1 5 Politische Interessengruppen Vertriebenenverbände In der bundesdeutschen Außenpolitik waren in der Frühphase zweifellos die Vertriebenenverbände bis in die sechziger Jahre hinein die wirkungsvollste „Pressure Group“. Diese Verbände, die für etwa zehn Millionen Vertriebene und Flüchtlinge sprachen, waren die Lobby der zwischen 1944 und 1950 in die Bundesrepublik gekommenen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Sie bildeten über 100 Organisationen, die sich 1948 zu einer Gesamtvertretung aller Ostvertriebenen zusammenschlossen. Kurzfristig gab es sogar eine Partei, die als Auffangblock der Heimatvertriebenen wirkte, der gesamtdeutsche Block - Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), gegründet im Jahr 1950. Während der Partei BHE kein dauerhafter Erfolg beschieden war, konnten die Interessen der Heimatvertriebenen für lange Jahre in den großen Parteien und außerhalb erhebliche Lobby-Erfolge erzielen. Der Forderungskatalog war nicht nur außenpolitisch, er bezog sich auch innenpolitisch auf die wirtschaftliche und soziale Gleichstellung der Vertriebenen. 2 Außenpolitisch lief die Forderung auf eine Revision der Grenzen und des Status in Osteuropa hinaus. Recht auf Heimat und Recht auf Rückkehr sowie Nicht-Anerkennung der Oder-Neiße-Linie war die gemeinsame Linie der Forderungen an das bundesrepublikanische politische System. Alle Versuche der Aussöhnung mit osteuropäischen Ländern wurden damit einem erheblichen Stress unterworfen. Für die kommunistischen Ostblockländer waren Revanchismus und Revisionismus der Vertriebenenverbände stets ein starker Kritikpunkt, der es erlaubte, die westdeutsche Politik in Europa anzuprangern. 3 In der CDU und der CSU gab es eigene Landesverbände der Vertriebenen und Flüchtlinge, in der SPD einen eigenständigen Vertriebenen-Ausschuss. Konsequenterweise versuchten die Verbandsfunktionäre, insbesondere im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss für gesamtdeutsche Fragen des Bundestages vertreten zu sein. Mit der gelungenen Integration der Heimatvertriebenen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft schwächte sich der Einfluss der Vertriebenenorganisationen beginnend mit den sechziger Jahren immer mehr ab. So wurde z. B. 1969 das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte aufgelöst. Die letzte Regierungserklärung, in der die Nicht-Anerkennung der OderNeiße-Linie noch explizit aufgenommen worden war, war die des Kanzlers Kiesinger im Jahr 1966. 4 Wir haben es hier also exemplarisch mit einer „aussterbenden“ Lobby zu tun. Beim Disput um die Ostverträge der Regierung Brandt Anfang der siebziger Jahre, insbesondere beim Vertrag mit Polen, der die Nachkriegsgrenze völkerrechtlich verbindlich anerkannte, wechselten die SPD-Abgeordneten Hupka und Czaja konsequenterweise auch zur CDU über, weil sie ihren Forderungskatalog innerhalb der SPD nicht mehr repräsentiert sehen konnten. War so einerseits innerhalb der westdeutschen Gesellschaft die Forderung auf Grenzrevision und Rückgabe des Eigentums jenseits der Grenzen immer weniger salonfähig, so geriet die Vertriebenen-Lobby auch generationsmäßig, sozusagen naturwüchsig, immer mehr auf das Abstellgleis. Zwar hielten sich die mit Steuergeldern subventionierten Verbände und ihre Funktionäre recht gut über Wasser, die Mitgliedschaft war aber immer mehr überaltert, und die Treffen der Heimatvertriebenen ähnelten zusehends apolitischen Folkloreveranstaltungen. Eine kleine Minderheit driftete in die extrem rechte Szene ab. Nach der Vereinigung gab es keine echte Renaissance, allerdings in den Neuen Ländern eine nachholende Artikulationsphase. Der Verlauf der Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibung in Berlin zeigte eher Schwäche als neue Stärke an. 5 Immigranten Durch die Zuwanderung von Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik in den siebziger und von Armutsflüchtlingen und Asylanten in den achtziger Jahren bildete sich langsam ein ganz neuer Typ von außenpolitischer Lobby heraus. Die USA als klassisches Einwanderungsland kennen Lobby-Gruppen ihrer Staatsbürger oder Einwohner mit außenpolitischen Forderungen gegenüber dem Herkunftsland schon lange. In Deutschland ist dieser Typ neu und auf Grund der verschiedenen Herkunftsländer der Migranten auch noch relativ schwach ausgebildet. Nationalistische Kroaten, rechte, demokratische und linke Türken, Kurden usw. haben direkt und zusammen mit deutschen Solidaritätsgruppen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik zu nehmen gesucht. 6 Die relative Schwäche dieser Gruppierungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in einzelnen Fällen, insbesondere wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht, durchaus erfolgreich operieren können. Hier sei nur das Beispiel der Kurden-Lobby genannt, die 1991/92 anlässlich von Waffenlieferungen aus dem Bestand der früheren Nationalen Volksarmee an die türkische Regierung, die Verwendung dieser Ausrüstungsgegenstände und Waffen durch die türkische Armee gegenüber der kurdischen Minderheit angeprangert und ein Lieferungsstop gefordert hat. Im März 1995 wurden erstmals über 50 Anschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland von kurdischen Radikalen verübt. Das Beispiel taugt aber mehr für die These vom Import fremder Konflikte durch Einwanderung, als dass es direkten Lobbydruck auf die deutsche Außenpolitik durch Immigranten anzeigen würde. Bei der schnellen deutschen Anerkennung der von Jugoslawien abgefallenen Regionen Slowenien und Kroatien hat der Einfluss von in Deutschland ansässigen Wanderarbeitern aus den beiden Ländern hingegen angeblich eine gewisse, allerdings ungeklärte Rolle gespielt. Ob sich unter Immigranten eine einschlägige Sympathisanten- und Unterstützerszene für Terroristen etabliert, wird sich erst zeigen. 7 Im Gegensatz etwa zu den Vereinigten Staaten kann in Deutschland noch nicht davon gesprochen werden, dass die deutsche Außenpolitik in bestimmten Fällen zum Spielball von nationalen Minoritäten geworden sei. Das übliche Beispiel, das im amerikanischen Fall angeführt wird, um die „Spielball-These“ zu belegen, ist der Einfluss der amerikanischen IsraelLobby. Sie soll nach einigen Interpreten praktisch eine eigenständige amerikanische Nahost-Politik, die einen fairen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien zum Ziel hätte, unmöglich machen. Diese Einschätzung ist zu Recht mehr als umstritten, dennoch bleibt festzuhalten, dass die außenpolitische Handlungsfreiheit einer Regierung durch engagierte Minderheiten Zugewanderter erheblich eingeschränkt werden kann. 8 Auslandsdeutsche Deutschsprachige Minderheiten in verschiedenen osteuropäischen Ländern und auch in den GUS-Staaten lassen die Bundesregierung mehr oder weniger zwangsläufig zu deren Anwalt gegenüber den dortigen Regierungen werden. Zum einen sind es Aussiedler von dort selbst, die, in Deutschland ansässig, nun für ihre zu Hause verbliebenen Verwandten Einfluss zu nehmen versuchen, zum anderen „kümmern“ sich nationalistische Gruppierungen in Deutschland selbst im Alleingang um deren reale oder vermeintliche Interessen. Solche Gruppierungen stellen aber keine direkte Lobby dar, sondern benutzen häufig die Problemlagen, um ihre eigene, rechte Politik zu betreiben. Mit diesen Vorgehensweisen können sie den wohlverstandenen Interessen der deutschsprachigen Minderheiten in osteuropäischen Ländern sogar erheblich schaden. Faktisch fungieren die Vertreter der Aussiedler hierzulande sowohl als Schutzanspruchstelle für die Daheimgebliebenen als auch als Ein- bzw. Rückwanderungs-Lobbyisten. Ein Ende der Rückwanderung mangels Deutscher im östlichen Ausland ist absehbar. 9 Menschenrechtsgruppen und Solidaritätsbewegung Die bekannteste Menschenrechtsgruppierung ist Amnesty International. AI operiert weltweit und vor allem nicht selektiv. Das macht seine Reputation und seinen Einfluss aus. AI ist eine internationale Nicht-Regierungsorganisation (INGO). Es handelt sich also um einen grenzüberschreitenden Akteur der sogenannten Gesellschaftswelt jenseits des Nationalstaats. Die meisten anderen Menschenrechtsgruppen sind regional, tribal oder ideologisch ausgerichtet. Sie interessieren sich also hauptsächlich für eine bestimmte Klientel bzw. argumentieren nur allgemein, um die öffentliche Resonanz zu erhöhen. 10 Die Solidaritätsbewegung ging aus der Protestbewegung Ende der sechziger Jahre hervor. Sie verband Solidarität mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt mit „antiimperialistischen“ Aktivitäten als Protest gegen die Außenpolitik der Bundesregierungen und besonders auch gegen die USA. Hier wurde, beginnend mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg, exemplarisch Gegenaußenpolitik von drei- bis viertausend Aktionsgruppen vorwiegend aus dem linken Spektrum der Gesellschaft zu betreiben versucht, auch wenn es sich vielfach nur um innergesellschaftlich wirksame Debatten handelte. Über die Themenstellung und die ideologische Anreicherung der Inhalte nach dem Muster „Kapitalismus als Sündenbock für Unterentwicklung“ gelang es, besonders in den siebziger Jahren durch Resonanz in den Medien außen- und entwicklungspolitische Grundhaltungen zu beeinflussen. Diese fanden bei den Kirchen und in Parteien, vornehmlich in der SPD, und später besonders bei den Grünen Resonanz. Eine neue weniger ideologisch geprägte Welle zeigt das Wachstum von Attac (Association for the Taxation of Financial Transactions for the Aid of Citizens, 1998 in Frankreich gegründet) an. Die Persistenz dieser Bewegung bleibt abzuwarten. 11 Umweltgruppen Da Umweltfragen immer mehr grenzüberschreitende Bedeutung erfahren haben, sind Umweltgruppen zur außenpolitischen Lobby geworden. Greenpeace der „Umweltmulti“, wie AI auch eine INGO, ist die bekannteste Gruppe. Kampagnen, wie etwa die für den tropischen Regenwald, gegen den ungezügelten Walfang oder das Ozonloch und die Erderwärmung, dienen nicht nur der innergesellschaftlichen Bewusstseinsbildung und dem Fundraising. Sie verfolgen dezidierte außenpolitische Ziele und versuchten keineswegs erfolglos, Druck auf die deutsche Politik, etwa wie beim Umweltgipfel in Rio 1992 oder in Berlin 1995, auszuüben. Auch die Grünen konnten als anfängliche Einzweckökopartei, die solange sie nicht an der Regierungsverantwortung im Bund teilhatten, funktional noch zu den Umweltgruppen gezählt werden. Dies gilt nur solange, bis sich die Grünen zu einem außenpolitischen Profil vorgearbeitet hatten, das über einen gesinnungsethischen Zugang zu Ökologie und Frieden hinausreichte. 12 Kirchen Die Kirchen haben traditionsgemäß außenpolitische Interessen und suchen Einfluss zu nehmen. Die evangelische Kirche (EKD) besitzt über ihre Missionstradition, ihre Mitgliedschaft im Weltkirchenrat und ihre eigenen Entwicklungsprojekte grenzüberschreitende Bezüge. Die katholische Kirche ist nach Organisation und Selbstverständnis Weltkirche und damit transnationaler Akteur und INGO. Über ihre selbstdefinierten Einflusssektoren hinaus haben beide Kirchen aber auch in großen Fragen der deutschen Außenpolitik direkt und indirekt Forderungen an die Politik gestellt. Beide haben sich um die Aussöhnung mit Polen bemüht und in der Grundfrage schon früh Position bezogen. Die EKD veröffentlichte Mitte der sechziger Jahre eine Denkschrift zur Vertriebenenfrage und trug damit zu einer Wende in der öffentlichen Diskussion bei. 13 Im sogenannten Nord-Süd-Konflikt stehen beide Kirchen auf Seiten der Armen im Süden und lobbyieren für mehr Entwicklungshilfe, die Aufnahme von Flüchtlingen und eine liberale Asylpraxis. Die Muslime in Deutschland haben sich bislang wegen ihrer Zersplitterung, quasi die islamische Welt im Taschenformat, noch nicht effizient als religiöse, außenpolitische Interessengruppe artikuliert. Auf der Ebene von Kirchengemeinden wird mit „Kirchenasyl“ zur Verhinderung von Abschiebungen vereinzelt Gegenaußenpolitik betrieben. Das Fundraising für islamistische Terroristen und die Rekrutierung von „Religionskämpfern“ in Moscheen ist real, das Ausmaß aber ungeklärt.