Helmut Schmidt, der Realist und Pragmatiker, hatte über dieses

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23
Rüstungskontrolle und Nachrüstung
 Seit den fünfziger Jahren bemühten sich der Westen wie der
Osten um Rüstungskontrolle. In den ersten beiden Jahrzehnten
kam dabei wenig Vorzeigbares heraus.
Es ging beiden Seiten mehr um ein gegenseitiges Abtasten und Vorführen.
Der Antrieb für Rüstungskontrolle war einmal das hohe Kostenniveau der
Rüstung, zum zweiten die besondere Rationalität des Nuklearzeitalters.
Kriege konnten nicht mehr, wie es der preußische Kriegsphilosoph Carl von
Clausewitz (1780-1831) formuliert hatte, einfach die Fortsetzung der Politik
mit anderen Mitteln sein.
Die Nuklearpotentiale der beiden Supermächte bewirkten eine Tendenz zum
Management des Nicht-Krieges. Rüstungskontrollbemühungen und
Nukleardiplomatie waren die logischen Konsequenzen.
2

Für die Bundesrepublik Deutschland war diese Sicherheitslage
direkt mit der Deutschlandfrage verknüpft. Eine europäische
Sicherheitsordnung im Rahmen des Ost-West-Konflikts musste
automatisch alle Kernfragen der deutschen Außenpolitik
berühren: die Einheit, den nicht-nuklearen Status, die
geostrategische Lage und die Sicherheitsabhängigkeit von den
USA.
All dies unterstreicht die Sonderrolle der Bundesrepublik innerhalb der NATO.
Bonn befand sich hier in einer Zwickmühle. Die meisten Rüstungskontrollvorschläge der fünfziger und sechziger Jahre basierten auf der Anerkennung
des europäischen Status quo.
Da Bonn wegen der Deutschlandfrage diesen Status quo nicht anerkennen
konnte und wollte, geriet es mehr oder weniger automatisch in eine
Oppositionsrolle zu allen Rüstungskontrollinitiativen.
3
 Diese Oppositionsrolle galt exemplarisch für die Bonner Reaktion
auf die Disengagement- und Entflechtungsvorschläge der
fünfziger Jahre
So hatte etwa der britische Außenminister Anthony Eden im Juli 1955 auf der
Genfer Gipfelkonferenz eine „entmilitarisierte Zone zwischen Ost und West“
vorgeschlagen.
1957/1958 formulierte der polnische Außenminister Adam Rapacki eine
„entnuklearisierte Zone“ in Mitteleuropa. Er schlug für Polen, die
Tschechoslowakei, die Bundesrepublik und die DDR ein Verbot der Produktion,
der Stationierung und der Anwendung von Nuklearwaffen vor und gleichfalls
eine Reduktion der konventionellen Streitkräfte auf diesen Territorien.
Das alles klang für diejenigen attraktiv, die ein höheres Maß an Sicherheit
durch einen Friedensprozess in Europa erreichen wollten.
4
 Die Interessen der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten
stießen auf die Gegenpositionen der Bundesrepublik und der
Vereinigten Staaten. Moskau wollte über solche Verhandlungen
eine zumindest indirekte Anerkennung der DDR erreichen.
Zugleich wäre bei einer nuklearfreien Bundesrepublik die Frage eines
deutschen Mitspracherechts weitgehend vom Tisch gewesen. Genau aus
diesen Gründen lehnten die Regierungen unter Eisenhower und Adenauer die
Disengagement-Vorschläge ab. Beide wollten die Entwicklung der NATO und
die volle Westintegration der Bundesrepublik nicht gefährden.
Adenauer misstraute dem westlichen Rüstungskontrollinteresse, weil er eine
Minderung der Spannungen zwischen Ost und West ohne Fortschritte in der
Frage der deutschen Einheit ablehnte. Von Anfang an befürchtete Bonn die
Verständigungsbereitschaft zwischen den beiden Supermächten auf seine
Kosten.
5
 Damit war Bonn in der schwierigen diplomatischen Position des
Bremsers von Rüstungskontrollverhandlungen.
Da dies diplomatisch so nicht durchzuhalten war, begann die Bonner Außenpolitik zu taktieren. Es wurden Lippenbekenntnisse für die Rüstungskontrolle
geleistet, zugleich aber nach Kräften gegengesteuert.
Das Bonner Interesse an einer Stationierung von Nuklearwaffen auf
westdeutschem Boden hatte Folgen, deren politische und diplomatische Tragweite Adenauer selbst wohl nicht recht erkannte.
Ein Mehr an Sicherheit und an Mitsprache für die deutsche Seite konnte dabei
nämlich kaum herauskommen. Niemand im Westen wie im Osten, außer Bonn
selbst, war zu einer deutschen Mitsprache ernsthaft bereit.
6
 Mitte und Ende der sechziger Jahre kamen immer mehr
Rüstungskontrollvorschläge auf den Tisch. Sie ähnelten oft denen
der fünfziger Jahre, trugen aber der Tatsache Rechnung, dass
beide Bündnissysteme an Bedeutung verloren hatten und eine
militärische Entspannung für beide Seiten vorteilhaft erschien.
Die Vorschläge zur Auflösung der antagonistischen Militärbündnisse gingen am
weitesten. Sie kamen meistens von der östlichen Seite, hatten aber eher
propagandistischen Wert. Die Sowjetunion war damals nicht wirklich bereit, die
Kontrolle über ihre Kriegseroberungen aufzugeben.
Die Situation für die Bonner Politik hatte sich noch weiter verschlechtert.
Während man in den fünfziger Jahren noch auf die Unterstützung der
Vereinigten Staaten rechnen konnte, war Bonn in diesen Fragen jetzt völlig
isoliert.
Der Rückgang der sowjetischen Bedrohung aus europäischer und
amerikanischer Sicht legte Arrangements nahe. Bonns Umgang mit der
deutschen Frage wirkte folglich stur und entspannungsfeindlich.
7
 Exemplarisch deutlich wurde die schwierige Anti-Position der
Bundesregierung am Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation
Treaty, NPT). Der Bonner Widerstand gegen den Atomwaffensperrvertrag hatte eine ganze Reihe von Gründen.
Die politische Diskriminierung der Bundesrepublik sollte vermieden, eine
Beteiligung am Mitbesitz der alliierten Nuklearstreitmacht sichergestellt, die
Teilnahme an der Nuklearplanung der NATO garantiert und der diplomatische
Einfluss bei zukünftigen Verhandlungen über die deutsche Frage gewahrt
werden.
Die deutsche Regierung wollte den Verzicht auf eine eigene Nuklearkapazität
an Fortschritte in der deutschen Frage knüpfen. Konkret meinte sie einen
Anspruch auf einen zukünftigen Erwerb nur aufgeben zu können, wenn
Deutschlands Sicherheit und die spätere Wiedervereinigung garantiert wären.
Mit dieser Position stand Bonn völlig allein.
8
 Die USA waren nicht bereit, die deutsche Ablehnung des Vertrags
zu unterstützen
Der Bonner Verdacht, dass der Atomwaffensperrvertrag sich hauptsächlich
gegen die Bundesrepublik selbst richtete, war nicht unbegründet. An diesem
Fall wurde der Vorrang der sowjetisch-amerikanischen Interessen vor der
deutsch-amerikanischen Partnerschaft allzu deutlich.
Für viele deutsche Betrachter war dies der Beweis dafür, dass die
amerikanische Regierung die deutsche Frage eigentlich ad acta gelegt hatte.1
1
Neuerdings findet sich für den NPT im deutschsprachigen Gebrauch die dem
englischen Original entsprechende Bezeichnung Nichtverbreitungsvertrag (NVV).
In den sechziger und siebziger Jahren waren Atomwaffensperrvertrag,
Atomsperrvertrag und Kernwaffensperrvertrag bzw. NV-Vertrag üblich.
9

Schwer verdaulich für die Bonner Diplomatie war, dass die
Debatte um den Atomwaffensperrvertrag ihre Differenzen mit
Washington klar legte, zwischen Moskau und Ost-Berlin
jedoch Einvernehmen herrschte. Für die Sowjetunion war Rüstungskontrollpolitik eine nützliche Ergänzung ihrer Deutschlandpolitik. Die USA hingegen setzten die Teststoppverträge
und den Atomwaffensperrvertrag auf Kosten ihrer engen Beziehungen zu Westdeutschland durch.
Es war klar geworden, dass der Atomwaffensperrvertrag nicht nur eine
„Herabsetzung“ der Bundesrepublik beinhaltete, auch ihr Anspruch auf
Gleichberechtigung war ernsthaft beschädigt worden.
Der Vertrag war nun einmal ein unvermeidliches Instrument zur Verhütung
des Atomkrieges. Dabei mussten die Sonderinteressen der Bundesrepublik
zwangsläufig hintenanstehen.
10
 Die Große Koalition leistete gegen den Atomwaffensperrvertrag
anfangs hinhaltenden Widerstand
Altbundeskanzler Adenauer nannte ihn einen „Morgenthau-Plan im Quadrat“,
Franz Josef Strauß ein „Versailles kosmischen Ausmaßes“. Der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bewertete ihn als „eine Art atomarer Komplizenschaft“ zwischen Washington und Moskau.
Außenminister Brandt befürwortete hingegen die deutsche Zustimmung. Er
hielt sie für unvermeidlich und wollte einen Zusammenhang des Atomwaffensperrvertrags mit effektiven Rüstungskontrollmaßnahmen beider Supermächte.
Die Politik, einen deutschen Finger am nuklearen Drücker haben zu wollen,
um damit Gleichberechtigung zu dokumentieren und eine bessere Verhandlungsposition bei der deutschen Frage zu wahren, musste angesichts des
europäischen und internationalen Umfeldes scheitern.
11

Die deutschen Besorgnisse über den Atomwaffensperrvertrag
wurden durch das Problem der Antiballistischen Raketenabwehr
(ABM) intensiviert. Seit Mitte der sechziger Jahre begannen beide
Supermächte ABM-Systeme zu stationieren.
Die Europäer sahen darin einen Ansatz der USA, sich in eine „Festung
Amerika“ zurückzuziehen. Besonders die Bonner Regierung hielt die ABMDebatte für einen weiteren Versuch der Supermächte, in Europa ein
sowjetisch-amerikanisches Kondominium zu errichten.
Das Interesse der beiden Supermächte angesichts des „Gleichgewichts“ des
Schreckens zu einer Entspannungspolitik zu kommen, war jedoch dominant.
Deutsche Vorbehalte aus dem engen Eigeninteresse der alten Sicht der
Deutschen Frage waren chancenlos.
12

Die amerikanische Perspektive wird durch folgendes Zitat
verständlich:
„Die USA und die Sowjetunion befinden sich in einer paradoxen und noch nie
dagewesenen Situation. Ihre unvereinbaren Gegensätze hindern sie, einen
echten Frieden zu schließen. Nuklearwaffen hindern sie, Krieg zu führen. Nicht
zuletzt aus diesem Grunde ist die Rüstungskontrolle gewissermaßen zur
politischen Währung geworden, mit der beide Seiten die Fortschritte bei der
Lösung von Spannungen messen.
Die Rivalität zwischen den Supermächten ist so tief verwurzelt, dass sie nur in
einem Bereich eine systematische Beilegung erlaubt: in der Regulierung des
militärischen Wettbewerbs. Dabei ist der Wettlauf um den nuklearen Vorteil
lediglich die äußere Manifestation ihres im wesentlichen politischen Konflikts.
Anstatt Nuklearwaffen zu Kriegszwecken anzuwenden, haben es beide Seiten
gelernt, sie zu politischem Vorteil zu manipulieren und gleichzeitig die Gefahr
einer Katastrophe zu verringern. So ist die Rüstungskontrolle zu verstehen: Als
eine besondere Art von Sublimierung.“ (Strobe Talbot 1986)
13

Diese Version der Ost-West-Entspannung konnte nur auf der
Basis des europäischen Status quo stattfinden. Die alte Bonner
Politik war dabei ein Hindernis, die neue Ostpolitik von Brandt
zog nach.
Sie passte die Bonner Linie an die westliche Entspannungspolitik an. 1975
gipfelte diese Politik in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Die deutsche Vertragspolitik der siebziger
Jahre mit Moskau, Warschau, Ost-Berlin und Prag hatte dafür die Voraussetzungen geschaffen. Die Bundesrepublik hatte sich letztlich angepasst, weil
sie gar keine andere Wahl hatte.
14
In der Sicherheitspolitik war die Regierung Brandt-Scheel nun auch wieder voll
auf der NATO-Linie. Die Grundsätze des Harmel-Berichts der NATO von 1967,
Abschreckung gekoppelt mit Entspannung, wurde damit zum gemeinsamen
Kern der westeuropäischen Ostpolitik.
Bonns Ostpolitik und seine Sicherheitspolitik wurden dadurch auch wieder
vereinbar. Eine positive deutsche Einstellung zur Rüstungskontrolle war jetzt
möglich geworden. Damit wurde die Bundesrepublik zum aktiven und konstruktiven Teilnehmer an den schwierigen Verhandlungen zwischen der NATO und
dem Warschauer Vertrag.
15
 Im Herbst 1973 begannen Ost-West-Gespräche über den
beiderseitigen Abbau konventioneller Waffen. Die MBFR-Verhandlungen (Mutual Balanced Forces Reduction) sollten
Truppenreduzierungen auf beiden Seiten aushandeln.
Die Gespräche blieben bis in die späten achtziger Jahre hinein ohne Erfolg.
Die Asymmetrie von geostrategischen Faktoren, technischen Daten und
politischen Zielen beinhaltete viele Stolpersteine für die MBFR-Verhandlungen.
Die westliche Position zielte auf ein ausgewogeneres, stabileres Gleichgewicht konventioneller Waffensysteme. Folglich wollte man größere Reduktionen für den Warschauer Pakt als für die NATO, um die zahlenmäßige
Überlegenheit des Ostens zu minimieren.
Die Sowjetunion hingegen wollte gleichmäßige Reduzierungen statt gleicher
Obergrenzen, um so den Zahlenvorteil des Ostens zu bewahren. Gleichzeitig
wollte die östliche Seite besonders die Bundeswehr, die stärkste konventionelle Streitmacht der NATO, reduziert sehen.
16

Die Regierung Brandt betrachtete die MBFR-Verhandlungen als
Bestandteil ihrer Ostpolitik
Sie sah ein Junktim zwischen MBFR und KSZE. Dieser Zusammenhang
wurde langsam aufgegeben, weil die Stagnation der MBFR-Gespräche jeden
Fortschritt bei der KSZE blockiert hätte.
Aus der Sicht der deutschen Konservativen war dies inakzeptabel. Um einen
unbequemen Fachkritiker aus dieser Richtung loszuwerden, wurde z. B.
Wilhelm Grewe nach seiner eigenen Auslegung 1971 als deutscher
Botschafter nach Tokio ins diplomatische Exil geschickt.
17

Für das Verhältnis der Supermächte wichtiger waren die SALTVerhandlungen, die Strategic Arms Limitation Talks.
Bonn war grundsätzlich dafür, kritisierte aber im Detail, dass SALT I die auf
Westeuropa gerichteten sowjetischen Mittelstreckenraketen ausklammerte.
Bonner Versuche, konsequenterweise in der NATO mehr Einfluss auf die USA
zu nehmen, blieben ziemlich erfolglos.
Mitte der siebziger Jahre hatte die Sowjetunion begonnen, ihre auf Westeuropa gerichteten nuklearen Mittelstreckenwaffen zu modernisieren. Auf diesem Feld entstand so ein Übergewicht des Warschauer Pakts.
Aus deutscher Sicht entstand eine sowjetische Erstschlagskapazität, die die
alte Sorge bekräftigte, Washington könne seine Nukleargarantie nicht einhalten
und dadurch ein auf Europa begrenzter Nuklearkrieg möglich werden. Offiziell
begrüßte Bonn allerdings die SALT II-Vereinbarungen, um die Probleme des
amerikanischen Präsidenten, den Vertrag im Senat ratifizieren zu lassen, nicht
noch zu intensivieren.
18

Anfang der siebziger Jahre stimmten die deutschen und die
amerikanischen Interessen auf diesem Feld im großen und
ganzen also wieder überein.
Ost und West versuchten nicht mehr wie früher, einseitige qualitative Vorteile
zu erlangen. Im Nuklearzeitalter war dieses Verhalten obsolet geworden.
Rüstungskontrollverhandlungen hatten deshalb weniger einen technischen als
einen politisch-symbolischen Gehalt.
Ende der siebziger Jahre begannen hier allerdings Rückschläge einzutreten.
Der amerikanische Präsident Carter verband die Rüstungskontrollpolitik mit der
Menschenrechtspolitik und begann, die technisch-numerischen Aspekte zugunsten der geostrategischen und politischen Seite zu vernachlässigen. Die
Bundesrepublik behielt zwar ihr Entspannungsinteresse bei, sie verlor aber im
Vergleich zum Anfang des Jahrzehnts erheblich an Einfluss.
19
Wieder zeigte sich die alte Schwäche der Bonner Diplomatie, ein Widerspruch
zwischen Sicherheitsinteressen und politischen Interessen. Bonn war für die
Teilbarkeit der Entspannung, wollte aber die Unteilbarkeit der Abschreckung
gesichert sehen. Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt und der amerikanische
Präsident Jimmy Carter fanden zudem nicht das persönliche Verhältnis, das
nötig gewesen wäre, um die neuen Verstimmungen im deutsch-amerikanischen
Verhältnis zu überbrücken.
20

Unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan wurden
die deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehungen noch komplizierter. Die Probleme waren alle alt, im Grunde stammten sie aus
den fünfziger Jahren.
Es war die abnehmende Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nukleargarantie, der Anpassungsdruck für Bonn an die periodisch veränderten strategischen amerikanischen Doktrinen, die politischen Kosten der westdeutschen Sicherheitsabhängigkeit von den USA, die Folgen der Rüstungskontrolle für die deutsche Sicherheit, die Ostpolitik und die Resultate der
Veränderungen im eurostrategischen und globalen Nukleargleichgewicht.
Das eurostrategische Nukleargleichgewicht kreierte seit Mitte der siebziger
Jahre wieder Problemlagen. Dabei brachen die alten politischen Gegensätze
zwischen Bonn und Washington auf und dokumentierten wieder einmal Bonns
geringen Einfluss in Fragen der Nukleardiplomatie, der Rüstungskontrolle und
in der NATO überhaupt.
21
Nachdem die amerikanischen Interkontinentalraketen alle strategischen Ziele in
der Sowjetunion abdecken konnten, das war Mitte der sechziger Jahre erreicht,
hatten die USA ihre eurostrategischen Raketen abgezogen.
Es handelte sich dabei um Mittelstreckenraketen, die in Großbritannien, Italien
und der Türkei stationiert waren. Die Sowjetunion hingegen zog nach Erreichen der eurostrategischen Parität mit den USA ihre auf Europa zielenden
Mittelstreckenwaffen nicht ab, sondern begann sie zu erweitern und zu modernisieren.
Es ging um die SS-20-Raketen mit drei Sprengköpfen. Damit gewann die
Sowjetunion ein eurostrategisches Übergewicht auf dem Nuklearsektor, das zur
alten konventionellen Überlegenheit hinzutrat.
22

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt war es selbst, der
im Oktober 1977 anlässlich einer Rede in London das eurostrategische Übergewicht der Sowjetunion monierte. Eigentlich wollten die USA dadurch die SALT II-Verhandlungen nicht befrachten.
Der Druck der deutschen Argumente führte allerdings dann doch im Januar
1979 zur amerikanischen Bereitschaft, die Nuklearwaffen der NATO zu
modernisieren. Festgeschrieben wurde das Modernisierungsvorhaben dann im
Dezember 1979, im sogenannten NATO-Doppelbeschluss.
23
Dieser beinhaltete, dass der Westen 1983 damit beginnen würde, 108
amerikanische Pershing II-Raketen und 464 landgestützte Cruise Missiles mit
Reichweite bis in die UdSSR in Europa zu dislozieren. Die Kehrseite des
Beschlusses, deshalb Doppelbeschluss, war, dass diese Stationierungsentscheidung modifiziert würde, wenn die Sowjetunion auf Rüstungskontrollverhandlungen einginge.
Die Pershing-Raketen sollten gänzlich, von den Cruise Missiles nur 96 auf
westdeutschem Boden stationiert werden. Dieser Teil des Beschlusses hatte
hausgemachte deutsche innenpolitische Ursachen, die Bundesrepublik sollte
nicht als einziges NATO-Mitglied diese neuen Waffen auf ihrem Boden erhalten,
weil sie von der Sowjetunion als direkt bedrohlich eingeschätzt wurden. Hinzu
kam, dass die deutsche Seite, wie üblich, eine „Singularisierung“ zu umgehen
suchte.
24

Die Interpretation für die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik war wie stets doppeldeutig. Zum einen konnte das eurostrategische Ungleichgewicht die gesamte Abschreckungsstrategie der NATO in Frage stellen. Es bestand die reale Gefahr einer
Abkoppelung Amerikas von Europa.
Bei einem Eskalationsszenario könnte unter den Bedingungen des Scheiterns
einer konventionellen Abwehr eines sowjetischen Angriffs die NATO zum
Einsatz taktischer Nuklearwaffen gezwungen werden. Die SS-20-Raketen
eröffneten für die Sowjetunion dann die Option, einen Gegenschlag auf die
nuklearen NATO-Luftstreitkräfte zu führen.
Die USA müssten dann entweder die Kampfhandlungen abbrechen oder Interkontinentalraketen einsetzen. Dies war das alte Szenario, das das wohlverstandene Eigeninteresse der USA so interpretierte, dass sie auf der Grundlage
eines zerstörten Europas, besonders Deutschlands, mit der Sowjetunion verhandeln würden.
25
Genauso war es aber auch möglich zu argumentieren, dass ein wiederhergestelltes eurostrategisches Nukleargleichgewicht den USA die Abkopplungsoption erst recht ermöglichten. Die USA könnten nämlich dann von vornherein
einen Krieg auf Europa zu beschränken versuchen.
Beide Positionen waren in sich logisch. Nicht überprüfbar war die potentielle
Reaktion eines amerikanischen Präsidenten. Für die deutsche Seite klar
einschätzbar war aber, dass in allen Fällen konventionelle und nukleare
Kampfhandlungen auf deutschem Boden stattfinden würden.
26
 Helmut Schmidt, der Realist und Pragmatiker, hatte über dieses
Problem eigentlich den Einfluss der Bundesrepublik in der NATO
stärken wollen. Genau wie früher verhob sich aber die Bundesrepublik bei diesem Ziel.
Schmidt selber geriet außen- und innenpolitisch durch den NATO-Doppelbeschluss immer mehr unter Druck. Die USA folgten nämlich keinesfalls dem
deutschen Kalkül und setzten sich ziemlich rüde über die deutschen strategischen Sicherheitsinteressen und das deutsche innenpolitische Entspannungsinteresse hinweg.
27
981/82, als sich die Amtszeiten von Präsident Reagan und von Bundeskanzler
Schmidt überschnitten, wurde deutlich, dass die neue amerikanische
Administration an der Rüstungskontrollseite des Doppelbeschlusses jetzt kein
Interesse mehr hatte. Der amerikanische Kurs ging klar auf Aufrüstung,
Rüstungskontrolle wurde als lästige Ablenkung eingeschätzt.
Das deutsche Entspannungsinteresse, aus Gründen des innerdeutschen
Verhältnisses, wurde in Washington als störend empfunden. Die offene
amerikanische Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion, die von Reagan als
„Reich des Bösen“ apostrophiert wurde, ließ die Europäer einen „Zweiten
Kalten Krieg“ befürchten.
28

Als Helmut Kohl im Oktober 1982 Helmut Schmidt ablöste,
versuchte er, das Verhältnis mit Reagan harmonischer zu
gestalten. Kohl wollte die Loyalität zum westlichen Bündnis
wieder stärker dokumentieren und auch die Aufstellung der
modernisierten Pershing-Raketen und der Cruise Missiles als
Beweis der deutschen Bündnistreue hinnehmen.
Er provozierte damit allerdings die westdeutschen Stationierungsgegner, die
längst nicht mehr allein im linken Spektrum, sondern bis in die bürgerliche Mitte
hinein breiten Widerhall fanden. Als Reagan dann in seiner zweiten
Präsidentschaft wieder Interesse an der Rüstungskontrolle fand, wurde die
deutsche Seite erneut düpiert. Nur mühsam hatte Kohl seine Regierung auf
Reagan-Kurs gehalten.
29
Nun wurde der Kurs in Washington geändert und eine Doppel-Null-Lösung für
Raketen sowohl über als unter 1 000 km Reichweite anvisiert und durchgesetzt.
Schon auf dem amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen von Reykjavik im Jahr
1986 einigten sich beide Seiten auf eine Null-Lösung bei eurostrategischen
Waffen. Das deutsche Interesse, auch die Kurzstreckenraketen und die
konventionellen Streitkräfte einzubeziehen, war schlicht übergangen worden.
30
 Im Herbst 1987 wurde der geringe Bonner Einfluss dann noch
deutlicher, als Kanzler Kohl in Abweichung von seinem
Außenminister Genscher gegen die Doppel-Null-Vorschläge
opponierte.
Ende 1987 hatten sich die Supermächte in der Doppel-Null-Frage geeinigt,
und die Bundesrepublik musste der Zurückziehung der Pershing II-Raketen
und der Marschflugkörper zustimmen, die soviel innenpolitischen Wirbel
verursacht hatten. Die Stationierung hatte die Friedensbewegung in der
Bundesrepublik erheblich gestärkt und ihr eine vorübergehende Massenbasis
verschafft.
Der begrenzte deutsche Einfluss auf Sicherheitsfragen in Europa hatte sich wieder
einmal schmerzlich herausgestellt. Das amerikanische Hüh der ersten Hälfte der
achtziger Jahre hin zu höherer Spannung und das Hott in der zweiten Hälfte mit
vorher als unmöglich eingeschätzten, niedrigen Kontrollniveaus hatte jeweils die
deutsche Ohnmacht offenbart.
31
 Die deutsche Sonderrolle war im Fall der nuklearen Gefechtsfeldwaffen kürzester Reichweite noch brisanter. Kein Waffentyp
konnte die Singularität der Bundesrepublik mehr unterstreichen.
Diese Waffen in der Bundesrepublik und in der DDR bedrohten in erster Linie
die Deutschen selbst. Das Motto „Je kürzer die Reichweite, desto toter die
Deutschen“ beeindruckte alle politischen Lager. Damit war die Begrenzung
eines Nuklearkrieges, nicht nur auf Europa, sondern auf Deutschland allein,
eine Option. Für die Bonner Regierung unangenehm war, dass in dieser Frage
besonders der rechte Flügel der CDU in Schulterschluss mit der Linken die
deutschen Interessen anmahnte.
Noch nie war wegen einer Frage der Modernisierung die Interessenlage in der NATO
so gespalten gewesen, wie im Frühjahr 1989 bei den Lance-Kurzstreckenraketen.
Erst der Zusammenbruch des Warschauer Pakts und die Wiedervereinigung ließen
in Washington die Einsicht reifen, dass dieser Modernisierungsbeschluss der NATO
allein auf Kosten der Sicherheit der Deutschen nicht durchsetzbar war.
32
 Die harsche Kritik der deutschen Konservativen an der amerikanischen Position war hier politisch viel bedeutender als der traditionelle
Anti-Amerikanismus der Linken. Franz Josef Strauß war 1988 in dieser
Frage an die Öffentlichkeit gegangen.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende, Alfred Dregger, kritisierte offen, dass die Modernisierung der Kurzstreckenraketen die Bundesrepublik zum Schlachtfeld in einem
regional begrenzten Nuklearkrieg machen würde. Dregger begrüßte außerdem
nachdrücklich einen Vorschlag von Erich Honecker, die nuklearen Gefechtsfeldwaffen zu reduzieren.
Hier hatten die USA mit ihrer rücksichtslosen Vernachlässigung der deutschen
Interessen ein sicherheitspolitisches Eigentor geschossen.
33
 Ein weiteres amerikanisches Projekt, daß die deutsch-amerikanischen wie auch generell die amerikanisch-europäischen Beziehungen belastete, war die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI).
Im März 1983 hatte Reagan ein undurchdringliches strategisches Verteidigungssystem für Amerika vorgeschlagen. Während in den USA eher die Kostenseite
und die fragwürdige Realisierbarkeit debattiert wurden, beunruhigte die
Europäer der beabsichtigte Wechsel vom Prinzip strategischer Abschreckung
zum Prinzip strategischer Verteidigung.
In der Praxis hätte SDI auf eine völlige Veränderung der amerikanischen Strategie
hinauslaufen müssen. Da SDI in den achtziger Jahren weit von der strategischen
Realität entfernt war, zählte vor allem seine Symbolkraft.
Die Abschreckung war in der deutschen Auslegung immer so verstanden worden,
dass der Ausbruch eines Krieges verhindert werden sollte. Verteidigung galt als
Versagen der Abschreckung und letztlich als Kriegführung.
34
 Der SDI-Plan wurde deshalb auch von den Verteidigungsexperten
der Bonner Regierung, voran vom Verteidigungsminister Manfred
Wörner und dem Chef seines Planungsstabes, Hans Rühle, als
amerikanischer Unilateralismus und Rückzug auf die „Festung
Amerika“ ausgelegt.
Mit dem Ziel der Unverwundbarkeit Amerikas und längerfristig womöglich auch
der UdSSR, die gleichzuziehen versucht hätte, bei gleichzeitiger hoher
Verwundbarkeit Europas und noch höherer der Bundesrepublik, konnte SDI
hierzulande nicht auf Gegenliebe stoßen.
Helmut Kohl sah sich allerdings verpflichtet, das Programm zu unterstützen. Zum
einen wollte er das deutsch-amerikanische Verhältnis verbessern, zum anderen
hoffte er wohl, dass dieses Problem eines Tages von selbst verschwinden würde.
Der Lauf der Ereignisse und die fragliche technische Realisierbarkeit sowie die
immensen Kosten gaben dieser Einschätzung letztlich Recht.
35
Das ersparte Helmut Kohl allerdings nicht die harte innenpolitische
Auseinandersetzung um SDI. Für Westdeutschland waren all diese Fragen
äußerst unangenehm. Ein Rückgriff auf eine stärkere konventionelle
Abschreckung hätte nämlich die Bundesrepublik finanziell, demographisch und
innenpolitisch mit einem viel höheren Verteidigungshaushalt belastet.
36
 Erst der Zerfall des Warschauer Pakts löste dieses Dilemma
und beendete die Periode der totalen deutschen
Sicherheitsabhängigkeit.
SDI als Ausdruck des Versuchs, einen Schutzschirm für Amerika zu bauen,
während Europa und Deutschland im Raketenregen gestanden hätten, war
Ausdruck der immer problematischeren transatlantischen Sicherheitsverbindungen
unter amerikanischer Hegemonie.
Die amerikanische Doppeleindämmung alter Art gegenüber der Sowjetunion und
gegenüber Deutschland war nach dem Zerfall des Warschauer Vertrags nicht mehr
zeitgemäß. In Europa verschwand die Bedrohung der Nachkriegsphase, und es
begann eine Übergangszeit mit Ungewissheit über das neue europäische
Sicherheitssystem.
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