de facto - Prof. Rode: Internationale Beziehungen und deutsche

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Souveränität gegen Wiedervereinigung
Zum Zeitpunkt der Entstehung der beiden deutschen Staaten erschienen die
Chancen für die Einheit Deutschlands im Nebel des Prinzips Hoffnung
verschwunden. De facto war die Herausbildung zweier deutscher Staaten
der Vollzug der Teilung. Der Eintritt der beiden deutschen Staaten in die
jeweiligen Bündnisse im Jahr 1955 markierte die Zugehörigkeit zu zwei
diametral gegenüberstehenden Lagern.
Der Ost-West-Konflikt und seine Stabilisierung schloss es aus, dass eine Seite ein
geeintes Deutschland in die eigene Einflusssphäre einbeziehen und kontrollieren
konnte. Damit war die Deutsche Frage vorläufig unlösbar. Die beiden Supermächte
wurden Garanten der europäischen Stabilität auf der Basis des Status quo.
Der geostrategische Kompromiss zwischen den Vereinigten Staaten und der
Sowjetunion war für beide Seiten vorteilhaft. Die UdSSR konnte ihre Machtposition in
Europa konsolidieren und sukzessive auch legitimieren.
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Die USA konnten ihre doppelte Eindämmungspolitik betreiben.
Diese sah so aus, dass einerseits die Sowjetunion in den Grenzen ihrer
Machtsphäre nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten wurde, andererseits die
Bundesrepublik Deutschland in die transatlantischen und westeuropäischen
Institutionen integriert wurde.
Für letzteres gewannen die Vereinigten Staaten die Zustimmung der Bundesregierung und der westdeutschen Bevölkerung.
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 Die Schöpfer des deutschen Grundgesetzes hatten die Bundesrepublik
zu einem Provisorium erklärt, weil sie die Teilung Deutschlands weder
direkt noch indirekt billigen wollten. Der junge deutsche Weststaat war
also nach seinem staatsrechtlichen Selbstverständnis insofern ein
Unikum als er seinen Bestand längerfristig selbst in Frage stellte.
Schon der Begriff Grundgesetz sollte die Vorläufigkeit klarstellen, der übliche
Begriff der Verfassung war deshalb vermieden worden. Dieses Verständnis fand
seine Entsprechung in der Bezeichnung der DDR als „Zone“ oder „sogenannte
DDR“.
Die Westorientierung der Bonner Politik ergab sich schon allein daraus, dass der
Kanzler bei schwierigen und langwierigen Verhandlungen zur Eingliederung der
Bundesrepublik in das westliche System mit den westlichen Spitzenpolitikern
ständig Kontakt hielt.
Zur Sowjetunion hielt er von vornherein Distanz, obwohl dort ja der Schlüssel zur
deutschen Einheit gelegen hätte. Eine flexiblere Ostpolitik kam unter seiner
Führung nicht zustande. Hier lag also eine Diskrepanz zwischen der Bonner
West- und der Ostpolitik, die eindeutig anzeigt, wie die Akzente gesetzt worden
waren.
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Die Westintegration bescherte der Bundesrepublik nicht nur nach und
nach die Gleichberechtigung mit den Partnerländern, sondern löste sogar
auch ein territoriales Problem im Westen: das des Saargebietes.
1948 hatte Frankreich das Saargebiet wirtschaftlich eingegliedert und versucht,
diese Wirtschaftsunion auch politisch-vertraglich zu festigen. Dennoch erreichte es
Adenauer 1956, dass das Saargebiet wieder zu Deutschland zurückkehrte.
Die deutsche Diplomatie hatte in diesem Fall geschickt die Bedingungen im Kalten
Krieg ausgenutzt. Die Weststrategie war eine der Anpassung an die Gegebenheiten
und deren Ausnutzung im Sinne eines Zugewinns an deutscher Souveränität.
Eine Ostpolitik aus einer „Position der Stärke“ mündete hingegen zwangsläufig in die
Stagnation und wirkte formaljuristisch und ritualistisch.
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Dabei war sich die Bonner Politik unter Adenauer durchaus bewusst,
dass die westliche Unterstützung für die deutsche Einheit gering bis
inexistent war.
Ziel der Bonner Wiedervereinigungsstrategie war es also konsequenterweise, den
Einfluss der Bundesrepublik im westlichen Lager zu vergrößern und somit zu
erreichen, dass die westlichen Verbündeten die Deutsche Frage nicht als zweitrangig
oder schlimmstenfalls sogar als Tauschobjekt bei einer Lösung des Ost-WestKonflikts betrachteten.
Auf eine Kurzformel gebracht hieß das: Die Bundesrepublik musste sich innerhalb
des Westens unentbehrlich machen.
Anfang der fünfziger Jahre war die Bundesrepublik eindeutig noch kein souveräner
Staat. Die Westalliierten besaßen Einspruchsrechte bei der Bonner Außenpolitik. Was
die deutsche Einheit betraf, sollten die Rechte der vier Siegermächte die volle
Souveränität auch in Zukunft noch ausschließen.
In dieser Situation hätte eine aktive Bonner Ostpolitik womöglich die gesamte
westliche Bündnisstrategie in Frage stellen und das Erreichen des Souveränitätszieles aufs Spiel setzen können.
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Immerhin gelang es der deutschen Politik in den Pariser
Vereinbarungen von 1954 (sogenannter Deutschland-Vertrag) die
westlichen Verbündeten auf die Unterstützung der deutschen
Wiedervereinigung zu verpflichten.
Das bezog sich allerdings nicht auf die Wiederherstellung Deutschlands
innerhalb der Grenzen von 1937.
Diese Verpflichtung war schon schwierig genug gewesen und in der Tat ein
diplomatisches Meisterstück, allerdings sahen die westlichen Verbündeten in
den deutschen Wiedervereinigungsplänen nur eine Art vergrößerte
Bundesrepublik.
Die vertraglichen Verpflichtungen Deutschlands, die die Bonner Regierung
an das Atlantische Bündnis und die westeuropäischen Institutionen band,
sollten erhalten bleiben.
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Die Politik gegenüber der Sowjetunion war nicht kompromissorientiert im
Sinne einer mit ihr auszuhandelnden potentiellen Wiedervereinigung. Als
die UdSSR in ihrer berühmten Note vom 10. März 1952 die Neutralisierung
Deutschlands und den Abzug aller Besatzungstruppen forderte und dafür
die deutsche Wiedervereinigung anbot, entgegneten die Westmächte am
25. März, dass eine gesamtdeutsche Regierung nur durch freie Wahlen
zustande kommen könne.
Wahrscheinlich war tatsächlich weder Stalins Angebot ernst gemeint noch wollten die
Westmächte darauf eingehen und in ernsthaften Verhandlungen die sowjetische
Position ausloten.
In dieser kritischen Phase des Kalten Krieges 1952 wollte die Sowjetunion
höchstwahrscheinlich in erster Linie gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft
(EVG) querschießen und die Bundesregierung mit einem Lockangebot ködern.
Adenauer wurde von vielen Kritikern damals und später vorgeworfen, er habe es
verantwortungslos und sogar zynisch versäumt, diese Möglichkeit zur Wiedervereinigung ernsthaft zu prüfen.
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Zweifellos wollte Adenauer kein vereintes Deutschland, das aus dem Westbündnis
gelöst Schaukelpolitik betreiben könnte.
Deutsche Neutralität und deutsche Sonderwege waren für ihn Schreckgespenster.
Für den Bundeskanzler war die Westbindung gleichbedeutend mit der Staatsräson
der Bundesrepublik.
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Adenauer erwartete für seine konsequente Politik der Westintegration vom
Westen die Unterstützung seiner Ostpolitik als Gegenleistung. Die
bundesdeutsche Öffentlichkeit suchte er zu überzeugen, dass der Westen
die deutsche Wiedervereinigung unterstütze. Die Unterstützung war
allerdings, wie gesagt, nur lau und rhetorisch.
Um in dieser Frage voranzukommen, vertraute er auf eine günstige Wendung des
Ost-West-Machtgleichgewichts, das eine wirksame „Politik der Stärke“ des Westens
erlauben sollte.
Tatsächlich bildete sich aber das bekannte Gleichgewicht des Schreckens heraus,
das einer solchen westlichen Politik den Boden entziehen musste.
Erst die Ereignisse Ende der achtziger Jahre lassen sich womöglich im Sinne der
Analyse Adenauers interpretieren.
Ob er allerdings wirklich mit einem Zusammenbruch des Ostblocks gerechnet hat,
muss dahingestellt bleiben.
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1955 kam es zu Adenauers Moskaubesuch, der in der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR
mündete. Adenauer erreichte zwar die Freilassung der in der Sowjetunion
verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen, in der Deutschen Frage gab es
aber keinerlei Fortschritte. Als Konsequenz formulierte die westdeutsche
Diplomatie die sogenannte Hallstein-Doktrin.
Damit wurde der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik in eine rechtlichdiplomatische Formel umgesetzt, nach der die Bundesrepublik automatisch die
diplomatischen Beziehungen zu solchen Regierungen abbrach, die das DDR-Regime
anerkannten.
Allerdings wurde die Doktrin nie offiziell verkündet, um die diplomatische Flexibilität
nicht völlig zu verlieren. Musterbeispiel war der Abbruch der diplomatischen
Beziehungen zu Jugoslawien im Jahr 1957.
Adenauers politische Hauptziele, die Westintegration und die Verhinderung einer
deutschen Neutralität waren erreicht, seine Wiedervereinigungspolitik, wenn er
überhaupt eine hatte, war fehlgeschlagen.
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 Eine weitere Entwicklung auf dem Feld der Sicherheit untergrub die direkte
Verknüpfung zwischen der Wiedervereinigung und dem Aufbau eines
stabilen europäischen Sicherheitssystems. Die Lösung der Deutschen
Frage war jetzt nicht mehr Vorbedingung für eine europäische
Sicherheitsvereinbarung, beide Problembereiche konnten nebeneinander
existieren.
Sowjetische Disengagement-Pläne gingen von der Grundlage der Teilung
Deutschlands aus und versuchten, eine de facto-Anerkennung der DDR herbeizuführen.
Inhaltlich bot die Sowjetunion eine nuklearwaffenfreie Zone in Mitteleuropa und eine
beiderseitige Truppenreduzierung an.
Sowjetisches Ziel war eine Schwächung der militärischen Präsenz des Westens,
besonders der USA, und letztlich der Zerfall der NATO.
In diesem Abschnitt interessieren nicht die sicherheitspolitischen Einzelheiten, sondern nur die Verbindung zur Wiedervereinigungsfrage.
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Das Dilemma der Bonner Politik bestand darin, dass der Abbau von
Spannungen im Ost-West-Verhältnis zwar eine Vorbedingung für die
Wiedervereinigung war, eine Entspannung aber auch die Möglichkeit einer
Sanktionierung des deutschen Status quo einschloss. Ende der fünfziger
Jahre zeichnete sich eine Schwächung der beiden antagonistischen
Bündnissysteme ab.
Osteuropäische Länder versuchten, ihren Handlungsspielraum zu vergrößern, im
Westen kamen Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und den USA auf.
De Gaulle erkannte 1959 die Oder-Neiße-Grenze an. Zugleich zeigte Frankreich
gegenüber dem Ostblock eine härtere Haltung als England und die USA.
Aus der Bonner Perspektive verschob sich die Frage immer mehr vom Blickwinkel
„Wie kommen wir der Wiedervereinigung näher?“ in die Richtung „Wie können wir
verhindern, dass die Teilung Deutschlands besiegelt wird“, mit anderen Worten, wie
können wir die Deutsche Frage offen halten?
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Die Situation in Berlin versinnbildlichte den Restbestand der deutschen
Einheit. Hier gab es einen letzten sichtbaren Rest der Vier-MächteVerantwortung für die gesamtdeutschen Angelegenheiten. Die militärische
Präsenz der Alliierten in West-Berlin und die politische Präsenz der
Bundesrepublik waren der Sowjetunion und der DDR folglich ein Dorn im
Auge.
Zehn Jahre nach der Berliner Blockade und der Luftbrücke der Alliierten wurde WestBerlin 1958 erneut zum Brennpunkt des Kalten Krieges in Europa. Der Zugang zu
West-Berlin schien der Sowjetunion ein geeigneter Hebel zu sein, die de factoAnerkennung der DDR zu ertrotzen.
Im Dezember 1958 hatte die Sowjetunion den Westmächten vorgeschlagen, WestBerlin den Status einer entmilitarisierten freien Stadt zu verleihen. Daran war die
Drohung gekoppelt, die Transitverkehrsrechte nach Berlin auf die DDR zu
übertragen, falls es binnen sechs Monaten keine Vereinbarung gäbe.
Das Berlin-Ultimatum Chruschtschows brachte den Westen in eine unangenehme
Lage. Hier deckten sich die westdeutschen Interessen eindeutig nicht mit denen der
drei Westmächte. Letztere wollten nur ihren eigenen Status in Berlin wahren, Bonn
hingegen rückte den Zusammenhang mit der Deutschen Frage in den Vordergrund
und versteifte sich auf rechtliche Formalitäten.
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Die Berlin-Frage wurde auf verschiedenen Ost-West-Konferenzen in Camp
David, Paris und Wien hin- und hergeschoben. 1961 verschärfte sich die
Berlinkrise und zugleich wurden durch den Mauerbau am 13. August
Voraussetzungen für die Stabilisierung geschaffen. Der Flüchtlingsstrom
von Ost- nach Westberlin provozierte eine Entscheidung der
Spitzenpolitiker des Ostblocks, diese letzte Tür zwischen den beiden
deutschen Staaten zu schließen.
Damit war von östlicher Seite das letzte Symbol der Einheit Deutschlands und Berlins
zerstört worden.
Die Übertragung der sowjetischen Rechte in Ost-Berlin auf die DDR bedeutete
praktisch einen separaten Friedensvertrag, womit die Teilung Deutschlands vollendet
war.
Bonn hatte protestierend die Moral auf seiner Seite, verfügte aber über keine
politischen oder andere Mittel, den Mauerbau zu verhindern.
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Für den Ostblock und vor allem die DDR war es eine erfolgreiche
Machtdemonstration. Diese hatte allerdings den Preis der Blamage durch die
Zurschaustellung der Inattraktivität des Realsozialismus.
Für die Alliierten war es vernünftigerweise nur der Anlass zum Protest. Kriegsgrund
konnte der Mauerbau im Zeitalter des nuklearen Patts nicht sein.
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