Reinhard Wiesner Inobhutnahme in Deutschland – Einschätzungen zu Entwicklungen und rechtlichen Rahmungen IGfH Bundestagung „Inobhutnahme als Chance und Herausforderung“ 25./ 26.9. 2013 Berlin Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Anlässe für die Inobhutnahme 3. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 2 Entwicklungsschritte • 1990: Erstmalige bundesgesetzliche Regelung im SGB VIII • 1993: Ausdrückliche Verpflichtung zur Gewährung des Unterhalts und der Krankenhilfe • 1998: Verweis an das Familiengericht an Stelle des Vormundschaftsgerichts • 2005: Zusammenfassung des Regelungsinhalts der §§ 42, 43 und Neustrukturierung in § 42 Wiesner IGfH Berlin 3 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Anlässe für die Inobhutnahme 3. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 4 Anlässe für die Inobhutnahme (§ 42 Abs. 1 Satz 1) • Inobhutnahme auf Bitten des Kindes oder Jugendlichen (Nr.1) • Inobhutnahme wegen einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen (Nr.2) • Erstaufnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen (Nr.3) • Profil: Sozialpädagogische Krisenintervention und Klärungshilfe Wiesner IGfH Berlin 5 Adressatenkreis ► Kinder und Jugendliche • Für (junge) Volljährige kommen die Unterbringungsgesetze bzw. die allgemeinen Polizeigesetze der Länder zur Anwendung • Altersschätzung als Teil der Sachverhaltsermittlung • Medizinische Verfahren zur Altersfeststellung Wiesner IGfH Berlin 6 Örtliche Zuständigkeit • Sie richtet sich nach dem tatsächl. Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen „Zufallsjugendamt“ (§ 87). • Refinanzierung – durch das Heimatjugendamt (§ 89 b Abs. 1). – den überörtl. Träger (§ 89 b Abs. 2), für die Inobhutnahme nach der Einreise das Land nach Maßgabe (§ 89 d). Wiesner IGfH Berlin 7 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Anlässe für die Inobhutnahme 3. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 8 Inobhutnahme als Instrument zur Abwendung einer akuten Kindeswohlgefährdung • Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 6 Abs.2 Satz 2 GG • Öffentlich-rechtliche Befugnis des Jugendamtes zur Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls gegen den Willen der Eltern • Clearingfunktion im Hinblick auf die Kooperationsbereitschaft der Eltern • Ablösung der Inobhutnahme durch – Entscheidung der Eltern zur Inanspruchnahme von Hilfe – Entscheidung des FamG im Hinblick auf die elterliche Sorge Wiesner IGfH Berlin 9 Wahrnehmung der Gesamtverantwortung (§§ 79,80 SGB VIII) • Vorhaltung zielgruppenspezifischer Angebote • Zugang zur Einrichtung rund um die Uhr • Rufbereitschaft des Jugendamtes Wiesner IGfH Berlin 10 Verhältnis zu den anderen Schutzalternativen • Bei Eltern-Kind-Konflikt (Unklarheit der Problemakzeptanz): – Weder unmittelbare Einleitung einer Hilfe zur Erziehung noch – unmittelbare Anrufung des FamG kommen in Betracht • In akuter Gefährdungssituation: Entscheidung des FamG kann nicht abgewartet werden Wiesner IGfH Berlin 11 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Anlässe für die Inobhutnahme 3. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 12 Ablaufvarianten • Inobhutnahme und Gefährdungseinschätzung (§ 8a und § 42) • Inobhutnahme bei Eskalation eines laufenden Hilfeprozesses • Inobhutnahme nach der Einreise Wiesner IGfH Berlin 13 Ablauf der Inobhutnahme • Selbstmeldung oder Weg- und Herausnahme des Kindes oder Jugendlichen • Inobhutnahme „am sicheren Ort“ • Unterbringung – bei einer geeigneten Person, – in einer geeigneten Einrichtung oder – in einer sonstigen Wohnform • Gelegenheit zur Benachrichtigung einer Vertrauensperson • Ausübung der Personensorge durch das Jugendamt Wiesner IGfH Berlin 14 Rechtliche Befugnisse des Jugendamtes • Öffentlich-rechtliche Befugnis des Jugendamtes zur Abwendung einer Gefährdung des Kindeswohls gegen den Willen der Eltern • Keine Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs bei der „Wegnahme“ (Abs.6) Wiesner IGfH Berlin 15 Die Beteiligung freier Träger an der Inobhutnahme • Im Hinblick auf die Funktion der Inobhutnahme als Ausübung des staatlichen Wächteramts ist die Erfüllung der Aufgabe den Trägern der öffentl. Jugendhilfe vorbehalten • Anerkannte Träger der freien Jugendhilfe können an der Durchführung der Aufgaben beteiligt werden. Ihnen kann auch die gesamte Aufgabe „zur Ausführung“ übertragen werden • Die Entscheidung über die Inobhutnahme erfolgt per Verwaltungsakt und kann nur vom Jugendamt getroffen werden Wiesner IGfH Berlin 16 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 17 Beteiligung der Eltern (Abs.3 Satz 1 bis 3) • Relevanz für im Inland lebende Kinder und Jugendliche (Fallvarianten 1 und 2) • Benachrichtigung des Personensorgeberechtigten • Zusammenarbeit mit dem Personensorgeberechtigten • Widerspruch des Personensorgeberechtigten – Übergabe des Kindes oder Jugendlichen – Anrufung des Familiengerichts Wiesner IGfH Berlin 18 Bestellung eines Vormunds oder Pflegers (Abs.3 Satz 4) • Relevanz für unbegleitet einreisende Kinder und Jugendliche (Fallvariante 3) • Unabhängig vom Alter und der Handlungsfähigkeit des Kindes oder Jugendlichen Wiesner IGfH Berlin 19 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 20 Dauer der Inobhutnahme (Abs. 4) • Keine generelle Zeitgrenze • Ende bei Zweckerreichung – Kein weitergehender Hilfebedarf: • Zeitpunkt der Übergabe an die Eltern – Weitergehender Hilfebedarf: • Zeitpunkt der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen ggf. nach Einsetzung eines Pflegers oder Vormunds durch das Familiengericht Wiesner IGfH Berlin 21 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 22 Geschlossene Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahme (Abs.5) • Erforderlichkeit für die Gefahrenabwehr • Beendigung mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn • Was geschieht wenn die Gefährdungssituation andauert? Wiesner IGfH Berlin 23 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 24 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 25 Verpflichtung zur Schutzgewährung • Einreise unbegleiteter Minderjähriger als generell vermutete akute Kindeswohlgefährdung • Vorgaben des Haager Minderjährigenschutzabkommens und der UN-KRK • Spezifische sorgerechtliche Ausgangslage • Verhältnis des § 42 SGB VIII zur Wohnpflicht nach dem AsylverfahrensG • Information des Jugendamtes über die Einreise • Spezifische Anforderungen an die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen Wiesner IGfH Berlin 26 Übersicht 1. Entwicklung der Rechtsgrundlage im SGB VIII 2. Bedeutung der Inobhutnahme im Kontext der Schutzes von Kindern und Jugendlichen 3. Anlässe für die Inobhutnahme 4. Durchführung der Inobhutnahme 5. Beteiligung der Eltern 6. Dauer der Inobhutnahme 7. Freiheitsentziehende Maßnahmen 8. Inobhutnahme und Familiengericht 9. Inobhutnahme und Aufenthaltsrecht 10. Entwicklung der Fallzahlen Wiesner IGfH Berlin 27 2011 2006 2010 2005 2009 2004 2008 2003 2007 2002 1999 2001 1998 2000 1997 81.102 1995 178.370 165.038 145.360 76.211 118.017 77.434 95.867 84.142 68.997 84.068 71.896 89.807 69.725 78.828 64.589 57.187 200.000 180.000 160.000 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 1996 Entwicklung der finanziellen Aufwendungen für die Durchführung vorläufiger Entwicklung der finanziellen Aufwendungen für die Durchführung vorläufiger Schutzmaßnahmen (Deutschland; 1995-2011; Angaben in Schutzmaßnahmen 1.000 EUR) (Deutschland; 1995-2011; Angaben in 1.000 EUR) Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Ausgaben und Einnahmen; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 28 Entwicklung der vorläufigen Schutzmaßnahmen (Fallzahlen) (Deutschland; 2000-2012; Angaben absolut) 40.200 38.456 2006 33.710 25.998 2005 32.253 25.664 2004 28.192 25.916 2001 27.378 2000 30.000 28.887 31.438 35.000 31.124 40.000 36.343 45.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 2002 2003 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen; versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 29 Entwicklung der Arten von vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahmen wegen Gefährdung und Inobhutnahmen auf eigenen Wunsch) (Deutschland; 2000-2012; Anzahl absolut) Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen; versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 30 Verteilung nach Altersgruppen bei den vorläufigen Schutzmaßnahmen (Deutschland; 2012; Verteilung in %) Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen; 2012; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 31 Entwicklung der vorläufigen Schutzmaßnahmen (§ 42 SGB VIII) insgesamt sowie für die unter 6-Jährigen (Deutschland; 2000-2012; absolut)* 45.000 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 * Angaben beziehen sich auf die Aufsummierung von Inobhutnahmen und Herausnahmen. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Vorläufige Schutzmaßnahmen, versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 32 Vorläufige Schutzmaßnahmen nach Dauerklassen in der Entwicklung (Deutschland; 1995-2012; Angaben in %) 70,0 Angaben für 1995 bis 2012 60,0 50,0 Angaben für 1995 bis 2012 40,0 30,0 Angaben für 1995 bis 2012 20,0 10,0 0,0 unter 1 Woche 1 bis 2 Wochen über 2 Wochen Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen; Wiesner IGfH Berlin versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 33 Inobhutnahmen eines/-r Minderjährigen aufgrund einer unbegleiteten Einreise (Deutschland; 1995-2012) Anzahl 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 1.453 1.693 1.441 1.155 919 602 612 888 1.099 1.949 2.822 3.482 4.767 Angaben pro Anteil an 10.000 der 12- bis Schutzmaßnahmen unter 18-Jährigen insgesamt 26 4,7 30 5,4 25 5,0 20 4,2 16 3,5 11 2,3 12 2,4 17 3,1 22 3,4 40 5,8 59 7,8 73 9,1 100 11,9 Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen; versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik Wiesner IGfH Berlin 34 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !