112 PSYCHISCHE STÖRUNGSBILDER Weiterführende Literatur Mumbach, B. (2006). ADS verstehen und ganzheitlich heilen: Was Eltern tun können. Freiburg: Herder. Simchen, H. (2007). Die vielen Gesichter des ADS. Stuttgart: Kohlhammer. Übungsfragen 1 Warum spricht man bei der Behandlung des ADS mit Ritalin von einem paradoxen Effekt? 2 Warum wird das ADS als Modediagnose bezeichnet? 9.3 | Die senilen Demenzen 9.3.1 | Prävalenz Die senilen Demenzen stellen aufgrund der Bevölkerungsentwicklung das zentrale Thema des Gesundheitswesens dar. Hochrechnungen zufolge ist von einer Verdreifachung der Patienten mit senilen Demenzen bei Halbierung der Bevölkerung in 20 Jahren zu rechnen. Im Jahr 2050 wird es 1,2 Milliarden Menschen über 65 Jahre weltweit geben. Auf 85 Menschen wird dann ein Alzheimer-Patient kommen. Die Betreuung findet heute zu 86 % durch die Angehörigen statt. Daher ist mit enormen Kosten zu rechnen, die durch die Pflege alter Menschen in den nächsten Jahrzehnten entstehen werden. Der politische Handlungsbedarf ist extrem, ohne dass einfache Lösungen, beispielweise durch eine Medikation, in Sicht sind. In Deutschland leben zurzeit ca. 1 Millionen Demenzkranke, jedes Jahr werden 200.000 neue Demenzfälle diagnostiziert. 9.3.2 | Klassifikation Die senilen Demenzen werden in vier Hauptgruppen unterschieden: 1. Die degenerative Demenz oder der Morbus Alzheimer (ca. 50 % der Demenzkranken): Hier kommt es zum Absterben von überwiegend cholinergen Neuronen. 2. Die vaskuläre Demenz (ca. 10–30 % der Demenzkranken): Es kommt zu Durchblutungsstörungen des Gehirns, die zu multiplen Infarkten führen. Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 113 DIE SENILEN DEMENZEN 3. Die Mischformen (10–25 % der Demenzkranken): Sie haben degenerative und vaskuläre Ursachen. 4. Die Pseudodemenz: Ihre Ursache kann eine Depression sein. Außerdem gibt es weitere seltenere Formen wie die Demenz vom LewyKörperchen-Typ oder die Demenz beim M. Parkinson. Die degenerative Demenz (Morbus Alzheimer): Der deutsche Pathologe Alois Alzheimer entdeckte 1907 an einer 55-jährigen Patientin post mortem die Hirnatrophie und histologischen Veränderungen im Gehirn in Form von Neurofibrillen und den senilen Plaques. Nach ihm ist der Morbus Alzheimer benannt. Es besteht eine Hirnatrophie, die sich in einem Schwund sowohl grauer als auch weißer Hirnsubstanz äußert. Der Verlust der grauen Substanz führt zur Vertiefung der Furchen (Sulci und Fissuren) bei Verflachung der Hirnwindungen. Der Verlust der weißen Substanz äußert sich in der Erweiterung der Ventrikel. In der Folge verringert sich das Gehirngewicht. Die histologischen Veränderungen bestehen in Neurofibrillen und senilen Plaques. Sie entstehen durch Abspaltung aus Membranproteinen. Hirnatrophie Definition Die Neurofibrillen sind fädige, intrazelluläre Ablagerungen aus einer unlöslichen Form eines Zellproteins (Tau-Proteins), das normalerweise als lösliche Form Bestandteil des Zytoskeletts ist. Die Folge ist ein gestörter axonaler Transport, der zum Absterben der betroffenen Neuronen führt. Die senilen Plaques bestehen aus dem Beta-Amyloid-Peptid, dessen Vorläufer ein integrales Membranprotein ist. Bei Spaltung dieses Membranproteins durch die Beta- und Gamma-Sekretase entsteht das BetaAmyloid-Peptid, das sich extrazellulär ablagert und zu Aggregationen neigt. Es ist zelltoxisch. Normalerweise werden Proteinfragmente und falsch gefaltete Proteine durch spezielle Zellorganellen, die Proteasomen, entsorgt. Die senilen Plaques und Neurofibrillen stören die Proteasomen in ihrer Funktion. Durch das Absterben der Neuronen kommt es zur Verminderung der neuronalen Kontakte und in der Folge zu gestörter Reizweiterleitung. Da überwiegend cholinerge Neuronen absterben – in extremen Fällen bis zu 90 %, wurde die Acetylcholinhypothese des M. Alzheimer formuliert. Acetylcholinhypothese Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 114 PSYCHISCHE STÖRUNGSBILDER Definition Die Acetylcholinhypothese besagt, dass die Symptomatik des M. Alzheimer durch ein cholinerges Defizit aufgrund von extremer Degeneration cholinerger Neuronen entsteht. Diese Hypothese hat zur Entwicklung der neuen Antidementiva geführt, die das Acetylcholindefizit kompensieren sollen. Der Neuronenverlust tritt überwiegend im Hippocampus, präfrontalen Kortex, posterioren Parietalkortex und inferioren Temporalkortex auf. Die vaskuläre Demenz: Bei der vaskulären Demenz kommt es zu Verengungen von zerebralen Blutgefäßen und damit zur Minderversorgung des umliegenden Gehirngewebes. Durch den Verschluss von Blutgefäßen treten multiple Hirninfarkte auf. Die Pseudodemenz: Die Pseudodemenz ist eine Form der Depression. Die kognitive Leistungsfähigkeit ist gut erhalten, es fehlt jedoch die Bereitschaft, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen. Zur Differenzialdiagnose zwischen Pseudodemenz und Demenz gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten, die die Klagsamkeit, die Stabilität des Affekts, Kongruenz zwischen Verhalten und kognitiver Störung, und die nächtliche Akzentuierung der Beschwerden betrifft (Tab. 9.1). 9.3.3 | Aufmerksamkeitsstörungen Progredienter Verlauf der Symptome Die Symptome der senilen Demenzen bestehen nach dem DSM-IV im progressiven Verlust multipler kognitiver Funktionen, der Merkfähigkeit und mindestens einer weiteren Funktion aus den Bereichen Sprache, Motorik, sensorische Wahrnehmung und exekutive Funktionen. Senile Demenzen beginnen in ihrer Vorform, dem Mild Cognitive Impairment, mit Aufmerksamkeitsstörungen. ˘ In ihrer leichten Form äußern sie sich in Vergesslichkeit, Müdigkeit, Schwierigkeiten beim Erinnern bekannter Wörter, Unvermögen, Neues zu erlernen, Verschlechterung des Sozialverhaltens und des Urteilsvermögens. ˘ In der mittleren Form kommt es zum Verlust der Logik, Einbußen beim Gedächtnis und den motorischen Fähigkeiten, Ungeduld, Ruhelosigkeit, körperlicher und verbaler Aggression als Reaktion auf Frustration, Abnahme der verbalen Fähigkeiten und Rechenleistung, schlechteren sozialen Fähigkeiten und Paranoia. Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 115 DIE SENILEN DEMENZEN Differenzialdiagnose zwischen Pseudodemenz und Demenz Pseudodemenz Subjektive Beschwerden: – der Patient klagt über kognitive Defizite, – sucht Hilfe, – betont sein Unvermögen, – hebt Misserfolge hervor, – drückt Leiden aus, – anhaltende affektive Veränderungen, – Inkongruenz zwischen Verhalten und kognitiver Störung, – keine nächtliche Akzentuierung. Klinische Merkmale: – Aufmerksamkeit gut erhalten, – viele „weiß nicht“-Antworten, – beeinträchtigtes Kurz- und Langzeitgedächtnis, auch für spezifische Ereignisse. Psychologische Testung: – sehr variable Testleistung, – keine Apraxie und Agnosie, – Wort-Intrusionen werden korrigiert. | Tab. 9.1 Demenz – der Patient klagt wenig, – versucht Unvermögen zu verbergen, – ist mit seiner Leistung zufrieden, – strengt sich an, – benutzt Hilfsmittel wie Notizen, – wirkt unkonzentriert, – labiler Affekt, – Kongruenz zwischen Verhalten und kognitiver Störung, – nächtliche Akzentuierung. – Aufmerksamkeit beeinträchtigt, – „near-miss“-Antworten häufig, – Orientierung gestört, Kurzzeitgedächtnis stärker beeinträchtigt, Erinnerung an spezifische Ereignisse erhalten – konsistent schlechte Testleistung, – Apraxie und Agnosie, – Wort-Intrusionen werden nicht korrigiert. ˘ Die schwere Form der senilen Demenz ist durch Abnahme der Blasen- „Rund-um-die-Uhr“-Pflege und Darmkontrolle gekennzeichnet, Abnahme der Fähigkeit, zu Merksatz sprechen und einfache Anweisungen auszuführen. Es kommt zu Halluzinationen, Ab der Diagnosestellung im Frühstadium emotionalen Störungen, Neigung zur Bewird innerhalb von 6–9 Jahren die schwere schimpfung der Angehörigen, schlurfenForm mit absoluter Pflegebedürftigkeit dem Gang und langsamen, unbeholfenen erreicht. Todesursache etwa 10 Jahre nach Bewegungen. Es bedarf der „Rund-um-dieder Diagnosestellung sind InfektionsUhr“-Pflege. erkrankungen und Herzversagen. Pathogenese | 9.3.4 Alter: Hauptrisikofaktor für die senilen Demenzen ist das Alter. Zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr, dem sog. dritten Lebensalter, liegt die Wahrscheinlichkeit, an seniler Demenz zu erkranken, unter 5 %. Dieser Lebensabschnitt wird von vielen „jungen“ Senioren aufRockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 116 PSYCHISCHE STÖRUNGSBILDER Sauerstoff- und Glukosedefizit zytoskeletale Veränderungen grund der wegfallenden privaten und beruflichen Verpflichtungen bei noch nicht allzu eingeschränkten Körperfunktionen als befreiend empfunden und erfolgreich bewältigt. Das Risiko, an seniler Demenz zu erkranken, steigt ab dem 85. Lebensjahr linear an. Es erreicht bei den 85-Jährigen eine Wahrscheinlichkeit von ca. 25 % und bei den über 90-Jährigen ca. 50 %. Grund ist die altersbedingte schlechtere mitochondriale Versorgung der Nervenzellen, die zu einem Sauerstoff- und Glukosedefizit führt. In der Folge entstehen vermehrt freie Sauerstoffradikale. Ihnen fehlt im äußeren Orbital ein Elektron, sie sind daher sehr instabil und entziehen anderen lebenswichtigen Molekülen ein Elektron. Hierdurch entsteht eine Kettenreaktion, die zur Zellschädigung bis hin zum Zelltod führen kann. Altersbedingt sind auch die zytoskeletalen Veränderungen, die zur Abspaltung der toxischen Neuropeptide bzw. Proteine und damit zur Amyloidose und den Neurofibrillen führen. Gene: Bei der Alzheimer-Demenz besteht eine genetische Belastung, insbesondere bei der früh einsetzenden Form, der präsenilen Demenz, die eine rasche Progredienz zeigt. Die Patienten weisen zu ca. 10 % Mutationen des Präsenil-1-Gens auf Chromosom 14, Präsenil-2-Gens auf Chromosom 1 und des APP-Gens auf Chromosom 21 auf, das zur Synthese des Amyloid-Vorläuferproteins führt. Auch das ε4-Allel des Apolipoproteins E, das beim Cholesterintransport beteiligt ist, zeigt eine familiäre Häufung. Somit machen Veränderungen in allen vier Genen ca. 30 % des genetischen Gesamtprofils aus. Die normalen Varianten dieser Gene entfernen Proteinfragmente wie das toxische Amyloidpeptid aus dem synaptischen Spalt. Umwelt: Umweltrisiken sind Gehirntraumen, geringe Schulbildung, Bewegungsmangel, Ernährungsmangel an Vitamin C, Vitamin E und ungesättigten Fettsäuren, Neurotoxine wie Aluminium, Pestizide, Düngemittel, Klebstoff, elektromagnetische Felder, Nikotinabusus und Hypertonie. Einige dieser Umweltrisiken begünstigen die Entstehung der vaskulären Demenz. Dazu gehören Bewegungsmangel, Nikotinabusus und Hypertonie. Weitere Umweltrisiken spielen eine Rolle bei der Prävention. Hierzu gehören Vitamin C und E als Radikalenfänger und die ungesättigten Fettsäuren als Vorläufer der Neurotransmitter. Erhöhte Inzidenzraten der senilen Demenzen bei chronischer Exposition von Umweltgiften, z. B. mit Aluminium belastetem Trinkwasser, wurden empirisch nachgewiesen. Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 117 DIE SENILEN DEMENZEN Prävention | 9.3.5 Die Prävention ist über die modifizierbaren vaskulären Risikofaktoren möglich. Hierzu gehören die Behandlung einer Hypertonie, Diabetes mellitus und Hyperlipidämie, Nikotinkarenz, eine ausgewogene Vollwerternährung, möglichst aus ökologischem Anbau, und ausreichende Bewegung, um die Gehirndurchblutung zu optimieren. Weiterhin sollten Senioren darum bemüht sein, ihre Restfähigkeiten zu erhalten und zu fördern und geistig aktiv zu bleiben. Einfachheit und Konstanz in der Umgebung können dazu beitragen, eine möglichst lange Selbstversorgung zu gewährleisten. vaskuläre Risikofaktoren Therapie | 9.3.6 Medikamentöse Therapie: Ziel der medikamentösen Therapie ist es, die Erhaltung der SelbstPflegekosten durch die Erhaltung der Selbstversorgung zu senken. Eine versorgung Heilung der senilen Demenzen ist mit den vorhandenen Medikamenten derzeit nicht möglich. Es kann allenfalls eine Verhinderung der Progredienz der Erkrankung erhofft werden bzw. präventiv vorMerksatz gegangen werden. Hierzu eignen sich beim M. Alzheimer die gemäß der AcetylcholinDa bei alten Menschen meist eine Mehrhypothese entwickelten Acetylcholinestefachmedikation vorliegt und Dauereinnahme rasehemmer Rivastigmin (Handelsname: erforderlich ist, sollten Antidementiva sehr Exelon), Donepezil (Handelsname: Aricept) gut verträglich sein und keine Interaktionen und Galantamin (Handelsname: Reminyl), mit anderen Medikamenten aufweisen. bei der vaskulären Demenz Calcium-AntagoAußerdem sollten sie wirksam sein. Diesenisten und der Glutamat-Modulator MemanEigenschaften weisen die Antidementivatine, der Zellschäden verhindern soll. zurzeit nicht auf. Nahrungsergänzungsmittel: Von der Einnahme von Substanzen zur Förderung des Energiestoffwechsels der Zellen (Coenzym Q) durch Nahrungsergänzungsmittel wird abgeraten, da ausreichende Mengen über die normale Ernährung aufgenommen werden. Die Versorgung mit hochwertigen Proteinen ist jedoch die wichtigste Voraussetzung für eine optimale Coenzym-Q-Verfügbarkeit und sollte im Rahmen der Ernährungsberatung alter Menschen angesprochen werden. Spezifische Trainingsprogramme: Als ebenso wirksam wie die medikamentöse Therapie gilt in frühen Stadien der Erkrankung das kognitive Training. In der Regel werden in Kleingruppen mentale Aufgaben trainiert. Zunehmend werden auch Computerprogramme eingesetzt. Die erzielten kognitives Training Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 118 PSYCHISCHE STÖRUNGSBILDER Trainingseffekte erweisen sich als förderlich für das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der subjektiven Kompetenz, auch wenn die Übertragung auf Alltagssituationen bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Weitere Ansätze sind Mal-, Musik-, Aroma-, Tanz- und Physiotherapie. Zusammenfassung Die senile Demenz tritt hinsichtlich ihrer Pathogenese in unterschiedlichen Formen auf. Die Symptomatik unterscheidet sich dabei unwesentlich, jedoch sollte insbesondere die medikamentöse Therapie nach den Ursachen der Erkrankung ausgerichtet werden. Ihr Verlauf ist progredient. Die Krankheit beginnt mit Einbußen in kognitiven, sozialen und emotionalen Funktionen und endet nach ca. 10 Jahren in absoluter Pflegebedürftigkeit. Leitsymptom sind Gedächtnisstörungen. Wegen des hohen Handlungsbedarfs aufgrund der Bevölkerungsentwicklung wird fieberhaft nach einer medikamentösen Therapie gesucht, die die Selbstversorgung alter Menschen möglichst lange gewährleistet. Die verfügbaren Medikamente haben jedoch nur schwache Effekte auf die Progredienz der Erkrankung, wenn sie bereits im Frühstadium der Demenz eingenommen werden. Als Alternative oder in Ergänzung zur medikamentösen Therapie sollten weitere Ansätze verfolgt werden, wie die Prävention durch eine gesunde Lebensführung und die Erhaltung bzw. Förderung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter, gegebenenfalls durch ein kognitives Training. Weiterführende Literatur Füsgen, I. (2001). Demenz: Praktischer Umgang mit Hirnleistungsstörungen. München: Urban & Vogel. Beyreuther, K., Einhäupl, K. M., Förstl, H. & Kurz, A. (Hrsg.) (2002). Demenzen. Stuttgart: Thieme. Übungsfragen 1 Erläutern Sie die Acetylcholinhypothese der senilen Demenz. 2 Erläutern Sie den Wirkmechanismus der neuen Antidementiva (z. B. Rivastigmin). 3 In welche vier Krankheitsgruppen werden die senilen Demenzen klassifiziert? Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München