König Viktor Obwohl ihr Land miserabel dasteht, werden die Ungarn Viktor Orbán am 6. April erneut zu ihrem Premierminister wählen. Warum? Eine Reise durch das Fidesz-Land. Der glatzköpfige Mann im grauen Langarmshirt könnte immer noch weinen, wenn er an jenen Samstagnachmittag im April 2002 zurückdenkt. Gemeinsam mit seinem Vater stand János Vigh damals auf dem Kossuth-Platz hinter dem ungarischen Parlament in Budapest. Um sie herum, so erzählt er es heute, wehten ungarische Flaggen, der junge Ministerpräsident Viktor Orbán hielt eine Rede, und hunderttausende Menschen mit rot-weiß-grünen Anstecknadeln, verbunden durch ihre Liebe zur Regierungspartei Fidesz, sangen mit Tränen in den Augen die Nationalhymne. “Das war ein erhebendes Gefühl“, sagt Vigh. Knapp zwölf Jahre später ist es ruhig auf dem Kossuth-Platz. Wie damals steckt Ungarn mitten im Wahlkampf. In den Medien spürt man das, doch im Stadtbild kaum. Auf dem hölzernen Plakatständer hinter dem Parlament steht in schwarzer Schrift: “Nur für den Wahlkampf“. Das ist zu lesen, weil kein einziges Plakat auf dem Ständer klebt. Wenige Tage vor der Parlamentswahl am 6. April steht das Ergebnis so gut wie fest: Obwohl die ungarische Wirtschaft darniederliegt, die Arbeitslosigkeit hoch und das Image Ungarns katastrophal ist, steht die nationalkonservative Fidesz unter Orbán in den Umfragen bei 50 Prozent. Unklar scheint nur, ob sie die Zweidrittelmehrheit der Mandate verteidigen kann, die sie 2010 gewann. Aber warum ist eine Partei, die ihr Land laut westlichen Medien und Politikern in eine Halbdiktatur verwandelt hat, so beliebt? Was treibt die Ungarn dazu, wieder Fidesz ihre Stimme zu geben? Wer in der Vorwahlzeit durch das Land reist und mit einem Fidesz-Mitarbeiter spricht, mit Oppositionellen, mit einem Journalisten, mit Studenten und einer unglücklichen FideszWählerin, der bekommt sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Sie zeichnen das Bild einer ideologiefreien Regierungspartei und eines gespaltenen, zutiefst ratlosen Landes. 1. Zwölf Jahre nach jener Versammlung auf dem Kossuth-Platz ist aus dem FideszSympathisanten János Vigh ein eifriger Mitarbeiter geworden. Breitbeinig, die Füße unter dem Sessel verschränkt, sitzt Vigh im orange gestrichenen Gang des Parteibüros in der Universitätsstadt Debrecen, 220 Kilometer östlich von Budapest. Er hat es zum Kommunikationskoordinator der Region gebracht, sein Stadtentwicklungsstudium hat der 36Jährige dafür schleifenlassen. Hat er je an Fidesz gezweifelt? “Nein, niemals“, sagt Vigh. “Ich bin ein zu kleiner Mann, um die großen Entscheidungen zu kritisieren. Manchmal denkst du, die Entscheidung ist mit zu vielen Konflikten verbunden und nicht gut, aber später kommst du drauf, dass es sich ausgezahlt hat.“ Vigh weiß, dass es Ungarn heute, nach vier Jahren Fidesz-Herrschaft, nicht gut geht. Doch das, sagt er mit seiner ruhigen Stimme, liege an der Wirtschaftskrise und den Altlasten aus acht Jahren sozialistischer Regierung. “Seit 2010 hat sich die Lage verbessert, das verdanken wir Fidesz.“ Aber was ist mit der so heftig kritisierten autoritären Tendenz der Orbán-Regierung? Mit dem entmachteten Verfassungsgericht, der angeblich beschränkten Pressefreiheit, den durch die Verstaatlichung der Pensionskassen de facto enteigneten Sparern? Die Liste lässt sich weiterführen, doch für Vigh wurzelt alle Kritik in “Bemühungen der linken Opposition, Fidesz als böse darzustellen“. Dass auch diverse Größen der Europäischen Volkspartei, der Fidesz angehört, Orbán heftig kritisiert haben, davon will er noch nie gehört haben. All die Änderungen, die im Ausland so große Empörung hervorgerufen haben – in Ungarn berühren sie kaum jemanden. “Die Ungarn sind zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um sich mit hoher Politik auseinanderzusetzen“, sagt der Politikwissenschaftler und OsteuropaExperte Dieter Segert von der Uni Wien. 2. Wenn Vigh klagt, die Linke mache sein Land schlecht, dann meint er Menschen wie Szabolcs Kerék-Bárczy. Dessen Ungarn hat mit Vighs Ungarn sehr wenig zu tun. “Verfallende Demokratie“, “strukturelle Korruption“, “oligarchischer Mafiastaat“ – das sind die ersten Begriffe, die dem großen, schmalen Mann mit dem akkuraten Schnurrbart einfallen, wenn man ihn nach der Lage des Landes fragt. An seiner Biografie kann man die Fragilität des ungarischen Parteiensystems ablesen: Der Harvard-Absolvent, 43, engagierte sich lange in einer bürgerlichen Partei, die 2010 aus dem Parlament flog, und arbeitete Ende der 1990er, als Viktor Orbán erstmals regierte, in dessen Büro. Heute sitzt er im Präsidium der Demokratischen Koalition (DK), mit der sich Ex-Premier Ferenc Gyurcsány 2011 von den Sozialisten abgespalten hat, die nun aber gemeinsam mit ebenjenen, mit einer Grünen-Abspaltung und zwei weiteren Parteien, unter dem mäßig prägnanten Namen MSZP-Együtt-DK-PM-MLP, zu den Wahlen antritt. Von der ungarischen Linken kann in Bezug auf Abspaltungen und Zusammenschlüsse also sogar die österreichische Rechte noch etwas lernen. Aber ihre Zersplitterung ist nicht ihr größtes Problem. Sie gilt als visionslos, unehrlich und korrupt – und das nicht ganz zu Unrecht. Die berüchtigte “Lügenrede“ Gyurcsánys vor Parteifreunden 2006 (“Wir haben morgens, abends und nachts gelogen“), die einem Radiosender zugespielt wurde und zu Massenprotesten und seinem Sturz führte, ist noch nicht vergessen. Und erst im Februar musste der stellvertretende Vorsitzende der Sozialisten wegen eines Korruptionsskandals zurücktreten. Eben noch hat Kerék-Bárczy bei einer Kundgebung der Besetzung Ungarns durch die Nazis gedacht, nun sitzt er mit Ringen unter den Augen im Café “Freiheit“ nahe dem Parlament, wo Aufzugsmusik läuft und die anderen Gäste alte Bekannte sind. Konfrontiert mit den Problemen der Opposition, legt Kerék-Bárczy einen an Realitätsverweigerung grenzenden Zweckoptimismus an den Tag. Die Bündnisparteien verbindet nur der Hass auf die Regierung? “Ein Gutes hat das autokratische System: Es hat uns gezwungen, unsere Kämpfe hinter uns zu lassen und zu kooperieren.“ Die Linke liegt in den Umfragen nur knapp vor der rechtsextremen Jobbik? “Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen.“ 3. Als András Bánó Viktor Orbán zum ersten Mal interviewte, da war der heutige Ministerpräsident noch ein langhaariger Revoluzzer. “In den frühen 90ern war er ein häufiger Gast in unserem Programm“, erinnert sich Bánó, heute Moderator des regierungskritischen TV-Senders ATV: “Er war sehr sympathisch. Jung, dynamisch, intelligent. Wir alle dachten, er ist der Mann, der das System transformieren wird.“ Das hat Orbán nun, mit 20 Jahren Verspätung, auch getan – aber anders, als Bánó es sich vorgestellt hatte. Denn Fidesz hat sich gewandelt, von einer liberalen Protestbewegung junger Intellektueller zu einer nationalkonservativen Partei mit Einsprengseln von Neoliberalismus, Rechts- und Linkspopulismus: Fidesz schrieb Gott in die Verfassung, wetterte gegen die EU, führte eine Flat Tax ein und verstaatlichte die Pensionskassen. Was genau Fidesz will, weiß heute kaum noch jemand. “Orbáns einzige Ideologien sind Antikommunismus und Machterhalt“, sagt András Bánó. “Er hat seine Zweidrittelmehrheit nicht benützt, um das Land zu verbessern, sondern um sein Vermögen und das seiner Freunde zu vergrößern.“ 4. Wer wen wählt, ist auch eine Altersfrage, sagt Richard, 22. Seine Großeltern wählten sozialistisch, die Eltern Fidesz, für die Jungen gebe es nur Jobbik. Die Rechtsextremen – nationalistisch, antisemitisch, romafeindlich – zogen 2010 mit 17 Prozent der Stimmen erstmals ins Parlament ein, nun könnten sie noch hinzugewinnen. Besonders beliebt sind sie, quer durch die sozialen Schichten, bei jungen Menschen wie Richard. Der Spanischstudent im blitzblauen Kapuzenpullover mit dem Logo der Budapester Uni hat vor vier Jahren noch Jobbik gewählt – auch er ist “ein bisschen ein Nationalist“ -, am Sonntag wird er wohl zu Hause bleiben: Er hat ein paar Jobbik-Aktivisten kennengelernt und bezweifelt, dass sie gute Politiker wären. “Jobbik ist die einzige Partei, die sich um das Romaproblem kümmert“, sagt Richards Studienkollegin Blanka, 19, rosa Kapuzenpulli, lange Haare, große Sonnenbrille. Sie sitzt neben ihm auf einer Bank auf dem Unicampus im Budapester Zentrum, um sie herum flanieren, plaudern, lernen andere Studenten. Im nordungarischen Komitat Borsod-AbaújZemplén, aus dem Blanka kommt, gibt es viele Roma und viel Arbeitslosigkeit; mit 27 Prozent schnitt Jobbik hier 2010 so gut ab wie nirgends sonst. Blanka schwankt nun zwischen Jobbik und den Grünen. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden Parteien: Sie sind erst seit vier Jahren im Parlament, haben noch nie regiert, hatten noch keine Gelegenheit zu enttäuschen. Sehr viele junge Menschen in Ungarn wirken so ratlos wie Blanka und Richard. Die Älteren, die so lange gar nicht wählen durften, entscheiden sich für ihr jeweiliges kleinstes Übel; die Jüngeren – die erste Generation, die den Kommunismus nur aus Erzählungen kennt – lassen das Wählen lieber gleich. Aber sie stimmen mit den Füßen ab: Frustriert von schlechten Jobaussichten, niedrigen Löhnen und dem Gefühl, nichts ändern zu können, verlassen viele Junge das Land. Die Zahl der in Österreich gemeldeten Ungarn etwa ist von 2011 bis 2013 um mehr als 11.000 gestiegen – stärker als im Zeitraum vom EU-Beitritt 2004 bis 2011. 5. Zoltánné Szőcs ist von Orbán nicht begeistert. Wählen wird sie ihn trotzdem, denn die Alternative gefällt ihr noch weniger: “Die Sozialisten haben sich nur selbst bereichert und das Land aushungern lassen“, sagt sie. Es ist derselbe Vorwurf, den die Linken Fidesz machen. Szőcs, 53, wasserstoffblond, Ledermantel, lange Nägel, steht rauchend vor ihrem Wohnhaus in der 35.000-Einwohner-Stadt Ózd nahe der slowakischen Grenze. Das Haus ist ein Plattenbau, einer von vielen in der ehemals blühenden Industriestadt, und die gelernte Näherin Szőcs ist eine von vielen Arbeitslosen hier. Als nach der Wende die Fabriken schlossen, standen zehntausende Ózder auf der Straße. Im Ortskern erinnert die bronzene Statue eines Eisengießers noch an bessere Tage, heute rostet die Stadt vor sich hin. “Die Leute gammeln auf der Straße herum, weil niemand etwas zu tun hat“, sagt Szőcs. Ihre Kinder machen trotz Matura Aushilfsjobs. Fidesz wirbt damit, dass die Arbeitslosigkeit – Ungarns wohl größtes Problem – in den letzten Jahren stark gesunken sei. Das stimmt nur bedingt: Wer heute länger als drei Monate arbeitslos ist, muss “gemeinnützige“ Arbeit verrichten – Straßen kehren, Hecken schneiden -, um die Sozialhilfe nicht zu verlieren. “Die Regierung rechnet diese Jobs in die Beschäftigungsstatistik ein“, erklärt der Ungarn-Experte Sándor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. “Außerdem haben viele, die im Ausland arbeiten, noch eine Adresse in Ungarn. In der offiziellen Statistik gelten auch sie als beschäftigt.“ Nicht nur bei der Arbeitslosigkeit geriert sich Fidesz als Partei der kleinen Leute. Der große Wahlkampfschlager der Partei sind die kürzlich erfolgten Senkungen der Wohnnebenkosten. “Davor konnte ich mir oft das Heizen nicht leisten“, sagt Zoltánné Szőcs. Die Kostensenkung für Wasser, Strom, Gas und Müllabfuhr kommt nicht etwa durch staatliche Subventionen zustande – die Regierung zwingt die privaten Versorger einfach per Gesetz, ihre Dienste billiger anzubieten. Der traditionell starke Nationalismus der Ungarn hilft ihr dabei: Die Versorger seien allesamt “ausländische Multis“, die sich schon lang genug auf Kosten der Ungarn bereichert hätten, wettert Ministerpräsident Orbán. Wir gegen den Rest der Welt: Orbán bedient sich dieser Rhetorik oft und gern, und sie scheint in Ungarn noch besser zu funktionieren als anderswo. “Protest richtet sich in Ungarn oft gegen die EU, die Banken und so weiter. Protestwähler sind also nicht zwangsläufig Oppositionswähler“, sagt János Molnár von der Budapester Friedrich-Ebert-Stiftung. “Fidesz kann die Unzufriedenheit der Menschen besser kanalisieren als die Opposition.“