Die Direkte Demokratie (DD) ermöglicht die gesellschaftliche Selbstverständigung: Kommunikation als die Seele der DD 17 teilweise idealtypische Thesen zur politischen Philosophie der Direkten Demokratie (DD) Von Andreas Gross Politikwissenschaftler und Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St-Ursanne (JU), Lehrbeauftragter, Schweizer Nationalrat und Fraktionspräsident der Sozialdemokraten im Europarat Einstiegsreferat in die Jenaer Vorlesung WS 08/09 Jena, 17. November 2008 www.andigross.ch [email protected] *Achtung: Bewusste oder unbewusste Missverständnisse vermeiden! Die Direkte Demokratie (DD) ist: Kein Plebiszit • Keine Volksversammlung • Keine Basisdemokratie • Es geht immer um Sachfragen, keine Personen • Meist in Form ausformulierter Verfassungs- oder Gesetzestexte • Keine Instant-Demokratie • I.Die Volksinitiative oder das Referendum als Frage einiger an alle 100‘000 bzw.50‘000 Unterschriften als die Wahrnehmung des (Volks-) Rechtes einiger, von allen eine Antwort zu bekommen nach einer möglichst intensiven und breiten gesellschaftlichen Diskussion. I.b Historisch belegt: Die Direkte Demokratie als kommunikativer Prozess “ Wir wollen das letzte Wort “ (1869) “Die VI als Recht von 100’000 Stimmberechtigten, der Gesellschaft eine Diskussion aufzuzwingen, die sie nicht will.“ Das Referendum als Recht, der parlamentarischen Mehrheit nachparlamentarische Erklärungen und diskursive Begründungen abzuverlangen. I.c.Kommunikation in der DD als gesellschaftliche Verständigungsanstrengung Verständlichkeit als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung dafür, dass die Verständigung gelingen kann ! I. d. Wegen der DD hat die Schweiz verständlichere Gesetze als Staaten mit rein parlamentarischen Demokratien Wenn in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren über zwei Drittel der fakultativen GesetzesReferendums-Abstimmungen von der Mehrheit der Stimmberechtigten angenommen wurden, so auch deshalb, weil sie so geschrieben waren, dass viele sie auch verstehen konnten. II. In der Direkten Demokratie wird die Macht geteilt - der/die BürgerIn wirklich ermächtigt Jederzeit kann eine Minderheit der BürgerInnen der ganzen Nation eine Diskussion aufdrängen und eine Antwort erzwingen, welche andere (Mächtige) nicht wollen Entscheidend ist, dass nach einer zustande gekommenen Volksinitiative nur die Initianten selber eine Volksabstimmung verhindern können ! III. In einer DD traut Mensch auch dem/der (unbekannten) Anderen zu, was er/sie für sich beansprucht Kein zynisches Menschenbild • Keine Unterschätzung der unbekannten Anderen • Keine Geringschätzung der Andersdenkenden • Fremde kommen miteinander eher ins Gespräch (weiterer Integrationsmoment) • IV. Die DD versucht dem republikanischen, aristotelischen Politik- und Demokratieverständnis gerechter zu werden Wer betroffen ist von einer Entscheidung, sollte Teil der Entscheidungsfindung sein ! • Freiheit ist die Möglichkeit, das Recht und die Fähigkeit, mit ähnlich Gesinnten die Lebensgrundlagen mitzugestalten • V. Diese kommunikative Macht der BürgerInnen ermöglicht, dass die Politik sehr offen ist für alle und vieles Was auf der öffentlichen Tagesordnung steht, ist kein Monopol der Herrschenden oder der Regierenden. Dass etwas diskutiert wird ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für demokratische Reformen. VI. Im grossen Unterschied zu einem Plebiszit können in der DD wenige BürgerInnen selber bestimmen, worüber alle abstimmen können sollen. Die DD ist in diesem Sinne eine Frage weniger an alle mit dem Recht weniger auf eine von ihnen gestellte und formulierte Frage eine verbindliche Antwort aller Stimmenden zu erhalten. VII. Wenn die Hürden für diese gesellschaftliche Selbstverständigung niedrig sind, ermöglicht diese eine echte Integration auch kleiner Minderheiten und die Erhaltung einer vielfältigen Gesellschaft. Zwei Prozent bei einer Volksinitiative reichen (Kt ZH: Weniger als ein Prozent - US-Bundesstaaten drei bis fünf Prozent, BRD-Länder teilweise zehn und noch mehr Prozent der Stimmberechtigten). Ebenso muss die Sammelfrist relativ lang sein: CH 18 Monate, ZH 6 Monate, D: 14 Tage ! Denn Freiheit darf nicht zur Freiheit der Privilegierten verkommen ! VIII. Wenn auch kleine Minderheiten sich mit ihren Anliegen und Sorgen gesellschaftliches Gehör verschaffen können, ist die Gefahr, dass Unrecht geschieht oder die Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, kleiner. In diesem Sinne wirkt die DD wie ein Feuermelder, der anzeigt, wann eine Minderheit möglicherweise vom Parlament übersehen wird und fairer behandelt werden möchte ! IX. In einer Gesellschaft, in der viele alle fragen können und immer wieder alle viel miteinander diskutieren, ist die Chance, dass viele ausreichend und rechtzeitig lernen, grösser als in einer Gesellschaft, in der sich viele zu häufig ausgeschlossen fühlen. Lernfähigkeit sollte individuell und gesellschaftlich eines der Güter sein, die wir am meisten anstreben sollten. X. In einer Gesellschaft, in der alle wissen, dass sie immer wieder gefragt und abstimmen können , wird eher die wirklich anstehende Frage beantwortet als in Staaten, in denen nur ganz selten Referenden stattfinden ! Damit die Güte der DD sich wirklich entfalten kann muss sie regelmässig angewendet werden - mehr als bloss ausnahmsweise oder einmal in fünf Jahren. Sonst bekommen wir bloss eine plebiszitäre Karikatur und eine Diskreditierung der DD ! XI. Damit die DD ihre kommunikative Güte entfalten kann, darf sie nicht durch kontraproduktive Verfahrenselemente wie Beschlussquoren behindert werden. Beschlussquoren wie das Erfordernis, dass 50% der Stimmberechtigten auch stimmen müssen, um das Ergebnis rechtsgültig zu machen, sind Einladungen zum wesensfremden Verhalten vor allem für jene, die nichts ändern möchten: Durch Verweigerung der Diskussion können sie sich einen Vorteil verschaffen, den sie nur verdienen würden, wenn sie die Mehrheit der Stimmenden überzeugen können. XII. In einer sorgfältig ausgestalteten DD können Reformen nicht einfach befohlen werden, sondern alle müssen versuchen, möglichst viel zu überzeugen zu können ! Das macht das Regieren anspruchsvoller. Doch die Demokratie dient nicht dazu, den Regierenden das Regieren zu vereinfachen, sondern die Macht der BürgerInnen und somit ihre Freiheit im Regierungsprozess zu stärken. XIII. Eine DD verändert den Inhalt von Presse,Radio und öffentl. TV; sie allein kann die Kolonialisierung der Medien jedoch nicht verhindern Wenn möglicherweise alle immer wieder über Wesentliches entscheiden können, haben alle mehr Interesse daran, dass alle möglicht gut informiert sind und Bescheid wissen. Gegen den Medienmarkt kann die DD allein aber keine Pluralität und Vielfalt garantieren. XIV. Eine Direkte Demokratie ist nicht antiparlamentarisch oder gegen Parteien. Im Gegenteil: Ein starkes Parlament und leistungsfähige Parteien dienen auch der DD ! In einer DD haben freilich die Parteien nicht das Monopol „auf Politik“. So sind in einer DD selbst ParlamentarierInnen freier und unabhängiger von ihren Parteien, weil sie jederzeit auch parteiübergreifend und/oder als Parteigruppe handlungsmächtig sind. XV. Auch die DD ist nirgends eine perfekte Demokratie: Auch sie ist unvollkommen - doch ein klein wenig weniger unvoll-kommen als die Demokratie, die sich auf die repräsentative Demokratie beschränkt. Auch in der Schweiz gibt es Dutzende von Möglichkeiten die DD zu stärken. Einige Aspekte der Demokratie in der CH sind sogar weniger gut entwickelt und weniger demokratisch als in vielen anderen europäischen Staaten. XVI. Die DD ist nicht die Schweiz - die Schweiz nicht die DD. Die DD ist der Spiegel der Probleme und nicht deren Ursache ! Wem also die Schweiz zu konservativ ist, der kann dennoch für die DD sein. Denn in einer anderen Gesellschaft wird sich in der DD auch eine andere Gesellschaft spiegeln . XVII. Jede DD nimmt wie jede Demokratie in ihrer feinen Ausgestaltung historische Erfahrungen der betreffenden Gesellschaft auf und bildet sie ab Im Unterschied zur CH würde die DD in Deutschland: Den Bundesverfassungsgericht im Prozess der direktdemokratischen Entscheidungsfindung eine hohe Bedeutung zu messen; • Würde das Konkurrenzprinzip in der Regierungsform nicht in Frage stellen • Eventuell auf ein Doppelmehr bei Verfassungsänderungen verzichten • Ebenso möglicherweise auf das obligatorische Verfassungsreferendum •