Methoden der Chemie III – Teil 1 Modul M.Che.1101 WS 2010/11 – 13 Moderne Methoden der Anorganischen Chemie Mi 10:15-12:00, Hörsaal II George Sheldrick [email protected] Mehrlinge (Proteinkristalle!) Zwilling von kubischen Insulin Glucose Isomerase Drilling Zwei Beispiele für nichtmeroedrische Mehrlinge Madhumati Sevvana Beugungsbild eines nichtmeroedrischen Drillings Madhumati Sevvana Drei Klassen von Zwillingen Meroedrische Zwillinge Das Zwillingsgesetz ist eine Symmetrieoperation des Kristallsystems, aber nicht der Lauegruppe des Kristalls. Dies kommt nur vor, wenn die echte Raumgruppe zu der jeweiligen niedrigeren tetragonalen, trigonalen, hexagonalen und kubischen Lauegruppen gehört. Die Überlappung der Reflexe ist hier perfekt. Pseudo-meroedische Zwillinge Eine höhere metrische Symmetrie wird vorgetäuscht, die tatsächliche Symmetrie ist aber niedriger. Die Überlappung ist nicht ganz perfekt. Nicht-meroedrische Zwillinge Die Überlappung ist nicht perfekt und das Zwillingsgesetz (oft eine Drehung um 180) ist keine Symmetrieoperation des Kristallsystems. Reziproker Gitterplot mit ℓ = 0 Die zwei Kristalle, die diese simulierten Beugungsbilder erzeugen, sind durch eine Symmetrieoperation verwandt, die zur metrischen Symmetrie des Gitters (4/mmm) gehört, aber nicht zur Lauegruppe (4/m). Regine Herbst-Irmer Reziproker Gitterplot mit ℓ = 0 Wenn zwei gleich große Kristalle einen meroedrischen Zwilling bilden, gibt es eine anscheinende Erhöhung der Lauesymmetrie (in diesem Fall zu 4/mmm) und die Intensitäten werden gleichmäßiger verteilt (<|E 2−1|> wird niedriger). Regine Herbst-Irmer (Pseudo)meroedrische Zwillinge – die Warnzeichen Die Lauesymmetrie erscheint höher als die wahre Lauesymmetrie Die Übereinstimmung der Intensitäten von symmetrieäquivalenten Reflexen ist nur wenig schlechter für die höhere (vorgetäuschte) als für die niedrigere (richtige) Symmetrie Mittelwert von |E2−1| niedriger als erwartet ( << 0.736) Trigonale oder hexagonale Raumgruppe Systematische Auslöschungen nicht konsistent mit irgendeiner Raumgruppe Keine Strukturlösung oder R-Wert viel zu hoch Nichtmeroedrische Zwillinge – die Warnzeichen Einige Reflexe sind scharf, andere gespalten Probleme bei der Zellbestimmung Ungewöhnlich lange Zellkante Keine passende Raumgruppe Viele Ausreißer mit |Fo| >> |Fc| nach der Strukturverfeinerung, besonders bei den Reflexen mit niedrigen |Fc| Seltsame Restelektronendichte, die weder als Fehlordnung noch als Lösungsmittel interpretiert werden kann Die Bestimmung der absoluten Konfiguration (1) Das Friedelsche Gesetz |Fhkℓ|2 = |F–h–k–ℓ|2 gilt nur streng für zentrosymmetrische Strukturen. Bei nicht-zentrosymmetrischen Strukturen gibt es kleine Abweichungen, wenn der imaginäre Anteil f ” des Streufaktors signifikant ist: f = f0 + f ’ + if ” f ” ist im Allgemeinen größer für schwerere Atome, vor allem in der Nähe einer Absorptionskante. In günstigen Fällen kann die absolute Struktur (und die absolute Konfiguration von chiralen Molekülen) durch genaue Messungen von |Fhkℓ|2 und |F–h–k–ℓ|2 bestimmt werden. Bei f ” 0 und einer Verfeinerung mit der falschen absoluten Struktur entstehen systematische Fehler in den Bindungslängen usw. Die Bestimmung der absoluten Konfiguration (2) Flack [Acta Cryst. A39, 876 (1983)] schlug vor, alle nichtzentrosymmetrischen Strukturen als racemische Zwillinge zu betrachten. Der Flack-Parameter x wird definiert als den Volumenanteil der invertierten Struktur. Nach der Verfeinerung bedeutet x = 0, dass die absolute Struktur stimmt und x = 1, dass die Struktur invertiert werden soll. x wird mit least-squares verfeinert, um hkℓw(|Fo|2–|G|2)2 zu minimieren, wobei |G|2hkℓ = (1–x) |Fc|2hkℓ + x |Fc|2–h–k–ℓ Das Wichtigste bei diesem Verfahren ist, dass es eine statistisch fundierte Standardabweichung für x liefert. Damit kann man sofort sehen, wie zuverlässig die Bestimmung der absoluten Struktur ist. Z.B. x = 0.5 mit einer Standardabweichung von 0.1 oder weniger bedeutet, dass es sich um ein Racemat handelt, oder die falsche Raumgruppe oder den falschen f”-Wert. x = 0.5 mit einer Standardabweichung von 1.0 bedeutet aber, dass die absolute Struktur nicht bestimmt werden kann (Daten zu ungenau oder f ” zu klein). Anomale Streuung als Vektordiagramm In diesem Argand-Diagramm wird Fhkℓ als +F und F–h–k–ℓ als –F angegeben. FH ist der Strukturfaktor der Schweratome mit anomalem Anteil FH” (von f ”). FH” ist proportional zu FH und um +90º (d.h. nach links) gedreht. Die restlichen (normalen) Atome machen einen Beitrag FP zum gesamten F. Wenn f ” und so ±F” Null sind, gilt |+F| = |–F| und (+F) = – (–F) (Friedelsches Gesetz). +imag +F +F H +F ” H P +F (+F) +reell –F –F –F ” H P –F H Wenn die Struktur zentrosymmetrisch ist, liegen ±FP and ±FH entlang der reellen Achse, mit der Folge |+F| = |–F|. Wenn ±FP Null sind, weil nur Atome des gleichen Elementes vorhanden sind, sind |+F| und |–F| wieder gleich; die absolute Struktur kann nicht bestimmt werden (z.B. -Se in P3221 oder P3121). Sonst sind |+F| und |–F| unterschiedlich, und die absolute Struktur kann bestimmt werden. Röntgen-Absorptionskanten Pt Se S Se Pt http://skuld.bmsc.washingtin.edu/scatter/AS_form.html EXAFS Absorptionskante XANES: X-ray Absorption Near-Edge Structure EXAFS: Extended X-ray Absorption Fine Structure EXAFS und XANES An der Absorptionskante besitzt das Röntgenphoton gerade genügend Energie, um ein Elektron aus einer inneren Schale freizusetzen. Das Elektron wird von den benachbarten Atomen zurückreflektiert. Je nach Wellenlänge des Elektrons und dem Abstand zwischen den Atomen kommt es zu konstruktiver oder destruktiver Interferenz und somit einer Änderung der Röntgenabsorption als Funktion der Energie des Röntgenphotons. Durch Analyse der Absorption im Bereich 20 < E−EK < 500 eV kann man Schlüsse über die Zahl und Abstände der Nachbaratome ziehen. EXAFS ist auch für amorphe und flüssige Proben geeignet und ist elementspezifisch. Besonders geeignet sind Verbindungen mit einem Metallatom im Molekül (z.B. Enzyme). Die Analyse von XANES ist schwieriger, weil die Elektronen, die weniger energiereich sind als bei EXAFS, mehrfach reflektiert werden können. XANES-Spektren lassen sich aber als Fingerabdruckmethode benutzen, weil sie für eine bestimmte Geometrie und Oxidationsstufe charakteristisch sind. Modulierte Strukturen Es kann vorkommen, dass man ein Hauptgitter von starken Reflexen sieht, begleitet von schwachen Satelliten. Wenn der Abstand zwischen Satelliten einem ganzzahligen Bruchteil einer Kante der reziproken Zelle entspricht, kann man die Struktur mit einer größeren Zelle beschreiben. Die Struktur ist dann kommensurabel moduliert und die Abweichungen der Atome von idealisierten Lagen können häufig mit CaAlSi Supraleiter, Acta einer Sinuswelle beschrieben werden. Cryst. B62, 710 (2006) Inkommensurable Modulationen kommen vor, wenn die Periodizität der Modulation nicht zur Hauptzelle passt. Solche Strukturen lassen sich sehr elegant in einem höherdimensionalen Raum beschreiben und verfeinern. Leider steigt die Anzahl der möglichen Raumgruppen stark mit der Anzahl der Dimensionen, z.B. in 4 Dimensionen gibt es 4753 und in 6 Dimensionen genau 28927922! Kristallstrukturdatenbanken [Stand 5.2.2011] ICSD – Anorganische Kristallstrukturen [135468] CSD – Organische und metallorganische Strukturen [541748] ICDD – Röntgenpulverdiagramme (PDF-4+) [301282] CRYSTMET – Metalle und Legierungen [139058] PDB – Proteine, DNA, RNA usw., auch NMR- und EM-Strukturen [70947] NDB – Nur DNA und RNA Strukturen [5066] Die CSD-Suchsoftware ist besonders leistungsfähig. Viele Programme nutzen die PDB, die den Grundstein des Faches Bioinformatik darstellt. Nur PDB und NDB sind kostenlos und im Internet zugänglich. Siehe http://www.rcsb.org, z.B. ‘Molecule of the month’.