprache wahrgenommen 9 Dazu gehören weiterhin noch: Zwei Optionen offen halten (mit der Rückkehrmöglichkeit(2), Iinterkulturell lernen und handeln (3) und Über Grenzen blicken, (mit antirassistischer Intention (4). 10 Siehe BMBF 2008 und 2012 sowie Baumann/Becker-Mrotzek 2014. 8 wird, da die Schüler ja zum großen Teil schon bilingual aufwachsen. Britta Hufeisen legt ein „Gesamtsprachencurriculum“ (2011) vor, indem mehrere neue Sprachen nacheinander als Fremdsprachen eingeführt und weiterhin als Arbeitssprachen im Sachfachunterricht genutzt werden sollen. Großer Wert wird dabei auf die Zuarbeit durch DaZ gelegt, das für lebensweltlich mehrsprachige Schüler den Weg in den Regelunterricht ebnen soll (275). Hufeisen hat durchweg die traditionellen Schulfremdsprachen im Blick. Hervorzuheben ist, dass sie in dem Zusammenhang auf Sprachenübergreifendes hinweist, indem sie für Schüler spezifische Sprachlernstrategien auflistet, etwa auch Vokabelvergleiche vorschlägt und für Grammatikbeschreibungen einheitliche Terminologien anmahnt (277). Lehrern soll eine vielgestaltige Vernetzung fächerübergreifendes Arbeiten ermöglichen (278). Diese Mehrsprachigkeitsdidaktik beruht auf der starken Annahme von Transfermöglichkeiten zwischen den Sprachen.11 Die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Zuwandererkinder wird in dem dargestellten Ansatz wie in den vorherigen konzeptionell eher als Erschwernis wahrgenommen und wenn überhaupt, bezüglich der betroffenen Sprachen nur gestreift. Anders verhält es sich mit der Arbeit von Adelheit Hu (2003) „Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“ und dem „Curriculum Mehrsprachigkeit“ von Krumm/Reich (2011), auf die hier noch kurz eingegangen werden soll. Hu zielt mit ihren Überlegungen auf ein integriertes Konzept von Sprache, Kultur und Identität ab. Sie betont die grundlegende Hybridität der Persönlichkeitsentwicklung. Damit geht sie explizit auf die innere Mehrsprachigkeit ein, die von gesellschaftlich-schulischer Seite einerseits als „gewünschte“ und andererseits als „verschämte“ kategorisiert wird. Aufgrund der Abgrenzungen und statischen Auffassungen der Kultur im üblichen Fremdsprachunterricht werde die „Einbettung der Sprachlichkeit in Lebenswelt, Emotionalität und Körperlichkeit eher außer Acht“ gelassen (98) und in der starken Lernzielorientiertheit sei letztendlich ein monolingualer Habitus zu erkennen. Daraus resultiere die Tendenz, andere Sprachen und vor allem die mitgebrachten – mit Ausnahme des Deutschen – im Unterricht auszublenden. Diese inakzeptable Situation müsse überwunden werden durch neue Anforderungen an die Lehrerbildung (294), die Fachleute nicht „für eine spezifische Sprache sondern für Sprachen und Sprachlernprozesse allgemein“ ausbilden solle (295). Damit wird eine Abkehr von „veralteten Denkmustern“ gefordert, was sich vor allem in der Forschung zur Sprachvermittlung niederschlagen solle. Schließlich seien ja alle Sprachen Herkunftssprachen, nicht nur Türkisch, Russisch oder Arabisch! (299)12 Das Curriculum Mehrsprachigkeit von H.-J. Krumm und H. H. Reich (2011) ist ein Novum, indem es explizit die Mehrsprachigkeit zum Unterrichtsgegenstand macht und sich neben dem Fächerkanon positioniert. Sehr konkret werden darin Wege aufgezeigt, wie dieser Aspekt für die einzelnen Schulstufen zur Geltung kommen kann. Die Gliederung erfolgt unter fünf Tätigkeitsfeldern und zwar: Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt, Wissen 11 Hierzu ist auch der Ansatz EuroCom zu rechnen, der Ähnlichkeiten verwandter Sprachen zum Leseverstehen explizit nutzbar macht und auch als Interkomprehension bekannt ist. 12 Auch J. Roche geht in seinem Werk „Theorie der Mehrsprachigkeit“ auf die Minderbewertung der Familiensprachen im Gegensatz zu den etablierten Bildungssprachen ein und sieht eine Vernachlässigung des persönlichen und gesellschaftlichen Mehrwerts (Rez. Madlener:272). 9 über Sprachen, Vergleichen von Sprachen, Erarbeiten sozialer und kultureller Bezüge von Sprachen und Aneignung von Sprachlernstrategien. Die rein kognitive Kategorie Wissen über Sprache erscheint in Klasse 1-4 bei der Einführung in die Schriftsprache; in der Sekundarstufe geht es um das Vergleichen und Erarbeiten sozialer und kultureller Bezüge. Alle Arbeitsfelder sind als Hinführung zu Kompetenzen konzipiert und sollten m.E. als sprachliche Leistungen im Schulbetrieb honoriert werden. Mit diesem Konzept erweist sich die traditionelle Dualität von Mutter- und Fremdsprache im didaktischen Verständnis als irrelevant und kann überwunden werden. Die Spracherfahrungen aller Schüler sind damit gleichberechtigt, können ernst genommen und genutzt werden, wie in der Einführung ausführlich begründet.(2) Eine plurilinguale Bildung durch Überwindung der Fachgrenzen hat damit erste Umrisse bekommen. 3.2. Wenn die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit aufgrund der Globalisierung zur Normalität geworden ist und die individuelle für die Mehrheit der Menschheit nichts Außergewöhnliches darstellt, ist es nur folgerichtig vom Bildungswesen in Deutschland umfassende Konsequenzen zu erwarten. Einige neue Denkansätze sind – wie oben ausgeführt – zu erkennen. Ein Blick auf das Hauptfach DEUTSCH zeigt jedoch, dass die bisherigen Reaktionen dort insgesamt als Förderung bestimmter Gruppen von Kindern ausgerichtet sind und somit der Vergangenheit anhaften. Denn die Maßnahmen, die ergriffen werden, dienen dazu den alten einsprachig gedachten Zustand zu erhalten und zu stabilisieren.13 Dieses im Geiste der ehemaligen Defizithypothesen entwickelte Vorgehen ist m.E. eher kontraproduktiv und im Hinblick auf die erwünschte Chancengleichheit inakzeptabel.14 Im gesamten sprachpädagogischen Bereich, und damit vor allem auch im Deutschunterricht ist ein radikales Umdenken vonnöten, das, ausgelöst durch die Zusammensetzung der Schülergemeinde auf die Formel gebracht werden könnte: Statt der Schüler muss die Schule mit ihren sprachlich curricularen und nichtsprachlichen Inhalten neu aufgestellt werden. Wie das konkret aussehen könnte, sei im Folgenden skizzenhaft umrissen. Ich knüpfe an die gegenwärtigen Konturen des Faches Deutsch in seinen Teilbereichen an, um heraus zu kristallisieren, welcher Art ein neuer Zugang möglich ist, damit Mehrsprachigkeit als Normalfall gelten kann. Die bisherigen Annäherungen, sind mit vielen neuen Begriffen verbunden sind. Eindeutige Definitionen werden angemahnt: Was genau ist z.B. sprachliches Wissen? Wie ist Bildungssprache zu verstehen? Wie kann sprachsensibler Fachunterricht ablaufen? Allgemeine Klärungen sind meist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da die Hintergründe der Konzepte bestimmend sind. Unbefriedigend erscheint mir zudem die gegenwärtige Forschungspraxis, die sich hauptsächlich auf empirische Daten stützt und daher auf eindeutige Indikatoren angewiesen ist. Das aber bedeutet wegen der überaus komplexen und breit gefächerten sprachpädagogischen Situation eine Einschränkung. Hier können zwar nur Umrisse aufgezeigt werden; doch, so meine ich, sollte man nicht darauf verzichten, zukunftsweisende Grundüberlegungen anzustellen, die notwendigerweise mehrere Disziplinen und Sprachen einbeziehen, in der Hoffnung, dass sie langfristig wirkungsmächtig werden. 13 Vgl. etwa Bartnitzky (2000), der von der Notwendigkeit massiver Fördermaßnahmen spricht (253) Das ist auch nicht durch die Etablierung des Faches DaZ wesentlich anders geworden. – Angemerkt sei hier, dass ich vor nunmehr dreißig Jahren die Einrichtung von DaZ gefordert habe (1984). Jetzt sehe ich das als notwendige Vorläuferinstitution an und verlange eine Ausweitung des Blickwinkels. 14 10 Drei Aspekte erscheinen mir in dem Zusammenhang wesentlich, und zwar a) die Gewichtung von ausgewiesenen Teilbereichen, b) das methodisch-didaktische Vorgehen und c) die Herausstellung und Nutzung sprachenübergreifender Kompetenzen. Dabei knüpfe ich an die Konzeption des Regelunterrichts Deutsch an, und versuche Ausweitungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Im Deutschunterricht sind die Arbeitsfelder generell als Tätigkeiten ausgewiesen, wobei die konkrete materiale Substanz der Sprache implizit mitläuft. Die allseits akzeptierte Gliederung enthält die Gebiete: mündliche und schriftliche Kommunikation, Texte und Sprachbetrachtung. Außerhalb dieses Rahmens ist der Schriftspracherwerb und Rechtschreibunterricht angesiedelt, in den die explizite Beschäftigung mit der Struktur der Sprache hineingenommen wird. Das Hauptaugenmerk des Unterrichtsgeschehens liegt im Verlauf der Schuljahre letztlich auf der Literalität, der Lese- und (konzeptionellen) Schreibkompetenz. a) Ein Vergleich des Deutschunterrichts mit dem Vorgehen im fremdsprachlichen Unterricht führt in Bezug auf die Bedeutung vergleichbarer Tätigkeitsfelder spezifische Unterschiede in der Gewichtung zu Tage. Dort, im fremdsprachdidaktischen Ansatz, läuft das Lesen gewissermaßen unter der Hand mit, ebenso wie die Rechtschreibung. Hingegen verlangt der Semantisierungsund Formaspekt bei der Wortwahl und Satzbildung erhöhte Aufmerksamkeit. Ein Blick auf die grammatischen Lehrgegenstände beider Fachrichtungen zeigt, dass im muttersprachlichen Deutschunterricht die Auswahl der Lehrgegenstände vor allem durch die Rechtschreibung motiviert wird (Ossner, 2003:363) und in zweiter Linie für den analytischen Umgang mit Texten als Beschreibungsinstrument nutzbar gemacht werden soll (Scherner 2003: 478), während im fremdsprachlichen Unterricht der für die Sprachproduktion nötige Struktur- und Wortschatzerwerb im Mittelpunkt steht. Außerdem haben sich aufgrund der Unterschiedlichkeit der Sprachen und ihrer Struktur- Funktionsbeziehungen spezifische Vorgehensweisen verfestigt, was in den Begrifflichkeiten und ihren Bezeichnungen (Terminologie) zum Ausdruck kommt und für die Schüler eine unmittelbare Erschwernis darstellt. Ein sehr deutliches Beispiel hierfür sind die Glinz‘schen Proben zur Ermittlung der Satzglieder, die als operative Verfahren im Deutschunterricht einen festen Platz einnehmen. Sie sind jedoch für viele andere Sprachen irrelevant, wie etwa das Englische mit seiner festen Wortstellung, aber auch für Sprachen mit vorwiegend eindeutigen morphematischen Affixen und Flexionsendungen, wie das Lateinische oder Türkische, die über freie Satzgliedfolgen verfügen. Für eine an der Mehrsprachigkeit der Schüler orientierte integrative Sprachdidaktik sollte folglich die Gewichtung der Teilbereiche neu überdacht werden, um eine Balance herzustellen15. Des Weiteren ist für das Ziel eines integrativen Sprachunterrichts eine kritische Sichtung der jeweiligen Beschreibungssprache vonnöten. b) Auch im Bereich des Methodischen ist generell eine kritische Bestandsaufnahme angesagt, wenn es um den Erwerb mehrerer Zeichensysteme (= Sprachen) geht. Sinnvollerweise könnte m. E. das „altmodische“ Abschreiben und Auswendiglernen wieder belebt werden, dazu auch das Nacherzählen von textlichen Vorgaben, da somit Sprachmaterial vorgegeben wird und die Verarbeitung von Mustern angeregt wird. Zudem können Abweichungen von der Sprachnorm sichtbar werden. (Paefgen 2006) Auch sog. „textnahes Lesen“ ließe sich m.E. modifiziert und ausgeweitet im Mehrsprachigkeitskontext fruchtbringend anwenden. 15 Vgl. dazu die Ausführungen von Belke 2003 zum Grammatikunterricht S.169f. 11 Weiterhin wäre der Umgang mit Wörterbüchern zu stärken, und zwar sowohl einsprachigen als auch zweisprachigen, vorzugsweise für die individuellen Familiensprachen. Automatisch wird damit der Blick auf eine neue Art von Grundwortschatz gerichtet, wenn semantische und funktionale Kriterien sowie die linguistische Transparenz Schwerpunkte bilden. Denn vor der Benutzung ist zu fragen: Welche Wörter sind es wert, nachgeschlagen zu werden? Wie sind deren Grundformen? - Die Rechtschreibung wäre dabei implizit gegeben, auch Fragen der Wortmorphologie gelangen automatisch ins Blickfeld.16 Weiterhin ist die Sprachmittlung als Dolmetschen und Übersetzen einzubeziehen, ebenso wie der Sprachenvergleich auf Wort- und Satzebene, der das analytische Denken herausfordert. - Es bedarf in dem Zusammenhang keiner besonderen Begründung, die Kinder und Jugendlichen das Internet nutzen zu lassen, wohl aber ist eine sachgerechte Anleitung unverzichtbar. c) Der dritte Aspekt betrifft die Schülerorientierung besonders zentral. Es geht zum einen um die Transferkompetenz im Sprachlichen, die traditionell dem Lateinunterricht zugeschrieben wird. Die Erkenntnis, dass grammatisches Denken an einer morphologisch gut ausgebauten Sprache vorzüglich geschult werden kann, muss jedoch nicht zwingend zum Lateinischen führen.17 Generell sprachenübergreifend sind zum anderen die Kommunikation und literalen Kompetenzen des Lesens und Schreibens und der Zugang zur Literatur. Diese Fähigkeiten nun können wie im Deutschen auch in anderen Sprachen aufgebaut werden. Sie sind grundsätzlich an keine Sprache gebunden. Vom Standpunkt der Mehrsprachigkeit aus ergeben sich zudem völlig neue Möglichkeiten der Fokussierung auf literarische Interpretation und Sprachgestaltung, wenn Texte eigensprachlich und/oder anderssprachlich rezipiert bzw. produziert werden. Unterschiedlichkeiten in der Sprachsubstanz im Zusammenspiel von Textprozeduren können dabei bewusst wahrgenommen und gelernt werden. Die etablierte vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) arbeitet traditionell schon immer auch mit Übersetzungen. Weiterhin ist die Lesesozialisation, ein genuines Aufgabengebiet der Grundschule, ebenfalls nicht an eine einzige Sprache gebunden, sodass die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur die Sprachenvielfalt einschließen kann. Auch in dem Feld sind pädagogische Anleitungen dringend erforderlich. Die Bearbeitung der hier notwendigerweise sehr kurz skizzierten sprachdidaktischen neuen Aufgaben im Zusammenhang der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit kann selbstverständlich nicht allein den praktizierenden Lehrkräften aufgetragen werden. Diese haben jedoch eine entscheidende Schlüsselstellung inne. Betroffen sind ausnahmslos alle Fachkräfte, gegenwärtig werden sie aufgefordert, sich zu vernetzen und fortzubilden. Das reicht aber nicht aus, denn ihre eigene schulische Bildung und ihre Berufsvorbereitungsphase liegen generell Jahrzehnte zurück. Sie gehören also einer Zeit an, als die Mehrsprachigkeit im sprachpädagogischen Diskurs noch kaum eine Rolle spielte und in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wurde. Das ändert sich gerade.18 Man darf also verhalten optimistisch sein! 16 Das Türkische ist systematisch gut erfassbar, da es kaum Vorsilben gibt und bei den alphabetisch angeordneten Wörterbucheintragungen die Stämme leicht zu erkennen sind. 17 Dazu eignet sich gleichermaßen das Türkische. Für die Verfechter des Schulfaches Latein kommen mehrere Argumentationslinien zusammen: Die Eigenerfahrung, dass man die Schulgrammatik erst im Lateinunterricht „begriffen“ habe und dass das Lateinische die Basis für die eigene abendländische Kultur darstellt. 18 Die Flüchtlingsströme und die virtuellen Vernetzungen sind unübersehbar, die Mobilität und Informationsflut ein unübersehbares Kennzeichen der heutigen Zeit. 12 4. Ausblick Zum Abschluss seien einige Gedanken angeführt, die zeigen sollen, wo mittel- und langfristig angesetzt werden kann: Suchen wir zunächst nach den Gründen für die Vermeidungshaltung der Pädagogen, d.h. ihr Interesse, den Mehrsprachigkeitsaspekt möglichst aus der eigenen Arbeit auszuklammern, so lässt sich konstatieren, dass für Primarstufen- und Sachfachlehrkräfte aufgrund ihrer eigenen Schulbildung eine gewisse Berührungsangst gegenüber fremden Sprachen besteht; man traut sich im professionellen Kontext nicht an sie heran. Im Sekundarbereich ist die Grundhaltung ähnlich, es kommt jedoch hinzu, dass die Sprachlehrkräfte aus ihrem eigenen philologisch geprägten Studium den fremdsprachdidaktischen Zugang kennen und daraus die Unmöglichkeit ableiten, weitere Sprachen und Kulturen in den Blick nehmen zu können. Hier muss angesetzt werden, indem man eine allgemeine linguistische Orientierung als Kompetenzinhalt modelliert und vermittelt. Das ist langfristig bei der universitären Lehrerbildung anzusiedeln und impliziert weitgehende Veränderungen. Ich schlage die Institution eines LINGUISTICUMs vor, die Strategien enthalten soll, mit denen man den Umgang mit Sprachen in der Schule zeitgemäß gestalten kann.19 Wie lassen sich die notwendigen Fähigkeiten beschreiben und erwerben, die den gleichberechtigten Umgang mit allen Sprachen im Schulbetrieb ermöglichen? Und welche organisatorischen Voraussetzungen müssen für die Durchsetzung der Perspektivenwende gegeben sein? Ein Linguisticum müsste mindestens folgende Elemente enthalten: Wissen über Sprachen, Typologie, Sprachverwandtschaften Überblick über Prinzipien und Kategorien zu grammatischen Funktionen Lautstrukturen und Schriftsysteme Historische Aspekte, Geltungsbereiche, Verbreitung, politische Bedeutung von Sprachen Diese Gebiete gehören in das bisher wenig verbreitete Gebiet der allgemeinen Linguistik. Zum didaktischen Feld mit Praxisbezug ist weiterhin als Kompetenz für Lehrkräfte zu fordern: 19 Fähigkeit zur Fokussierung von Formaspekten in der sprachlichen Interaktion Anleitung zum Umgang mit ein- , zwei- und mehrsprachigen Wörterbüchern Ersteinstieg in fremde Sprachen: Chunks isolieren, Redewendungen u.ä. lernen Entsprechende Quellen im Internet kennen und nutzen Den Mehrsprachigkeitsansatz gesellschaftlich legitimieren Das obligatorische Latinum könnte in seiner Bedeutung radikal gekürzt werden, während man die Tugenden des Lateinunterrichts (genaues linguistisches und textliches Arbeiten) übernimmt. Vgl. dazu meinen Aufsatz 2014 „Interlinguale Zugänge zum Themenbereich Grammatik/Reflexion im Deutschunterricht“. 13 Die Bemühungen könnten unter dem allgemeinen Motto stehen: Erklär mir die Sprachen! - in der Schule, parallel zu dem Auftrag: Erklär mir die Welt!20 Als allgemeines Ziel schulischer Sprachbildung ist die lehrer- und schülerseitige Handlungskompetenz zu postulieren, die in der selbständigen Weiterentwicklung aller mitgebrachten Sprachkenntnisse besteht. Als politisches Ziel ist die Überwindung der Dualität zwischen der „verschämten“ und der „erwünschten“ Mehrsprachigkeit zu sehen. In dem Kontext ist Deutsch somit eine unter vielen Sprachen, gleichwohl die wichtigste in Deutschland. Sie bekommt durch die Blickrichtung von außen eine breitere Basis und kann durch sprachenübergreifende kompetente Anleitung zur Nutzung von Informationsangeboten im Internet die individuelle kognitive Förderung umfassend fördern. Wenn die schulischen Fächer ihre Organisationsstruktur und Arbeitsweisen zusammenführen, könnten im Konzert der Schulsprachen sprachpädagogisch-linguistisch ausgerichtete Innovationen - statt forcierter Interventionen zur Anpassung an den Regelunterricht - einen bedeutenden Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Literatur Baumann, Barbara/Becker-Mrotzek, Michael (2014): Sprachförderung an deutschen Schulen: Was leistet die Lehrerbildung? Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. BMBF (2008): Förderung der empirischen Bildungsforschung durch das BMBF. Bonn/Berlin (Bildungsforschung 22). BMBF (2012): Expertise Bildung durch Sprache und Schrift (BISS). Bonn/Berlin. Bartnitzky, Horst (2003): Sprachunterricht heute. Sprachdidaktik, Unterrichtsbeispiele, Planungsmodelle. Berlin: Verlag Cornelsen. Belke, Gerlind (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Hohengehren: Verlag Schneider. Belke, Gerlind (2012): Mehr Sprache(n) für alle. 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