Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten: Kultur und kollektive

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Konzepte von
Interkultureller
Pädagogik
Vorlesung zu Kapitel 6.1
Pädagogik kollektiver
Zugehörigkeiten: Kultur
und kollektive
Zugehörigkeiten
9. Vorlesung
Desiderate einer allgemeinen
interkulturellen Erziehungswissenschaft
 Definition des Kulturbegriffs
 Zusammenhang von Ethnie, Schicht, Geschlecht




und anderen Dimensionen des Kulturellen
Verhältnis von Kultur und Organisation
Beschäftigung mit pädagogischen
Grundprozessen: Sozialisation, Lernen, Bildung
→ 11. Vorlesung
Diskriminierung und Macht → 12. Vorlesung
Professionalisierung der Pädagogik → 13.
Vorlesung
Definition des Kulturbegriffs
Kulturelle Repräsentation
Milieu
Kulturelle Repräsentation vs. Milieu
Bahri: Wir sind eine Gemeinschaft, unser Name ist
Risale-i Nur-Gemeinschaft, halt ich bin dieser
Gemeinschaft zugehörig unser Bruder ist es
ebenfalls er ebenfalls unser Bruder ich weiß nicht
wie er sich selbst sieht aber sicherlich sieht er
sich so, halt wir sind eine Gemeinschaft die
Risale-i Nur Gemeinschaft und unsere meiste Zeit
den größten Teil unserer Zeit unsere Freizeit
verbringen wir mit dem Lesen dieser Werke;
Kulturelle Repräsentation vs. Milieu
Fazil setzt sich hinter das niedrige Pult, man ruft die in
den anderen Räumen sich aufhaltenden
Jugendlichen. Alle kommen und nehmen ihre Plätze
ein. Es herrscht Stille, als Fazil anfängt, den Koran zu
rezitieren. Es ist, so erklärt er nachher, eine Sure über
den Wert der Wissenschaft. Fazil liest aus einem
türkischsprachigen Buch, in dem der Sinn der Sure
erklärt wird. Als das Wort ,fen bilimleri‘ auftaucht,
schaut er zu mir und erklärt: ,Das heißt positive
Wissenschaften.‘ Ich deute ihm an, dass ich das
verstanden habe. Fazil fährt fort. Dabei hält er bei
jedem Wort, das sehr osmanisch-arabisch klingt, inne
und übersetzt es in das moderne Türkisch. Zum
Beispiel solche Worte wie ,zaruri‘ (obligatorisch). Die
Jugendlichen nicken jeweils. Ich verstehe dennoch
nur ungefähr sechzig Prozent der Lesung und frage
mich, ob es den anderen besser ergeht. …
Kulturelle Repräsentation vs. Milieu
… Als Fazil auf die ,fen cedidi‘, die neuen
Naturwissenschaften zu sprechen kommt, unterbricht
Bahri ihn und meint, er solle vielleicht einmal ein
Beispiel dafür geben, was darunter zu verstehen sei.
Fazil ist ein wenig konsterniert und sagt dann,
,kosmografya mesela‘ (zum Beispiel Kosmographie).
Er fügt die Biologie, Chemie und Physik an. In der
Ecke des Raumes, in der sich ein klar als Arbeiter
identifizierbarer Mann mit seinen Kindern
niedergelassen hat, regt sich Unmut. Der Arbeiter
fragt, ob jemand sagen könne, was denn Physik sei,
sein Kind habe das gerade gefragt und er könne es
ihm nicht genau erklären. …
Kulturelle Repräsentation vs. Milieu
… Zunächst beginnt Fazil. Er erzählt etwas von
Materien und deren Zusammensetzung und von den
physikalischen Gesetzen. Bahri sagt das Gleiche
nochmal auf Osmanisch, ich verstehe kein Wort.
Dann gibt Ergin eine Definition, in der es darum geht,
dass in der Chemie nach Reaktionen alles anders ist
als vorher und auch nicht mehr in seinen
Ausgangspunkt gebracht werden kann, in der Physik
dies aber gehe. Das sei der Unterschied. Darauf geht
niemand ein. Dann gibt Fazil ein konkretes Beispiel.
Er spricht von der ,çekim gücü‘, der Anziehungskraft.
Bahri wiederholt dies nun nochmal, redet aber von der
,cezbe kuvveti‘ (was dasselbe bedeutet, aber
Osmanisch ist) (Beobachtung vom 6.3.98).
Merkmale kultureller
Repräsentationen
 Kommunikation über Grenzen von Wir-Gruppen





hinweg
machen kollektive Zugehörigkeit für alle erkennbar
verdichten kollektive Zugehörigkeit symbolisch
Selbst- und Fremdrepräsentationen (Beispiel:
Kleidung einer Nonne vs. Kopftuch, das man auf
einem Bild einer Türkin malt)
Leben von wechselseitigen Abgrenzungen (eigene
und fremde kollektive Zugehörigkeiten werden
markant repräsentiert)
Können völlig unabhängig von gelebten kollektiven
Zugehörigkeiten sein oder auch auf diese verweisen.
Merkmale von Milieus
 Praktisches Leben innerhalb kollektiver





Zugehörigkeiten
Nicht nur zugeschriebene, sondern gelebte
Gemeinsamkeiten der Erfahrung („kollektive
Erfahrungsschichtung“)
Gleichartige, nicht notwendig gemeinsame Erfahrung
Die gleichartigen Erfahrungen verbinden Menschen
miteinander, daher nennt man sie „konjunktive
Erfahrungen“
Kollektive Erfahrung ist der Individualität vorgängig
Milieus müssen keine Realgruppen sein (Bsp.: 68er
Generation)
Milieuspezifisches vs.
milieuübergreifendes Wissen
 In Milieus entsteht konjunktives Wissen.
 Konjunktives Wissen ist konkret und perspektivisch.
 Konjunktives Wissen ist praktisch und implizit.
 Bsp.: Hausarbeit
 Kommunikatives Wissen entsteht, wenn über die Grenzen
von Milieus hinweg kommuniziert wird.
 Kommunikatives Wissen ist abstrakt, es abstrahiert von
konjunktiven Erfahrungen.
 Kulturelles Repräsentationen verweisen auf
kommunikatives Wissen; Milieus verweisen auf
konjunktives Wissen.
 Menschen leben auf beiden Wissensebenen
Vorgestellte Gemeinschaften
Ja, man hat n – man hat n jewissen Nationalstolz, vor allem
bei Länderspielen kommt dit durch, man will - jeder will
beweisen, seine Nation is die Beste.
Ingo: Jedet- jedet Land is nationalstolz und wird dit hier so
hochjezogen, Junge
Carlo: Ick meine, ick find dit blöd, dazu- dazu rechts zu sagen
dazu- dazu rechts zu sagen is nun blöd, weil in der Szene
da is nun jeder nationalstolz jenau wie Galatasaray gespielt
haben, wo 30.000 Fans- ick meine, man kann ja nich
sagen, dit waren rechte, Türken, oder wat. Dit war n halt
Türken, die für ihr Land jebrüllt ham, hier. ‚Türkei, Türkei’
und jenauso
Hugo: Bloß wenn Deutschland spielt und da irgendwelche brüllen,
enn heißt et heißt et sofort: ‚Dit sind Nazis’
Arno:
Vorgestellte Gemeinschaften
Arno:
?m:
Arno:
Problem is ja jeder Staat hier in Europa und überall hat dit
Recht uff n jesundet Nationalbewußtsein, uns Deutschen
wird dit abjesprochen. Wenn de sachst, ick bin stolz darauf,
└ Bist n Nazi.
n Deutscher zu sein, sacht dir jeder ins Jesicht, du bist n
Nazischwein. Warum? Weil icke- weil vor vierzig Jahren
meen Uropa oder wat wee ick vielleicht irgendwo in Krieg
jezogen is. Ick mee okay der is da jestorben und ick laß
auch den sein Antlitz nich verunglimpfen, weil se sagen,
waren allet Kriegsverbrecher aber dafür soll ick jetz sagen:
nee, ick ick wir haben soviel Scheiße gebaut, ick bin nich
stolz darauf, Deutscher zu sein, ick soll dit verleugnen.
Wenn ick sag ick bin stolz darauf n Deutscher zu sein,
sagen mir sagt mir jeder ins Jesichts: Du bis n Nazi
Merkmale vorgestellter
Gemeinschaften
 Während kulturelle Repräsentationen von
Milieus abstrahieren, sich aber immer noch
auf sie beziehen, fehlt vorgestellten
Gemeinschaften jegliche milieuspezifische
Erfahrungsbasis
 Zugehörigkeitsfiktionen finden sich nicht nur
im Bereich der Nation, sondern auch des
Geschlechts, der Generation u.a.
 Vorgestellte Gemeinschaften basieren zwar
nicht auf gleichartigen Erfahrungen, können
sie aber hervorrufen (Bsp.: Krieg)
Beispiel für die Tradierung von
Milieus
Bernd: et is eh is ne schöne Umgebung wir ham uns det damals
muß ick dazu sagn also zu Ostzeitn gabs dann immer
diesen Herbstputz und Frühjahrsputz und so weier der
wurde von haus organisiert und da wure och jesammelt also
pro Monat wurde immer abjegebn, wurde von Mieter zu
Mieter jegangn für die Hauskass- sammelt für die
Hauskasse zusammenjesammelt geld, daß wir Hausputz
machen könnten und ham wir och Kinderfeste jemacht in
dem Wohnjebiet weil et war im Prinzip einmalig in ganz
Lichtenberg hier ick mein da wurde richtich Kinderfest
uffjezogn mit allem drum und dran mit Kino n großet
Elfriede:
└ mit Fanfarnzug
Bernd: Kinozelt, n Fanfarnzug da hab ich noch Fanfare jeblasn der
hat Hochtrommel jeschlagn richtig mit Fackelumzug
Tradierung und Neuentstehung von
Milieus
 Milieus und ihre konjunktiven Erfahrungen können
tradiert werden, soweit sie für die neue Zeit noch
funktional sind.
 Milieus können sich aber auch auflösen, wenn es zu
 biographischen Brüchen kommt
 zeitgeschichtlichen Wenden kommt
 generationellen Brüchen kommt
 Die Erfahrung biographischer und/oder
generationeller Diskontinuität kann gleichartig sein.
 Diese gleichartigen Erfahrungen der Diskontinuität
können der Ausgangspunkt neu entstehender Milieus
sein.
Beispiel für die Neuentstehung von
Milieus
Aziz:
das is auch so ganz anders was zu Hause zum Beispiel
abläuft oder so; also man ist zu Hause ganz anders als als
Deniz:
└ jaa
Aziz: als man draußen ist oder so. Weil man muss
Fazil:
└ Draußen.
│
Deniz:
└ Ja zu Hause die die haben
von gar nichts ne Ahnung so; die denken so mein Sohn
Aziz:
└ ja.
Deniz: geht jetz bisschen raus, schnappt sein frische Luft und
kommt so eh Reisessen steht wieder vorm Tisch so,
würklich jetz; die denken so die die ham noch so alte Denkweise so
Beispiel für die Neuentstehung von
Milieus
Jugendliche, deren Eltern aus
der Türkei eingewandert sind
Erfahrung der Sphärendifferenz,
die einen generationellen Bruch impliziert
Innere Sphäre:
Äußere Sphäre:
Herkunftsfamilie u.
Einwanderungscommunity
Tradierte Normalitätsvorstellungen und
Sozialitätsformen
Gesellschaft mit
ihren Institutionen
Institutionalisierte
Ablaufmuster
Ethnische Diskriminierung
Praktische Bearbeitung der Sphärendifferenz
und Entstehung eines neuen Milieus
(Breakdance, Jugendiche der Risale-i Nur-Gemeinschaft)
Mehrdimensionalität von Milieus
 Milieus sind mehrdimensional strukturiert, d. h. sie




sind durch unterschiedliche Dimensionen konjunktiver
Erfahrung konstituiert.
Milieus weisen insofern generations-, migrations-,
geschlechts-, bildungs-, altersspezifische, ethnische
und andere Erfahrungsdimensionen auf.
Wenn man ganz unterschiedliche Milieus miteinander
vergleicht, wird deren Mehrdimensionalität deutlich.
Geschlecht, Generation, Ethnie, Bildung etc. sind
zunächst Suchraster, da sie nur ein Potenzial konjunktiver Erfahrung darstellen. („soziale Lagerung“)
Es kommt darauf an, ob dieses Potenzial in den
Erfahrungen der Betroffenen zur Entfaltung kommt.
Mehrdimensionalität von Milieus
Vielfalt der Milieus in der
multikulturellen Gesellschaft
Statt dem Modell einer multiethnischen
Einwanderungsgesellschaft, die nur durch
den Zuzug von Menschen unterschiedlicher
ethnischer Zugehörigkeit kulturell pluralisiert
erscheint, geht es der allgemeinen
interkulturellen Erziehungswissenschaft um
eine multikulturelle Gesellschaft, in der auch
die einheimischen Milieus bereits vielfältig
sind und die insofern auch jenseits der
Migration kulturell pluralisiert ist.
Vielfalt der Milieus und Einfalt der
kulturellen Repräsentationen
Diese Milieuvielfalt wird allerdings bisweilen
durch die Eindimensionalität kultureller
Repräsentationen, die vor allem das
Ethnische hervorheben, verdeckt.
Für Pädagogen und Pädagoginnen kommt es
darauf an, die Vielfalt der Milieus (und deren
Mehrdimensionalität) hinter den kulturellen
Repräsentationen zu entdecken und in ihrer
Praxis zu berücksichtigen.
Vielfalt der Milieus und Einfalt der
kulturellen Repräsentationen
Vielfalt der Milieus und Einfalt der
vorgestellten Gemeinschaften
Milieu und Individuum
Ja. Ja und auf der Gesamtschule: wo ich dann war, da war ich
auch im Theaterunterricht so. Aber ich hatte nie Bock weil die
ham da komische Sachen gemacht. Ich war immer der Tänzer
sozusagen da. Theater und Tanz. (3 Sek. Pause) Was gibts
noch so, (4 Sek. Pause) Dann hab ich noch einen kleineren
Bruder, und noch ein älteren und durch mein älteren Bruder bin
ich so eigentlich in die Szene reingekommen so. Der hat mich
immer als kleiner Junge so mitgenommen auf Hiphop-Parties
und so, und da hab ich gemerkt so dass ich irgendwas andres
machen will als eh andre Ausländer vielleicht in Berlin. Oder als
andre Jugendliche, hat vielleicht mit Ausländer nichts zu tun,
keine Ahnung. dann wollt ich irgendwas eh so anders
ausdrücken als andere Leute. Schon früher auch damals. Aber
wusste nicht wie also ich hatte mich auch immer gefragt so (2
Sek. Pause) ehm was für ein Lebenssinn wir ham überhaupt so.
Ganz oft, jetzt stell ich mir nicht mehr solche Fragen aber früher.
(2 Sek. Pause) Naja. ((Lachen)) (3 Sek. Pause) Und da hab ich
so gemerkt so, dass ich das auf eine Art und Weise machen
kann, indem ich mich selbst benutze; also mein Körper und halt
wie ich so bin.
Milieu und Individuum
 Menschen können sich aus ihrem Milieu
heraus individuieren und eigenständige
Lebensorientierungen entfalten.
 Hier muss dann zwischen unterschiedlichen
Ebenen der Individualität unterschieden
werden:



Persönlicher Habitus
Persönliche Identität
Soziale Identität
Soziale Identität
 Individuen werden in und von der
Gesellschaft mit „Attributen“ identifizierbar
gemacht, „die man für die Mitglieder jeder
dieser Kategorien als gewöhnlich und
natürlich empfindet“. Diese „soziale Identität“
(Goffman 1975, S. 9f) „erlaubt es uns, mit
antizipierten Anderen ohne besondere
Aufmerksamkeit oder Gedanken
umzugehen“.
 Beispiele: „Ausländer“, „Jugendlicher“,
Gauner“, „Frau“
Persönliche Identität
 Bei intensiverem Kontakt werden Menschen
uns als einzigartige Personen bekannt.
 Hierzu dienen


Identitätsmarkierer
Und eine einzigartige Kombination von Daten
der Lebensgeschichte (Autobiographie)
 Beispiel: Kombination von
Gesamtschulbesuch, Mitarbeit in
Theatergruppe und Motivationslosigkeit bei
Deniz.
 Persönliche Identität wird in reflektierter
Auseinandersetzung mit sozialer Identität
entwickelt.
Persönlicher Habitus
 Menschen reflektieren nicht nur sich selbst, sie
handeln auch in unreflektierter,
gewohnheitsmäßiger, habitualisierter Weise
(Bsp.: Grüßen)
 Dieses habituelle Handeln macht den
persönlichen Habitus aus.
 Beispiel: Deniz verweist hier metaphorisch auf
seinen „Körper“ und darauf, „halt wie ich so bin“.
 Die soziale und persönliche Identität lassen sich
leicht erkennen, da sie von Betroffenen selbst
expliziert werden. Der persönliche Habitus muss
vom Pädagogen/von der Pädagogin selbst
herausgearbeitet und erkannt werden.
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