Gerechtigkeit tut irgendwie gut

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Name/Anschrift:
Sonja Buddensiek
St.-Monika-str. 3e
31789 Hameln
Geburtsdatum:
03.03.1996
Telefonnummer:
05151/560159
E-Mail:
[email protected]
Gerechtigkeit tut irgendwie gut
Als ich aus der Werkstatt nach Hause fuhr, hörte ich schon von weitem die Sirenen. Und
bevor ich auch nur noch 2 Straßen entfernt war, wusste ich bereits, dass sie etwas mit mir
zu tun hatten. Intuition nennt man das, etwas, was mir sonst nie gegeben war – aber in
diesem Moment wusste ich es einfach.
Als ich noch einen Block von meiner Wohnung entfernt war, verstummten die lauten
Geräusche und als ich um die letzte Ecke in das kleine Neubaugebiet mit lauter gleich
aussehenden roten Backsteinhäusern einbog, war nur noch geschäftiges Treiben zu
sehen. Um mein Haus war ein rot-weißes Absperrband gezogen, einige schaulustige
Nachbarn standen drum herum.
Ich stieß die Tür auf, sprang aus dem Wagen, lief schnellen Schrittes auf die Polizisten zu.
Doch einer hielt mich auf: „Sie können hier nicht durch, Sir!“ Im selben Moment kam Luna
auf mich zugestürzt, die Frau eines guten Freundes.
„Es tut mir so Leid!“, rief sie und warf die Arme um meinen Hals. Schluchzend. Und ich
wusste, dass meine Schwester tot war.
*
Ich stand zu sehr unter Schock, um am selben Abend befragt zu werden. Luna und Jan
nahmen mich mit zu sich, da das Haus noch immer untersucht wurde. Außerdem wollte
ich dorthin auch gar nicht zurück. Die beiden kümmerten sich rührend um mich, obwohl
sie selbst voller Kummer waren – aber ich konnte keine Dankbarkeit empfinden. Da war
nichts. Mein Kopf war so leer, dass ich nicht einmal schlafen konnte. Und bevor ich am
nächsten Morgen zur Wache fuhr, um meine Aussage zu machen, hatte ich kein Auge
zugetan.
Nachdem ich mich durchgefragt hatte, saß ich schnell einem ernsten Mann mit kleinem
Kinnbärtchen gegenüber, der sich unentwegt die Wange kratzte. Er stellte sich als
Kommissar Lukas vor, leitender Ermittler. Sein schütteres Haar war an einigen Stellen
noch braun, seine Nase klein und sein Kinn runzlig. Ein wenig erinnerte er mich an
Rumpelstilzchen, nur dass seine Lippen sich zu einem beruhigenden Lächeln verzogen.
Dann erhob er sich und bedeutete mir, mitzukommen, führte mich einige Treppen hinunter.
Es wurde immer kühler und ich wusste genau, was nun geschah. Mein Herz wummerte,
meine Adern konnten das viele Blut nicht mehr aufnehmen und schienen zu platzen,
meine Haare an den Armen und Beinen stellten sich auf. An den Rändern meines
Blickfeldes flackerte es leicht.
Herr Lukas schob eine Stahltür auf und eisige Luft schlug uns entgegen. Ein kahler Raum
mit hohen, dünnen Schränken hatte ich erwartet und genau das bekam ich auch zu sehen
– nur, dass in der Mitte mehrere Metalltische nebeneinanderstanden und sich auf dem
ersten eine Gestalt unter einem Laken abzeichnete.
Ich schluckte krampfhaft, bevor ich dem Kommissar dorthin folgte, der daraufhin das Tuch
zurückschlug. Entsetzt wich ich zurück und stolperte dabei fast über meine eigenen Füße,
bevor ich mich gefasst hatte und wieder näher treten konnte.
„Ist das Ihre Schwester, Herr Neumann?“
Nein, nein, nein. Das konnte sie nicht sein. Die Wangen zu eingefallen, die Haut zu hell,
die Lippen zu blau. Für einen Moment konnte ich mir einreden, dass das nicht meine
Schwester, meine schöne, fröhliche, liebevolle Schwester war. Dann war der Augenblick
vorbei und ich erkannte die Realität. Das Haar war blutverschmiert und der Hinterkopf lag
zu flach – als wäre sie heftig gestürzt. Aber das konnte nicht sein, schließlich war ich hier
bei der Mordkommission. Also ein Schlag? Von wem? Und warum?
„Herr Neumann?“
Ich blinzelte dreimal kurz und zweimal lang, bevor ich ihn anschaute und nickte. Der Mann
seufzte. Eine Mischung aus Mitleid und Erleichterung. Ich drehte mich um und stürmte
nach oben, weg von diesem schrecklichen Raum.
*
Einen Moment durfte ich mich abreagieren, dann war die Befragung dran. Ich wusste, was
kommen würde und dennoch fühlte ich mich unvorbereitet.
„Wo waren Sie gestern zwischen 15 und 17 Uhr, Herr Neumann?“ Die Frage kam nicht
unerwartet, natürlich nicht. Trotzdem war ich einen Moment wie gelähmt, öffnete den
Mund, schloss ihn, öffnete ihn erneut. Beschwichtigend sagte mir der Mann, das sei eine
reine Routinefrage. Das wusste ich Dennoch: Es war schwer.
„Ich war in der Autowerkstatt, in der ich arbeite. Hansi repariert. Meine Mitarbeiter und
mein Chef können das bezeugen.“
Schweigen. Kommissar Lukas machte sich Notizen. Ich rutschte einen Moment auf dem
Stuhl herum, hielt es dann aber nicht mehr aus.
„Bitte, sagen Sie es mir. Ich muss es wissen. Was ist passiert?“
Sein Blick war ein wenig verhangen, als er mich wieder anblickte. „Wie es aussieht, wurde
ihrer Schwester mit einem schweren Gegenstand mit großer Gewalteinwirkung auf den
Hinterkopf geschlagen. Von einer kleineren Person. Sie hat nicht lang gelitten. - Hatte sie
irgendwelche Feinde, von denen Sie wissen?“
*
Ich weiß nicht, wie ich diese Befragung überlebt habe. Nein, sie hatte keine Feinde. Ja, wir
haben gemeinsam in einem Haus gelebt. Weil sie vor ein paar Monaten von ihrem Mann
verlassen worden ist. Nein, ich weiß nicht, ob er das gewesen sein könnte.
Zwei Tage später wurde meine Wohnung wieder freigegeben. Aber ich konnte nur einmal
hineinschauen, bevor ich mich draußen übergeben musste.
Jasmin, warum? Warum musstest du sterben? Wer hat dich getötet? Und wie soll ich ohne
dich weitermachen?
Die Polizei hatte unsere Verwandten benachrichtigt, das wurde mir mitgeteilt, da ich es
nicht selbst machen wollte. Mein Vater hatte sich nicht gemeldet, natürlich nicht. Er war zu
sehr mit seiner jungen Frau beschäftigt.
Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass Jasmin vielleicht doch Feinde gehabt
hatte. Mit der Neuen unseres alten Herrn hatte sie sich nie verstanden, die beiden
spuckten Gift und Galle. Um weiterzuhelfen, rief ich auf der Wache durch und gab die
Informationen durch. Gut möglich, dass mehr dahinter steckte.
Ich zog bei Luna und Jan ein und wusste nicht, was ich tun sollte.
*
Am nächsten Tag wurde ich erneut zur Polizei gerufen. Dort angekommen händigte mir
Kommissar die Informationen der Bank ein, die er sich über Jasmin beschafft hatte. Mit
dem Finger fuhr er ein paar Zeilen entlang, bis er auf eine Zahl tippte.
Verwirrt runzelte ich dir Stirn – und begriff dann, was dort schwarz auf weiß stand: Bei
meiner Schwester waren eine Woche zuvor 20000 Euro auf dem Konto eingegangen.
Sprachlos wischte ich mir über die Stirn, bevor ich den Blick hob.
„Wussten Sie etwas davon?“, fragte mich Herr Lukas und ich konnte nur den Kopf
schütteln.
„Keine Ahnung, woher das kommt. Sie ist Buchhalterin. Da verdient man nicht so viel.“ Ich
schluckte. Mein Herz schlug ungewöhnlich schnell.
„Richtig“, antwortete der Polizist. „Wir vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen
dem Geld und dem Tod ihrer Schwester gibt. Bitte, sagen Sie Bescheid, sollte Ihnen noch
etwas einfallen. Ihre Eltern sind zur Befragung für morgen Vormittag geladen, ebenso Ihre
Stiefschwester. Vielleicht finden wir dann Näheres heraus.“
Ich war wieder verstummt und teilte ihm nicht mit, dass die Frau meines Vaters nicht
meine Mutter war.
*
Sobald ich wieder zuhause war, wusste ich, dass ich mich überwinden musste. Jetzt.
Sonst würde ich die Wohnung nie wieder betreten können. Gardinen bewegten sich und
ich wusste, dass die neugierigen Nachbarn wieder auf Klatschjagd waren.
Auf dem Weg zum Haus sah ich überall hin, nur nicht zum Eingang, durch den ich gleich
würde gehen müssen. Die Blumen mussten gegossen werden. Und die Hecken
geschnitten. Ich blieb kurz stehen, um mich zu sammeln, und ging dann weiter, mit
klopfendem Herzen und kurzen Atemzügen.
Beinahe schon andächtig schloss ich die Tür auf, machte noch einmal kurz die Augen zu
und trat in den Flur. Ich schaute mich nicht um, wollte nicht sehen, ob noch Blutspuren
übrig waren, sondern lief so schnell wie möglich in Jasmins Bereich. Ihre beiden Zimmer,
die sie hatte bewohnen dürfen; aneinanderliegendes Schlaf- und Arbeitszimmer. Natürlich
war mir klar, dass die Polizei bereits alles durchsucht hatte – dennoch wollte ich mich
vergewissern, etwas finden, irgendetwas.
Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat, ich begann einfach mit meiner planlosen Suche,
wühlte in Schubladen Schränken, Regalen, doch all das brachte nichts Neues zum
Vorschein. Frustriert setzte ich mich einen Moment auf den Stuhl vor den Schreibstil, doch
ehe ich mich's versah, war aus dem Moment schon eine Stunde geworden. Ich stand
wieder auf, machte mir in der Küche ein Brot und schaltete den Fernseher ein, um mich
abzulenken.
Bevor ich allerdings irgendetwas schauen konnte, vibrierte mein Handy in der
Hosentasche und kündigte mir eine SMS an. Überrascht stellte ich fest, dass sie von Lara
kam. Der Tochter der neuen Frau meines Vaters. Die nun darum bat, so spät noch anrufen
zu dürfen. Um es ihr leichter zu machen, wählte ich einfach ihre Nummer und sie hob
wenige Sekunden später ab, als hätte sie daneben gestanden.
„Mark, bist du das?“, fragte sie etwas atemlos, obwohl sie wusste, dass ich es war. Meine
Nummer war eingespeichert – unser Verhältnis war gut im Gegensatz zu dem zu ihrer
Mutter.
„Klar. Du wolltest anrufen?“
Sie räusperte sich und schaffte es irgendwie, dabei unangenehm berührt zu wirken. „Ja.
Ja. Ich habe davon gehört – von Jasmin. Ich weiß, mit ihr habe ich mich nie so verstanden
wie mit dir...“ Das stimmte. Die Beziehung war maximal lauwarm gewesen. „...aber ich
wollte dir mein Beileid aussprechen. Es tut mir so Leid! Das muss schwer sein, ich kann's
mir gar nicht vorstellen. Wie geht es dir?“ Aneinandergereihte, leere und geradezu
planlose Sätze. Das passte so gar nicht zu Lara.
„Wie geht es dir? Du klingst...seltsam“, sagte ich daher, auch, um zu verhindern, dass sie
mich weiter ausfragte. Ein Seufzen war ihre Antwort.
„Könnten wir...könnten wir uns die Tage mal treffen? Übermorgen zum Beispiel? Ich würde
mich so gern mit dir unterhalten.“
Ich dachte daran, dass ein bisschen Ablenkung mir durchaus gut tun würde und sagte
schnell zu. Richtig Lust hatte ich nicht, allein sein war mir durchaus lieber, aber ich kannte
Lara: Sie würde nicht locker lassen.
„Super! Erinnerungen austauschen ist in einer solchen Situation ganz wichtig, habe ich
gehört. Okay?“ Immer noch war ihre Stimme seltsam atemlos, als hätte sie große
Anstrengung, das Gespräch so weiterzuführen.
„Sag mal, was machst du da eigentlich? Du klingst wirklich, als würdest du gerade etwas
schweißtreibendes machen.“
„Das ist das Laufband. Ich wollte ein bisschen trainieren. Und mache damit jetzt weiter. Bis
übermorgen!“ Und ehe ich reagieren konnte, hatte sie aufgelegt. Ich warf das Telefon auf
den beigefarbenen Sessel und griff nach der Fernbedienung.
Während ich zappte, ging ich weiter zum großen schwarzen Eichenschrank in der Ecke
und zog mir ein Bier heraus. In dem Moment fiel klappernd etwas um. Verwirrt schob ich
meinen Kopf so weit es ging zwischen Tür und Regal und entdeckte dann ein kleines in
Leder eingebundenes Büchlein.
Das kenne ich doch.
Jasmins altes Tagebuch! Aber was hatte es in unserem Schrank zu suchen, versteckt
neben den Bierflaschen? Als ich es aufschlug, flatterte mir sofort ein kleiner Zettel
entgegen. Zufall? Auf keinen Fall. Das Universum musste seine Finger im Spiel gehabt
haben, damit ich das Versteck meiner Schwester fand.
Auf dem Papier stand ein völlig verwirrender Zahlencode: GMX-MARIHUANAx2DIESIEBENZWERGE. Wobei, ein Code? Meine Schwester war nie besonders
geheimnisvoll gewesen – oder gar gut im Verheimlichen. Daher war das auf diesem Zettel
wohl das Naheliegende, nämlich Name und Passwort für einen GMX-Account. Beides
herrlich typisch. Mir kamen beinahe die Tränen bei dem Gedanken und ich konnte sie nur
mit Mühe wieder hinunterschlucken.
Fahrig stellte ich die Flasche Bier auf dem Couchtisch ab, dann holte ich meinen Laptop
vom Schreibtisch in meinem Zimmer, fuhr ihn in aller Schnelle hoch und gab kurz darauf
die Buchstaben und Zahlen ein. Jasmin hatte offensichtlich tatsächlich darauf vertraut,
dass niemand ihr absolut leichtes Versteckt finden würde – aber wer sucht auch in
Bierflaschen?
Es klappte. Neue Mails gab es keine – dafür aber allerlei Interessantes im Postfach. Und
alle Nachrichten von einem Bienchen71. Ich klickte wahllos auf irgendeine in der Reihe
und wurde beinahe von einem Gewaltausbruch in Worten niedergeschlagen.
du dummes stück scheiße, wir hatten eine vereinbarung! das geld ist gezahlt, also lass die
die spielchen sein und rück das video raus! pass auf, was du tust – oder nicht tust! mit mir
nicht, du miese ratte!
Ein Video. Es ging um ein Video. Daher das Geld! Aber wen hatte sie erpresst – und vor
allem, womit?
Der Mailaustausch war rege gewesen; ich klickte mich durch die Texte und überlas dabei
den Spam, immer auf der Suche nach Hinweisen. Eine Bankverbindung war nirgends
angegeben – von einem Tag zum anderen war das Geld plötzlich bezahlt. Aber die Polizei
würde den Eingang schon noch rückverfolgen können.
In diesem Moment hatte ich mich jedoch bis nach hinten zur drittletzten Nachricht
durchgeklickt – und ahnte im selben Moment, dass die Arbeit vielleicht nicht mehr nötig
wäre.
Ich habe ein Video deiner kleinen Eskapade. Weißt du, welche ich meine? Gespeichert auf
meiner Card. Tu dir selbst einen Gefallen und mach was ich dir sage. Das könnte dich
sonst...ruinieren...
Ich schmiss den Laptop regelrecht von mir und stürmte wieder in Jasmins Zimmer. Ihren
PC hatten die Bullen – wo also konnte sie die Card haben? Wieder wühlte ich mich durch
ihre Sachen, aber es gab so viele Schubladen, so viele Regale. Viel zu viele. Gegen 2 Uhr
morgens gab ich auf und ging ins Bett, frustriert, ausgelaugt. Und geplagt von
Vorstellungen, in denen meine Schwester immer und immer wieder erschlagen wurde.
*
Ein paar Stunden später saß ich wieder hellwach im Bett, schlug die Decke zurück und lief
erneut in ihr Zimmer. Ein Geistesblitz im Schlaf – das alte kleine Netbook! Ich wühlte
herum, bis ich es in einer Kiste fand, fummelte herum, konnte ohne Licht nichts sehen.
Doch, da: Ein kleiner Gegenstand. Keine Card, ein Stick. Auch egal, vielleicht das Richtige.
Ich stieg die Treppen hinunter ohne Licht zu machen, stolperte einmal fast und fürchtete
mich ein bisschen, fand aber, dass das jetzt so gehörte. Jetzt war ein wichtiger Moment.
Lichtschein könnte mich aufwachen lassen.
Ich stürmte zu meinem Laptop und war unendlich froh, dass er auf Stand-By war, sodass
er sofort da war. Ich steckte den Stick ein, hektisch, fahrig, brauchte drei Anläufe. Dann,
Datei gefunden, ein Video im Ordner – ja! Endlich hatte ich etwas, womit ich der Polizei
auf der Suche nach dem Mörder weiterhelfen konnte, Jasmin, ich räche dich!
Die Datei spielte sich ab und ich erkannte schnell, was sich in der Aufnahme abspielte.
Natürlich: Eine Sex-Szene. Eine ziemlich ungezügelte noch dazu. Zoom. Die Frau sah
man nur von hinten, den Mann von vorn. Ich rieb mir die Augen, hoffte doch auf einen
Traum. Nichts da.
Mein Freund Jan war der ekstatische Typ – und auf ihm saß meine Stiefmutter.
*
Kommissar Lukas war beinahe sofort bei mir, nachdem ich gleich nach meiner Entdeckung
in die rund um die Uhr geöffnete Wache gestürmt war.
„Ich habe etwas für Sie“, sagte ich atemlos und reichte ihm den Stick. „Das ist ein Video.
Und es könnte mit dem Mord zusammenhängen.“
„Wo haben Sie das her?“ Misstrauisch runzelte er die Stirn.
„Gefunden. Im alten Netbook meiner Schwester.“ Mein Magen krampfte sich zusammen.
„Es könnte hilfreich sein. Vielleicht ist sogar jemand darauf der Mörder.“
Nickend sah er mich weiter an. „Wir werden uns das Material anschauen. Danke für Ihre
Hilfe. Wir halten sie auf dem Laufenden.“
„Ich denke, ich weiß, wer die Personen in dem Video sind“, sagte ich und konnte eine
leichte Übelkeit nicht unterdrücken. Ein schlechtes Gefühl, so etwas zu sagen. „Jan Läufer
und Madeleine Neumann.“
Der Kommissar sah mich an. „Letztere ist ihre Stiefmutter.“
Ich nickte. „Ja. Sie hat dieses unverwechselbare blonde Haar.“
Einen Moment lang schwiegen wir uns an, während er nachdenklich mit dem Kopf wippte.
Dann gab mir Herr Lukas die Hand und war gleich darauf verschwunden.
*
Noch am selben Abend stand die Polizei wieder in unserer Straße. Als ich die Tür öffnete,
kam der Kommissar gerade mit Jan aus der Tür. Luna blieb stehen und lehnte sich an den
Rahmen, sichtlich erschüttert. Ich überlegte, ob ich hinübergehen sollte, doch das erschien
mir scheinheilig – schließlich hatte ich meinen Freund und ihren Mann der Polizei
geradezu ausgeliefert.
Ich ging wieder ins Haus, als das Telefon klingelte. Bevor ich abnahm, wusste ich schon,
wer am anderen Ende war. Wenn die Polizei gerade Jan einsammelte, hatten sie gewiss
auch schon Madeleine.
„Mark, gerade wurde meine Frau abgeführt! Was hast du getan?“ Keine Begrüßung, keine
Erkundigung – nur eine Beschuldigung. Wie immer.
„Ich habe ein Video gefunden, mit dem Jasmin jemanden erpresst hat. Darauf war deine
geschätzte Geliebte“, erwiderte ich und konnte ein bisschen Genugtuung nicht aus meiner
Stimme heraushalten. Die Frau war ein Biest und das wusste jeder außer ihm. Mit seinem
Geld konnte sie sich alles kaufen, ohne, dass er etwas dazu sagte. Er war ihre GelddruckMaschine.
„Ich habe nur der Polizei geholfen.“ Wie immer eine möglichst kurze Antwort. Um ihm ja
keine Gefühle zu zeigen. Gelernt von: Jasmin. Und immer wieder hilfreich, um ein
Gespräch schnell zu beenden.
„Wie kannst du der Polizei helfen, indem du meine Frau verhaften lässt?“
„Mein Gott, frag nach. Ich habe zu tun.“ Ich drückte auf die rote Taste, damit er keine
Möglichkeit bekam, noch etwas zu sagen. Bevor er mich noch einmal anrufen konnte,
schaltete ich das Handy lieber gleich aus.
Seufzend ließ ich mich auf mein Sofa sinken und stützte den Kopf in die Hände. Wieso nur
musste meine Schwester sterben? Alles war aus den Fugen geraten, nichts mehr wie
vorher. Mein Kopf fühlte sich zu voll an, wie kurz vor dem Bersten – lange würde ich
alldem nicht mehr standhalten.
Ich wusste nicht, ob ich Madeleine zutraute, Jasmin getötet zu haben. Einerseits war sie
ein Miststück sondergleichen, betrog meinen Vater mit Sicherheit und gab seinen
gesamten Besitz aus. Andererseits hatte sie außer der versiegenden Geldquelle durch die
Offenbarung ihrer Affäre kein Motiv. Es kam also darauf an, was Herr Lukas glaubte.
Bevor ich mich weiter in meinen Grübeleien verstricken konnte, klingelte es an der Haustür.
Davor stand nicht wie erwartet der Kommissar, sondern Lara. Überrascht öffnete ich die
Tür ein Stück weiter und ließ sie eintreten, ohne sie zu begrüßen. Dies holte ich nach, als
sie ihre Jacke auf einen Haken hängte.
„Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet.“ Nun gut, freundlich war sicherlich etwas anderes.
„Freust du dich nicht?“ Sie zog ihre übliche Schnute und ich verdrehte innerlich die Augen.
Dass sie nicht verstand, dass es momentan wichtigeres gab als sich über Besuch zu
freuen, machte mich fuchsteufelswild.
Komm wieder runter. Alles ist gut.
Ich atmete tief durch und schenkte meiner Stiefschwester dann ein etwas gequältes
Lächeln. „Doch, absolut. Möchtest du etwas trinken?“
„Ich nehme, was du nimmst.“ Sie ging wie selbstverständlich weiter ins Wohnzimmer,
während ich eine Flasche Wein und zwei Gläser holte. Als ich zu ihr trat, stand sie an
unserer rostbraunen Kommode, ein Bild von Jasmin in der Hand, bei dem sie an der
Rückseite herum fummelte. Sie schaute hoch, als sie mich hörte und lächelte. „Warum lag
das Bild auf dem Rücken? Wo ist der Ständer dafür?“
„Abgebrochen“, erwiderte ich nur und bedeutete ihr, sich zu mir zu setzen. Erst jetzt
schaute ich sie richtig an – und bemerkte, dass sie ihre gesamten Haare unter ihre graue
Mütze gesteckt hatte, als wollte sie eine neue Frisur verbergen, mit der sie selbst nicht
zufrieden war. Nur ein paar kleinere Härchen schauten hevor. „Hast du dir das Fell
schneiden lassen oder was ist los?“
Ertappt stricht sie sich über den Stoff und grinste. „Die lasse ich besser auf. Es sieht
fürchterlich aus. Ganz schreckliche Farbe.“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ sie
gewähren, während ich uns beiden einschenkte.
„Wie läuft es im Job? Bist du noch Moderatorin beim Nachrichten-Journal?“
„Ja“, sie nickte eifrig, „und es läuft ziemlich gut. Ich bin ehrgeizig, wie du weißt. Wenn mir
nichts dazwischen kommt, dann sollte ich bald einen Sprung schaffen.“
„Du kriegst das schon hin“, erwiderte ich und fragte mich insgeheim, was das wohl sein
sollte, was ihr da dazwischen kommen könnte. Eine Schwangerschaft? Ein Patzer? Ein
Skandal?
Wir hatten nichts mehr zu sagen, nippten nur an den Gläsern und schauten in die Luft.
Das Schweigen war leicht unangenehm, immer wieder wollte ich damit beginnen,
irgendetwas zu sagen, aber ich hatte das Gefühl, dafür war es schon zu spät.
Schließlich erhob Lara sich leicht und verabschiedete sich auf die Toilette, während ich ein
wenig erleichtert allein zurückblieb. Egal, wie lange ich nachdachte, auch jetzt wollte mir
kein vernünftiges Thema einfallen. Über Jasmin zu reden erschien mir scheinheilig, wo die
beiden sich doch so wenig verstanden hatten.
Plötzlich hörte ich von oben ein Rumpeln, das klang, als käme es aus den Räumen meiner
Schwester. Leise machte ich mich auf den Weg nach oben und erwischte Lara kurz darauf
vor ihrem Schreibtisch. Ich lehnte mich in die Tür und sah zu, wie sie in eine der
Schubladen schaute, bevor ich mich räusperte. Sie fuhr herum, mit schreckgeweiteten
Augen und geöffnetem Mund.
„Oh Gott, Mark“, sagte sie nur und schwieg dann kurz. „Es tut mir so Leid.“
„Weshalb bist du wirklich hier?“, fragte ich und konnte den Zorn aus meiner Stimme nicht
komplett fernhalten. Heißglühend pumpte die Wut sich durch meine Adern und vertrieb die
Teilnahmslosigkeit. „Was hast du in Jasmins Sachen zu suchen? WAS?“ Die letzten Worte
schrie ich schon fast.
„Meine Mutter wurde verhaftet wegen dir! Ich wollte schauen, warum, ob das mit
irgendetwas zusammenhängt, was deine allerliebste Schwester zu getrieben hat. Es ist
mein gutes Recht!“ Ihre Augen glänzten feucht und irgendetwas erschien mir seltsam an
ihr. Aber ich konnte nicht benennen, was.
„Du hast kein Recht, hier herum zu schnüffeln. Verschwinde!“ Ich nahm ihren Arm und zog
sie zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und dann in den Flur. „Richte deiner Mutter aus, sie
kann mich mal! Und du mich auch!“
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte ich sie schon rausgeschmissen. Ich fühlte mich
kein Stück besser, nur seltsam leer und irgendwie fehl am Platze. Ich löschte die Lichter
im Haus und ging ins Bett, während ich darüber nachdachte, was mir bloß so komisch
vorgekommen war.
*
Dass die Polizei sowohl bei Jan als auch bei Madeleine einen Durchsuchungsbeschluss
vorgezeigt und daraufhin die beiden Häuser geradezu auseinandergenommen hatte,
erfuhr ich von meinem wutentbrannten Vater, der es doch schaffte, mich noch einmal zu
erreichen. Die Mordwaffe war bei beiden nicht gefunden worden – allerdings hätte mich
das doch auch arg gewundert. Somit war das Ganze noch keinen Schritt weiter. Außer
einer Erpressung und einem Video gab es keinerlei Indizien, keine vernünftigen Motive
und schon gar keine Beweise. Die Ermittlungen traten auf der Stelle und ich wusste, wenn
nicht bald etwas passierte, war alles vorbei.
Fieberhaft dachte ich über die letzten Tage nach, nicht nur dann, wenn ich von Herrn
Lukas dazu aufgefordert wurde, und das war an diesem Tag schon zweimal vorgekommen.
Hatte ich etwas Auffälliges beobachtet? Jemanden gesehen? War mir noch etwas
eingefallen?
Die Antwort auf jede der Fragen war dieselbe: Nein.
Seufzend schnappte ich mir den vollen Müllbeutel und brachte ihn nach draußen, weil ich
mit mir selbst nichts anderes anzufangen wusste. Wie konnte es sein, dass die Polizei
keinen blassen Schimmer hatte? Und den einzigen Hinweis nur durch meine Hilfe besaß,
weil die Helfer offensichtlich zu kurzsichtig waren, um anständig zu suchen?
Ich setzte den Deckel auf die Tonne und dreht mich um, wobei mir erneut die mangelnde
Gartenpflege ins Auge sprang. Voller Tatendrang holte ich mir eine Gießkanne und begann,
die inzwischen wahrscheinlich schon toten Blumen zu bewässern. Arbeit ist eine gute
Methode, um die Gedanken auszuschalten und auch in diesem Fall funktionierte sie
wieder – jedenfalls bis ich zu einem seltsamen Erdhügel gelangte, der in keinster Weise
aussah, als käme er von einem Maulwurf.
Ich stellte die Kanne ab und trat mit dem Fuß auf die Aufschüttung, um sie platt zu treten
und später vielleicht mit neuem Gras zu bepflanzen. Aber nichts da – irgendetwas
verhinderte, dass ich den Hügel dem restlichen Boden angleichen konnte. Verwundert
bückte ich mich und hob die oberste Schicht ab, schüttete sie in den Strauch dahinter. Und
entdeckte schwarzen Stoff. Handschuhe. Leder.
Keuchend sprang ich auf. Verbuddelte Handschuhe, hinter einem Strauch, an einem Tatort
– das konnte nur eines bedeuten. Beinahe schon hyperventilierend, mit Schnappatmung
und seltsamen Blitzen an den Rändern meines Sichtfeldes, lief ich ins Haus, wählte und
ließ mich auf der Stelle mit dem Kommissar verbinden.
*
Fünf Minuten nach meinem Anruf rückte die gesamte Riege an, packte Plastiktüten aus
und verfrachtete mich dann aus der Wohnung.
„Sie kommen mit“, sagte Herr Lukas und ehe ich mich versah, saß ich bereits im Wagen.
„Dazu hätte ich jetzt aber wirklich ein paar kleine Fragen.“
Ich nickte und wir schwiegen, bis wir im Präsidium und dort im Verhörraum waren.
Vielleicht demselben wie letztes Mal, vielleicht auch nicht – die sehen in der Tat alle
genauso aus wie im Fernsehen. Der einzige Unterschied bestand in einem Topf mit einem
pinke Blüten treibenden Kaktus in einer Ecke. In konnte mich nicht entsinnen, ob dieser
schon da gestanden hatte oder neu hinzugekommen war.
Ich war ziemlich froh, kein Verdächtiger zu sein.
„Könnten Sie mir wohl erklären, Herr Neumann, wie es sein kann, dass Sie uns sowohl ein
Video als auch mit Blut befleckte Handschuhe als Indizien liefern, während meine Leute
nichts aufspüren können?“ Seine Stimme war einen Hauch zu weit von neutral entfernt,
weshalb ich wusste: Ich war doch verdächtig. Sehr.
„Hätte ich mich nicht melden sollen? Ich kann doch nichts dafür, wenn Ihre Fahnder
offensichtlich unfähig sind.“
„Nein, nein. Dass Sie diese Handschuhe entdecken konnten, liegt einzig und allein daran,
dass sie dort erst frisch eingegraben wurden. Ich warte jeden Moment auf einen Anruf,
dann wissen wir, wann. Und spätestens heute Abend ist auch klar, von wem das Blut
stammt. Also, Herr Neumann, woher kommen die Handschuhe?“
In die Ecke gedrängt und mit Fragen konfrontiert, die ich nicht beantworten konnte, zuckte
ich mit den Schultern. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich habe Sie angerufen, damit Sie
das herausfinden.“
Herr Lukas kniff die buschigen Augenbrauen zusammen und kniff sich dann in die leicht
schiefe Nase. „Gut. Ich bringe Sie hinaus. Heute Abend melde ich mich zu den
Ergebnissen.“
„Haben Sie etwas in den Häusern gefunden, die Sie durchsucht haben?“, fragte ich
hoffnungsvoll. Madeleine musste es gewesen sein. Es ging nicht anders. Sie hatte das
größte Motiv.
Die Antwort des Kommissars war denkbar knapp: „Das darf ich Ihnen nicht sagen.“
Das hieß dann wohl nein.
*
Bis Abends lief ich im Haus auf und ab, immer und immer wieder, spielte jedes denkbare
und undenkbare Szenario durch und kam letztendlich zu dem Schluss: Ich hatte keine
Ahnung, was die Polizei finden würde. Ich hatte nichts angefasst – aber wer wusste schon,
ob der Täter nicht ziemlich gerissen war?
Schließlich klingelte um kurz vor acht das Telefon und Herr Lukas war dran.
„Das Blut stammt von Ihrer Schwester und ist ein paar Tage alt, die Handschuhe werden
also dem Mörder gehören. Allerdings konnten wir keine weiteren Spuren feststellen – auch
Ihre nicht. Sie sind in diesem Punkt entlastet.“
Ich atmete leise auf.
„Dennoch...“ Er hatte den Satz noch nicht beendet, da ertönte aus meiner Küche ein
derartiges Scheppern, dass ich zusammenzuckte und das Telefon beinahe fallen ließ.
„Was ist los bei Ihnen?“
„Ich weiß nicht.“ Ich flüsterte, obwohl ich wusste, dass das keinen Sinn hatte – der
Angreifer hatte mich so oder so gehört, mal ganz abgesehen davon, dass im halben Haus
die Lichter brannten.
Ich sah mich kurz um, konnte aber in der Diele nichts zum Verteidigen finden. Abhauen
oder bleiben und nachschauen? Wenn die Protagonisten in Filmen auf das Übel zugingen,
waren sie kurz darauf immer dran. Also besser – einfach zur Tür raus.
„Hallo?“, hörte ich undeutlich aus dem Hörer kommen, aber ich konnte jetzt nicht
antworten, ich musste mich darauf konzentrieren, leise nach vorne zu schleichen.
Doch vor der Haustür stand schon jemand. Offensichtlich hatte ich mich doch für den
falschen Weg entschieden.
„Ich wusste, du würdest die leichte Alternative wählen“, zischte die Person und ich
erkannte die Stimme sofort.
„Lara? Was soll das?“
Ohne Antwort kam sie auf mich zugestürzt und legte ihre Hände um meinen Hals. „Hör auf
zu schnüffeln! Hör auf, der Polizei so viel zu erzählen! Und hör auf, mein Leben kaputt zu
machen!“ Ihre Stimme war tiefer, dunkler als sonst, aber unverkennbar und jetzt konnte ich
auch ihr Gesicht sehen. Und in genau diesem Moment ging mir auf, was mich bei unserem
letzten Treffen so gestört hatte. Ihre Mütze war zur Seite gerutscht und entblößte ihre
Haare – hellblond. Genau dieselbe Farbe wie die ihrer Mutter.
„Du warst es“, sagte ich tonlos und ließ mich von ihr niederringen, zu überwältigt, um mich
auch nur in irgendeiner Weise zu wehren. Meine Stiefschwester, unsere Stiefschwester,
hatte Jasmin umgebracht. Lara hatte es getan.
„Und jetzt werde ich es bei dir sein.“ Sie presste ihre sonst so zarten Hände fester um
meinen Hals, legte all ihre Kraft hinein und schnürte mir die Luft an, ließ sie sich auf dem
Weg von der Lunge stauen und mich krampfhaft, wie ein Fisch auf dem trockenen, nach
Luft schnappen. Meine Arme lagen schlaff neben mir, ich fühlte mich leer und wusste
selbst nicht, warum ich nichts tat. Bis ich daran dachte, wie dieses Mädchen über mir
meine Schwester, meine geliebte Jasmin, umgebracht hatte, mit diesen Händen, mit
einem schweren Gegenstand und mit genug Skrupellosigkeit, nun auch noch zu
versuchen, an mir ebenfalls einen Mord zu begehen.
Ich riss meine Hände los und schlug ihr mit der rechten ins Gesicht, sodass sie
erschrocken von mir hinunterfiel. „Glaubst du wirklich, du bist stärker?“, keuchte ich mit
wunder Kehle und in diesem Moment wurde mir klar, dass irgendetwas bei Lara
durchgebrannt sein musste, ansonsten hätte sie eher das Weite gesucht als auf mich
loszugehen.
Sie atmete ebenfalls schwer, lag aber noch am Boden, sodass es für mich ein leichtes war,
sie einfach an den Unterarmen hochzureißen. In meinen Armen erschlaffte sie plötzlich,
ließ alle Luft entweichen und lehnte sich an mich, wie um Schutz zu suchen. Alles an ihr
bebte, ihr Brustkorb, ihre Beine, ihre Lippen und ich hörte das fast lautlose Rollen der
Tränen, als sie sich ergab.
Draußen erschollen, genau wie vor ein paar Tagen, die Sirenen und lautes Türenschlagen
war die Folge. „Hallo? Herr Neumann?“
„Ich bin hier“, rief ich zurück und schluckte ein Mal schwer, wusste nicht, ob ich überhaupt
gehört worden war. Zwei Sekunden später rammte Kommissar Lukas seine Schulter
gegen die Tür - die offensichtlich nicht die Hochwertigste war - und stand dann vor mir im
Flur – endlich da, um die Mörderin meiner Schwester festzunehmen.
*
„Die Gerichtsverhandlung wird in ein paar Wochen stattfinden. Bis dahin sollten Sie sich
überlegen, wie es weitergehen sollte“, sagte Herr Lukas zu mir und ordnete dabei ein paar
Unterlagen auf dem Tisch.
„Dürfen...dürfen Sie mir Einzelheiten nennen?“
Er schaute mich kurz an und rieb sich dann die schiefe Nase. „Ihre Schwester hat Ihre
Halbschwester mit einem Video erpresst, das deren Karriere nicht gutgetan hätte. Sie hat
sich 20000 Euro geliehen und das geforderte Geld bezahlt, doch Ihre Schwester wollte
mehr. Bei einem Streit in Ihrem Haus eskalierte die Situation und sie erschlug Frau
Neumann mit einem Briefbeschwerer, den wir in ihrer Wohnung gefunden haben. Die
Handschuhe hat sie bei einem Besuch bei Ihnen vergraben, um den Verdacht auf Sie zu
lenken, weil daran nur das Blut des Opfers ist. Das ist misslungen, wie wir gesehen
haben.“
All das in etwa hatte ich mir schon gedacht. Und das Schlimmste war: Meine Schwester
war Schuld an ihrem eigenen Tod. Weil sie gierig geworden war nach Geld, das sie nie
hätte verlangen dürfen.
„Woher stammt das Video?“
„Wir wissen es nicht genau. Vielleicht hat Ihre Schwester ihre Nachbarn beobachtet,
Kameras haben wir jedoch nicht gefunden. Wir werden es möglicherweise nie
herausfinden.“
Ich nickte und erhob mich, seufzte, strich mir mit der Hand durch die Haare.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte mich der Kommissar, während er mich hinausbegleitete.
„Es ist alles okay.“ Ich wusste ganz genau, dass nichts mehr okay war. Und auch lange
nicht mehr sein würde. Meine guten Freunde Jan und Luna würden sich unweigerlich
trennen. Meine Schwester war tot, meine Stiefschwester im Gefängnis. Mein Vater und
dessen Frau hassten mich. Ich hatte alles verloren.
Und dennoch: Gerechtigkeit tat irgendwie gut. Also legte ich noch einmal all meine
Ausdrucksstärke in meine Stimme und sagte mit Nachdruck: „Es ist alles okay.“
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