Morphologische Sprachklassifikation Sprachen der Welt Gerhard Jäger • Unterschiedliche Grade von morphologischer Komplexität • Bsp.: Yay (Südchina; (a)) vs. Oneida (Nordamerika; (b)) Morphologische Typologie des 19. Jahrhunderts • Die – implizite – Prämisse der ersten Sprachtypologien ist, dass die Morphologie, und zwar insbesondere die Flexion, den Kern des Sprachsystems bildet. • Im Zentrum des Interesses stehen zwei typologische Parameter: 1) Der Ausdruck grammatischer Bedeutungen, nämlich der Grad ihrer Grammatikalisierung: - Konkretheit vs. Abstraktheit, - Bindungs- und Fusionsgrad der grammatischen Formative 2) Die Komplexität des Wortes vs. Komplexität des Satzes (Synthesegrad). Friedrich Schlegels Typen: flektierend vs. isolierend Entweder werden die Nebenbestimmungen der Bedeutung durch innre Veränderungen des Wurzellauts angezeigt, durch Flexion, oder aber jedesmal durch ein eignes hinzugefügtes Wort, was schon an und für sich Mehrheit, Vergangenheit, ein zukünftiges Sollen oder andre Verhältnisbegriffe der Art bedeutet; und diese beiden einfachsten Fälle bezeichnen auch die Hauptgattungen aller Sprache. Alle übrigen Fälle sind bei näherer Ansicht nur Modifikationen und Nebenarten jener beiden Gattungen; daher dieser Gegensatz auch das ganze in Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der Wurzeln unermeßliche Gebiet der Sprache umfaßt und völlig erschöpft. [Schlegel 1808: 45] August Wilhelm Schlegels drei Klassen: isolierend – agglutinierend - flektierend • 1) Sprachen ohne jegliche grammatische Struktur, • 2) Sprachen, die Affixe verwenden, • 3) Sprachen mit Flexion. Die flektierenden Sprachen werden weiter in zwei Arten unterteilt, synthetische und analytische. Die analytischen haben: - Artikel vor dem Substantiv, - Personalpronomina vor dem Verb, - Hilfsverben in der Konjugation, - Präpositionen anstelle von Kasus, - Adverbien zur Komparation der Adjektive etc. Die synthetischen Sprachen haben keine derartigen Umschreibungen (Periphrasen). Wilhelm von Humboldts morphologische Typologie als Beschreibung des Sprachsystems („Sprachform“): • "Die charakteristische Form der Sprachen hängt an jedem einzelnen ihrer kleinsten Elemente; jedes wird durch sie, wie unerklärlich es im einzelnen sei, auf irgendeine Weise bestimmt. Dagegen ist es kaum möglich, Punkte aufzufinden, von denen sich behaupten ließe, daß sie an ihnen, einzeln genommen, entscheidend haftete. [... H. fordert,] dass in den Begriff der Form der Sprache keine Einzelheit als isolierte Tatsache, sondern immer nur insofern aufgenommen werden darf, als sich eine Methode der Sprachbildung an ihr entdecken lässt. Man muss durch die Darstellung der Form den spezifischen Weg erkennen, welchen die Sprache und mit ihr die Nation, der sie angehört, zum Gedankenausdruck einschlägt.“ [Humboldt 1836: §12, 420ss.] Edward Sapirs morphologische Typologie Sapir (1921, bes. Kap. V) reduziert die morphologische Typologie auf zwei Parameter: • 1. Grad der Fusion der Affixe miteinander und mit der Wurzel: (isolierend -) agglutinierend – fusionierend*. • 2. Grad der Synthese der Bestandteile des Satzes zu mehr oder weniger komplexen Wörtern: analytisch* - synthetisch polysynthetisch. * ‘Fusionierend’ ist der neue Begriff für ‘flektierend’. Damit wird die Polysemie des Ausdrucks flektierend reduziert. Gleichzeitig wird das, was für ‘flektierend’ wesentlich war, auf einen äußerlichen Aspekt reduziert, nämlich die Verwischung der Morphemgrenzen zwischen Wurzel und grammatischen Morphemen. *Der traditionelle Terminus ‘analytisch’ wird i.S. von “isolierend” umgedeutet. Auch hiermit wird das traditionelle Konzept des analytisch-flektierenden Typs aufgegeben. Isolierende Konstruktionen sind z.T. durch Grammatikalisierung auf analytische Konstruktionen bezogen (und insoweit tat-sächlich nur graduell von ihnen verschieden). Zum anderen Teil flektieren die grammatischen Formative analytischer Konstruktionen, was mit dem isolierenden Typ auf keine Weise vereinbar ist. Synthese-Index • Ein Extrem: keinerlei morphologische Synthese – Vollständig isolierende Sprache – Alle Morpheme sind freie Morphem • Anderes Extrem: alle grammatischen Relationen zwischen Morphemen wird morphologisch realisiert – Extreme Polysynthese; jeder Satz besteht aus einem einzigen (komplexen) Wort Synthese-Index • Keine Sprache ist rein isolierend • Chinesisch kommt dem Ideal nahe • Auch im Chin. gibt es einige Flexions- und DerivationAffixe • Außerdem gibt es Komposition Eigenschaften isolierender Sprachen • • • • • • Isolierende Sprachen haben oft komplexes tonales System z.B. Yai (vgl. Bsp. (3)) Keine offensichtliche funktionale Erklärung Möglicherweise zufälliges ArealPhänomen Isolierende Sprachen benutzen häufig serielle Verben vgl. Bsp. (4) (auch Yai) Eigenschaften isolierender Sprachen • • Isolierende Sprachen haben oft meistens feste Wortstellung Aus funktionaler Perspektive nicht erstaunlich, weil grammatische Unterscheidungen nur durch Reihenfolge ausgedrückt werden können Beispiele für isolierende Sprachen • • • • • Chinesisch Englisch Thai Vietnamesisch Bulgarisch Eigenschaften synthetischer Sprachen • Robuster Gebrauch der Morphologie; d.h. komplexe Wörter • Bsp.: Bare (Araukanisch), vgl. (5) • Extrem synthetisch: polysynthetisch • Z.B. Tiwa (NA Indianersprache), vgl. (6) Eigenschaften synthetischer Sprachen • In polysynthetischen Sprachen kann ein Wort mehrere lexikalische Wurzeln enthalten • Prozess heißt Inkorporation • Trotz oberfl. Ähnlichkeit wichtige Unterschiede zur Wortbildung durch Komposition – – – – Häufigster Fall: Inkorporation von Nomen durch Verb Resultiert in komplexem Verb Inkorporiertes Nomen bleibt selbständig referentiell Inkorporiertes Nomen sättigt Argumentposition des Verbs Eigenschaften synthetischer Sprachen • Komplexes Kongruenz-System • Z.B. Tiwa (NA Indianersprache, vgl. (7), (8)): – Verb kongruiert mit Subjekt, direktem Objekt und indirektem Objekt • Keine Sprache ist völlig synthetisch; auch polysynthetische Sprachen haben syntaktisch komplexe Sätze Beispiele für stark synthetische Sprachen • • • • • • • • Inuktitut Tschuktschisch Ainu (Japan) Kirkassisch (Nord-Kaukasus) Baskisch Maya-Sprache Lakota Mohawk Fusions-Index • Ein Extrem: agglutinierende Sprachen – Morphemgrenzen sind einfach identifizierbar – Jedes Morphem hat eine, klar identifizierbare, Funktion • Anderes Extrem: fusionale Sprachen – Keine klaren Morphemgrenzen – Einzelnes gramm. Morphem drückt häufig verschiedene grammatische Funktionen aus Eigenschaften agglutinierender Sprachen • Einfach identifizierbare Morpheme • Z.B. Nahautl (Aztekisch) • Keine irreguläre Allomorphie • Morpheme sind invariant zwischen verschiedenen Kontexten Beispiele für agglutinierender Sprachen • • • • • • • Türkisch Baskisch Tschetschenisch Finnisch Ungarisch Inuktitut Swahili Eigenschaften fusionaler Sprachen • • • • • Morphemgrenzen schwer identifizierbar Z.B. Altgriechisch Jedes Suffix hat mehrere gramm. Funktionen Gewisse Regularitäten legen Segmentierung nahe Lässt sich aber nicht allgemein definieren • • Rein fusionale Sprachen kann es nicht geben Eine solche hypothetische Sprache wäre unlernbar, weil die Anzahl der Morpheme riesig wäre und keine Systematik innerhalb eines Paradigmas bestände Beispiele für fusionale Sprachen • • • • • • Altgriechisch Latein Semitische Sprachen (Arabisch, Hebräisch, ...) Slowenisch Litauisch Armenisch Relation zwischen den beiden Indizes • • Opposition fusional/agglutinierend wäre auf rein isolierende Sprachen nicht anwendbar (aber es gibt keine rein isolierende Sprache) Korrelation: – Stark synthetische Sprachen sind i.Allg. agglutinierend – Ergibt sich funktional aus Lernbarkeits-Gesichtpunkt: polysynthetische fusionale Sprachen hätten extrem viele Morpheme und wären deshalb schwer zu erlernen Noch einmal: Illustration der einzelnen morphologischen Typen 1) isolierender Sprachbau Mandarin ta bu hui yong dao chi fan er nein kann benutzen Messer essen Reis „Er kann Reis nicht mit dem Messer essen“ Noch einmal: Illustration der einzelnen morphologischen Typen 2) agglutinierender Sprachbau Türkisch Aztekisch Noch einmal: Illustration der einzelnen morphologischen Typen: 3) fusionierender Sprachbau Latein: „am-o“ 1. Sg. Ind. Präs. Aktiv („ich liebe“) Noch einmal: Illustration der einzelnen morphologischen Typen 4) polysynthetischer Sprachbau Eskimoisch angya-liciq- sugnar- quqllu boat- make-FUT- PROB- 3sg.NOM-also Er will vielleicht auch ein Boot machen Noch einmal: Illustration der einzelnen morphologischen Typen Englisch in dreierlei Gestalt: Isolierend: The boy will ask the girl Synthetisch: The biggest boys have been asking Agglutinierend: anti-dis-establish-ment-arian-ism Position des Deutschen • Synthese-Index – Irgendwo in der Mitte, aber näher in Richtung synthetische Sprachen • Fusions-Index – Starke Tendenz zum fusionalen Sprachbau • Aufgaben – Nennen Sie Beispiele für agglutinierende und für fusionale Aspekte der deutschen Morphologie! – Das Englische ist zwar weitgehend, aber nicht vollständig isolierend. Wie ist es auf der Fusions-Skala anzusiedeln? – Klassifizieren Sie weitere Sprachen, die Sie kennen. Morphologische Typen im Sprachwandel • Sprachwandel geht gewöhnlich mit phonologischer Reduktion einher • häufig vorkommende Phonemsequenzen sind am stärksten betroffen – – – – – zu dem > zum hat er es > hat ers laufen > lauf‘n let us > let‘s (ahd) brenjan > (nhd) brennen Morphologische Typen im Sprachwandel • phonologische Reduktion resultiert in – Reduktion von selbständigen Wörtern zu Affixen – Fusion aufeinanderfolgender Phoneme – vollständiger Verlust von Phonemen Morphologische Typen im Sprachwandel • Reduktion von selbständigen Wörtern zu Affixen • Bsp: Melanesisches Pidgin Morphologische Typen im Sprachwandel • phonologische Reduktion resultiert in – Fusion aufeinanderfolgender Phoneme – z.B. Paamesisch (austronesische Sprache) (in der sprachhistorischen Literatur bedeutet ein Sternchen nicht „ungrammatisch“, sondern „diese Form ist nirgendwo attestiert, kann aber so rekonstruiert werden“) Morphologische Typen im Sprachwandel • phonologische Reduktion resultiert in – Fusion aufeinanderfolgender Phoneme Morphologische Typen im Sprachwandel • phonologische Reduktion resultiert in – vollständiger Verlust von Phonemen – z.B. im Gegenwartsdeutsch am Tische > am Tisch