Erziehungs- und Bildungssoziologie Vorlesung, montags, 13.15-15.00 Uhr, PER 21, G120 Prof. Dr. Sascha Neumann FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Diskussionsfragen zum Film «Alphabet» (5-minütige Murmelphasen): 1. Inwiefern ist das Bildungssystem ein «Abbild» der gegenwärtigen Gesellschaft? 2. Ist Schule eine Institution, deren vordergründige Aufgabe darin besteht, die nachfolgende Generation an die Anforderungen der Gesellschaft anzupassen? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Vorlesung am 16.03.2015 Teil I: Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN «Die Bildungs- und Erziehungssoziologie untersucht Bildung und Erziehung als gesellschaftlich situierte und strukturierte Praxis. Ihr grundlegender Ausgangspunkt ist die Annahme, dass pädagogische Organisationen, Institutionen, Praktiken und Theorien nur dann angemessen verstanden werden können, wenn ihre Bezuge zu den Strukturen und Dynamiken analysiert werden, die andere gesellschaftliche Teilbereiche kennzeichnen. Das soziologische Interesse an Bildung und Erziehung richtet sich deshalb auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Erziehung und Bildung, den Einfluss von gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken auf pädagogische Institutionen, Theorien und Praktiken sowie auf die sozialen Folgen dessen, was im Bildungs- und Erziehungssystem der Gesellschaft geschieht.» (Bauer/Bittlingmayer/Scherr 2012, S. 13; Hervorh. SN) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Was aber heisst Gesellschaft/Gesellschaftlichkeit? «Gesellschaft…ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie» (Jürgen Ritsert, 2000) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Was aber heisst Gesellschaft/Gesellschaftlichkeit? Diskutieren Sie diese Frage und bedenken Sie dabei auch die Ausführungen von Armin Nassehi aus der Sendung «Gesellschaft mit beschränkter Haftung»! FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Polykontexturalität Ordnung Einheit und Differenzierung Individuum unsichtbar Praxis Gesellschaft Das Soziale Wirtschaft, Politik, Staat Modernität, Kontingenz, Geschichte: Wandel; Zeitdiagnose FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Zusammenhang Totalität Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? • Differenz von Bildung und Erziehung: «Der Erziehungsbegriff akzentuiert (…)Erfordernisse der gesellschaftlichen An- und Einpassung, der Bildungsbegriff Prozesse der Individuierung zum selbstbestimmungsfähigen Subjekt» (a.a.O., S. 14) • Durkheim (1922): Gesellschaftliche Veränderungen schliessen immer auch Veränderungen von Erziehung und Bildung ein>>Wie kann das Individuum auf die gesellschaftliche Ordnung eingestellt werden (Sozialisationsproblem)? • Marx (1845): Erziehung und Bildung als Voraussetzung und Mittel gesellschaftlicher Veränderung>>Wie kann Erziehung zum Umsturz gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen (Problem sozialer Ungleichheit)? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? • Ausdifferenzierung einer eigenständigen Erziehungs- und Bildungssoziologie erfolgt im deutschsprachigen Raum erst in den 1960er Jahren • Hintergrund: Zweifel an der ökonomischen Leistungsfähigkeit des Bildungssystems, aber auch an seiner Gerechtigkeit (Bildungsreformdiskussion nach 1968) • Kritik an tradierten Begabungsideologien und der Rolle des Bildungssystems bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit (Dahrendorfs «katholisches Mädchen vom Lande») • Bezogen auf die Erziehungswissenschaft: Gesellschaftliche Bedingungen von Erziehung und Bildung wurden bis weite in die 1960er Jahre hinein stark vernachlässigt (Erbe der geisteswissenschaftlichen Pädagogik) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? «Wiederentdeckung» der Bildungssoziologie und des bildungssoziologischen Schlüsselthemas von Bildung und sozialer Ungleichheit am Beginn des 21. Jahrhundert… «Bildung ist seit etwa zehn Jahren zu einem gesellschaftlichen Zentralthema geworden und Bildungsforschung hat gegenwärtig (wieder) Konjunktur. Die Expertise wissenschaftlicher Expert/innen aus unterschiedlichen Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Ökonomie, Psychologie, Soziologie) wird in politischen und medialen Diskursen nachgefragt, und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen zu Fragen einer zeitgemässen Bildung und Erziehung erzielen hohe Auflagen. Im wissenschaftlichen Diskurs konturiert sich eine interdisziplinar ausgerichtete empirische Bildungsforschung, die durch erhebliche Forschungsmittel gefordert und von der erwartet wird, für arbeitsmarkt- und bildungspolitische Zwecke relevante Informationen zur Verfugung zu stellen und dadurch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den Erfordernissen einer zeitgemässen Modernisierung des Bildungssystems zu leisten» (a.a.O., S. 19) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? Hintergründe: • Politische Konjunktur der Wissensgesellschaft: Bildung als Faktor im internationalen Wettbewerb (Humankapital) • Pädagogik: «Lebenslanges Lernen» und «Bildung beginnt mit der Geburt» (Schäfer 2005) • PISA und die Folgen…: Internationale Vergleichsstudien erzeugen einen Wettbewerb der Bildungssysteme und machen auf Phänomene der Bildungsbenachteiligung, mithin auch der «Bildungsarmut» bestimmter sozialer Milieus aufmerksam (z.B. Migranten) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Warum eigentlich Erziehungs‐ und Bildungssoziologie? Die «Wiederentdeckung» der Bildungssoziologie steht symptomatisch für die Vergesellschaftung wissenschaftlicher Wissensproduktion: «Der gegenwärtige Bildungsdiskurs hat eine erhebliche Nachfrage nach einer empirischen Bildungsforschung erzeugt, die eine Datengrundlage für politische Entscheidungen bereit stellt. Die Aufgabe soziologischer Analyse besteht jedoch nicht allein darin, durch Theorieentwicklung und empirische Forschung zu einer weiteren Vertiefung des Wissens über ökonomische Bildungserfordernisse und die Ursachen von Bildungsungleichheit beizutragen, sondern auch die Prämissen des gesellschaftlichen Bildungsdiskurses zu analysieren und zu hinterfragen. Bildungs- und Erziehungssoziologie ist deshalb darauf verwiesen, sich nicht nur als Forschung über einen gesellschaftlichen Teilbereich zu verstehen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Kontexte von Erziehung und Bildung zu analysieren.» (a.a.O., S. 23) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Diskutieren Sie folgende Frage in einer 5-minütigen Murmelphase die folgende Frage: Wie hängen Wissensproduktion in der Bildungsforschung und gesellschaftliche Entwicklung miteinander zusammen? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit • Bildung und soziale Ungleichheit: Es geht nicht allein darum, wie Bildungssysteme soziale Ungleichheit erzeugen, sondern inwiefern sie Herkunftseffekte verstärken • Chancengleichheit im Bildungssystem = leistungsfremde Merkmale (Geschlecht, Wohnort, Hautfarbe, Bildungsstand und Vermögen der Eltern etc.) sind ohne Einfluss • These von der Reproduktion sozialer Ungleichheit als beherrschendes Thema in der Bildungssoziologie • Bildungssoziologische Forschung entlarvte dabei das Versprechen der Chancengleichheit wiederholt als politische Programmatik, die in der Bildungspraxis keine Entsprechung findet FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit • Bildungssoziologie geht bei ihrer Kritik an bildungspolitischen Entscheidungen selbst von einem normativen Hintergrund aus: Bildungsungleichheit ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht hinnehmbar und es ist daher die Aufgabe des Bildungssystems, sie zu verhindern. • Gleichheitspostulat wird dabei zu einem Kriterium für die Bewertung der Leistungen des Bildungssystems FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Diskutieren Sie folgende Frage in einer 5-minütigen Murmelphase die folgende Frage: Ist das Gleichheitspostulat ein zwingendes Kriterium für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Aus: Heid 1988, S. 2 FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit • Bildung und Gleichheit gehören nicht zwingend zusammen: Bildung ist auch ein elitärer Distinktionsbegriff (vgl. Büchner 2003, S. 8) • Bildung diente historisch als Mechanismus, um die ständische Ordnung der Gesellschaft in die moderne Gesellschaft «hinüber zu retten» • Bis heute hat Bildung daher einen sozialen Disktinktions- und Prestigewert, der über die Bedeutung von Bildung als blosser Lebensbewältigungskompetenz hinaus geht • Bildung entfaltete ihre ungleichheitsrelevante Wirkung über die Berechtigungsfunktion von Bildungsabschlüssen, aus denen auch die Allokationsfunktion (Platzierung) des Bildungswesens und seine Selektionswirkungen (Auslese) hervorgehen • Bildung ist also ebenfalls ein vergesellschafteter Tatbestand: Dabei stellt sich auch die Frage, wer darüber entscheidet, was als Bildung bzw. «gebildet» gilt und was nicht (Bildung ist mehr als ein formaler Abschluss, nämlich ein soziales Merkmal…). FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit -Ungleichheit kann entstehen durch… (Heid 1988): • …die Gleichbehandlung Ungleicher • …die Ungleichbehandlung Gleicher -Ungleichheit= Ungleichartigkeit oder Ungleichwertigkeit ? -Chancengleichheit meint nicht immer schon Nivellierung von Ungleichheit>>die Forderung nach Chancengleichheit hat Ungleichheit sowohl zur Voraussetzung wie als Zweck -Die Öffnung des Bildungssystems bedingt zugleich seine Schliessung FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit Heid (1988), S. 6f. FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit Heid (1988), S. 11 FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit • Soziale Ungleichheit bezieht sich auf die unterschiedlichen Teilhabe- und Zugangschancen zu (knappen) gesellschaftlichen Ressourcen (Vermögen, Waren, Prestige, Anerkennung etc.), auch im Zusammenhang mit bestimmten sozialen Merkmalen (Geschlecht, Alter, Konfession, ethnische Herkunft, Sprache, körperliche/geistige Beeinträchtigung) • Soziale Ungleichheit wird «abgelesen» an der relativen Position in der Sozialstruktur einer Gesellschaft • Unterschiedliche Modelle aus der Soziologie sozialer Ungleichheit: Schicht(berufsnahe Statusgruppen, horizontal und vertikal), Klassen- (antagonistische gesellschaftliche Gruppen) und Milieuansätze (Lebensführung, Selbstzuordnung) • Zusammenfassend: Die bildungssoziologische Forschung stellt die Verengung der Bildungsforschung auf Begabung und Leistung in Frage, indem sie die Ebene der Persönlichkeitsentwicklung durch Bildung mit dem Berechtigungserwerb und den daraus resultierenden Lebenschancen in Verbindung bringt (Büchner 2003, S. 13) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit Forschungsthemen: Bildungsbeteiligung: Art, Dauer und Umfang der Beteiligung an formalen Bildungsinstitutionen, insbes. in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft Bildungsentscheidungen: Selbstselektion niedriger sozialer Statusgruppen im Zusammenhang mit eigenen Leistungs- und Erfolgserwartungen Bildungsbedeutsamkeit der Familie: sekundäre Herkunftseffekte als transgenerationale Weitergabe von Einstellungen gegenüber Bildung (Aspiration etc.) im Unterschied zu primären Effekten (familiale Ressourcen für die Realisierung von Bildungsbeteiligung (Einkommen etc.)) Bildungsarmutsforschung: Bedeutung von geringer/höherer Bildung für die gesellschaftliche Positionierung in Bezug auf Basiskompetenzen bei bestimmten «Risikogruppen» FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – soziale Ungleichheit Zentrales Desiderat der bildungssoziologischen Forschung: «Was passiert eigentlich im Klassenzimmer?» d.h.: Wie werden die Effekte im Bildungs- und Unterrichtsalltag genau hervorgebracht, welche die Bildungsforschung immer wieder nachweist? (Büchner 2003, S. 21; vgl. auch Heid 1988, S. 12) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation • Ausgangspunkt: «Hobbesian problem of social order» (Wrong 1961) • Sozialisationsforschung geht also von der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnungsbildung aus • «Sozialisation» kann man also verstehen als Antwort auf die Frage, wie soziale Ordnung entsteht • Wie sind kollektive Bindungen trotz individueller Interessen möglich? • Es geht um das Problem «sozialer Ordnung» unter dem Gesichtspunkt einer Gesellschaft, die aus Einzelnen bzw. einzelnen Teilen besteht und von diesen (mit-)gestaltet und verändert wird • Sozialisationstheorien setzen die Prägewirkungen durch soziale Umweltbedingungen als Erklärung ein, um diese Frage zu beantworten FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Diskutieren Sie folgende Frage in einer 5-minütigen Murmelphase: Von welchen Voraussetzungen muss man ausgehen, damit sich die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung überhaupt so stellt wie sie von der Sozialisationstheorie gestellt wird? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Prämissen der Sozialisationstheorie: - Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft bzw. Person und Umwelt - Unterscheidung von Natur und Kultur - Unterscheidung von Sein und Werden - Unterscheidung von Handeln und Struktur FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation • Abgrenzung gegenüber: biologistischen Reifungskonzepten intentionalistischen Konzepten von Erziehung idealistischen Persönlichkeitstheorien • Sozialisationstheorie betont das Zugleich von Individuierung und Vergesellschaftung • Gesellschaftlichkeit des Aufwachsens wird als Anforderung an die individuelle Entwicklung wie auch als deren Ermöglichungsbedingung begriffen • Hauptmotiv der Sozialisationsforschung war zunächst - bis etwa in die 1970er Jahre hinein – die Frage, wie heranwachsende Individuen in ein gegebenes soziales Gefüge integriert und an dessen Anforderungsstruktur angepasst werden können (Bauer 2012, S. 473). FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Klassische sozialisationstheoretische Ansätze • Emile Durkheim (1902/03): Erziehung, Moral und Gesellschaft • Wie ist soziale Ordnung unter den Bedingungen einer arbeitsteilig organisierten und sich wandelnden Gesellschaft möglich • Sozialisation als Unterstellung unter unpersönliche Regeln: Verinnerlichung kollektiver Moralbestände durch das Individuum • Schlüsselfunktion des Erziehungssystems bei der moralischen «Sozialmachung» des Menschen • Kinder befinden sich noch gleichsam in einem vorsozialen Zustand: Sie müssen zugunsten des Fortbestands der Gesellschaft «gezähmt» werden FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Klassische sozialisationstheoretische Ansätze • Durkheim begründet diese Auffassung unter Rückgriff auf die sogenannte Rekapitulationsthese, die im 19. Jahrhundert relativ breit vertreten wurde: Charles Darwin, Herbert Spencer, Johann Friedrich Herbart, früher bereits: Jean-Jaques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi • Kernaussage: Kinder durchlaufen in ihrer Entwicklung noch einmal die Evolution der menschlichen Gattung • Dies muss allerdings in beschleunigter Weise geschehen, um Anschluss an die kulturelle Entwicklung der Menschheit zu gewinnen • Dazu bedarf es einer rationalisierten Form der Sozialisation, d.h.: Erziehung FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Klassische sozialisationstheoretische Ansätze • Talcott Parsons (1964): Sozialstruktur und Persönlichkeit • Strukturfunktionalistische Rezeption von Durkheims Problemstellung: Gesellschaften als komplexe Systeme, die Strukturen ausbilden, in denen bestimmte Funktionen für das Gesamtsystem erfüllt werden • Das Sozialisationsproblem ist das Problem des Erhaltens dieser Ordnung und nicht ihre Veränderung • Sozialisation ist die Verinnerlichung der Werte und Normen, die den Fortbestand der Ordnung sichern • Internalisierung von Bedürfnisdispositionen, die rollengeleitetes Handeln hervorbringen FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Klassische sozialisationstheoretische Ansätze • Parsons zeichnet ein Bild von einem Kind, das vorgängig durch die Erwachsenen als Sozialisationsagenten zu dem wird, was es werden soll. • Eine überragende Bedeutung wird dabei dem Verhältnis zur Mutter zugeschrieben • Die Sozialisation der Kinder vollzieht sich in einem Gefüge persönlicher Abhängigkeiten, das Individuum ist dem Prozess der Vergesellschaftung mehr oder minder ausgeliefert FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Kritik am strukturzentrierten Paradigma Ab 1960er/70er Jahre: Kritik am klassischen auf Vergesellschaftung eingestellten Sozialisationskonzept Aufhebung der Dichotomie von Individuierung und Vergesellschaftung (Mead, Denzin) Mead etwa konzipiert den Vorgang der Rollenübernahme als einen reflexiven Prozess, der in Situationen und Interaktionen stattfindet und eine identitätsbildende Wirkung entfaltet; das Individuum ist hier der (immer noch vorgängig gedachten) Gesellschaft und ihren Sozialisationsagenten weit weniger ausgeliefert Denzin schliesst an Mead an, hebt aber die sozial situierte Produktivität der Sozialisanden hervor: Die Ordnung wird nicht mehr vorausgesetzt, sondern in ihrer Entstehung aus dem Sozialisationsgeschehen selbst erschlossen werden FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Subjektzentriertes Paradigma Hintergrund ist auch die Frage: Kann der Mensch überhaupt als ein nichtsoziales Wesen vorgestellt werden? Selbstorganisation: Hurrelmann (1983) betont die Rolle des «produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts» Selbstsozialisation (Zinnecker 2000), interpretative Reproduktion (Corsaro 2005) Das Ordnungsproblem tritt zugunsten der Eigenaktivität der Individuen zurück Individuation tritt stärker in den Vordergund: Autonome Persönlichkeitsentwicklung als immer schon aktiv handelndes Subjekt FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Paradigmenwechsel in der Sozialisationsforschung im Zeitverlauf (Bauer 2012, S. 475) FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Diskussionstand in der Soialisationstheorie heute • Bedeutungsverlust der Sozialisationstheorie, ohne dass das Sozialisationstheorie erledigt wäre • Bauer (2012, S. 476 ff.) beobachtet eine Neuauflage strukturorientierter Ansätze, die nunmehr aber stärker zwischen Sozialisations- und Individuationsperspektive vermitteln • Beispiel Habitutstheorie Pierre Bourdieus: «Habitus» als vermittelndes Organ zwischen Struktur und Praxis • Es geht darum, die Dichotomie zwischen Strukturreproduktion und autonomer, umweltunabhängiger Persönlichkeitsentwicklung zu vermeiden • Neue Nahrung erhält die Sozialisationsforschung durch die intensivierte Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit: Wie beeinflussen soziale Herkunft und strukturelle Bedingungen die Chancen und Grenzen der Integration in die Gesellschaft? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN III. Klassische Ansätze,Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie us Schlüsselthemen: Sozialisation Gesellschaftliche Bedingungen des Aufwachsen Bildung und soziale Ungleichheit Effekte der gesellschaftlichen Bedingungen auf Bildungskarrieren Ansätze und paradigmatische Positionen Funktionalismus Konflikttheorie Interaktionismus Institutionalismus Postmoderne FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Diskutieren Sie folgende Frage in einer 5-minütigen Murmelphase: Wie lassen sich Sozialisationsforschung und Forschung zur sozialen Ungleichheit im Bildungssystem aufeinander beziehen? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Paradigmen: • Strukturfunktionalismus • Konflikttheorie • Interaktionismus • Institutionalismus • Einzelne Ansätze: Bernstein, Bourdieu… • Methodenfragen FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Funktionalismus • • • • • • Verständnis von Gesellschaft betont wechselseitige Interdependenz der sozialen Teilsysteme: Wie gut ist eine Gesellschaft integriert? Prozesse und Bedingungen der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im Zentrum des Interesses Gesellschaft ist auf ein «einigendes Band» angewiesen, das die sozialen Gruppen zusammenhält Durkheim: Schule spielt dabei eine zentrale Rolle>>Sichert die moralische Einheit Konsens gilt als gesellschaftlicher Normalzustand; Konflikt gilt als problematisch, weil er Zusammenbruch des Normenhaushalts anzeigt Thema: Beitrag des Bildungssystems zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung durch die Vermittlung bestimmter kognitiver Fähigkeiten, politischer und sozialer Werte (Demokratie, Patriotismus etc.) sowie Selektionswirkungen, die der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Rechnung tragen FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Konflikttheorie • • • • • Alternative zum Strukturfunktionalismus: Das Bildungssystem dient nicht dem Allgemeininteresse, sondern als den Interessen bestimmte (herrschender) Gesellschaftsgruppen «Die herrschenden Werte sind die Werte der Herrschenden» Vorwurf an den Funktionalismus: Verwechselt den Sollzustand mit dem Istzustand (funktionalistischer Fehlschluss) Schulen sind soziale Kampffelder; Leistungsideologie verdeckt die Machtverhältnisse im ungleichen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung durch Bildung Marx als intellektueller Inspirateur: Konflikt zwischen «Arbeit» und «Kapital» als Triebfeder gesellschaftlicher Über- und Unterordnungsdynamiken FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Interaktionismus • • • • • • Erweiterung gegenüber strukturfunktionalistischen und konflikttheoretischen Ansätzen: Beide rücken zu sehr die makrosoziologische Ebene ins Zentrum Interaktionismus setzt dem konkrete Beobachtungen des Alltags in Schulen und Bildungsinstitutionen entgegen Lassen das alltägliche «fremd» erscheinen und stellen dessen Selbstverständlichkeit in Frage: z.B. Leistungsbeurteilung in der Schulklasse Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit steht im Mittelpunkt Erving Goffman: Wie wird in fraglos hingenommenen Interaktionen die Gesellschaft zusammen gehalten? Stigma- und Labeling-Theorie: Wie beeinflusst die Erwartung bestimmter Personen gegenüber Anderen deren Beurteilung und deren institutionelle Karrieren FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Interaktionismus • Rist (1970, 1973, 1977): Wie beeinflussen schulische Praktiken (Etikettierungen, Klasseneinteilungen…) die Reproduktion sozialer Ungleichheit?>>Erwartungen der Lehrpersonen, gegründet class, race und gender, «verpflanze» sich in die Selbstwahrnehmung der Schüler_innen und wirken sich auf Leistungen aus • Befund: Schulsystem schreibt das fort, was es zu überwinden beansprucht • Leistungsideologie als Deckmantel, der diese Prozesse vordergründig legitimiert, hintergründig aber verschleiert FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Klassische Ansätze, Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Institutionalismus • • • • • • Ansatzpunkt: Weltweite Verbreitung der Institution Schule (Universalismus des Schulsystems, Schule als «Weltkultur») Schulen haben sich global seit dem 19. Jahrhundert in ähnlicher weise entwicklet Globalisierung des Modells der institutionellen Massenerziehung Widerspruch zum Funktionalismus: Bildungsexpansion folgt nicht automatisch einer Verbreitung der Demokratie, aber auch nicht nur den Erfordernissen des Arbeitsmarktes Expansion der Bildungssysteme beruht auf dem Glauben daran, dass Bildung die Voraussetzung für die Zivilgesellschaft Dynamik der institutionellen Entwicklung steht im Horizont universeller Glaubenssätze (staatliche Finanzierung, möglichst Beschulung aller, gesellschaftliche Vorteile durch Bildung…), beruht aber auch auf Konfliktkonstellationen zwischen unterschiedlichen Gruppen FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Basil Bernsteins Code-Theorie • • • • • • Basil Bernstein: Britischer Soziologe dessen Werk die Bildungssoziologie nachhaltig beeinflusst hat Zentrale Problemstellung: Wie hängen Erziehungs- und Bildungsprozesse in Schule und Familie mit der Reproduktion sozialer Klassen und deren Ungleichheit zusammen? Frühe Arbeiten: Untersuchung klassenspezifischer Sprachunterschiede und ihrer Auswirkungen auf Unterschiede im schulischen Lernen Spätere Arbeiten: Versuch der Verknüpfung der Analyse gesellschaftlicher Macht- und Klassenstrukturen und der Analyse von Mikroprozessen im schulischen Interaktionsgeschehen Bernstein verbindet das Denken mehrerer sozialogischer Schulen miteinander: Wber, Marx und Durkheim In der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft wurde Bernstein Anfang der 1970er Jahre stark rezipiert: vgl. etwa Klaus Mollenhauer (1972): Theorien zum Erziehungsprozess. München: Juventa FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Basil Bernsteins Code-Theorie • «Code»als zentraler Begriff: Bezeichnet eine «regulatives Prinzip», das verschiedenen Systemen der Informationsübermittlung zugrunde liegt (z.B. der Vermittlung von Wissen im Klassenzimmer) • Zentral für seine Arbeiten über die Auswirkungen kassenspezifischer Sprachcodes • «Class, Codes and Control (1973ff.)»: sozioligistische Theorie als Gesellschaftstheorie, welche die Beziehung zwischen Klassenzugehörigkeit, Familiensozialisation und sozialer Reproduktion untersucht • Unterscheidung zwischen dem «restringierten» Code der Arbeiterklasse und dem «elaborierten» Code der Mittelschicht • Restringierter Code: kontextabhängig und partikularistisch • Elaborierter Code: kontextunabhängig und universalistisch FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Basil Bernsteins Code-Theorie • Empirisches Beispiel: Arbeiterkinder benutzen bei der Verbalisierung einer Bildergeschichte häufig Pronomen, so dass die Geschichte ohne das Betrachten der Bilder nicht nachvollzogen werden kann; Mittelklassejungen hingegen benutzen vor allem Substantive, so dass es genügt, ihnen zuzuhören • Weil in der Schule ein elaborierter Code verlangt wird, sind Arbeiterkinder in der Schule durchweg benachteiligt, gleichzeitig ist der restringierte Code für sie jedoch funktional, um in der Lebenswelt der Arbeiter zurechtzukommen • Bernsteins Analyse liess für Grossbritannien nachvollziehbar werden, wie Schulen genau jene Klassenunterschiede hervorbringen, die sie eigentlich abschaffen wollen und sollen • Bernstein bezeichnete dies als eine «Verschwendung des Bildungspotentials der Arbeiterklasse» FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Pierre Bourdieu: Kulturelles Kapital und symbolische Gewalt • frz. Kultursoziologe; zuletzt bis zu seinem Tod 2002 Professor am Collège de France in Paris • Bildungssoziologisches Hauptwerk: Bourdieu, P./Passeron, J. C. (1970): «La Reproduction. Éléments pour une théorie du système d'enseignement»^; dt.: Die «Die Illusion der Chancengleichheit» (1971) • Bourdieu versteht auch die kulturelle Sphäre – ergo auch die Sphäre von Erziehung und Bildung – als eine, die nach ökonomischen Prinzipien funktioniert, ohne jedoch ökonomistisch zu sein, also einseitig auf die Wirtschaft finalisiert zu sein • Begriff des kulturellen Kapitals bringt dies zum Ausdruck: Erweitert die Kapitaltheorie von Marx um eine weitere Komponente • Die Verfügungsmacht über kulturelles Kapital spielt bei der Reproduktion der Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen eine mindestens so wichtige Rolle wie ökonomisches und soziales Kapital FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Positionen und Studien der Erziehungs- und Bildungssoziologie Pierre Bourdieu: Kulturelles Kapital und symbolische Gewalt • Ober- und Mittelklassen besitzen neben ökonomischem vor allem auch kulturelles Kapital: Sprache, bestimmtes kulturell hoch bewertetes Wissen, körperliche und soziale Ausdruckformen, Kenntnisse von Kunst, Literatur, Musik, Essgewohnheiten • Dieses Kapital hat unter Gebildeten wie auch in Bildungsinstitutionen einen hohen Tauschwert und entscheidet letztlich auch über den Bildungserfolg • Ober- und mittelschichttypische Formen kulturellen Kapitals sind Bestandteil von Curricula und Unterricht; dies bedingt einen gleichsam «natürlichen» Vorsprung der oberen Klassen, der dann politisch als Form der Begabung verklärt wird • «Symbolische Gewalt»: Macht zur Durchsetzung von Bedeutungen, die deswegen als legitim gilt, weil sie ihre Wirksamkeit verschleiert; führt zur freiwilligen Unterwerfung der Unterworfenen unter die sie Unterwerfenden; Bsp.: Wer bestimmt darüber, was im Lehrplan steht und was nicht? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Schlüsselprobleme der Erziehungs‐ und Bildungssoziologie – Sozialisation Diskutieren Sie folgende Frage in einer 5-minütigen Murmelphase: Kennen Sie Beispiele, welche die Befunde und Thesen Bernsteins und Bourdieus in ihrer Gültigkeit auch heute noch bestätigen? FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN Methodologische Fragen bildungssoziologischer Forschung • Seit den 1960er Jahren: Vorherrschaft quantitativer Methoden, Arbeit mit grossen Datenvolumen • Gefahr der Verfehlung, die festgestellten Effekte auf ihre Gründe hin analysieren zu können • Qualitative Forschung zu schulischen Praktiken als komplementäre Strategie: Wie wird hervorgebracht, was die quantitative Forschung als Reproduktion identifiziert • Heute: Politik sieht experimentelle Forschung mit randomisierten Gruppen nach dem «what-works»-Modell als Goldstandard der Bildungsforschung • Orientierung am Modell der medizinischen und pharmazeutischen Forschung • Interesse der Politik: Belege dafür, wie sich welche Massnahmen auf welche Gruppen auswirken • Kombination quantitativer und qualitativer Verfahren als zukünftige Herausforderung FACULTÉ DES LETTRES DÉPARTEMENT DES SCIENCES DE L’ÉDUCATION PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT DEPARTEMENT ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN