Werte und Erziehung – was kann die Schule leisten? Prof. Dr. Ulrich Schwab LMU München 1 Werte... Was ist gemeint? Der Marktpreis? Subjektives Wertgefühl? Allgemeines Reich der Werte? Einstellungen und Haltungen, die ein Mensch als bedeutsam für sein Handeln einstuft 2 Wo steckt das Problem? Wie gehen Jugendliche miteinander um? Wie gehen Schüler und Lehrkräfte miteinander um? Wie reagieren die Eltern? Welche Rolle spielt die Schulleitung dabei? 3 Jugend heute 4 Prognose Bevölkerungsentwicklung Deutschland 40 35 30 25 Unter 15 Über 65 20 15 10 5 0 1910 1930 1950 1970 1990 2010 2030 5 Jugend heute Einteilung der Jugendphase nach Alter junge Jugendliche Jugendliche junge Erwachsene (11 - 14 Jahre) (14 - 18 Jahre) (18 - 27 Jahre) Klassische Abgrenzungen greifen nicht mehr Eigenständige Lebensphase Kulturelle Selbständigkeit und ökonomische Abhängigkeit 6 Wichtige Werte im Leben der Jugendlichen (11-14) gestützt – Top Box („total wichtig“) Freundschaft 80 Geborgenheit 45 Vertrauen 59 Zuverlässigkeit / Treue 56 Ehrlichkeit 55 Leistungsbereitschaft 35 Hilfsbereitschaft 34 Gerechtigkeit Mut Verantwortungsbewusstsein Frage: Basis: 41 22 26 11 - 14 Jahre "Wir haben diese Frage auch schon einmal anderen Kindern und Jugendlichen in deinem Alter gestellt und von ihnen erfahren, was im Leben wichtig sein kann. Ich lese dir einfach einmal einige dieser Meinungen vor und du sagst mir bitte mit Hilfe dieser Skala, wie wichtig diese Dinge jeweils für dich sind." 7 n = 404 Kinder, 11 bis 14 Jahre; skalierte Frage (4er Skala); K.A. max. 9%;[%] Mut haben Hierunter verstehen die Kinder in erster Linie, „sich etwas zutrauen“, „Ängste zu überwinden“ - und zwar auch stark zugunsten anderer, um zum Beispiel Schwächeren zu helfen oder Gerechtigkeit herzustellen: „Wenn jemand geschlagen wird, laut zu sagen, ´Lass das sein´!“ (Junge) 8 Verantwortung Diesen Wert bringen die Kinder vorrangig mit „sich um Andere, um Schwächere kümmern“ in Verbindung. Dies betrifft vor allem ihr Nahumfeld in der Familie oder andere Kinder - und auch Haustiere. Die Kinder erkennen klar, dass es hilfsbedürftige Menschen gibt, um die man sich kümmern muss: „Dass Eltern sich um Kinder kümmern müssen, dass man andere Leute nicht ausschließt, dass man Menschen, die auf der Straße liegen, hilft.“ (Mädchen) 9 Toleranz beziehen die Kinder vor allem auf das Akzeptieren anderer Meinungen „Meine Freundin ist peinlich. Sie hört Tokio Hotel. Sie ist aber dennoch meine Freundin. Das ist tolerant.“ (Junge) 10 Vermittlung von Werten gestützt Eltern 97 Großeltern und Verwandte 60 Freunde 53 Lehrer/in 50 Geschwister 34 Vereine 20 Berühmte Personen 16 12 Fernsehen, Radio, Zeitschriften 10 Kirche Politiker Frage: Basis: 3 "Wer kann denn deiner Meinung nach Kindern und Jugendlichen solche Dinge oder Werte am besten beibringen oder es ihnen vormachen?" n = 908 Kinder, 6 bis 14 Jahre; geschlossene Frage; Mfn möglich; [%] 11 Mütter: Wichtigkeit von Werten bei der Kindererziehung gestützt Geborgenheit 75 23 10 Ehrlichkeit 73 26 00 Vertrauen 72 27 00 Gerechtigkeit 64 35 00 Freundschaft 63 36 10 Zuverlässigkeit / Treue 62 36 10 Respekt 56 42 20 Verantwortungsbewusstsein 54 44 10 Pflichtbewusstsein 54 45 20 Hilfsbereitschaft 51 Total wichtig Frage: Basis: Wichtig 45 Nicht so wichtig 30 Überhaupt nicht wichtig "Welche Werte sind Ihnen persönlich wichtig bei der Erziehung Ihres Kindes/Ihrer Kinder? Bitte lesen Sie sich die folgenden Antwortmöglichkeiten genau durch und geben jeweils an, ob Ihnen der jeweilige Wert für die Erziehung Ihres Kinder/Ihrer Kinder total wichtig, wichtig, nicht so wichtig oder überhaupt nicht wichtig ist." 12 n = 705 Mütter der befragten 6- bis 12-jährigen Kinder; skalierte Frage (4er Skala); [%] Was bei Jugendlichen „in“ ist Aktien An etwas glauben Bioläden Bürgerinitiativen Drogen nehmen Europa Heiraten Karriere machen Markenkleidung tragen Sich selbständig machen Sich in die Politik einmischen Studieren Technik Toll aussehen Treue Verantwortung übernehmen 13 Was bei Jugendlichen „in“ ist Aktien An etwas glauben Bioläden Bürgerinitiativen Drogen nehmen Europa Heiraten Karriere machen Markenkleidung tragen Sich selbständig machen Sich in die Politik einmischen Studieren Technik Toll aussehen Treue Verantwortung übernehmen 26 59 32 27 29 64 41 84 79 62 29 70 80 92 78 68 14 Was Jugendlichen Angst macht Steigende Armut Keinen Arbeits-/ Ausbildungsplatz Terroranschläge 2006 72% 2002 66% 69% 67 55% 71% 15 Werte hat man nicht allein – die Frage nach den Werte-Typen 16 Werteinstellungen • Werteinstellungen entstehen bei Jugendlichen weniger durch individuelle Reflexion, sondern eher durch soziale Prägung in einem bestimmten „Milieu“. • Hier sind sie dann auch Ausdruck einer bestimmten Konventionalität: Sie sind synthetisch-konventionell erworben (James Fowler) 17 Wertetypen Pragmatische Idealisten Selbstbewusste Macher Zögerliche Unauffällige Robuste Materialisten 18 Pragmatische Idealisten Betonung von Kreativität Engagement Toleranz Sicherheit Ehrgeiz 19 Selbstbewusste Macher Betonung von Soziales Engagement hoher Lebensstandard Durchsetzungsfähigkeit Leistungsbereitschaft 20 Zögerliche Unauffällige Keine besondere Hervorhebung von Werten alles ist etwa gleich wichtig oder unwichtig „Mitläufer“ 21 Robuste Materialisten Betonung von hoher Lebensstandard Leben voll genießen seine Bedürfnisse durchsetzen 22 Geschlechtsverteilung männlich weiblich Unauffällige (28%) Materialisten (27%) Macher (25%) Idealisten (20%) Idealisten (30) Macher (26%) Unauffällige (25%) Materialisten (19%) 23 Statusverteilung Idealisten: Studierende (36%) Unauffällige: Macher: Nicht erwerbstätig (34%) Hauptschule (33%) Realschule (31%) Ausbildung (32%) Materialisten: Arbeitslose (39%) 24 Beobachtungen zu Wertorientierungen bei Jugendlichen Charakter der Freiwilligkeit nimmt bei Normen zu Anspruch selber ein Ausnahmefall von der Regel zu sein wächst Wertorientiertes Handeln wird auf die eigene Bezugsgruppe (Sympathieträger) begrenzt Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für Gesellschaft sinkt 25 Lebensgefühl damals und heute Von der Selbstverwirklichung und Vision einer gerechten Gesellschaft... 26 Lebensgefühl heute... …zur Selbstbehauptung und persönlichen Karriere (= Selbstvermarktung: Big Brother, DSDS, GNTM, Dschungelcamp) 27 Werte und Erziehung 28 Werte und Erziehung • Erziehung beinhaltet immer auch die Vermittlung von Einstellungen und Haltungen • Wo findet Erziehung heute statt? 29 Werte und Erziehung Anna Freud (1895-1982) Adoleszenz als „normale Gestörtheit“ Abwehr gegen infantile Bindungen 30 Unberechenbarkeit als Normalität Der Jugendliche kann nicht anders: Er wehrt seine Triebregungen ab, gibt ihnen aber auch nach; er vollbringt Wunder an Selbstbeherrschung, ist aber auch ein Spielball der Gefühle; er liebt seine Eltern und hasst sie zugleich; er ist gleichzeitig in voller Revolte und voller Abhängigkeit; er will nichts von seiner Mutter wissen, sucht sie aber unvermittelt zu vertraulichen Aussprachen; er ist bereit, sich selbst aufzugeben und anderen hörig zu werden, sucht aber auch gleichzeitig seine Identität; er hat mehr künstlerisches Verständnis, ist idealistischer, großzügiger und uneigennütziger als je vorher oder nachher; aber er ist auch das Gegenteil: egoistisch, selbstsüchtig und berechnend. 31 Werte und Erziehung Wie lassen sich Werte nachhaltig vermitteln? Nachhaltige Wertkonzepte sind eingebunden in ein Netz von Identifikationen und Bindungen 32 Werte und Erziehung Erik H. Erikson (1902-1994) Identität ist eine soziale Kategorie... Die sich orientiert an idealen Leitbildern der Gesellschaft Identitätsgefühl: Ich bin, woran ich mich halte 33 Werte und Erziehung „Ich kann einfach nichts zu fassen kriegen, Mama, ich kann keine Art von Leben zu fassen kriegen“ Plurale Gesellschaften erschweren Identitätsbildungen 34 Werte und Erziehung Heiner Keupp Multiple Identitäten in multiplen Realitäten Inszenierungen 35 Werte und Erziehung Das Erleben konkreter Einstellungen und Haltungen, an denen die Jugendlichen ihr Handeln ausrichten können, geht nicht ohne Vorbilder. 36 Religiosität des Elternhauses 37 Werte und Erziehung • In einer nachhaltigen Werte-Erziehung heißt es nicht : „was soll ich tun“, sondern: Wie will ich sein? Das Konstruktionsbild von Wertkonzepten ist ein Bild vom Menschen... 38 Was ist der Mensch? Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (Psalm 8, 4-5) 39 Biblische Aussagen zum Menschen • Der Mensch ist Teil der Schöpfung und wird von ihr her verstanden • Der Mensch kann scheitern • Durch Gottes Bund ist Erlösung möglich 40 Humanistisches Menschenbild der Aufklärung Im Zentrum steht der vernunftbegabte Mensch als Individuum. Mittels seiner Vernunft kann er lernen, seine eigenen Belange und die der Gesellschaft zu regeln: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. “ 41 Wirtschaftsliberales Menschenbild Der Mensch ist ein Wesen, das rational handelt und auf dem Markt immer auf Gewinnsteigerung aus ist. Er strebt immer grössere Effizienz an, um das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag ständig zu verbessern. Sein Verhalten beruht demnach nicht auf vorgefassten Werten, sondern passt sich von Fall zu Fall den Mitteln an, die den größten Ertrag versprechen. 42 Menschenbilder vorindustrialisierter Kulturen Der Mensch ist eingebettet in eine verwandtschaftliche Gemeinschaftsstruktur. Das Individuum hat keinen herausgehobenen Wert. Patriarchale Familienstrukturen sind verbindlich und legen die Rollen der Familienmitglieder auch geschlechtsspezifisch fest. Politische Machtverhältnisse lehnen sich an Feudalstrukturen an. Hierzu gehören auch religiöse Vorstellungen einer Gottesbeziehung. 43 Werte und Erziehung Welche Werte-Erziehung ist in der Schule nötig – und was ist möglich? 44 Werte und Erziehung Werte haben eine immanente Hierarchie, die bei ihrer Vermittlung eine wichtige Rolle spielen: Wertkategorie Inhalt Vermittlung 1. Einzelne Werte: Pünktlichkeit, einzelne Umgangsformen klare Vorgaben 2. Werteverbund: Anstand, Wertschätzung Profiliertes Vorleben 3. Wertkonzepte: Christliche Lebensführung Systematisches Reflektieren 45 Werte-Erziehung in der Schule • Eindeutiges Bestehen auf Regeln, eingebettet in einen „Geist der Schule“ 46 Werte-Erziehung in der Schule • Gegenseitige Unterstützung im Lehrerkollegium (einschl. Schulleitung) 47 Werte-Erziehung in der Schule • Kooperation mit Eltern wo möglich, Bestehen auf Regeln wo nötig 48 Werte-Erziehung in der Schule? „Es gibt ein paar Lehrer bei uns an der Schule, die über den Tellerrand ihres eigenen Fachs rausschauen, (...) das sind so Leute, die sich halt auch sozial selber gefestigt haben, also die haben neben der Schule noch ein Leben, oder haben auch neben der Schule noch Aktivitäten, wo sie sich einsetzen“ (Schüler, 18 Jahre) 49 Hilfreich könnte sein: Schülerinnen und Schüler in ihrer „normalen Gestörtheit“ begleiten und ihnen eine Orientierungshilfe anbieten Gelassenheit und Konfliktbereitschaft zeigen, dabei „nachvollziehbar“ bleiben Zuversicht angesichts und trotz einer wenig überschaubaren Welt vermitteln 50 Werte bei Kindern und Jugendlichen – eingebunden in ihren historischen Kontext 51 Keuschheit Sanftmut Freundlichkeit 52 Bescheidenheit Rechtschaffenheit Ordnungsliebe 53 Häuslichkeit Gewöhnung an Abhängigkeit Strebsamkeit 54 Frömmigkeit, bescheidene Unterordnung, dankbare Abhängigkeit 55 Ertüchtigung an Leib und Seele; frische, fröhliche charakterfeste Jungens; brauchbare Menschen 56 Disziplin Gehorsam Härte Opfer 57 Lust Freiheit Unabhängigkeit In Bewegung sein 58 Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Alternativ-Sein, Widerständig-Sein 59 Erfolgreich sein Eigenverantwortung entwickeln Durchsetzungsfähig sein Beliebt sein 60 Jugend in der Reflexiven Moderne "Und wie ist das Leben?" fragt Kugli. "Anspruchsvoll", antwortet Felix. Ein großes Grinsen macht die Runde. "Sind wir auch anspruchsvoll?" will Janosch wissen. "Das weiß ich nicht", erwidert Felix. "Ich glaube, wir befinden uns gerade in der Phase, wo wir noch den Faden finden müssen. Und wenn wir den Faden gefunden haben, sind wir auch anspruchsvoll." "Das verstehe ich nicht", bemerkt Florian entrüstet. "Was sind wir denn, bevor wir anspruchsvoll sind?" "Vorher sind wir, so glaube ich, Fadensuchende. Die ganze Jugend ist ein einziges großes Fadensuchen.„ Benjamin Lebert: crazy 61