I. Handlungstheorie, Phänomenologie und Strukturfunktionalismus Alfred Schütz hat den Versuch unternommen die Handlungstheorie von Max Weber phänomenologisch zu fundieren. Dessen Analyse der Lebenswelt und der Wahrnehmungsweisen der in ihr lebenden Individuen stellt die Basis der Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann dar, die diese in ihrem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ vorstellten. Max Weber wurde auch von dem Strukturfunktionalisten Talcott Parsons re-konzeptionalisiert, der eine wissenschaftstheoretische Konstruktion entwickelte, mit der die Komplexität einer emergenten Realität erfasst werden soll. Schütz und Parsons traten in einen Briefwechsel ein. Anlass war die schützsche Idee seine phänomenologisch inspirierte Kritik an Weber mit Parsons Konzept zu verbinden. Hierzu schlug er Parsons vor dessen Konzept der Norminternalisierung durch seine Idealtypen zu ersetzen. Parsons lehnte dieses ab und der Briefwechsel endete in beiderseitiger Frustration. Im Folgenden werden nun (1) die schützsche Kritik an Max Weber, (2) die Phänomenologie Edmund Husserls und die Kritik von Schütz an Husserl, insbesondere an dessen Konzept der transzendentalen Intersubjektivität, (3) die schützsche Konzeption der Intersubjektivität und die an Schütz anschließende Wissenssoziologie, (4) die Organisation des subjektiven Wissenvorrats in Zusammenhang mit der Theorie der Leerstelle und der Widerspruchslogik steht (5) die Kritik an Schütz in Zusammenhang mit der Problematik idealtypischer Modellbildung am Beispiel des homo oeconomicus, (6) der Strukturalismus und (7) die Schütz/Parsons-Debatte, aus der sich die Fragestellung dieser Arbeit entwickelt (nämlich: „Wie kann man menschliches Handeln erklären?“), vorgestellt. Dies alles, insbesondere aber die Schütz/Parsons-Debatte, stellt den Ausgangspunkt dieser Arbeit dar, um in Anschluss an diese die Überlegungen der systemtheoretischen Soziologie vorzustellen, die sich am Paradigma der Selbstreferenz der allgemeinen Systemtheorie orientiert, bei der aber nichtsdestoweniger an diese Überlegungen angeschlossen wird bzw. diese handlungstheoretische Soziologie aus der Perspektive der systemtheoretischen Soziologie rekonstruiert wird. Maßgebend für die systemtheoretische Soziologie ist Niklas Luhmann, der phänomenologische und strukturfunktionalistische Konzepte miteinander verbindet, indem er diese aus der Perspektive der allgemeinen oder interdisziplinären Systemtheorie beobachtet und sie in einen historischen Kontext stellt. 57 1. Alfred Schütz (1899-1959) Schütz interessierte sich für eine philosophische Begründung der Sozialwissenschaften1. In Husserls phänomenologischer Konstitutionsanalyse findet er das entsprechende methodologische Instrument. 1932 veröffentlicht er daraufhin sein Buch „Der sinnhafte Aufbau der Lebenswelt“ (1974), das einen Beitrag zum „Kampf um den Wissenschaftscharakter der Soziologie ist“ (ebd. S. 11). Er hält bis zu Husserls Tode (1938) persönlichen Kontakt zu diesem. Bevor Hitler in Östereich einmarschierte floh Schütz nach Paris und emegrierte 1939 in die Vereinigten Staaten von Amerika2. Dort konfrontiert er sich mit Talcott Parsons Buch „Structure of Social Action“ (1937), das die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen vereinen sollte, mit dem Zweck es grundlagentheoretisch zu begründen. Da die Phänomenologie seinerzeit in den USA quasi unbekannt war, stießen seine Bemühungen auf wenig Verständnis. Schützens Werk fand erst nach seinem Tode Beachtung und wurde dann durch seine Schüler, unter anderen Berger und Luckmann, berühmt. Berger und Luckmann (1999) machten in ihrem Buch, das heute als Klassiker gilt, „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Wissenssoziologie – “ (1999, erste dt. Aufl. 1969, engl. 1966) auch auf Schützens wissenssoziologische Relevanz aufmerksam. Erst Mitte der 70er Jahre findet Schützens Werk als amerikanischer „Re-Import“ im deutschsprachigen Raum Verbreitung3. 1.1. Die von Max Weber übernommenen Grundpositionen Schütz übernahm Webers Grundkonzept, dass der „sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ (Schütz, 1974) Basis für methodologische Überlegungen der Sozialwissenschaften sein müsse. Die Probleme, die sich aus Webers Begriff des subjektiven Sinns ergeben, hängen ihm zufolge vor allem „mit dem nur in streng philosophischer Selbstbesinnung erschließbaren Phänomen der Erlebniszeit (des inneren Zeitsinnes)“ (ebd., S. 9) zusammen. Um dies klarzustellen übernimmt er von Weber folgende Grundorientierungen: 1 Soweit nicht anders angegeben, beziehe ich mich in I. dieser Arbeit auf Eberle (1984). Zu Biographie und Werk von Schütz vgl. die Einleitung von Luckmann in Schütz/Luckmann (1994). 3 Auch im Rahmen der empirischen Sozialforschung, nämlich der Qualitativen Sozialforschung, wird Bezug auf die Arbeiten von Schütz genommen. Als Beleg mag gelten, dass in dem Reader „Sozialwissenschaftliche Hermeneutik“, von Hitzler/Honer (Hrsg.) (1997), von vierzehn Aufsätzen vier nicht Schütz im Literaturverzeichnis haben. Insbesondere die Evidenz der empirischen Sozialforschung wird in dieser Arbeit aus einer veränderten Perspektive beleuchtet. 2 58 1. Die handlungstheoretische Begründung der Soziologie, 2. dass Kausalerklärungen mit Sinndeutung gekoppelt werden müssen, 3. die sozialwissenschaftliche Erklärung des sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes mittels Idealtypen und 4. die Werturteilsfreiheit der Wissenschaften. Weber begreift den sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand als soziales Handeln (vgl. Weber 1972, S. 1), welches, im Unterschied zum bloßen Verhalten, mit subjektivem Sinn verbunden ist. Sozial ist Handeln, wenn es sich auf das Verhalten anderer bezieht und sich an dessen Ablauf orientiert. Menschliches Handeln ist nach Auffassung Webers bezüglich seines gegenwärtigen Ablaufs und seiner (unterstellten) Motive verständlich. Gemeint ist, dass die Sozialwissenschaften nicht nur wie die Naturwissenschaften kausaladäquate Beschreibungen liefern müssen, sondern diese müssten auch sinnadäquat bezüglich des subjektiv gemeinten Sinns sein. Das Verstehen solcher sozialen Erfahrungstatsachen müsse sachlich und objektiv, also werturteilsfrei, sein (vgl. Weber, 1968b und 1968e). Ob eine Sinndeutung richtig ist hängt von ihrer Evidenz ab. Sinn, so Weber, kann entweder rational oder einfühlsam gedeutet werden. Ausschlaggebend ist jedoch das ex-post ausgeführte rationale Erkennen des Erlebens, in dem das Bewusstsein zu sich selbst kommt. Das rationale Erkennen stellt Webers methodologisches Mittel dar, denn affektive Sinnzusammenhänge lenken von der Konstruktion des zweckrationalen Handlungsverlaufs ab. Die wissenschaftliche Typenbildung stellt dementsprechend Sinnadäquanz durch den Bezug auf rationale Sinnzusammenhänge her, mit der auch irrationale Erscheinungen erfasst werden. Da sich die Soziologie mit allgemeinen Regeln befasst, müssen die Begriffe relativ inhaltsleer, aber eindeutig sein. Das Konzept der Idealtypen soll diesem Anspruch gerecht werden; in reiner Form treten diese Idealtypen in der Wirklichkeit nicht auf. Wenden wir beispielsweise Webers Unterscheidung zwischen bürokratischen, charismatischen und rationalen Herrschaftstypen (vgl. Weber, 1972, S. 122-176 und 1968d) auf den Einzelfall an, entdecken wir, dass der Einzelfall ein Gemisch dieser Typen ist. Mit den Idealtypen wird der ‚subjektiv gemeinte Sinn’ hervorgehoben; es geht nicht um den „richtigen“ oder „wahren“ Sinn. Die Terminologie seines empirischen Ansatzes kann jedoch auf jeden Einzelfall angewendet werden 59 und wird als spezifisches Gemisch unterschiedlich gewichteter Elemente beschrieben, was dann als evidente Hypothese gedeutet wird. Eine solche Deutung im Sinne der verstehenden Methode Webers kann sinnhaft noch so evident sein, sie beweist nicht, dass sie die kausal gültige ist. Problematisch bleiben letztlich die latenten Motive der Handelnden. Die Kontrolle ihrer Richtigkeit ist daher schwierig, sie kann nur annäherungsweise durch vergleichende Methoden versucht werden. Die Ergebnisse der Deutungen, die sinnadäquat sein sollen, haben daher einen hypothetischen und fragmentarischen Charakter. Webers handlungstheoretischer Ansatz ist am Subjekt (bzw. Individuum) orientiert. Er ist zu unterscheiden von späteren (z.B. strukturalistischen) Ansätzen (die sich an Sausure orientieren), die gesamtgesellschaftliche Strukturen und den „objektiven“ Funktionssinn sozialer Vorgänge und Institutionen betonen. Weber wendet sich gegen Konzepte, die an einer Kollektivpersönlichkeit ansetzen. Aber auch Ansätze, die behaupten, dass die Wirklichkeit aus subjektiven Handlungsorientierungen autonomer Individuen besteht, lehnt er ab. Weber betrachtet stattdessen den Handelnden, seine Handlungsweisen und die mit diesen verbundenen Motive als vergesellschaftet bzw. sozialisiert. Das subjektive Handeln orientiert sich an objektiv vorgegebenen Umständen. Methodologisch ist zwar am subjektiven Handeln anzusetzen, das heißt aber nicht, dass der damit verbundene Sinn nicht durch und durch vergesellschaftet ist. 1.2. Die Kritik von Alfred Schütz an Max Weber Schütz kritisiert Webers Ausgangspositionen (verstehende Methode, Idealtypen, Wertfreiheit) insofern, als dass seinen Grundbegriffen eine substanzielle, erkenntnistheoretischephilosophische Analyse fehlt. Der zentrale Begriff des Handlungssinns wird von Schütz weiter ausgearbeitet. Weber grenzt sinnvolles Handeln von sinnlosem Verhalten ab. Soziales Handeln bezieht sich auf das Verhalten anderer und ist mit subjektivem Sinn verbunden. Schütz sieht hier jedoch fünf unterschiedliche Sinnschichten miteinander vermischt: Die erste Sinnschicht bezieht sich auf Handeln, das sich auf Dinge bezieht und als solches schon sinnvoll ist. Die zweite meint soziales Handeln, dessen gemeinter Sinn auf einen existierenden anderen, ein alter ego bezogen ist. Die dritte schließt neben der Existenz eines alter ego auch dessen Verhalten ein. Die vierte bezieht neben dem Verständnis des Verhaltens alter egos auch die Orientierung am Verlauf des Verhaltens des anderen ein. Die fünfte Sinnschicht des sozialen Handelns wird durch den Sozialwissenschaftler, nämlich durch dessen wissen- 60 schaftliche Sinndeutung, konstituiert. Diese Sinnschichten gilt es bei der Rekonstruktion der Grundbegriffe auseinander zu halten. (vgl. Schütz, 1974, S. 24-32) Weber unterscheidet nicht zwischen subjektiven und objektiven Sinnzusammenhängen, die bei jedem Verstehen gegeben seien und situativ, je nach Art der Beziehung zwischen Deutendem und Gedeutetem, variieren (ebd. S. 32ff). Weber berücksichtigt nicht, welche Rolle Zeit bei der Sinnkonstitution spielt – Verhalten werde immer retroperspektiv als sinnhaft erkannt und daher sei die Unterscheidung zwischen sinnlosem Verhalten und sinnvollem Handeln nicht einleuchtend (ebd. S. 26ff). Weber geht einfach davon aus, dass andere verstanden werden, er unterscheidet nicht zwischen Selbstauslegung und Fremdauslegung (ebd. S. 28ff). 2. Edmund Husserl (1859-1938) Husserl suchte einen letzten absolut sicheren Ausgangspunkt philosophischer Erkenntnis. Ausgehend von den formallogischen Beziehungen zwischen den Sachen, gelangt er zu der Konstitution der Sachen selbst. Mit seiner phänomenologischen Methode will Husserl „die positivistische Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft“ und damit „die Krisis der europäischen Wissenschaften“, die ein Verlust der „Lebensbedeutsamkeit“ zur Folge habe, überwinden. (vgl. Husserl, 1996, S. 1ff) Seine Grundbegriffe sind Intentionalität, eidetische Reduktion und Konstitutionsanalyse. Er übernimmt Descartes’ „ego cogitum“ und erweitert dies um „cogito“ - der Akt des Erkennens - das sich auf ein „cogitum“ - ein Erkanntes - bezieht. Das Erkannte existiert also nicht als solches isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit dem Akt des Erkennens – womit wir das Konzept der Intentionalität umrissen haben. Wir haben also „ego - cogito - cogitum“, ego darf hierbei allerdings nicht lebensweltlich erfasst werden und daher muss die eidetische Reduktion transzendental gewendet werden. 2.1. Phänomenologische Reduktion Die phänomenologische Reduktion setzt sich zusammen aus der eidetischen und der transzendentalen Reduktion. 61 2.1.1. Intentionalität und eidetische Reduktion Die eidetische Reduktion und die Intentionalität des Bewusstseins hängen miteinander zusammen. Intentionalität bezieht sich auf die Beziehung des Bewusstseins zu seinem Gegenstand. Das Bewusstsein ist ein Bewusstsein von Etwas, es hat also eine Beziehung zu seinem Gegenstand. Bewusstsein vollzieht sich in Phänomenen - ein Bewusstseinsakt (cogito) kann nie von seinem intentionalen (vermeintlichen) Gegenstand (cogitatum) abgelöst werden. Wir denken und fühlen immer etwas und wir nehmen immer etwas wahr. Um diese Etwasse geht es hier. Ein Phänomen ist alles, was zum Gegenstand eines Bewusstseinaktes wird und damit in das Bewusstsein eintritt. Eine Wahrnehmung ist Resultat komplexer Interpretationsvorgänge von Farben und Formen, das Etwas, das Interpretationsresultat, ist eine Idee, ein Wesen, das so genannte Eidos, also eine Vorstellung von dem, was alle Etwasse gemeinsam haben, was das Etwas zu diesem Etwas macht. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen sind, dass ein Gegenstand das ist, was mir erscheint; Subjekt und Objekt verschmelzen. Das Wesen eines intentionalen Gegenstandes ist im Phänomen selbst enthalten und daher der Anschauung zugänglich. Die Ideen sind mit dem Gegenstand verflochten. Hochkomplexe Wahrnehmungen sind notwendigerweise von Ideen durchsetzt und strukturiert. Das Eidos des Phänomens ist nur durch systematische Analyse, durch die eidetische Reduktion erfassbar. Wir variieren den Gegenstand so lange, bis wir zu den invarianten Eigenschaften gelangt sind. Dieses Invariante ist der konkret wahrgenommene Kern aller vorstellbaren Etwasse. Das Wesen abstrakter Dinge (beispielsweise Zahlen, Staat, Seele) ist der kategorialen Anschauung zugänglich und nicht nur Fiktion. Das Eidos wird zuverlässig und endgültig erfasst. Gemäß dem Prinzip der Evidenz (etwas erscheint unter Ausschluss von Alternativen als einleuchtend), mit dem solche Wesen erfasst werden können, stellt das Prinzip der Evidenz das Erleben der Selbstgegebenheit der Sachen dar. Die Erfassung des Eidos ist aber stets relativ, also allgemein und individuell. Entsprechend ist Wahrheit eine Reproduktion, in welcher der Sinn anhand der Wahrnehmung gegebener Gegenstände ständig überprüft wird. Das empirisch gegebene Ego der alltäglichen Lebenswelt nimmt allerdings die Phänomene in einer (in seiner) spezifischen Einstellung wahr und daher muss, um zu apodiktischer Gewissheit und zur Evidenz der reinen Phänomene zu gelangen, die so genannte transzendentale Reduktion durchgeführt werden, damit in dem so reduzierten Bereich die eidetische Analyse vorgenommen werden kann. 62 2.1.2. Transzendentale Reduktion und Konstitutionsanalyse Husserl bezweifelt radikal die alltägliche Einstellung bezüglich der Phänomene - auch Wissenschaftler operieren auf Grund nicht weiter hinterfragter Annahmen und Glaubenssetzungen. Die transzendentale Reduktion klammert die nicht weiter hinterfragten Annahmen und Glaubenssetzungen, in die so genannte Epoché, ein. Durch die Einklammerung wird das reine Phänomen sichtbar und damit soll geklärt werden, wie sich der Sinn der Phänomene im Bewusstsein konstituiert. Alle Phänomene, die der Alltagswelt, die der Traumwelt und die der Phantasie, sind als solche dann gleichwertig zu betrachten. Ein Phänomen ist eine Konstitutionsleistung des Bewusstseins, nämlich der transzendentalen Subjektivität, so Husserl, ist also nicht ontologisch gegeben. Mit der Analyse der Intentionalität des Bewusstseins wird gleichzeitig eine Analyse des Phänomens vorgenommen; mit der Analyse der Konstitutionsleistungen des Bewusstseins wird auch die Konstitutionsleistung der transzendentalen Subjektivität aufgedeckt. In dieser geht es um Bewusstseinsleistungen der vorprädikativen Ebene, die ego - cogito Ebene, zum Beispiel um die grundlegende Strukturierung des Wahrnehmungsfeldes in Thema und Horizont, Ganzes-Teile, Einheit-Vielheit etc. oder die immanente Zeitlichkeit (Rekursivität), die der Bewusstseinseinsstrom konstituiert. In der darüber liegenden Ebene vollziehen sich Stellung nehmende, Sinn stiftende IchAkte, diese machen aus der passiven Perzeption aktive Apperzeption, also sinnvolle Phänomene. Sämtliche Urteile der prädikativen Sphäre (der Art s ist p) bauen notwendigerweise auf dem vorprädikativen Bereich der Erfahrung auf, in diesem wurzeln daher auch logische Konzepte wie Negation, Möglichkeit und Modulation. Das transzendentale Ego konstituiert in seinen Bewusstseinsleistungen nicht nur Gegenstände seines Bewusstseinsfeldes, sondern auch sich selbst als Subjekt. Je nachdem, wie viel Aufmerksamkeit wir einem Phänomen schenken, können wir es modifizieren, wobei sich der Gegenstand selbst auch modifizieren kann: deswegen die Unterscheidung zwischen dem Akt des Wahrnehmens (cogitare) und dem Wahrgenommenen (cogitatum), beziehungsweise zwischen Noesis (Grad der Aufmerksamkeit, Blickrichtung, Pupillengröße ...) und Noema (im intentionalen Gegenstand selbst liegend, äußerer und innerer Horizont). Jedes Phänomen hat eine noetisch-noematische Struktur. Ein Gegenstand wird immer in einer Umgebung wahrgenommen, dem äußeren Horizont. Der innere Horizont des Gegenstandes enthält das, was in einem Phänomen appräsentativ mit enthalten ist. Wir sehen mehr, als sich unserem Auge darbietet. Wir sehen beispielsweise ein komplettes Haus und nicht nur seine Vorderseite. Dass wir dies so sehen, ist eine Leistung der 63 vorprädikativen Ebene, unsere Erfahrung, dass wir, wenn wir um ein Haus herumgehen, dessen Hinterseite sehen, wird mit vergegenwärtigt, wobei wir auch die Erfahrung gemacht haben können, dass wir uns täuschen können - es gibt Kulissen. Unser Bewusstsein ordnet auch verschiedene Ebenen, um in der Welt operieren zu können - die Leistungen der Intentionalität strukturieren die Welt. 2.2. Die Lebenswelt als Basis aller Wissenschaften Husserl will sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften durch die phänomenologische Untersuchung der Lebenswelt begründen, im Sinne von ihr eine Basis geben. Darüber hinausgehend kritisiert er das nach seiner Auffassung falsche Selbstverständnis der Wissenschaften. Geisteswissenschaften und Psychologie würden zudem mit den falschen Methoden arbeiten. Durch sein Programm will er die Wissenschaften von diesem Selbstverständnis lösen. Geisteswissenschaften und Psychologie werde damit die richtige Methode an die Hand gegeben, die sich dadurch auszeichne, dass sie eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens ermöglicht. 2.2.1. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Verkleidung der Lebenswelt Die „Krisis der europäischen Wissenschaften“ resultiert nach Husserls Auffassung einerseits daraus, dass die wirtschaftlichen und technischen Erfolge der positiven Wissenschaften um 1850 die Menschen geblendet hätten und andererseits daraus, dass die Wissenschaften nicht den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen gestellt hätten, was seit Ende des 19. Jahrhunderts kritisiert wird. Die „Krisis“ ist die Folge des Umstandes, dass vergessen wurde, dass die Wissenschaft in der Lebenswelt begründet ist und diese das Sinnfundament aller Wissenschaft darstellt. Schon seit Galilei finde die „Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“ (Husserl, 1996, S. 52) statt. Die Lebenswelt existiere auch ohne die Wissenschaft, andererseits setzt die Wissenschaft die lebensweltlichen Sinnes- und Geltungssetzungen voraus. „Das Ideenkleid ‚Mathematik und mathematische Naturwissenschaft’, oder das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befasst alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die ‚objektiv wirkliche und wahre’ Natur der Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, dass wir für Wahres nehmen, was eine Methode ist.“ (ebd. S. 55) 64 Es wurde vergessen, dass „objektive“ Wahrheit eine (Zweck-) Idee der Griechen war, die sich im Laufe ihrer Evolution zu einer Norm der Erkenntnis entwickelte – zur Norm der wissenschaftlichen Neuzeit, also der Zeit nach Descartes. Die „objektive Wahrheit“ der neuzeitlichen Wissenschaften verwarf jegliche subjektiv-relativen Wahrheiten als nicht- wissenschaftlich. Diese neuzeitlichen Wissenschaften mathematisierten die Sinnlichkeit und „die konkret-anschaulichen Gestalten der Lebenswelt“, dies ermögliche, so Husserl, eine wesentlich bessere Voraussicht, wirke aber auch sinnentstellend - womit der Bezug zur Lebenswelt verloren gehe. Die Lebenswelt werde in die Kausalität der objektiven Wahrheit naiv eingelegt (vgl. ebd. S. 103). Seine transzendentale Phänomenologie sei eine ernsthafte Philosophie, so Husserl, da sie das Sinnfundament der Wissenschaft, die implizierten lebensweltlichen Sinnstrukturen, aufdecke. 2.2.2. Epoché – die Einklammerung des transzendentalen, sinnstiftenden Subjekts Husserl sucht nach dem Konstanten, das übrig bleibt, wenn er die Lebenswelt von allem, was variabel ist, durch phänomenologische Analyse reinigt. Hierzu schlägt Husserl zwei unterschiedliche Möglichkeiten vor: eine Ontologie der Lebenswelt und die transzendentalphänomenologische Analyse der Lebenswelt. Die Ontologie bezieht sich auf die räumliche und zeitliche Verteilung der Dinge in der Welt. An diese Verteilung sei alles Leben und daher auch die Wissenschaft gebunden, des Weiteren sei diese immer auf ein Subjekt bezogen. Husserl konzentrierte sich jedoch auf die transzendentalphänomenologischen Analysen. Durch die Einklammerung der natürlichen Einstellungen in die Epoché, so seine Vermutung, werde das Phänomen sichtbar. Innerhalb der Epoché sind drei Blickwendungen möglich: 1/ auf die Voraussetzungen der Lebenswelt, von hier aus ist es 2/ möglich zu sehen, wie die Dinge in ihren Variationen ‚in subjektiven Erscheinungsweisen, Gegebenheitsweisen’ bewusst werden, was wiederum ermöglicht 3/ das Fungieren der Subjekte und Subjektgemeinschaften zu erblicken. Voraussetzung für die These, dass die Lebenswelt in phänomenologischer Reduktion analysierbar ist, ist, dass alle Subjekte ein gleich geartetes transzendentales Ego haben. Der transzendentale Nachweis, dass es ein transzendentes alter-ego (Intersubjektivität) gibt, ist Husserl aber nie gelungen. Husserls Ontologie der Lebenswelt beruht auf der Annahme, dass diese ein Universum aus vorgegebenen Dingen sei. Wir sind in der Lage Dinge Typen zuzuordnen (Noema...) und diese Ordnung sprachlich zu erfassen. Es gibt, so Husserl, invariante Typisierungen von Wesen und zwar die Unterschiede zwischen lebendigen und nichtlebendigen Dingen, tierischen und 65 pflanzlichen Leben und letztlich zwischen tierischen und menschlichen Leben. Menschen zeichnen sich gegenüber Tieren dadurch aus, dass sie diesen Typen Sinn zuordnen können, so dass die nicht lebendigen Dinge noch weiter unterschieden werden können, nämlich in solche, die „Kultursinn“ haben und solche, die keinen haben. Diese Unterschiede bestimmten auch die Einteilung wissenschaftlicher Disziplinen. Zu den transzendentalphänomenologischen Konstitutionsanalysen wurde weiter oben schon ausgeführt, dass die Dinge einen inneren und äußeren Horizont haben. Der äußere ist der Welthorizont, in dem eine Thematisierung stattfindet, der innere ergibt sich aus den unterschiedlichen Positionen im Raum, von denen aus wir das Ding wahrnehmen können. Die Wahrnehmung selbst gibt uns unterschiedliche Zugänge zu dem Ding - Fühlen, Schmecken usw. Letztlich stehen alle Dinge in einem Zeithorizont. Wahrnehmung ist immer gegenwärtige Wahrnehmung, diese verbindet sich aber retentional und reproduktiv mit vergangenen Wahrnehmungen (Erfahrungen) und protentional und antizipativ mit (Vor-) Erwartungen. Erfahrungen und Erwartungen werden vom Subjekt im Wahrnehmungsapparat zusammengefasst und als sinnhaft erlebt. Der konstituierte Sinn bzw. Sinnstiftung ist also eine Leistung des Bewusstseins oder, in Bezug auf Intersubjektivität, mehrer Bewusstseine, die zu einer Subjektgemeinschaft zusammengefasst (integriert) sind. 2.2.3. Die Kritik an der kausaltheoretischen Beschreibung der Seele Die Folgen von Husserls Programm für die Natur- und die Formalwissenschaften liegen auf der Bewusstseinsebene - deren Methoden werden nicht kritisiert. Die Krisis, von der bei Husserl die Rede ist, bezieht sich auf den Mangel, dass die lebensweltlichen Voraussetzungen den positivistischen Wissenschaftlern nicht bewusst seien und diese daher Idealisierungen geschaffen hätten, die den Menschen nicht in den Mittelpunkt stellen, die aber nichtsdestoweniger von den Geisteswissenschaften und der Psychologie adaptiert wurden. Die Adaption sei eine Folge der Fehlinterpretation von Descartes’ Dualismus zwischen Körper und Seele, der sich in den neuzeitlichen Wissenschaften verbreitet habe. Die Seele werde als naturgesetzlich gegeben angenommen und nicht als selbstständiger Untersuchungsgegenstand, daher werde sie mit den gleichen Methoden untersucht wie die Körper, diese seien aber „wesensverschieden“. Die Psyche werde beispielsweise mit den gleichen kausalen Eigenschaften beschrieben, wie physische Kräfte, obwohl sie unterschiedliche Wesen sind. Letztlich sei diese Unterscheidung übersehen worden, weil die Naturwissenschaften nicht erkannt hätten, dass ihre Begriffe eine lebensweltliche Basis haben. 66 Um den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken eigne sich allein die Methode der phänomenologischen Analyse, die sich auf das subjektive Bewusstsein bezieht. Für die Psychologie bedeute dies, dass sie die Methode der Epoché zur Beschreibung der Wahrnehmung der betreffenden Subjekte anzuwenden habe. Die Psychologie wird also gemäß seiner Transzendentalphilosophie konzipiert, durch die Reduktion gelangen wir, so Husserl, zur Lebenswelt als einem gereinigten Produkt, das vom Bewusstsein ausgefällt wird. Mit diesen Analysen will Husserl den Weg weisen, wie der Sinn des menschlichen Daseins erschlossen werden kann. Durch das Zurückgehen vom ‚Fertig-Seienden’ zu den intentionalen Ursprüngen ergebe sich zwar kein absolutes, sondern ein relatives Verständnis, das letztlich aber doch ein wirkliches Verständnis sei. Die von Husserl konzipierte Phänomenologie ist daher „eine Philosophie des tiefsten und universalsten Selbstverstandes des philosophierenden Ego als Träger der sich zu sich selbst kommenden absoluten Vernunft“ (Husserl, 1954, S. 272). Die Vernunft ist das spezifisch Menschliche, sie ist das, was selig macht. 2.4. Die Kritik an Husserls Konzepten Das Selbstverständnis der Phänomenologie ist es eine eidetische, keine empirische Wissenschaft zu sein. Die Phänomenologie beansprucht ihre eigenen Prämissen begründen zu können - daher, so die Phänomenologen, hätten ihre Erkenntnisse apodiktischen Stellenwert. Das Erkenntnisinteresse von Husserls Programm richtet sich auf die Entdeckung der invarianten, universellen Elemente der Phänomene in dieser Welt. 2.4.1. Eidetische Reduktion Die eidetische Reduktion soll durch Variation des Phänomens dessen kontingente lebensweltliche Erscheinungen ausgrenzen. Bei diesem Verfahren geht es nicht nur (aber auch) um direkt Wahrnehmbares, sondern auch um „kategorial vorgestellte Phänomene“. 2.4.1.1. Zur Erfassung des Eidos geometrischer und soziokultureller Phänomene Husserl entwickelt das Konzept des Eidos anhand geometrischer Gebilde, beispielsweise Dreieck, Kreis, Würfel. Da die Eigenschaften beziehungsweise die invarianten, universalen Elemente dieser Phänomene (geometrischen Gebilde) sich im Laufe der Zeit nicht ändern, lassen sich deren Eigenschaften festlegen. Bei Phänomenen, die sich wandeln beziehungswei67 se deren Eigenschaft Wandel ist, wie beispielsweise soziokulturelle Phänomene, ist dies nicht der Fall. Bei wahrnehmbaren Phänomenen, wie beispielsweise einem Haus, können wir die Kategorie „hat Fenster“ variieren - problematisch wird das Verfahren, wenn wir auf Häuser stoßen, zum Beispiel arabische, die keine Fenster haben. Bei abstrakten imaginären Phänomenen wie beispielsweise dem Staat nehmen die Probleme der kategorischen Anschauung zu. Die Folge ist, dass die an Husserl anschließende Phänomenologie dessen eidetische Reduktion bei der Bearbeitung soziokultureller Phänomene nicht berücksichtigt oder dass das Konzept soziokulturell relativiert wird, was dann aber etwas darstellt, was wir eine Typisierung der historischkulturellen Spezifität der Lebenswelt nennen. 2.4.1.2. Sprache und Interpretationsschemata Mit der Relativierung des Eidos - Konzeptes ist die Frage verbunden, ob Sinn überhaupt von Sprache abgelöst werden kann; also ob die Interpretationschemata, die mit der Sprache, mit der wir sozialisiert (vergesellschaftet) wurden/werden, verbunden sind und mit denen wir im Bewusstsein Phänomene konstituieren, überhaupt die Vorraussetzung liefern können, die es möglich machen könnten, nach dem Eidos zu suchen. Sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge determinieren unsere Sprachgewohnheiten unsere Wahrnehmungsleistungen bezüglich der Welt. Husserl wollte genau hinter diese sprachlich-kulturellen Relativierungen gelangen. Bei wahrgenommenen Gegenständen, sozusagen Gegenständen im Wahrnehmungsapparat, gelingt dies. Deren Wahrnehmung ist das A Priori der sprachlichen Typifizierung. Bei Phänomenen, die sinnhaft gegeben sind, ist dies anders. Dies kann leicht durch Nachschlagen in einem Wörterbuch erfahren werden, wo einem Wort mehrere Bedeutungen zugeordnet werden. Und es gibt Phänomene, die wir sprachlich nicht „abholen“ können, die aber nichtsdestoweniger sinnvoll sind. Der Sinn von Phänomen wird um so mehrdeutiger, je weniger er sprachlich darstellbar/erläuterbar ist, beispielsweise wenn der Sinn durch Objekte oder Symbole (im Sinne Cassirers) dargestellt wird. 2.4.1.3. Eidos und die Alternative der lebensweltlichen Typifizierung Schütz war von Anfang an der Meinung, dass die Sozialwelt nicht in eidetischer Reduktion zu erfassen sei. Er beschrieb daher Phänomene als lebensweltlich typisiert. Auch Husserl unter68 suchte die eidetische Reduktion nicht sonderlich intensiv, er konzentrierte sich vielmehr auf die Intentionsanalyse. Erst in ihrem jeweiligen Spätwerk wird der eidetischen Reduktion wieder vermehrte Aufmerksamkeit zuteil. Als Husserl die eidetische Reduktion in seinem Spätwerk wieder aufgreift, bezeichnet er Eidos und Typus als höherstufige Bewusstseinsleistungen, unterscheidet aber zwischen beiden: Das Eidos, die ‚Wesenstypik der Lebenswelt’ (Husserl, 1954) ist invariant, der Typus, die konkrete empirische, historisch relative und kulturspezifische Typik der natürlichen Einstellung, nicht. Husserls Spätwerk zeige, so Schütz, ganz klar: „dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Bildung der Gattungsurteile auf der Ebene der generellen Allgemeinheit und den Wesensanschauungen gibt. Während empirische Allgemeinheiten zufällig sind, setzen die Ideationen die Beziehung der Erfahrung zur Welt außer Spiel und nimmt den konkreten Einzelgegenstand nur als ein Exemplar, als ein Vorbild, einen Ausgangspunkt für eine Reihe von freien Variationen, die willkürlich in der Phantasiewelt ausgeführt werden: Die empirische Faktizität wird daher durch reine Möglichkeiten ersetzt.“ (Schütz, 1971bb, S. 151) Schützens Unterscheidung zwischen „empirischen und eidetischen Allgemeinheiten“ (ebd. S. 143) ist also, dass es einerseits um zufällige erfahrene Erlebnisse, um Erfahrungen der Welt geht, andererseits um aktiv imaginierte Abstraktionen der Möglichkeiten dessen, „was passiv vorkonstituiert wurde“ (ebd.). Die begriffliche Fassung empirischer Allgemeinheiten sind nicht nur in dem Sinne kontingent, dass sie von der zufälligen faktischen Erfahrung eines Einzelnen stammen, sondern darüber hinaus auch noch dadurch, dass diese Erfahrung durch einen Vergleich mit etwas zufällig Ähnlichem zustande kommt. Werden reine Begriffe im Prozess der Ideation gebildet, fließen empirischfaktische Erfahrungen nicht mit ein. Es geht um reine Phantasie und reine Möglichkeiten, von denen aus das reine Eidos zugänglich wird. Vom konkreten Eidos ausgehend können wiederum Allgemeinheiten spezifiziert werden, wie beispielsweise „geometrische Figur mit drei Seiten“. Von hier aus können dann die Eigenschaften von Dreiecken untersucht werden. Nicht zu verwechseln seien solche Begriffe, laut Schütz, mit konkret-empirischen wie „Hund“ oder „Baum“. Nichtsdestoweniger könnten reine Begriffe auf die erscheinende Realität bezogen werden. Unproblematisch ist, so Schütz die eidetische Reduktion bezüglich der ego-cogito Beziehung, also dem Konstitutionsaspekt intentionaler Phänomene. Das Cogitatum ist hier der „transzendentale Leitfaden“, an dem die Cogitation ihre Spezifizierung identischer Bedeutungen des Mannigfaltigen (oder Komplexen) orientiert. Spezifiziert wird auf Grund „möglicher Wahrnehmung, Retention, Erinnerung, Antizipation, Bedeutung, analogischer Anschauung“ (ebd. S. 145). Diese Spezifikationen können formal-logisch sein, wie die kategoriale Gegenständ69 lichkeit der Allgemeinheit geometrischer Figuren. Ein deutlicher Unterschied liegt jedoch im Verhältnis zu realen Gegenständen. Die formal-logische Spezifikation ist eine aktive Tätigkeit, die material-ontologische passive Synthesis. Letztere ordnet reale Gegenstände Begriffen zu, die diese nach lebendig/nicht lebendig usw ordnet, so dass eine „strukturale Typik“ entsteht, an die die weitere Ordnung gebunden ist. Die eidetische Beschreibung nimmt ihren Ausgangspunkt an solchen empirischen Tatsachen und daher „transponieren wir die faktischen Erfahrungen in den Bereich der ‚Irrealitäten’, in den Bereich des ‚Als ob’, der uns mit den reinen Möglichkeiten konfrontiert, den gereinigten – das heißt mit den Möglichkeiten von allem, was an die einzelne Tatsache überhaupt gebunden ist“ (ebd. S. 146). Unproblematisch sei dies eben, wenn es mit reinen Begriffen geschieht um Kogitationstypen wie „Wahrnehmung, Retention, Behauptung, Begründung“ (ebd.) zu beschreiben. Werde die eidetische Methode jedoch so wie in Husserls „Cartesianischen Meditationen“ benutzt, um „aus dem faktischen Ego ein Eidos ‚transzendentales Ego’ zu bilden“ (ebd.), sei dies bloße Modifikation. Selbstverständlich seien materiale Bereiche und Regionen eidetisch zu erfassen, dies sei aber keine Leistung des Bewusstseins; denn diese seien, so Schütz, ontologisch vorgegeben. Die freie Variation sei durch den Rahmen des Typs in der natürlichen Einstellung eingeschränkt; fraglich sei daher, ob durch den Prozess der Ideation etwas anderes enthüllt werden könnte als die durch den Typus hergestellte Grenze. Wenn dies aber nicht so sei, dann gebe es nur einen „graduellen Unterschied zwischen Typus und Eidos. Die Ideation kann dann nichts anderes enthüllen, was nicht schon im Typus vorkonstituiert war“ (ebd. S. 152) 2.4.2. Transzendentale Reduktion A/ Durch Einklammerung der äußeren Welt, des Glaubens und des erkennenden Subjekts werden intentionale Phänomene so reduziert, dass wir, so Husserl, zur transzendenten Ebene gelangen. Das Bewusstsein kann somit, befreit von der kulturellen Sozialisation und lebensweltlichen Prägungen, in die transzendentale Sphäre eindringen. Dies würde letztlich bedeuten, dass wir Sinn von Sprache lösen können, was wiederum eine kategoriale Anschauung verunmöglicht. Kritisiert wird hieran vor allem, dass nicht-materielle subjektive Bewusstseinsphänomene als historisch und klassenspezifisch vorgestellt werden und dass diese Bewusstseinsphänomene die Vorraussetzung seien um die Welt „richtig“ erkennen zu können. Insgesamt also ein faschistoides Konzept. 70 B/ Da der transzendentale Ansatz vom Subjekt ausgeht, geht von ihm die Gefahr des Solipsismus aus. Husserl bezieht sich auf die Intentionalität des Bewusstseins, in der das Noema (Bewusstsein) stets Folge der Noesis (Phänomen) ist. Husserl beschäftigte sich vor allem mit der Noesis, also wie sich der Sinn der Phänomene im Bewusstsein konstituiert. Gegen den Solipsismus-Verdacht wehrt er sich mit seinem Konzept der Monadengemeinschaft transzendentaler Egos, bei dem er letztlich davon ausgeht, dass jeder Mensch ein transzendentales Ego habe. Hierzu muss das transzendentale Ego über die Grenze der Einklammerung hinweg Kenntnis von anderen Egos erlangen können. Damit kommt der Körper ins Spiel. In der transzendentalen Sphäre erfährt ego seinen Körper als „Hier“, den Körper alter-egos als „Dort“. Das Verhalten alter-egos spiegelt die Provokation egos. Evident vermittelt wird die objektive Existenz des anderen einerseits dadurch, dass, vor allem im sozialen Bereich, die Welt determiniert ist und andererseits durch die wechselseitigen Beziehungen der Subjekte zwischeneinander. Die Determiniertheit der Welt ist die Folge ihrer intersubjektiven Konstitution. Beispielsweise kann der Sinn von Kulturobjekten (Museen, etc) von einem Subjekt nicht als ein anderer gestiftet werden als er von anderen Subjekten gestiftet wird, was eben einem einsamen Ich möglich sein müsste. Der gestiftete Sinn hängt von der Mitkonstitution durch andere ab. In der sozialen Interaktion wird die subjektive Konstitution der anderen permanent verifiziert, in ihr wird dargestellt, was meine, deine und unsere Welt ist. 2.4.2.1. Die schützsche Ablehnung der transzendentalen Intersubjektivität und Intersubjektivität als ontologische Grundkategorie des Seins Der Gedankensprung ist dann, dass der andere, wenn er im fremden Bewusstsein konstituiert wird, nicht nur in der Alltagswelt, sondern auch in anderen Welten, beispielsweise in der Phantasie- und Traumwelt oder der Welt der Wissenschaft faktisch existent ist. Schütz erkannte dies, obwohl für sein Lebensweltkonzept die transzendentalphilosophische Begründung der Intersubjektivität nicht nötig gewesen wäre. Nichtsdestoweniger wäre dies die letztmögliche Veredelung der Phänomenologie gewesen. So konstatiert Schütz, zwei Jahre vor seinem Tod, die Einsicht: dass Husserls Versuch, „die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewusstseinsleistungen des transzendentalen ego zu begründen, nicht gelungen ist. Es steht zu vermuten, dass Intersubjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert 71 Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins.“ (Schütz, 1971ba, S. 116) In einem Antwortschreiben an Fink anlässlich dessen Diskussionsbemerkung zu Schützens Aufsatz „Das Problem der Transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl“, hebt Schütz seine Argumentationslinie hierzu noch einmal hervor. „Es war weder meine Absicht, eine eigene Lösung des Problems der Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewusstseinsleistungen des transzendentalen Egos anzubieten, noch meine These des offenbaren Misslingens der husserlschen Argumentation zu einer Verwerfung der Methoden der transzendentalen Phänomenologie oder gar der Phänomenologie überhaupt zu verallgemeinern. Ich bemühte mich vielmehr zu zeigen, dass Husserls Fehlschlag, eine Lösung dieses Problems zu finden, darauf zurückzuführen ist, dass er die lebensweltliche Seinsgegebenheit der sozialen Welt als eine Konstitutionsleistung des transzendentalen Subjekts darzustellen sucht, statt ihre transzendentale Sinneserhellung durch Bewusstseinsleistungen des transzendentalen Subjekts zu enthüllen.“ (ebd. S. 122) Im Laufe der Entwicklung der Phänomenologie hat sich die Bedeutung des Begriffs der Konstitutionsleistung des transzendentalen Subjekts verschoben. Anfänglich ging es um die „Aufklärung der Sinnstruktur des Bewusstseinslebens, Befragung der Sedimente nach ihrer Geschichte, Rückführung aller Cogitata auf die intentionalen Leistungen des strömenden Bewusstseins“ (ebd. S.117). Dies wird von Schütz in keiner Weise kritisiert, es sei, insbesondere für die Sozialwissenschaften gültig. „Aber unter der Hand und geradezu unversehens wandelte sich, wie es mir scheint, die Idee der Konstitution von einer Aufklärung der Sinnstruktur, von der Auslegung des Sinns des Seins, in eine Begründung der Seinsstruktur und von einer Auslegung in eine Kreation. Aus einer Enthüllung des Bewusstseinslebens wird ein Ersatz für die der Phänomenologie prinzipiell unerreichbare Begründung der Ontologie aus den Lebensprozessen der Subjektivität. Ich stimme hier den Ausführungen des schönen Aufsatzes, den Fink in den ‚Problémes actuels de la Phénoménologie’ veröffentlicht hat, in jeder Hinsicht zu. Die Kreation des Monadenalls und der objektiven Welt für jedermann erweist sich allerdings innerhalb der transzendentalen Subjektivität des meditierenden Philosophen, die ihm und ihm allein gelten soll, als unmöglich. Wohl aber ist und bleibt die Aufklärung der Sinnstruktur der Intersubjektivität und des Mir-Geltens-der-Welt-alseiner-objektiven eine legitime Aufgabe der phänomenologischen Konstitutionsanalyse. Und diese Aufgabe hat Husserl nicht nur als Arbeitsgebiet gezeigt, sondern zum großen Teil gelöst.“ (ebd. S. 117f) 72 2.4.2.2. Die nicht Berücksichtigung der Reflexibilität der „Leibhaber“ Fink stimmt Schütz zu, dass Husserl sich bei Fremderfahrungen über die Grenze der Einklammerung hinweg auf einen gegenwärtig im Nahfeld, im Wahrnehmungsfeld anwesenden anderen beschränkt. Dieser werde ausgelegt als „Inhaber eines Leibes“, als „Leibhaber“ und Husserl reiche dies aus um ihn als transzendentales Mitsubjekt zu bezeichnen. In diesem Sinne seien dann auch Tiere transzendentale Subjekte. Dessen Charakter begegne er dann durch „die Appräsentation eines analogen Waltens in seinem Leibe“ (ebd. S. 119 – Diskussionsbemerkung Eugen Finks) Husserl redupliziere also nur das ego. Appräsentation sei die Antizipation der Rückseite eines Gegenstandes angesichts seiner Vorderseite, zu der man gelangen könne. Diese Einlösbarkeit fehle der Appräsentation des „Im- Leibe-Walten des Anderen“ (ebd.). Husserl habe auf die Unterscheidung Einlösbarkeit/Uneinlösbarkeit nicht genügend hingewiesen, auch habe er bei der Fremderfahrung den Wechselbezug nicht genügend aufgeklärt: Ich erfahre den anderen so, „dass ich im Erfahren des anderen miterfahre, dass er mich erfährt“ (ebd. S. 120), letztlich hätten Wechselbeziehungen potenziell eine unendliche Iteration und somit eine unendliche wechselseitige Reflexibilität des sich einander Vorstellens in sich. Fraglich sei, ob hiermit die Unmittelbarkeit des Verstehens geklärt werden könne. Auch sei das „Jetzt“ des „Hier“ und „Dort“ der Leiber nicht genügend thematisiert worden. Ein merkwürdiger Gedanke Husserls sei auch, dass das transzendentale Ich ein innerweltlich anderer, sowohl des anderen als auch des eigenen Selbst, sei. Und da sowohl ich selbst als auch das Selbst der anderen sterblich sei, frage es sich, ob das transzendentale Ich überhaupt sterben kann oder vielmehr ob die transzendentale Innerlichkeit überhaupt bestimmt werden könne, wenn der Tod ausgeklammert bleibt. Letztlich gipfelt dies in Husserls späten Manuskripten in einem letzten Grund, in einem transzendentalen Urleben, dadurch wachsen allerdings die sachlichen Schwierigkeiten nur noch. Es gibt, so Schütz und Fink, Intersubjektivität, sie ist aber philosophisch nicht beweisbar. Das was als Realität angenommen wird, ist letztlich das Produkt der natürlichen Einstellung. 2.4.2.3. Der infinite Regress der Aufklärung der Voraussetzungen und die Unmöglichkeit das Subjekt von intersubjektiven Wirkungen zu reinigen Die Kritik der Hermeneutik an der Phänomenologie, insbesondere durch Gadamer, beanstandet, dass Denken stets relativ gedacht werden muss, es ist stets an philosophisch aufklärbare Voraussetzungen gebunden, die auch aufgeklärt werden können usw, es eröffnet sich ein infi73 niter Regress. Des Weiteren ist es einerseits nicht-möglich, dass das empirische Bewusstsein von der intersubjektiv vermittelten Wirkung der historisch konditionierten Tradition durch die Epoché „gereinigt“ wird und andererseits ist der Sinn, der den Phänomenen gestiftet wird, stets an Sprache gebunden und unterliegt einem historischen Transformationsprozess. 2.4.3. Die sozialwissenschaftliche Relevanz der phänomenologischen Reduktion Nichtsdestoweniger ist, so Eberle, der Versuch sinnvoll (vgl. Eberle, 1984, S. 162), mittels der phänomenologischen Methode einerseits die implizierten Voraussetzungen der noetischen Komponente unserer Wahrnehmungs- und Bewusstseinsakte (bzw. -operationen) zu explizieren und andererseits die noematische Komponente (z.B. Thema und Horizont) der intentionalen Gegenstände, so wie sie uns als Phänomen erscheinen. Für die Sozialwissenschaften macht das Konzept der noematischen Analyse insofern Sinn, als dass es auf das Problem der Datenkonstitution (bzw Bedeutungskonstitution) aufmerksam macht. Schütz weist auf die Problematik der Adäquanz (Schütz, 1972a, S. 49) hin: wie die Typen der Lebenswelt adäquat mit wissenschaftlichen Typen zu vermitteln sind. Für die Konstruktion wissenschaftlicher Modelle heißt das, dass die in der Lebenswelt von einem Individuum ausgeführte Handlung, die mit der idaltypischen Konstruktion übereinstimmt, im Rahmen des alltäglichen Denkens sowohl für den Handelnden selbst, als auch für seine Mitmenschen verständlich sein muss. Ist dies der Fall, dann ist die Konsistenz der alltäglichen mit den wissenschaftlichen Konstruktionen garantiert (vgl. Schütz, 1971aa). Entsprechend kann in der Heuristik versucht werden Noema und Noesis auseinander zu halten, obwohl sie eine intentionale Einheit sind; dies nötigt dem Körper des Wissenschaftlers allerdings, aber konsequent, Kreativität ab. 3. Die Lebenswelt in natürlicher Einstellung Schütz übernimmt von Husserl nicht das Konzept der transzendentalen Intersubjektivität (vgl. I. 2.4.2.1. dieser Arbeit). Er orientiert sich an dem, was Husserl in erster deskriptiver Charakteristik „’die Welt der natürlichen Einstellung’ genannt hat. Hierunter versteht Husserl die Welt, in der wir uns in jedem Augenblick unseres Lebens befinden, und zwar ist diese Welt so und nur so zu nehmen, wie sie sich uns in unserer alltäglichen Erfahrung darbietet.“ (Gurwitsch, 1971, S. XV) „Ganz bewusst verharrte er in der ‚natürlichen Einstellung’, wie es Husserl nannte, das heißt, er stellt keine auf transzendentale Konstitution bezüglichen Fragen und 74 verfolgte seine phänomenologischen Analysen innerhalb des Rahmens der ‚natürlichen Einstellung’.“ (ebd. S. XIX) Schützens Grundbegriffe seines Konzeptes der Lebenswelt sind räumliche-, zeitliche-, soziale Aufschichtungen und der subjektive Wissensvorrat.4 Die Orientierung im Raum unterteilt sich in das, was aktuell wahrgenommen wird, was in aktueller Reichweite liegt und das, was außerhalb der aktuellen Wahrnehmung liegt, was in potentieller Reichweite liegt. Vieles von letzteren liegt in der Vergangenheit und somit in wieder herstellbarer Reichweite. Der lebensweltliche Raum ist also durch zwei Idealisierungen, die Leistungen der husserlschen Intentionalität, also des Bewusstseins sind, organisiert: einerseits durch die Idealisierung „Und So Weiter“ - dieser liegt die Grundannahme zugrunde, dass die Welt konstant sei - und andererseits durch die Idealisierung „Ich Kann Immer Wieder“. Diese bezieht sich auf die „typischen“ Erfahrungen, die von der Welt gemacht worden sind und sich dann im subjektiven Wissensvorrat sedimentiert haben. Noch nie in aktueller Reichweite ist die Welt der zukünftig erlangbaren Reichweite. Die Welt in unerlangbarer Reichweite ist eine individuell unterschiedliche Restgröße. Die Organisation des Raums ist die Leistung der Intentionalität, die sich auf Grund unseres Wissensvorrats konstituiert. Sie impliziert schon die Zeitlichkeit der Lebenswelt, deren Ordnung in gleicher Weise auf der Leistung der Intentionalität basiert. Zu unterscheiden ist die innere Zeitlichkeit des Bewusstseinserlebens, die subjektive Zeit, von der lebensweltlichen Zeit. Diese bildet sich in der Überschneidung der subjektiven Zeiten, aber auch in der biologischen Zeit und der kalendarischen sozialen Zeit. Letztere erlaubt, dass die subjektive Zeit unterschiedlicher Individuen miteinander abgestimmt werden kann. Schütz führte, um das Fremdverstehen der Individuen analysieren zu können, die „Generalthesis des alter-ego“ ein, da Husserl eine transzendentalphänomenologische Begründung der Intersubjektivität nicht geleistet hatte. Gegebenheit und Gleichgeartetheit der Menschen wird von ihm als Selbstverständlichkeit hingenommen. Verständigung zwischen einzigartigen Subjekten sei möglich, denn würden diese ihren Standpunkt vertauschen, würden sie das Gleiche erfahren. Für praktische Zwecke sind die unterschiedlichen biographischen Situationen der Subjekte irrelevant. Handlung und Verständigung ist ohne weitere Absprache möglich, da wir so tun, als ob unsere Relevanzsysteme kongruent seien. 4 Im Folgenden beziehe ich mich auf Schütz/Luckmann, 1994, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1 75 3.1. Intersubjektivität – die Generalthese des alter ego und die Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme sowie die Idealisierungen des „Und-So-Weiter“ und des „Ich kann immer wieder“ Wir erleben uns und andere als gleich, nämlich als Lebewesen, die eine Seele haben, und nehmen dies als gegeben hin (Generalthese des alter ego). Wie können wir uns jedoch mit dem anderen verständigen, wo jeder doch ein einzigartiges Leben lebt? Schütz stellt für die Beantwortung dieser Frage die Generalthese der wechselseitigen Perspektive auf. Diese enthält zwei Generalisierungen: „Erstens die Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte. Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich. Zweitens die Idealisierungen der Kongruenz der Relevanzsysteme. Ich und er lernen es als gegeben hinzunehmen, dass Unterschiede der Auffassung und Auslegung, die sich aus der Verschiedenheit meiner und seiner biographischen Situation ergeben, für seine und meine, für unsere gegenwärtigen praktischen Zwecke irrelevant sind, dass ich und er, dass wir so handeln und so verständigen können, als ob wir die aktuell und potentiell in unserer Reichweite stehenden Objekte und deren Eigenschaften in identischer Weise erfahren und ausgelegt hätten. Und – dies kommt hinzu und verbindet sich mit den Idealisierungen des ‚Und So Weiter’ und des ‚Ich Kann Immer Wieder’ – wir lernen, als gegeben hinzunehmen, dass wir grundsätzlich auf diese Weise fortfahren können: dass also nicht nur unsere schon gemeinsam erfahrene Welt sozialisiert ist, sondern dass meine noch erfahrbare Welt prinzipiell sozialisierbar ist.“ (Schütz/Luckmann, 1994, S. 88f) Die beiden Idealisierungen „Und So Weiter“ und „Ich Kann Immer Wieder“ sind Leistungen der Intentionalität, die sich aufgrund unseres Wissensvorrats sedimentierter typischer Erfahrungen konstituieren. Sie beziehen sich also auf den Raum, der sich einerseits in wiederherstellbarer Reichweite befindet, also in der Vergangenheit in aktueller Reichweite war, und sich andererseits in erlangbarer Reichweite, also in der Zukunft befindet, also noch nicht in aktueller Reichweite war, aber in unsere Reichweite gebracht werden kann. Entsprechend gibt es auch Räume in unerreichbarer Reichweite; wir können also in gleicher Weise fortfahren. Diese beiden Idealisierungspaare („Und So Weiter“ / „Ich Kann Immer Wieder“ und „Vertauschbarkeit der Standpunkte“ / „Kongruenz der Relevanzsysteme“) verbinden sich miteinander zur Generalthese der wechselseitigen Perspektiven. Neben der sozialisierten, gemein76 sam erfahrenen Welt ist auch die subjektiv noch erfahrbare Welt sozialisierbar. Für Schütz ist Kommunikation, i.S.v. Intersubjektivität (mit der er versucht die Phänomenologie und die Sozialwissenschaften zuverbinden), ohne diese lebensweltlichen Idealisierungen nicht möglich. Die Idealisierungen ermöglichen überhaupt erst „die soziale Ausbildung und sprachliche Fixierung von Denkobjekten (Whiteheads objects of thought)“ (ebd. S. 89) (Schütz bezieht sich auf Alfred North Whitehead, Process and Reality, 1969, S. 67). Die Denkobjekte sind aber nicht das Ergebnis eines Sozialvertrags, sie werden vielmehr vom Einzelnen, der in eine konkrete geschichttliche Situation hineingeboren wird, in der Sprache vorgefunden. Die konkrete empirische Ausformung der Idealisierungen fällt nichtsdestoweniger im Allgemeinen unterschiedlich aus (vgl. I. 4. dieser Arbeit). Räumliche und zeitliche Ordnung wirken sich auf die Sozialität aus. Den nachhaltigsten Einfluss auf subjektives Erleben hat die unmittelbare Erfahrung der Interaktion mit Mitmenschen. Entsprechend stufen sich die Beziehungen zwischen Menschen nach Intimität bzw. Anonymität ab. Mittelbare Erfahrungen über Personen, von denen gewusst wird, dass es sie gibt, die entsprechenden Subjekte aber unbekannt sind, werden in Form von Typisierungen im Wissensvorrat konstituiert. In der sich in der Interaktion konstituierenden Wir- Beziehung bildet und bestätigt sich kontinuierlich die Intersubjektivität der Lebenswelt. Die latente Funktion der Interaktion ist es sich die implizierte Realität der Welt und eine gemeinsame Sichtweise zu bestätigen. 3.2 Selbstauslegung Intersubjektivität betrifft die Problematik des Fremdverstehens. Husserl konnte keine transzendentalphänomenologische Begründung des Problems der Intersubjektivität, also wie sich im Bewusstsein egos ein alter-ego konstituiert, liefern. Als Schütz 1932 sein Buch „der sinnhafte Aufbau“ geschrieben hat, setzte er, noch im Vertrauen darauf, dass diese Begründung Husserl gelingen würde, an diese Leerstelle das Modul der „Generalthesis des alter-ego in der natürlichen Anschauung“ ein. In der Lebenswelt, so Schütz, ist es ein nicht weiter zu hinterfragender Umstand, dass die Mitmenschen ein Bewusstsein haben. Mit der Hoffnung, dass Husserl dieses Problem lösen würde, verband Schütz, dass die Phänomenologie die Voraussetzung für eine philosophische Begründung für die Sozialwissenschaften liefern könnte. Nachdem Husserl versucht hatte, dieses Problem zu lösen, erkannte Schütz (vgl. I. 2.4.2.1. dieser Arbeit), dass Husserls Analyse mangelhaft ist und meldete erhebliche Zweifel an dessen Lösungsansatz an. 77 Wir gehen erst einmal davon aus, dass jedes Bewusstsein die gleichen Urformen oder Mechanismen hat. Was für das Bewusstsein von ego gilt, gilt dann auch für das Bewusstsein von alter-ego. Wir setzen uns daher erst einmal mit der Selbstauslegung des Subjekts auseinander (vgl. Schütz, 1974, Zweiter Abschnitt). Hier geht es also um Erlebnis und Handlungssinn in Selbstauslegung: Wie erwähnt, unterteilt Schütz Webers Handlungsbegriff. Hier geht es nun darum, wie sich Sinn im individuellen Bewusstsein konstituiert. Schütz stützt sich dabei auf Husserls phänomenologische Reduktion. 3.2.1. Erleben Sinn konstituiert sich auf der Basis subjektiv erlebter Zeit, die von der Intersubjektiven Standardzeit getrennt ist (unterschiedliche Rekursivität). Das Trennen des Bewusstseins von der subjektiven Zeit ist nach Bergson dem Bewusstsein fremd, es ist eine künstliche Übertragung von zeitlichen Vorstellungen. Altern, so Schütz, erleben wir nicht in der subjektiven Zeit, sondern erst wenn wir uns diesem in der Reflexion zuwenden. Husserl hält fest, dass das Erleben ein Erleben von etwas ist, das Erleben selbst entgeht dem Bewusstsein. Das Erlebnis ist phänomenal und kann erst im Nachhinein zu einem intentionalen Phänomen gemacht werden, kann erst hier als sinnhaft gesehen werden. Die Reflexion muss sich aber nicht auf vergangene, sondern kann sich auch auf zukünftige Ereignisse richten. An die Impression schließt sich unmittelbar die Retention, ein Noch-Bewusstsein des gerade Erlebten, an. Hiervon zu unterscheiden ist die Reproduktion. Reproduktion, das heißt Widererinnerung, ist ein eigenständiger Bewusstseinsakt. Reproduziert werden können einzelne oder miteinander verwobene Erlebnisse. Erst die Reproduktion kann ein Erlebnis mit Sinn verbinden. Die auf die Zukunft bezogene Protention knüpft auch an die Impression an: Es wird erwartet, dass etwas kommt; was kommt, bleibt unbekannt. Inhaltlich gefüllt wird dies mit der Vorerinnerung, in der künftige Erlebnisse als sinnhaft vorgestellt werden; auch dies kann sich auf ein einzelnes Erlebnis oder auf mehrere miteinander verflochtene Erlebnisse beziehen. Der sich so konstituierende Sinn wird, je nachdem welche Aufmerksamkeit den Erlebnissen zuteil wird, noetisch modifiziert und entsprechend ändert sich auch das Noema des Erlebnissinns. Das pragmatische Interesse regelt die Intensität und die zeitliche Spanne der Sinnkonstitution. Bei dieser Regelung (der Re-Produktion) können vormals miteinander verwobene Erlebnisse als ein Erlebnis gefasst werden, dieses Erlebnis kann dann wieder mit anderen Erlebnissen verwoben werden usw. Der monothetische Sinnzusammenhang ist die synthesierende Beobachtung dieser jeweils polythetisch gegliederten Ereignisse. Die Sinnzusammenhän78 ge, die das Subjekt konstituiert, ergeben sich aus dem Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Das einzelne, akute Erlebnis erhält seinen Sinn, indem es via Re-Produktion in diesen Zusammenhang eingeordnet wird. 3.2.2. Handeln Verhalten im Gegensatz zur Passivität ist intentional. Verhalten ist in Retention und Protention eingelagert. Dasselbe gilt für das Handeln. Handeln sei, so Schütz, im Gegensatz zum Verhalten entworfen (geplant); es enthält zumindest ein Um-Zu-Motiv, das den daran anschließenden Handlungen Sinn verleiht. Handeln kann in den noch weiteren Sinnzusammenhang der Weil-Motive gestellt werden, also das Warum-ich-etwas-entworfen-habe. Daher sind Verhalten und Handlungssinn immer subjektiv und relativ, auch wenn sie in retrospektiver oder prospektiver Reflexion entworfen sind. Handlungssinn ist identisch mit den Um-ZuMotiven. Die Sinnauslegung ist relativ zum Zeitpunkt. 3.3. Fremdverstehen Beim Fremdverstehen geht Schütz davon aus, dass das Bewusstsein des anderen unter den gleichen Bedingungen Erlebnisse erlebt wie wir selbst (Schütz, 1974, Dritter Abschnitt). Das Fremdverstehen, das Verstehen des anderen, bezieht sich auf Erfahrungen, die wir mit den anderen gemacht haben; es sind nicht seine Erfahrungen. Der immanente, unbezweifelbare Akt des eigenen Erlebens unterscheidet sich vom transzendenten Akt, welcher prinzipiell bezweifelbar ist. Zeichen haben intersubjektive Bedeutung, sie gehören einem expliziten Zeichensystem an. Zeichen repräsentieren das Bezeichnete. Zeichen haben Bedeutungsfunktion; der objektive Sinn dieser Deutungsschemata ist invariant. Der subjektive Sinn variiert in der konkreten Anwendungssituation. Die okkasionelle Bedeutung (die dem Zeichen aus dem Zusammenhang erwächst) ergibt sich aus dem Zusammenhang, aus dem sie aber auch gerissen werden kann. Benutzen wir Zeichen, haben wir die Absicht etwas kundzutun; es handelt sich um Ausdruckshandeln, das, so Schütz, ein Um-Zu-Motiv enthält. Empirisch schwer zu unterscheiden ist der Unterschied zwischen spontanen Ausdrucksbewegungen und beabsichtigt kalkulierten Ausdruckshandlungen, dem so genannten „Impression Management“ (Goffman, 2001), das spontanes Engagement vorgaukelt. 79 In Interaktionen werden, so Schütz, die als sinnvoll gesetzten Akte, die wieder aus mehreren miteinander verwobenen Erlebnissen bestehen können, als ein Erlebnis gedeutet. Der Sinn wird gesetzt in Vorerinnerung der Deutung durch den anderen. Der Deutende kann nun nach dem Entwurf des gesetzten Sinns, den Weil-Motiven, fragen, die der Setzende im Akt der Setzung nicht im Blick hat. Echtes Fremdverstehen, das sich für den subjektiv gemeinten Sinn der Objektivation interessiert, fragt nach der Verwobenheit der vom Subjekt erlebten Erlebnisse, die zum Entwurf geführt haben und deren Produkt die Setzung ist. Der objektive Sinn ist somit als fertig konstituierter Sinnzusammenhang zu verstehen, der als solcher selbst unpersönlich ist. Der objektive Sinn ist mit anderen Worten der sozial gültige (vergesellschaftete) Sinn. Demgegenüber besteht der subjektive Sinn aus jenem Sinnzusammenhang, der sich im Bewusstsein bezüglich der Objektivation gebildet hat. Das Problem des Fremdverstehens ist damit aber noch nicht gelöst; es wird maßgeblich beeinflusst von den „Strukturen der Lebenswelt“ (vgl. Schütz/Luckmann, Band 1 - 1994 und Band 2 - 1984). Das Fremdverstehen wird also beeinflusst von der empirisch gegebenen Intersubjektivität. Die Beziehung zwischen Deutendem und Gedeutetem formt sich somit jeweils nach der jeweiligen räumlichen und zeitlichen Distanz und der jeweiligen Typik und Relevanz. 3.4. Die intersubjektive Integration von räumlichen, zeitlichen und sozialen Aufschichtungen der Lebenswelt durch sprachlich generierte Typen (Zur Ausgangslage der Wissenssoziologie5) Die Wissenssoziologie hat den Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu untersuchen (Berger/Luckmann). Wirklichkeit wird als Qualität von Phänomenen definiert, und Wissen wird definiert als „die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“ (Berger/Luckmann, 1999, S.1). Die Wissenssoziologie hat die Aufgabe die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren, so Berger/Luckmann. Hierbei geht es aber nicht mehr darum, Ideologien und Weltanschauungen in den Mittelpunkt zu rücken, sondern Wissen im Horizont des Problems der Wahrheit und nicht an dem Problem des (ideologischen) Irrtums zu thematisieren. Berger/Luckmann halten am schützschen Konzept der Intersubjektivität fest; im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird Wissenssoziologie in einer evolutionstheoretischen Perspektive thematisiert, die aber im Gegen5 Wissenssoziologische Überlegungen haben in dieser Arbeit eine ausschlaggebende Bedeutung, insbesondere in V. dieser Arbeit werden wir auf die Wissenssoziologie, wenn auch in einer veränderten Perspektive (vgl. hierzu insbesondere a. II. 2.1.2. dieser Arbeit), zurückkommen. Die anschließenden Ausführungen (I. 3.4.2. dieser Arbeit) beziehen sich auf Berger/Luckmann (1999), eine ausführlichere Version findet sich in Schütz/Luckmann (1994). 80 satz zu der nun vorgestellten Wissenssoziologie auf das Konzept der Intersubjektivität gänzlich verzichten kann. „Von Marx kommt die Ausgangsvorstellung der Wissenssoziologie: dass das Bewusstsein des Menschen durch sein gesellschaftliches Sein bestimmt wird. Begreiflicherweise ist viel darüber gestritten worden, was für eine Determination Marx dabei im Sinn hatte“ (ebd. S. 5f). „Wie dem auch sei: Von Marx hat die Wissenssoziologie nicht nur die schärfste Formulierung ihres zentralen Problems, sondern auch einige ihrer zentralen Begriffe, darunter zum Beispiel den der ’Ideologie’ (Ideen, die als Waffen für gesellschaftliche Interessen wirken) und den des ‚falschen Bewusstseins’ (Denken, das dem gesellschaftlichen Sein des Denkenden ‚entfremdet’ ist).“ (ebd. S. 6) Die Wissenssoziologie übernimmt von Marx den kommunikationsdesigntheoretischen Unterschied zwischen Basis und Überbau: „Was Marx beschäftigt hat, ist, dass menschliche Gedanken sich auf menschliche Tätigkeiten (‚Arbeit’ im weitesten Sinne des Wortes) gründen und damit auch auf die gesellschaftlichen Gebilde, welche durch diese Tätigkeit entstehen. Man begreift ‚Basis’ und ‚Überbau’ am ehesten, wenn man sie als dauernde Wechselwirkung zwischen menschlicher Tätigkeit und der Welt sieht, die eben durch diese Tätigkeit hervorgebracht wird.“ (ebd.) Mit den Neuformulierungen Karl Mannheims entsteht die Wissenssoziologie im engeren Sinne. „Bei ihm bestimmt die Gesellschaft nicht nur die Erscheinung, sondern auch den Gehalt menschlicher Gedanken - mit Ausnahme der Mathematik und zum Teil auch der Naturwissenschaften.“ (ebd. S. 10) Mannheim beschäftigt sich vor allem mit dem Phänomen der Ideologie. Er unterscheidet zwischen einem partikularen, einem totalen und einem allgemeinen Ideologiebegriff. Seine These ist, dass kein menschlicher Gedanke „immun ist gegen die ideologisierenden Einflüsse des gesellschaftlichen Gebildes, zu dem er gehört.“ (ebd. S. 11) Ideologie galt und gilt auch heute noch als ein grundlegendes erkenntnistheoretisches und historisch-analytisches Problem. Mannheim glaubte, dass das Transzendieren enger gesellschaftlicher Grenzen ein schichtenspezifisches Problem sei, dessen Lösung in der „frei schwebenden Intelligenz“ läge. In den USA. beschäftigte sich Merton als erster mit der Wissenssoziologie mannheimscher Prägung. Er versuchte sie mit Struktur- und Funktionstheorie abzustimmen. Er prägte die Begriffe manifeste (bewusste Funktion von Gedanken) und latente (unbewusste Funktion von Gedanken) Funktion. Auch Parsons beschäftigte sich in Form einer Kritik an Mannheim mit Wissenssoziologie. 81 Berger und Luckmann orientieren sich an dem Soziologen Werner Stark. Er thematisiert das Wissen selbst im Horizont des Problems der Wahrheit und nicht an dem des Irrtums. Insgesamt habe sich die Wissenssoziologie, da sie sich am Horizont (ideologischer) Irrtümer orientierte, „auf theoretischen Boden für erkenntnistheoretische und auf empirischem für geistesgeschichtliche Fragen interessiert“ (ebd. S. 14). Das eigentliche theoretische Potential der Wissenssoziologie wurde daher übersehen. 3.4.1. Die Struktur der Typisierungen des alltäglichen Denkens und deren Bestimmung der Distribution des Wissens Erkenntnistheoretische Probleme, etwa: „Wie kann ich etwas beobachten, an dem ich selbst teilnehme?“, sind methodologischer, also philosophischer Natur. Sie sind bei soziologischen Analysen auszuklammern, stellen aber deren Basis dar. Entsprechend wird hier theoretische Soziologie betrieben, die nichts mehr mit Mannheim u.ä. zu tun hat. „Die Wissenssoziologie muss sich mit allem beschäftigen, was in der Gesellschaft als ‚Wissen’ gilt.“ (Berger/Luckmann, 1999, S. 16) Hierunter fallen auch Ideologien. Auch theoretisches Wissen muss vor dem Hintergrund eines allgemeinen, umfassenderen (lebensweltlichen) Wissens gesehen werden. Das Lebensweltwissen ist das Thema der Wissenssoziologie, dieses Wissen „bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe. (...) Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist also der Gegenstand der Wissenssoziologie“ (ebd.). Wobei es dann (erst dann!) auch um theoretische Konstruktionen geht. Alfred Schütz hat sich selbst nicht als Wissenssoziologe ausgewiesen, wusste aber worum es geht: „Alle Typisierungen im Alltags-Denken sind als solche integrierende Elemente der konkreten historisch sozio-kulturellen ‚Lebenswelt’ und beherrschen sie, weil sie als gesichert und gesellschaftlich bewährt erlebt werden. Ihre Struktur bestimmt unter anderem die gesellschaftliche ‚Distribution’ von Wissen und dessen - beziehungsweise deren - Relevanz und Relativität zur konkreten gesellschaftlichen Umwelt einer konkreten Gruppe in einer konkreten historischen Situation. Hier liegen die legitimen Probleme des Relativismus, des Historismus und der so genannten Wissenssoziologie.“ (Schütz, 1962, S. 149, zitiert nach Berger/Luckmann 1999, S. 17) „Wissen wird durch die Gesellschaft verteilt und zugemessen, und die Mechanismen dieser ‚Distribution’ kann man zum Hauptinhalt einer Wissenschaft machen. Gewiss, wir haben die so genannte Wissenssoziologie. Aber die fälschlich so benannte Disziplin hat - mit wenigen 82 Ausnahmen - das Problem der ‚Distribution’ von Wissen in der Gesellschaft nur im Blick auf die ideologischen Grundlagen der Wahrheit beziehungsweise der Abhängigkeit der Wahrheit von gesellschaftlichen und besonders von ökonomischen Bedingungen gesehen - oder auch als gesellschaftliche Problematik von Bildung und Erziehung - oder sie hat nach der Rolle der Gelehrten in der Gesellschaft gefragt. Nicht die Soziologen, sondern Nationalökonomen und Philosophen haben einige unter vielen anderen Aspekten des Problems zu Diskussion gestellt.“ (Schütz, 1964, S.121, zitiert nach Berger Luckmann 1999, S. 17)) Im Anschließenden geht es uns um die (philosophischen) Grundlagen des Wissens in der Lebenswelt. Max Webers ‚subjektiv gemeinter Sinn’ ist ein „konstituierender Faktor für gesellschaftliche Wirklichkeit“ (ebd. S. 18). „Erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (führt) zu ihrem Verständnis“. (ebd. S. 20) 3.4.2. Die Wirklichkeit der Lebenswelt - soziale, räumliche und zeitliche Aufschichtungen Es geht hier um das Wissen, das das Verhalten in der Lebenswelt reguliert beziehungsweise kontrolliert. Hier geht es zunächst um das philosophische Problem des Wesens der Wirklichkeit, welches den Ausgangspunkt soziologischer Forschung darstellt. Die Lebenswelt ist nicht nur Hintergrund des ‚subjektiven’ Sinns des Lebens, sondern sie ist gleichzeitig das Produkt von Gedanken und Handeln von „Jedermann/ -frau“. Es geht hierbei um die „Objektivation (Vergegenständlichung) subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die intersubjektive Welt entsteht“ (Berger/Luckmann, 1999, S. 22). Objektivationen stellen hier den Bestand der Lebenswelt dar. Entsprechend wird Bewusstsein als intentional, als sinnhaft auf ein Objekt gerichtet verstanden. Hierbei kann zwischen einem äußerem, auf die physische Welt, und einem innerem, auf die subjektive Wirklichkeit Gerichtetsein unterschieden werden. Zwischen der Wirklichkeit selbst kann unterschieden werden, zum Beispiel zwischen Lebenswelt und Traumwelt. Das Bewusstsein ist in der Lage seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Wirklichkeiten zu richten. Die Lebenswelt ist die dominante Wirklichkeit, da sie gegenwärtig ist, kann sie nicht ignoriert werden, sie beherrscht unsere „natürliche“ Einstellung. Die Lebenswelt und die Ordnung ihrer Objekte sind schon vor unserer Geburt vorhanden, sie werden durch Sprache festgelegt. 83 3.4.2.1. Routinewelt Die Lebenswelt bettet mich im „Hier“ meines Körpers und im „Jetzt“ meiner Gegenwart ein, sie umfasst aber auch Phänomene, die in unterschiedliche Graden nicht im „Hier und Jetzt“ gegenwärtig sind. Die Welt der Arbeit, also die, die uns körperlich zugänglich ist, ist „meine Welt par exellence“ (ebd. S. 25). Andere Weltzonen sind uns durchaus bewusst, aber wir pflegen kein pragmatisches Interesse ihnen gegenüber. Intersubjektivität trennt die Lebenswelt von anderen Wirklichkeiten, deren wir uns bewusst sind. Die Lebenswelt ist für uns alle gleich wirklich. Diese Wirklichkeit ist die des Aushandelns und Verständigens mit (anwesenden?) anderen. Wir nehmen alle die gleichen Objektivationen, die die Welt regulieren, wahr. Wir ordnen unser Leben um das „Hier und Jetzt“ und entwerfen von hier aus Projekte. Unser Wissen und das der anderen sind zwar nicht identisch, aber unsere Korrespondenz über diese Welt dreht sich um die Routinen der gemeinsamen Lebenswelt. Um in dieser Routinewelt leben zu können müssen wir Zweifel an ihr ausschalten; wollen wir zweifeln, muss eine Grenze überschritten werden. „Die Wirklichkeit der Alltagswelt umfasst problematische und unproblematische Ausschnitte, solange das, was als Problem auftaucht, nicht einer ganz anderen Wirklichkeit angehört (der der theoretischen Physik etwa oder der der Alpträume). Solange die Routinewirklichkeit der Alltagswelt nicht zerstört wird, sind ihre Probleme unproblematisch.“ (ebd. S. 27) Im Verhältnis zur Lebenswelt erscheinen andere Wirklichkeiten als fest umgrenzte (markierte) Sinnprovinzen (-enklaven, zum Beispiel Kunst und Religion), aus denen wir immer wieder in die Lebenswelt zurückkehren. Die geschlossenen Sinnstrukturen der Enklaven lenken unsere Aufmerksamkeit von der Lebenswelt ab. Die Rückkehr in die Lebenswelt ist durch Sprache bedingt, denn die Objektivationen, auf denen unsere Erfahrungen basieren, gehören der Lebenswelt an, in der wir, wenn wir zwangsläufig wieder in sie zurückgekehrt sind, unsere Erlebnisse, die wir in der Enklave erlebt haben, erzählen beziehungsweise interpretieren. 3.4.2.2. Intra- und intersubjektive Zeit Berger/Luckmann meinen, dass die räumliche Struktur der Lebenswelt ziemlich nebensächlich sei6, Zeitlichkeit hingegen nicht. Es gilt zwischen der intrasubjektiven Zeit des Körpers des Individuums, der Zeit seiner physiologischen Rhythmen und der intersubjektiven Zeit der Lebenswelt, deren Eigen- beziehungsweise Standardzeit, zu unterscheiden. Diese Ebenen sind 6 Schütz meint dies nicht (siehe dazu auch, im Anschluss an Flusser, Kamper, 2001). 84 nie völlig miteinander abgestimmt, wie wir am Phänomen des Wartens ablesen können, wobei wir sowohl auf körperliche als auch auf gesellschaftliche Ereignisse warten können. Da die Abstimmung zwischen den Ebenen so kompliziert ist, bedarf es des Konzepts Überbau und Basis (So kompliziert, weil zwischenmenschliche Interaktion als Möbiusband zu verstehen ist; da dies zu komplex ist um damit etwas anfangen zu können, betrachten wir Interaktion mit einer hierarchisierenden Vorstellung). Die Lebensweltzeit ist für uns eine soziale Tatsache, dass heißt ein durch menschliches Handeln erzeugtes Ereignis, die unsere Existenz reguliert. Die Durchführung unserer Projekte bedarf Zeit. Da die Lebenszeit begrenzt ist, hat diese einen Einfluss auf unsere Einstellung zu den Projekten, die wir durchführen beziehungsweise, auf Grund von knapper Zeit, nicht durchführen. Weil wir wissen, dass unsere Lebenszeit knapp ist, da sie vom Tod begrenzt ist, ist unser Handeln mit Angst infiziert. Die Zeit, die wir mit dem Phänomen des Wartens verbringen, wird umso gepresster, je mehr sich die Zeit als Grenze zwischen die Projekte, die wir zur Verwirklichung unserer Wünsche betreiben, und uns schiebt. Diese Struktur der Zeit gibt unserem Leben einen zwanghaften Charakter; dieser macht sich durch ein gesellschaftliches Milieu aus Karriere und Geschäft bemerkbar, in dem wir interagieren. Durch intersubjektive Zeitzwänge wird die Lebenswelt Wirklichkeit. 3.4.2.3. Gesellschaftliche Interaktion in der Lebenswelt - Typifizierung und die Wahrnehmung der anderen Wir erleben die anderen in der Lebenswelt in Vis-a-Vis-Situationen. Sie ist der Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktionen. Das „Hier und Jetzt“ der Anwesenden fällt zusammen, wir orientieren uns reziprok aneinander, wir befinden uns in größtmöglicher Nähe zueinander. Die anderen sind Teil der Wirklichkeit der Lebenswelt. In diesen Situationen ist der andere uns auf gewisser Weise näher als ich mir selbst, denn wir müssten uns erst auf unsere Vergangenheit konzentrieren, die mir gegenwärtig nicht präsent ist (anders: aufgrund meiner Vergangenheit komme ich überhaupt erst physisch in diese Situation), der andere ist mir jedoch gegenwärtig präsent. Das, was die anderen sind, nehmen wir in der Gegenwart in der Interaktion wahr, das, was wir sind, nicht. Die Reflexion auf uns selbst wird veranlasst durch das Verhalten der anderen, dass durch unser Verhalten provoziert worden ist. Die Wahrnehmung der anderen ist vorgeprägt durch unsere Orientierung an Typen. Dementsprechend ist unser Verhalten in Vis-a-Vis- Interaktionen durch Typen geleitet, solange die anderen uns keinen Anlass geben, uns an ihnen als Individuen zu orientieren. Orientieren wir uns an diesen, werden die Typen reziprok revidiert und modifiziert - dann werden die Typen 85 sozusagen interaktiv verhandelt. Je weiter sich unsere Interaktion von der Vis-a-Vis-Situation entfernt, desto anonymer ist sie. In der Vis-a-Vis-Interaktion zerbricht die anonyme Typifizierung und die anderen werden zu a-typischen Individuen. Wir erfahren andere also entweder indirekt als Zeitgenossen oder direkt als anwesende andere. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen differiert nach der Wahrscheinlichkeit der Begegnung. Die Anonymität variiert je nach Interesse und Intimität beziehungsweise nach Formalität und Informalität, die wir den anderen gegenüber pflegen. Totale Anonymität liegt vor, wenn wir die anderen nur durch massenmediale Typifizierung wahrnehmen. Letztlich sind Vor- und Nachfahren andere, wobei „es sich bei Nachfahren um substanzarme Projektionen“ (Berger/Luckmann, 1999, S. 36) handelt. 3.4.3. Sprache und Wissen in der Lebenswelt Objektivationen sind manifeste Elemente der Welt der Menschen, die diese Elemente produzieren und reproduzieren. Sie werden als Ausdruck subjektiver Empfindungen reproduziert. Gefühle sind in der Vis-a-Vis-Situation permanent wahrnehmbar, sie überdauern diese aber nicht. Gefühle können jedoch vergegenständlicht beziehungsweise objektiviert werden. Solche Objektivationen können Bestandteil der Wirklichkeit werden, die wir mit anderen teilen, und drücken subjektive Intention aus. „Die Wirklichkeit ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich.“ (ebd. S. 37) Wir sind dauernd umgeben von Objekten, welche subjektive Intentionen unserer Mitmenschen ‚proklamieren’, obgleich wir uns manchmal nicht sicher sind, was ein bestimmter Gegenstand eigentlich ‚proklamiert’. Das gilt insbesondere dann, wenn er von Menschen stammt, die wir kaum oder gar nicht in Vis-a-Vis-Situationen erlebt haben. 3.4.3.1. Durch Sprache vorgeprägte Muster Zeichen sind Objektivationen, die im Gegensatz zu anderen Objektivationen auf subjektiv Gemeintes hinweisen. „Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft.“ (ebd. S. 39) Objektivationen behaupten sich in der Lebenswelt durch Versprachlichung. Sprache entspringt der Vis-a-Vis-Situation und wurde/wird in Schrift übertragen. Durch Sprache kann Sinn, Bedeutung und Meinung vermittelt werden. Sprache ermöglicht es, diese von der direkten Vis-a-Vis-Interaktion abzulösen, sie also in anderen Vis-a-Vis-Situationen, ohne die „ursprünglich“ Anwesenden, oder auch 86 durch Schrift zu reproduzieren. Wir können über etwas sprechen, was so nicht anwesend ist, oder über etwas, was wir selbst nicht erlebt haben. Sprache wirkt in der Vis-a-Vis-Situation reziprok, gesprochen wird synchron zur Intentionalität des jeweiligen Sprechers. Wir denken und sprechen alle in einem. Wir hören gleichzeitig, was die anderen über uns sagen, und wir hören uns selbst sprechen, wodurch das, was wir meinen, uns selbst zugänglich wird. „Das ‚gewährt’ uns ‚fortwährend’ gleichzeitig und wechselseitig Zugang zueinander als Subjekte eine intersubjektive Nähe, welche von keinem anderem Zeichensystem übertroffen werden kann.“ (ebd. S. 40) In dem Moment, in dem wir uns durch Sprache anderen zugänglich machen, werden wir uns selbst zugänglich. Sprache macht sozusagen das Subjekt möglich. Sprache zwängt uns in vorgeprägte Muster, versorgt uns mit „Vorfabrikationen für ständige Objektivation“ (ebd.). Unsere Erfahrungen werden durch Objektivationen ermöglicht, sprachliche Typisierungen erlauben es uns Erfahrungen Kategorien zuzuteilen, wodurch deren Sinn allen anderen vermittelbar wird. Sprache ermöglich es permanent spezielle Ereignisse unter eine allgemeine Sinnordnung zu subsumieren. Sprache transzendiert das „Hier und Jetzt“, wir können in unterschiedlichen Sequenzen mit anderen über unterschiedliche Sequenzen sprechen, wir überbrücken mit ihr unterschiedliche Zonen der Lebenswelt, die wir so zu einem sinnhaften Ganzen zusammenfügen. Mit Sprache können wir uns nicht nur körperlich Abwesendes vergegenwärtigen, sondern auch Vergangenes und Künftiges „imaginär projektieren“. Durch Sprache wird die Grenze zu Sinnprovinzen (-enklaven) überbrückbar. Solche Sinnüberbrückungen werden hier Symbole genannt, solche Symbole haben es ermöglicht ein Gebäude symbolischer Vorstellungen zu errichten (vgl. a. Sloterdijk, 1999). Solche Symbolsysteme sind Religion, Wissenschaft und Kunst, die auch umgekehrt, mittels Sprache, in die Lebenswelt zurückgeholt werden können. 3.4.3.2. Das gesellschaftlich vorfabrizierte Wissen um die Relevanzstrukturen der anderen „Sprache stellt semantische Felder oder Sinnzonen her.“ (Berger/Luckmann, 1999, S. 43) In solchen semantischen Feldern wird selektiv über Erinnern und Vergessen von Erfahrungen entschieden. Dieser Wissensvorrat wird „von Generationen zu Generation weitergegeben“ (ebd.). Unsere Interaktionen werden von diesem allgemeinen Wissen beeinflusst. Der allge- 87 meine Wissensvorrat der Gesellschaft ermöglicht es uns, uns in Situationen als Individuen in der Gesellschaft zu verorten. „Da Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt, im gesellschaftlichen Wissensvorrat an hervorragender Stelle.“ (ebd. S. 44) Dieses Rezeptwissen richtet sich auf praktische Zwecke; hierunter fällt auch das Wissen, das auf menschliche Beziehungen gerichtet ist, sofern wir unsere Routineprobleme mit diesem pragmatischen Wissen bewältigen können. Sofern wir unsere Routineprobleme mit Rezeptwissen bewältigen können, haben wir wenig Interesse über dieses Wissen hinauszugelangen. Der größte Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrates besteht aus solchem Rezeptwissen. Der gesellschaftliche Wissensvorrat ist nach Graden der Vertrautheit sortiert. Unser berufliches Wissen ist uns sehr vertraut, das anderer Berufswelten weniger. Die restliche Lebenswelt ist typisiert durch den vorfabrizierten Wissensvorrat der Gesellschaft. Unser Spezialwissen und das der anderen werden in den gesellschaftlichen Wissensvorrat eingespeist. „Solange mein Wissen befriedigend funktioniert, bin ich im Allgemeinen bereit, Zweifel an ihm nicht aufkommen zu lassen.“ (ebd. S. 45) Wir wissen beispielsweise, dass Geschäftsleute rücksichtslos sind und können dies über die Grenzen von Sinnprovinzen hinweg anstößig finden. Kehren wir aber in die Lebenswelt zurück, akzeptieren wir es wieder; funktioniert hingegen die Lebenswelt auf Grund solch anstößiger Praktiken nicht mehr, kommen ernsthafte Zweifel auf. Auch wenn die Lebenswelt nach Vertrautheit und Fremdheit geordnet ist, ist sie uns nicht transparent. Wir wissen nicht alles, was über und von der Wirklichkeit gewusst wird. Unser Wissen über die Lebenswelt ist daher nach Relevanzen gegliedert. Relevanzen ergeben sich einerseits unmittelbar aus praktischen Zwecken, andererseits aus unserer gesellschaftlichen Situation. Die Relevanzstrukturen anderer überschneiden sich mit den unserigen. Ein wichtiger Bestandteil des Wissens der Lebenswelt ist das Wissen um die Relevanzstrukturen anderer, die Grundstruktur der Relevanzen ist gesellschaftlich vorfabriziert. Das gesellschaftliche Wissen ist auf unterschiedliche Individuen verteilt, wir wissen nicht alles, was die anderen wissen, wir können aber wissen, welche Experten über problemspezifisches Wissen verfügen. Wir wissen also ungefähr, wie der gesellschaftliche Wissensvorrat verteilt ist. 88 4. Die Organisation des Wissens Hier geht es darum, wie der Sinn von Handlungen sich organisiert. Sinn ist ein Produkt des subjektiven Wissensvorrats und des subjektiven Relevanzsystems bzw. subjektiven Interesses. Die Typik und Relevanz des subjektiven Wissensvorrates, seine einzelnen Wissenselemente und deren Glaubwürdigkeit, Bestimmtheit und Verträglichkeit bzw. Widersprüchlichkeit sind einem permanenten Wandel ausgesetzt. Schütz hat seine weitergehenden Überlegungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen subjektivem Wissen und Interesse als vorläufig erachtet (Luckmann, 1982, S. 22), sie wurden daher erst nach seinem Tode veröffentlicht. Luckmann entwickelte die schützschen Überlegungen weiter (vgl. Schütz/Luckmann, 1994, S. 293ff). 4.1. Typ bzw. Deutungsmuster Menschen machen in Situationen Erfahrungen, die sich im Laufe der Zeit aneinander reihen. Diese Erfahrungen sind dem Bewusstsein nicht gegenwärtig; Erfahrungen bilden im Gedächtnis Sedimente, die mehr oder weniger korrekt dem Bewusstsein zugänglich sind. Jede Erfahrung ist einzigartig, ist aber dann durch Typisierung (Typ = Deutungsmuster) mit anderen Erfahrungen vergleichbar. Unter einem Typ ist „eine in vorangegangenen Erfahrungen sedimentierte, einheitliche Bestimmungsrelation“ (Schütz/Luckmann, 1994, S. 278) zu verstehen, mit der unterschiedliche lebensweltliche Erfahrungen in einen Sinnzusammenhang gestellt werden. Typisierung ist nicht an Sprache gebunden, es ist aber auch möglich durch Typisierung versprachlichte Erfahrungen in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Typisierung ist der Sprache vorgeordnet, mit anderen Worten ist Intelligenz die Vorraussetzung für Sprache. Wie wir aber aus eigenen Erfahrungen wissen, ist Typisierung eng an die Sprache gebunden. Denn erst eine ausdifferenzierte, intersubjektiv verständliche und miteinander abgestimmte Typenbildung der Sprache, die soziale Kommunikations- und differenzierte Bewusstseinsakte ermöglicht, erlaubt überhaupt erst die aktuelle Situation zu transzendieren. Letztlich erlauben also erst die sprachlich generierten Typen, die unterschiedlichen räumlichen, zeitlichen und sozialen Aufschichtungen der Lebenswelt zu überbrücken und sie, wie es Berger und Luckmann (1999) dargestellt haben, zu einem Zusammenhang (intersubjektiv) zu integrieren. Durch das Erlernen von Begriffen werden neue Wirklichkeitsbereiche zugänglich. Typisiert werden aber nicht nur Objekte, die wir direkt wahrnehmen, sondern auch das Wissen über Zusammenhänge zwischen Objekten können wir als komplexer strukturierte Wissensinhalte 89 in unserem subjektiven Wissensvorrat aufbauen. Wir wissen beispielsweise, wie wir mit anderen Menschen interagieren können. Dieses Wissen können wir aus direkter Erfahrung, durch die Vermittlung anderer oder durch (Massen-) Medien erwerben - Wissenserwerb ist aber immer an eine Erfahrungssituation gekoppelt. Wissen wird durch sprachliche Typisierungen oder Sozialisation erworben, ist also nach kulturspezifischen Relevanzen organisiert, nichtsdestoweniger ist es aber auch immer nach biographiespezifischen Relevanzen organisiert. 4.2. Biographiespezifisches Wissen und die Grundelemente des Wissens Alles, was wir selbst erfahren, glauben wir. Alles, was uns vermittelt wird, glauben wir, wenn es mit unseren bisherigen Erfahrungen stimmig ist und wenn wir dem Vermittler vertrauen. Von unserem subjektiven Relevanzsystem hängt es ab, wie weit wir unser Wissen ausdifferenzieren. Von unserem subjektiven Relevanzsystem hängt auch ab, unter welchen Umständen wir Widersprüchlichkeiten, die zwischen verschiedenen Wissenselementen im Laufe der Zeit auftreten können, hinnehmen oder sie in eine andere, in sich nicht widersprüchliche, konsistente, also glaubwürdige Beziehungsrelation umorganisieren. Neben dem spezifischen Wissensvorrat gibt es den der Grundelemente des Wissens. Unser Erfahrungshorizont basiert auf dem Wissen um räumliche, zeitliche und soziale (also ontologische) Strukturen der Lebenswelt, an denen wir uns orientieren. Ein weiteres Grundelement ist, dass wir uns immer in Situationen befinden, die sich aneinander reihen. Situationen sind zwar je nach Relevanzsystem interpretierbar, sind aber stets durch zwei Faktoren begrenzt: einerseits die transzendierende Weltzeit, in die unsere innere Zeitlichkeit (die ins Unendliche imaginieren kann) eingebettet ist, und andererseits die Strukturen der Lebenswelt, in die unsere Körper zwangsläufig eingefügt sind. Die Weltzeit erzeugt Widerstand gegenüber unserer immanenten inneren Zeit. Wir können nur von unserem Körper aus Erfahrungen machen. Zwischen dem spezifischen Wissensvorrat und den Grundelementen des Wissens gibt es noch das Routinewissen. Dieses Routinewissen ist in verschiedensten Situationen ‚griffbereit’ vorhanden. Routinewissen ist automatisch in Situationen und Handlungen impliziert, es muss nicht extra thematisiert werden. Neben Routine-Situationen finden wir auch problematische Situationen. Problematische Situationen müssen interpretiert werden, um in diesen zu einem sinnvollen Handeln zu finden. Problematisch können Routine-Situationen werden, wenn einzelne Elemente zu a-typischen werden (der Schnürsenkel reißt) oder wenn alle Elemente für uns neu sind. Selbstverständlich 90 legen wir problematische Situationen nicht nur auf Grund unseres vorhandenen Wissensvorrats aus, sondern wir sind auch in der Lage dazuzulernen. Wir lernen aber nicht nur auf Grund unserer individuellen Interpretationen, sondern auch auf Grund des in sozialen Situationen erfahrenen Wissens anderer Subjekte, die auch über einen jeweils biographiespezifischen Wissensvorrat verfügen. Daher sind neue Situationsdefinitionen und Typisierungen auch intersubjektiv erlernbar. 4.3. Relevanz Es gibt drei Typen von Relevanz, nämlich: thematische, Auslegungs- (bzw. Interpretations-) und Motivationsrelevanz. 4.3.1. Kongruenz Aufgrund unseres subjektiven Wissensvorrats unterstellen wir anderen, dass ihr Relevanzsystem sei mit dem unserigen kongruent sei. Der subjektive Wissensvorrat enthält „typisches Wissen um Biographie, Wissensstock und Relevanzstrukturen“ unserer Interaktionspartner. Je nach Intimität beziehungsweise Anonymität unterstellen wir, dass die Relevanzsysteme kongruent sind. Ist die Beziehung relativ intim, weiß ich etwas über die Inkongruenzen, ist sie relativ anonym, idealisieren wir die Kongruenzen, wobei diese Idealisierungen enttäuscht werden können. Ein Mindestmaß an Kongruenz muss allerdings gegeben sein, da wir uns sonst nicht sprachlich verständigen könnten. Nichtsdestoweniger brauchen sich die Interpretationen der Etwasse nicht zu decken. Ein mögliches Etwas ist, wie sich die Beziehung zwischen den Interaktionspartnern gestaltet hat. Das „Problem der Relevanz“ (Schütz): „nämlich die Tatsache, das Feld, Thema, Horizont und Relevanz in subjektiver Sicht (das heißt vom Blickwinkel des in Frage stehenden Subjekts aus) eine ganz andere Struktur aufweisen als in objektiver Sicht (das heißt vom Blickwinkel des Beobachters aus). Der Grund dafür liegt gerade in der kontrapunktischen Struktur unserer Persönlichkeit und unseres Bewusstseinsstromes. Da wir zugleich in mannigfachen Wirklichkeitsbereichen leben, in mannigfachen Bewusstseinsspannungen und Wissen der Attention á la vie, in mannigfachen Zeitdimensionen, die verschiedene Schichten unserer Persönlichkeit (oder verschiedene Grade der Anonymität und Vertrautheit) ins Spiel bringen, verweisen alle kontrapunktisch gegliederten Themen und Horizonte, die sich auf jene Persönlichkeitsbereiche (sogar einschließlich der Verhaltensmus- 91 ter des schizophrenen Ich) erstrecken, auf nur ein einziges Grundphänomen: das Wechselverhältnis der Relevanzstrukturen.“ (Schütz, 1982, S. 42) 4.3.2. Thematische Relevanzen Die thematischen Relevanzen machen ein Etwas, das zuvor eine unproblematische Vertrautheit in einem unstrukturierten Bewusstseinsfeld, im „undifferenzierten Feld“ (Schütz, 1982, S. 58) war, zu einem Problem. Durch die Problematisierung gliedert sich das Bewusstseinsfeld in Thema und Horizont. Einerseits kann die Umgliederung dadurch erzwungen werden, dass Unvertrautes im Vertrauten auftaucht. Andererseits kann sie auch sozial erzwungen werden, insofern handelt es sich bei beiden um „auferlegte Relevanzen“ (ebd. S. 59). Diese sind zu unterscheiden von freiwilliger Umgliederung, wenn wir dazu motiviert sind. Diese Art der Thematisierung wird, so Schütz, in der Psychologie als „freiwillige Aufmerksamkeit“ (ebd.) bezeichnet. Ist ein Etwas ein Thema geworden, teilt es sich, wie Husserl es darlegte, in äußeren und inneren Horizont. „Der äußere Horizont bezeichnet alles, was zugleich mit dem Thema im aktuellen Bewusstseinsfeld auftaucht. Ebenso bezeichnet er alles, das sich mittels der Retentionen und Erinnerungen auf die Genese eines Themas in der Vergangenheit und mittels der Protentionen und Antizipationen auf zukünftige Möglichkeiten bezieht. Darüber hinaus erstreckt sich der äußere Horizont auf alles, was mit diesem aktuellen Feld als Ergebnis von passiven Synthesen verbunden ist. Das wären Gleichheit, Ähnlichkeit, Ungleichheit und so weiter – kurz alle Verbindungen, die jedes gewöhnliche Lehrbuch unter dem Titel der Assoziation durch räumliche und zeitliche Berührung oder durch Ähnlichkeit abhandelt.“ (ebd. S. 61) Husserl habe, so Schütz, die Schwierigkeiten, die die Psychologie mit Begriff der Assoziation hat, durch seine Theorie über Thema und Horizont überwunden. „Auf der anderen Seite steht der innere Horizont. Nachdem das Thema konstituiert wurde, ist es auch möglich tiefer und tiefer (vielleicht unendlich tief) in seine Struktur einzudringen: Man beschreibt zuerst so vollständig wie möglich seine Grundzüge und deren Einmaligkeit und dann analysiert man die Elemente, deren Wechselbeziehungen und die funktionalen Strukturen, die den ‚Sedimentierungsprozess’ bestimmt haben, dessen Ergebnis wiederum das Thema ist. Schließlich wiederholt man die Abfolge der polythetischen Schritte, durch die der Sinn des Themas konstituiert wurde, der jetzt in einem einzigen monothetischen Blick erfasst worden ist. Das Thema (oder, wenn man so will, das Problem) ist deshalb ein unbegrenztes Feld für weitere Thematisierungen. In diesem Sinne ist das Thema die Abbreviatur oder der Ort einer unendlichen Anzahl thematischer Relevanzen, die durch weitere Thematisierung des inneren Gehalts er92 schlossen werden können.“ (ebd. S. 61f) Wie weit das Thema auch subthematisiert wird: „Thematisch sind diese Relevanzen gerade deswegen, weil sie dem ausgezeichneten Thema wesentlich zugehören.“ (ebd. S. 62) Wir können uns von einem Thema abwenden und ihm zuwenden, ob dies freiwillig oder gezwungenermaßen geschieht ist jedoch schwer zu entscheiden. 4.3.3. Auslegungs- bzw. Interpretationsrelevanz Befindet sich etwas im thematischen Kern des Wahrnehmungsfeldes, welches Aufmerksamkeit erregt, muss es ausgelegt werden. Das Wahrnehmungsfeld wird anhand typischer früherer Erfahrungen, dem „gegenwärtig zuhandenen Wissensvorrat“ (ebd. S. 67), subsumiert. „Innerhalb dieses Wissensvorrats wird aber nicht alles und jedes als Auslegungschema verwendet.“ (ebd. S. 67) Es wird nur das verwendet, was in Abhängigkeit zu der Auslegung “dieses besonderen vorstelligen Wahrnehmungsgegenstandes“ (ebd.) relevant ist. Wenn wir beispielsweise auf einem Schiff sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass dort ein Seilknäuel ist. „Die Vertrautheit dieser Erwartung kann einen so hohen Grad erreichen, dass sich dem, der diesen Gegenstand sieht, keine thematische Relevanz aufdrängt.“ (ebd. S. 69) Inwieweit die erste Auslegung eine Vermutung ist, hängt von der Gesamtsituation ab, in der diese auftritt. Wird der Sinn der ersten Vermutung widerlegt, dann „explodiert“ (Husserl) der Zusammenhang der Auslegung. Beispielsweise, wenn ein Etwas, von dem vermutet wurde, es sei ein Seilknäuel, sich bewegt. Dies zieht weitere Auslegungen nach sich, denn dann ist es von Interesse zu wissen, was es ist: Eine Schlange? Giftig oder ungiftig? Die hinzukommenden Auslegungen erhält man durch „volitive Zuwendung zu den inneren Momenten des ausgezeichneten Themas“ (ebd. S. 75). Ein Missverständnis sei es aber, so Schütz: „dass die Auslegung der prädikativen Sphäre zugehört und in einer Kette logischer Schritte sich vollzieht, die von Prämissen zu Folgerungen führen. Das ist keineswegs der Fall. Husserl hat in ‚Erfahrung und Urteil’ klar gezeigt, dass das, was wir Auslegung und Auslegungsrelevanz nennen, innerhalb der vorprädikativen Sphäre gründet. Es kann als solches nicht mehr von etwas anderem abgeleitet werden. In der Tat gründen einige Kategorien des logischen Urteils ebenso wie einige syllogistische Formen in der vorprädikativen Erfahrung. Dieser Umstand impliziert natürlich nicht, dass in dem zusätzlichen Verfahren, innere Auslegungsrelevanzen aufzustellen, ein rein deduktives Verfahren ist.“ (ebd. S. 75) In der Auslegung werden die auszulegende Erfahrung und das Auslegungsschema integriert. Dies kann nur im zuhandenen Wissensvorrat geschehen, dieser hat eine genetische und autobiographische Geschichte „und ist selbst Sediment 93 einer habituell erworbenen Übung. (...) Wir müssen lernen, was für die Auslegung relevant ist.“ (ebd. S. 76) Letztlich gibt es keine isolierten Relevanzen. 4.3.4. Motivationsrelevanz Wie weit eine Auslegung vorangetrieben und differenziert wird, hängt vom aktuellen Interesse des Subjekts ab. „Interesse ist in dieser Bedeutung der Komplex der Motivationsrelevanzen, die die Auswahltätigkeit meines Bewusstseins leiten.“ (ebd. S. 100) Es gibt zwei Arten von Motivationsrelevanzen: Um-zu-Motive sind hierarchisch geordnet und deren Elemente sind „untereinander zu einem ‚Plan’ verbunden“ (ebd. S. 101) Diese Pläne sind zum Lebensplan verbunden. „Die Um-zu-Motivationen aber gründen auf einem Komplex echter WeilMotive, die ihren Niederschlag in der biographischen Situation des Selbst zu einem bestimmten Augenblick finden. Psychologen haben verschiedene Namen für diesen Komplex von Weil-Motiven: Einstellungen, persönliche Eigenschaften und sogar Charakter. Wir ziehen den Begriff Motivationsrelevanz vor und merken uns, dass dieser Begriff eine Mannigfaltigkeit von untereinander verbundene Gegebenheiten enthält.“ (ebd. S. 101f) Die drei Systeme der Relevanz sind interdependent, diese Interdependenz erleben wir als untrennbare Einheit in Situationen. Situationen sind lebensweltlich vorstrukturiert, aber Situationen haben einen unbegrenzten inneren und äußeren Horizont. Diese Auslegungsbedürftigkeit wird von den subjektiven Intentionen und eben den jeweiligen Relevanzen des Subjekts geleitet. 4.4. Leerstellen Schütz philosophiert nicht nur über Wissen, sondern auch über Nichtwissen – die so genannten Leerstellen. „Wann sind die gegebenen Elemente ‚hinreichend’ zur Interpretation? Inwieweit zeichnen die gegebenen bekannten, als fraglos hingenommenen Momente die undefiniert gelassenen ‚Leerstellen’ vor?“ (Schütz, 1982, S. 227) Und wenn sie vorgezeichnet sind, es aber keine passenden Elemente im Wissensvorrat gibt – wie die entsprechenden Puzzleteile herstellen? Der Aufbau des Erfahrungsvorrats ist eine Sukzession von Auffüllung mit Leerstellen an den Konturen des Wissens. Möglicherweise sei dies eine Definition des Sinnzusammenhangs. Je schärfer die Leerstelle konturiert ist, desto konkreter das Nichtwissen. Je abstrakter die Konturen, desto weniger bestimmt ist das, was in die Leerstellen eingefügt werden kann. „Hauptfrage: Alles das ist in der präprädikativen Sphäre aufweisbar; kann Mo94 dalisierung, ja vielleicht die Axiome der formalen Widerspruchslogik – Satz vom Widerspruch - ausgeschlossenen Dritten etc. – auf diese präprädikative Struktur zurückgeführt werden? Und wie ist es in der Logik des alltäglichen Lebens? Hängt der Begriff der Leerstelle und Kontur nicht mit der Strukturierung in Thema und Feld (Horizont) zusammen? Ist der wandernde Strahl der attentionalen Zuwendung nicht durch die Konturen dirigiert?“ (ebd. S. 228) Dies beträfe immanente Zeitprozesse, die Unterscheidung zwischen monothetischen und polythetischen Zuwendungen und sei somit Bestandteil einer ‚Quantentheorie des Bewusstseins’. Wissen und Nichtwissen sind auch sozial verteilt. „Wir spielen zusammen puzzles. Was für Dich schon Bild (obschon unvollkommenes, mit Leerstellen behaftetes), zeichnet mir die Auswahl möglicher Elemente vor. Dies ist der wahre Grund, warum vor aller Kommunikation eine gewisse Konformität der Relevanzisohypsen der Partner vorhanden sein muss. Nichtsdestoweniger sind dieselben Leestellen für mich und dich von verschiedenem Aspekt, denn ich bin ‚hic’ und du ‚illic’, unsere autobiographisch determinierten Situationselemente sind notwendig verschieden etc. Dies die Rätsel von subjektivem und objektivem Sinn. Auch die Lösung des Problems von socially derived und approved knowledge (sozial abgeleitetes und bewährtes Wissen). ´Soziale Rolle´ = die Entscheidung, nur Elemente gewisser typischer Kontur als einfügbar betrachten zu wollen. (Dies ist eine Konvention im Sinn der Entscheidung, dass im Schach ein Turm nur geradlinig sich bewegen darf. Insofern deckt die Definition alles Normative. Aber die Konvention in diesem Sinn hat selbst ihre Geschichte, ihre sozialen Bestimmungsgründe: sie ist selbst Kontur und auszufüllende Leerstelle.)“ (ebd. S. 229f) Letztlich beschreibt Schütz mit der „Philosophie der Leerstelle“ eigene theoretische Leerstellen (vgl. hierzu auch - in veränderter Perspektive - II. 2.2.2. dieser Arbeit). 5. Die Kritik an Alfred Schütz Schütz geht es um eine „eidetische mundane Wissenschaft von den Phänomenen der Kulturund Sozialwelt“ (Schütz, 1971ad, S. 138). Diese Wissenschaft sei der Anfang der Wissenschaft überhaupt. Sein weiteres Programm, das er 1940 aufstellte, sieht vor: „a) Anwendung der Husserlschen Zeitanalyse auf das Problem der ‚Structure of Social Action’ im Sinne Webers und Parsons. 95 b) Husserls Theorie von Zeichen und Symbol in ihrem Bezug auf Sinnsetzung und Sinndeutung. c) Husserls Theorie der sedimentierten Erfahrungen und ihre Bedeutung für das Problem der Sozialwelt. d) Formale Logik und Theorie des Idealtypus. e) Die Lehre von den idealen Gegenständen und den objektiven Sinngehalten (objektiver Geist). f) Husserls teleologische Geschichtsinterpretation.“ (ebd. S. 139) Die husserlsche Zeitanalyse auf Parsons „Structure of Social Action“ anzuwenden wurde von Parsons selbst abgelehnt (vgl. I. 7. dieser Arbeit). Schützens Konstitutionsanalysen der Lebenswelt in natürlicher Einstellung basieren auf Eidetik und transzendentaler Logik. Darauf baute er sein Konzept auf, mit dem er die konkreten methodologischen Probleme der Sozialwissenschaften lösen wollte: „1/ die vorliegenden husserlschen Konstitutionsanalysen für die Klärung der sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe und Methoden nutzbar machte und 2/ eine phänomenologische Konstitutionsanalyse der natürlichen Einstellung.“ (Eberle, 1984, S. 164) 5.1. Die Verbindung von Phänomenologie und Sozialwissenschaften Der Anwendung der husserlschen Konstitutionsanalyse durch Schütz liegt die Annahme zugrunde, dass diese ohne weiteres auf die natürliche Einstellung übertragbar sei. Alles, was mit der Sphäre der Transsubjektivität zusammenhängt, findet er jedoch problematisch. Die phänomenologischen Reduktionen sind diesbezüglich nicht ohne weiteres auf die Lebenswelt anzuwenden. Im Folgenden geht es um den erkenntnistheoretischen Status der Analysen von Schütz: Er stützt sich an den Stellen auf Husserl, wo dieser sich auf die „konstitutive Phänomenologie der natürlichen Einstellung“ bezieht. Hier geht es nicht um phänomenologisch reduzierte Sphären des Bewusstseins, sondern um deren Korrelat in der natürlichen Einstellung. Er überspringt die philosophische Begründung der Intersubjektivität, wenn er die Strukturen der Lebenswelt sozialwissenschaftlich untersucht. Deren philosophische Begründung läge in der Empirie. Die Begründung selbst müsse aber der transzendentalen entsprechen. Zwischenmenschliche (also sich zwischen unterschiedlichen Individuen ereignende) Kommunikation 96 ist einer reduzierten Analyse nicht zugänglich (vgl. Schütz 1971ad und 1971ae). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird auch noch das Konzept der Intersubjektivität kritisiert werden. 5.1.1. Eidetische Reduktion In wie weit haben nun Schützens Analysen den Charakter einer eidetischen Wissenschaft? Intersubjektivität ist das A priori des Subjekts. Entsprechend variiert Schütz soziale Erscheinungen in räumlicher und zeitlicher Anordnung, bis ihm das Eidos erscheint, so zumindest die Vorstellung. Was Gegenstand der Aufmerksamkeit wird, drückt unsere thematischen und interpretativen Relevanzen aus; wie wir die Phänomene interpretieren, hängt von den Typisierungen unseres Wissensvorrates in unserer aktuellen biographischen Situation sowie von unseren Motivationsrelevanzen ab. 5.1.1.1. Methodisch – Intersubjektivität als „link“ zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaft Methodisch geht Schütz davon aus, dass das phänomenologische ego mit der sozialwissenschaftlichen Kosmologie durch Intersubjektivität verbunden ist, daher gelten „die egologisch gewonnen Einsichten auch für ein Du und für ein Jedermann“ (Eberle, 1984, S. 167). Die Einsicht in soziale Aprioris ist jedoch nur subjektiv möglich, daher sind die Strukturen der Lebenswelt „die Strukturen der Welt-so-wie-sie-mir-erscheint“ (ebd.). Die Welt ist nur in der subjektiven Anschauung gegeben; daher lehnt Schütz Aussagen über die objektive Welt, über eine objektiv gegebene „Außenwelt“, auf die sich die Sozialwissenschaften beziehen, ab. Diese Herangehensweise an das Soziale ermöglicht es die Analysen Husserls zu verwenden. Statt von einer objektiven Welt auszugehen, die ausgehend vom Einzelfall erschlossen werden soll, wird im Bewusstsein ein Phänomen solange variiert, bis wir zu dessen invariantem Wesen vorgedrungen sind. Dies funktioniert, solange wir es auf etwas universell Gültiges anwenden (Geometrie zum Beispiel); bei einem Phänomen, das historisch und kulturell relativ ist, ist dies zumindest fraglich. Starten wir einen interkulturellen Vergleich, ist es möglich zwischen dem Varianten und dem Invarianten zu unterscheiden, beispielsweise ist ein Topf immer ein Topf, es kann sich aber um sakrale oder profane Töpfe handeln. Ohne diesen Vergleich landen wir beim Typischen einer Kultur oder einer Epoché. 97 Die eidetische Reduktion hält keine Möglichkeit bereit zwischen universalen Aprioris und historisch-kulturell kontingenten zu unterscheiden; denn die Lebenswelt kann nicht als Ganzes ein intentionales Phänomen sein, „sie bildet vielmehr einen Sinnbereich, in dem die einzelnen intentionalen Phänomene als ‚lebensweltlich’ gegeben sind“ (ebd. S. 169). Eidetisch Invariantes zu erkennen ist nur durch Vergleichen möglich - hierbei verschwimmt aber die Grenze zur induktiven Generalisierung. 5.1.1.2. Zielrichtung der Analysen Die Analysen von Schütz „zielen (...) auf jene Aprioris, die jeder Typisierung, jeder Beschreibung schon vorausliegen und den unreflektierten Untergrund jeder alltagsweltlichen oder wissenschaftlichen Theorie sowie jeden Fremdverstehens bilden“ (ebd. S. 169). Es geht Schütz um die formale Explikation des immer schon Vorausgesetzten. 5.1.2. Transzendentale Reduktion Im Folgenden geht es nun um den transzendentalen Status der schützschen Analysen der Lebenswelt in der mundanen Einstellung. Schütz interessierte sich nicht sonderlich für das Problem der transzendentalphilosophischen Begründung der Intersubjektivität. Er geht davon aus, dass die Lebenswelt empirisch und subjektiv gegeben ist. Dass Schütz die Lebenswelt so fraglos hingenommen hat, impliziert jedoch, dass es eine transzendentale Letztbegründung gibt. Wir halten uns also nicht für die „oberste Realität“, sondern wir sind sie - die Ebene des ontologischen Seins. Dies impliziert letztlich eine zweiwertige Logik. In seiner Philosophie der Leerstellen hatte Schütz später angefangen sich, wie oben diskutiert, mit den Axiomen der Widerspruchslogik auseinander zu setzen. Diese beziehen sich letztlich auf eine mehrwertige Logik, die dann eine Ontologie des Seins ausschließt. Schütz selbst hatte leider keine Gelegenheit dieses „Projekt“ zu Ende zu denken. Obwohl Schützens Text „Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl“ letztlich der soziologische Beleg ist, der die Annahme widerlegt, dass Intersubjektivität die Basis der Lebenswelt sei, rückt er sich mit der Annahme, dass die Lebenswelt die oberste ontologisch auferlegte und daher als seiend hinzunehmende Realität sei, in die Nähe des USamerikanischen Pragmatismus. Die Gründe hierfür liegen vermutlich darin, dass Schütz einerseits eine transzendental logische Begründung der Lebenswelt für eine philosophische Begründung der Sozialwissenschaften nicht für notwendig hielt, andererseits aber die Phänome98 nologie für ihn den Stellenwert einer solchen Begründung einnahm, da sie die lebensweltlichen Sinnimplikationen aufdeckt. Schütz lässt also einfach die Lebenswelt in ihrer empirischsubjektiven Seinsweise stehen, ohne sich für deren transzendentalphilosophische Begründung zu interessieren. Letztlich beinhalten die schützschen Arbeiten daher, bewusst oder unbewusst, implizit die Annahme eines letzten Grundes, eines transzendentalen Urlebens (vgl. I. 2.4.2. dieser Arbeit). Die Lebenswelt wird somit von ihm als die oberste Realität, die des ontologischen Seienden, gedacht, also als eine regionale Ontologie, so wie sie Husserl in seinem Frühwerk darstellte. Daher ist es “zweifellos möglich, eidetisch materiale Bereiche oder Regionen des Seienden zu erfassen; aber diese Regionen werden nicht durch Leistungen unseres Bewusstseins konstituiert: Sie sind in der Tat ontologische Regionen der Welt und als solche unserer Erfahrung vorgegeben, oder – wie man sagen kann – uns auferlegt“ (Schütz, 1971bb, S. 152). Schütz geht also letztlich doch einfach davon aus, dass es eine „Außenwelt“ gibt, daher ist dann auch die Behauptung, Intersubjektivität sei ein vorauszusetzender Bestandteil der Lebenswelt, pure Spekulation. Intersubjektivität fällt also aus den lebensweltlichen Analysen heraus, da sie die Voraussetzung ist, die zur Lebenswelt als operative Basis hinzugedacht werden muss, damit in ihr Operationen vorstellbar sind. Entsprechend erscheint daher die bewusste oder unbewusste Fiktion einer vorauszusetzenden Urbegründung problematisch. Die Transzendentalphilosophie verfängt sich in ihrer eigenen Prämisse, dass es eine (transzendente) Intersubjektivität gebe. Husserl hat sich letztlich bei seinem Versuch, Erkenntnis über die impliziten Voraussetzungen seiner transzendentalen Erkenntnistheorie zu überprüfen, in einem Zirkel verfangen, da auch diesem Versuch, zu Erkenntnis zu gelangen, wieder Prämissen zu Grunde liegen, die untersucht werden können, usw. Husserls Fehler ist letztlich die Objektivität (der „Außenwelt“) aus der Intersubjektivität ableiten zu wollen, also, dass er das eine dem anderen als (kausal) vorgängig denkt. 5.2. Zur Konstruktion idealtypischer Homunkuli Da, entsprechend den Vorgaben von Max Weber, die Sozialwissenschaften handlungstheoretisch begründet werden müssen, landen wir immer wieder beim Subjekt und seinen Motiven. Beispielsweise abstrahiert die Nationalökonomie in theoretischen Teilbereichen völlig von subjektiven Elementen, um dann aber, damit die Dynamik des wirtschaftlichen Gesamtzusammenhangs erklärt werden kann, unvermittelt auf die Triebkräfte oder Bedürfnisse rational handelnder Subjekte in Form der Idealisierung des homo oeconomicus zu verweisen. Die Nationalökonomie ist insofern eine ambiguitäre Konstruktion. Die Konstruktion des idealtypi99 schen Homunkulus homo oeconomicus stellt den prototypischen sozialwissenschaftlichen Homunkulus dar. Die typischen Motive dieser idealtypischen Konstruktion sind in der Wirklichkeit nicht zu finden. Sie stellt „aber ein Interpretationsschemata für die verstehenderklärende Erfassung wirtschaftlicher Handlungszusammenhänge“ (Eberle, 1984, S. 134) dar. 5.2.1. Die idealtypischen Modelle menschlicher Handlungs- und Motivzusammenhänge von Alfred Schütz Schütz wollte, im Anschluss an Weber, idealtypisch verstehend empirisch bestimmbare soziale Regelmäßigkeiten kausal erklären. Hierbei wollte er sich nicht auf die alltäglichen Deutungen und Sichtweisen des Handelnden stützen (vgl. Schütz, 1974, S. 343ff), sondern systematische Modelle menschlicher Handlungs- und Motivzusammenhänge konstruieren und damit ein außeralltägliches Verstehen ermöglichen. Die Konstruktion, wissenschaftlicher Modelle (Homunkuli) der Sozialwelt, die sich an beobachteten Ereignissen orientiert, beginnt mit der Konstruktion typischer Muster des Handlungsablaufs, um im nächsten Schritt diese auf einen personalen Typ, ein Modell des Handelnden, das mit Bewusstsein ausgestattet ist, zu beziehen (vgl. Schütz, 1971aa, S. 46ff). Das Bewusstsein ist dabei eingeschränkt auf das, was ihm als relevant erscheint, d.h. es werden ihm vom Wissenschaftler eine Reihe von invarianten Um-zu- Motiven und Weil-Motiven, auf denen die Um-zu- Motive basieren, unterstellt. Diese Modelle von Handelnden werden in eine durch den Sozialwissenschaftler definierte Situation gesetzt und können entsprechend seiner Ideen manipuliert werden. Der dem Homunkulus unterstellte verfügbare Wissensvorrat, der die als invariant gesetzten Motive umfasst, soll das vom Homunkulus ausgehende Handeln subjektiv verständlich machen. Der Homunkulus kann sich entsprechend dieser Konstruktionsanleitung nur in Interessen- und Motivkonflikte verwickeln, die ihm vom Sozialwissenschaftler zugeordnet werden, er ist also nur insofern frei (im kognitiven Sinne!), als das er zwischen Alternativen wählen kann, die ihm der Sozialwissenschaftler zur Verfügung stellt. Im Gegensatz zum Menschen, der nur mit einem Teil seines Selbst in Sozialbeziehungen eintritt (Simmel) und zugleich innerhalb und außerhalb solcher Beziehungen steht, ist der Homunkulus völlig in den Sozialbeziehungen enthalten und erzeugt eine typische Funktion. Das Relevanzsystem des Homunkulus steht mithin in Bezug zu einem wissenschaftlichen Problem. Der entsprechende Wissensvorrat wird nicht sozial abgeleitet, nur das so konstruierte Relevanzsystem bestimmt, was der Homunkulus weiß, und somit wird bestimmt, was ihm vertraut und was ihm anonym sein soll und welche Erfahrungen von ihm typisiert werden 100 sollen. Der Handelnde bzw. Homunkulus kann auch in Beziehung zu anderen Homunkuli gesetzt werden; auf diese Weise konstruiert der Sozialwissenschaftler auch eine Anwendung der reziproken Perspektiven und die jeweilige Verschränkung und Übereinstimmung der Motive. Ein Homunkulus nimmt ausschließlich die Rolle ein, die der Sozialwissenschaftler ihm zuordnet, und somit wird der Sozialwissenschaftler zum Direktor eines Marionettentheaters, das Modell der Sozialwelt genannt wird. Er baut eine Bühne und verteilt Rollen, gibt vor, wann Handeln beginnt und endet. „Alle Normen und alle Institutionen, die das Verhaltensmuster im Modell regeln, sind also vom Ansatz her durch die Konstruktionen des wissenschaftlichen Beobachters vorgegeben.“ (Schütz 1971 aa, S. 48) 5.2.2. Der Streit innerhalb der Nationalökonomie zwischen Grenznutzenschule und Historischer Schule der Nationalökonomie Der Methodenstreit der Sozialökonomie entbrannte an der Frage, ob es neben der geschichtlichen Entwicklung in der Gesellschaft auch noch allgemeine soziale und wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten gäbe, die in positivistischer Art (indem man Gesetze der menschlichen Natur methodologisch analog zu den Naturwissenschaften entwickelt) geklärt werden könnten. Der Streit über dieses Problem wurde zwischen der Historischen Schule Gustav Schmöllers und der österreichischen Grenznutzenschule ausgetragen. Das Konzept der Grenznutzenschule versucht mathematisch-formalisierte Gesetzmäßigkeiten zwischen individueller Nutzenmessung für verschiedene Güter aufzufinden und hieraus eine Preistheorie abzuleiten. Sie versucht aus dem psychologischen Axiom des rationalen Hedonismus des homo oeconomicus entsprechende Gesetzmäßigkeiten deduktiv abzuleiten. Die Historische Schule hingegen geht davon aus, dass wirtschaftliche Phänomene nicht dadurch verstanden werden können, dass man sich ausschließlich auf die wirtschaftliche Logik bezieht, vielmehr müssen die Phänomene in ihrer Gesamtheit und aus dem ökonomischen Entwicklungszusammenhang heraus verstanden werden. Um wirtschaftliche Phänomene verstehen zu können müsse daher der Einfluss von Institutionen, wie Rechtssystem, politische Organisationen, religiöse und ethische Glaubenssysteme, die sich permanent im Wandel befinden, berücksichtigt werden. Daher und weil menschliches Verhalten nicht nur aus Antrieben bestehe, die mit dem Konzept des nutzenmaximierenden homo oeconomicus erklärt werden können, sei von empirischen Fakten auszugehen und induktiv zu verfahren. Die Historische Schule, die einen deutschnationalistischen Charakter hatte, verschwand mit dem Tode Schmöllers 1917 bzw wurde von 101 modelltheoretischen Überlegungen, die sich an der Grenznutzenschule orientieren, verdrängt. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch Keynes, der ein formal-mathematisches gesamtwirtschaftliches Modell entwickelte, mit dem er zeigte, dass wirtschaftliches Gleichgewicht auch bei Unterbeschäftigung möglich ist. 5.2.3. Die Problematik idealtypischer Modellbildung am Beispiel des homo oeconomicus Idealtypische Modellbildung ist problematisch, was im Folgenden am Beispiel der theoretischen Ökonomie dargestellt wird. Weber und Schütz unterstützten die Art der Modellbildung der Grenznutzen-Schule Mengers. Um allgemeine Zusammenhänge menschlichen Handelns zu finden, ist es zulässig von der Komplexität der empirischen Realität zu abstrahieren und sich auf spezifische (beispielsweise wirtschaftliche) Aspekte zu beschränken, Schütz orientierte sich mithin mit seinen methodologischen Postulaten an der theoretischen Nationalökonomie. „So ist nach unserer Auffassung das Faktum der theoretischen Nationalökonomie geradezu ein Musterbeispiel für einen objektiven Sinnzusammenhang zwischen subjektiven Sinnzusammenhängen.“ (Schütz, 1974, S. 344f) 5.2.3.1. Das Konzept der Konstruktion nationalökonomischer Modelle Die Nationalökonomie konstruiert Modelle, um die komplexe Wirklichkeit systematisch fassen zu können. Ausgehend von der einfachen Wechselwirkung weniger Variablen werden immer mehr Variablen in das Modell eingeführt, um mit zunehmender Komplexität sich der Wirklichkeit anzunähern. Auf der mikroökonomischen Ebene werden für den Produzenten Aspekte der Gewinnmaximierung und Kosten- bzw. Ertragsfunktionen konstruiert, zunächst unter den Bedingungen der vollkommenen Konkurrenz, dann unter der Annahme monopolistischer und dann oligopolistischer Marktstrukturen. Auf der Seite des Konsumenten wird unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung ähnlich verfahren. Des Weiteren werden Modelle des abnehmenden Grenznutzens, Indifferenzkurven des Nutzenbeitrags verschiedener Güter, Einkommenselastizität der Nachfrage nach einem Gut u.ä. entwickelt. Aus diesen mikroökonomischen Modellen wurde das Konzept von Angebot und Nachfrage entwickelt (vgl. zur Rekonstruktion der Modelle der theoretischen Ökonomie II. 3.5., V. 2.4., VI. 3.4.3., VI. 3.4.4.3. und VII. 3.4 dieser Arbeit). 102 Neben diesen mikroökonomischen Modellen gibt es auch makroökonomische Modelle wie etwa Wachstums- und Konjunkturmodelle, die die strukturellen Ursachen und Bedingungen des Wirtschaftswachstums und der Wirtschaftszyklen begründen wollen. Der Vorteil der Modelle liegt, da die eingeführten Faktoren klar definiert und deren Beziehungen klar expliziert sind, in deren Präzision und Transparenz. 5.2.3.2. Der Verlust empirischer Evidenz und der Gewinn mathematischer Eleganz Eine andere Frage ist jedoch, ob diese fiktiven Modellzusammenhänge empirisch relevant sind. Mit anderen Worten: Treffen die Modelle den Sinn der Handlung, den sie für den Handelnden selbst hatten? Knüpfen sie an den Alltagsverstand des Handelnden an und entwickeln sie empirisch gültige Aussagen? Nutzenmaximierendes Verhalten, also mit einem gegebenen Einkommen solche Güter zu kaufen, die nutzenmaximal sind, wird in Bezug zum Gut bestimmt. Je mehr Güter einer Art jemandem zur Verfügung stehen, desto weniger Nutzen stiftet jedes zusätzliche Gut; insofern nimmt der Grenznutzen dieses Gutes ab und der Grenznutzen pro Geldeinheit anderer Güter zu. Die Einkommensverwendung bestimmt sich also nach dem Grenznutzen pro Gut und pro Geldeinheit, die entsprechenden Entscheidungen sind Resultat der Maximierung des Gesamtnutzens. Zumeist werden diese Modelle, insbesondere in der Lehre, auf zwei Güter und einfache Nutzen/Kosten-Modelle beschränkt. (Wie bestimmt sich der Wert von einem Liter Wasser in der Sahara und in Deutschland?) Solche Überlegungen sind zwar, insbesondere in Bezug auf landwirtschaftliche Produkte, durchaus praktisch relevant: Man wird im Allgemeinen das Gut kaufen, welches weniger Geld kostet. In Bezug auf N-Güter wird man diese Überlegungen jedoch nicht anstellen, denn es ist unmöglich für den Konsumenten, alle Güter miteinander zu vergleichen. Des Weiteren ist fraglich, wie man die jeweilige Entscheidungsfindung empirisch messen will. Will man den Nutzen unterschiedlicher industriell gefertigter Gebrauchsgüter miteinander vergleichen, insbesondere wenn das Einkommen oberhalb des Existenzminimums liegt, wird dies schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Insgesamt bieten solche Modelle zwar hohe Anwendungsflexibilität, aber keine praktische Relevanz und keine weitergehenden Die Modelltheoretiker verzichten also auf empirische Erklärungskraft zugunsten formaler Prognosen. Eleganz und mathematischer Perfektionierung ihrer Modelle. Die von ihnen verwendeten Zwei-Güter-Modelle haben angesichts der Komplexität des Güterangebots in der modernen Gesellschaft zweifelhaften Erklärungswert. Eine sozialwissenschaftliche Modellbildung, die auf empirisch schwer zu erschließenden Verhaltensannahmen (Nutzenmaximierung) basiert, 103 unterscheidet sich ganz erheblich von den Naturwissenschaften, deren Ergebnisse auf empirischen Forschungsresultaten induktiv aufbauen. 5.2.3.3. Motivunterstellung und „Reagonomics“ Solche Modelle beschreiben also menschliches Handeln nicht so, wie der Alltagshandelnde sein Handeln erlebt, d.h. dem Handelnden werden (unzutreffende) Motive unterstellt, was sowohl für wirtschaftliches Handeln gilt, bei dem den Konsumenten ein rationaler Nutzwertvergleich unterstellt wird, und umso mehr für außerwirtschaftliche Ausschnitte der Lebenswelt der Handelnden. Schütz (vgl. 1971ab, S. 59 und S. 75), sagt aber das wissenschaftliche Sätze verifizierbar seien müssen. Zur Makroökonomie ist festzuhalten, dass sie aus analytischen Gleichungen und Verhaltensgleichungen Modelle entwickelt, deren praktische Relevanz davon abhängt, wie zutreffend die entsprechenden Variablen empirisch bestimmt sind (etwa qua Soziastatistik). Um sich ein „objektives“ Bild zu machen, wird über die Lebenswelt der Alltagshandelnden hinausgegangen. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, nur: Wie zuverlässig sind solche Sozialstatistiken und inwiefern werden die entsprechenden Daten hinsichtlich der effektiven Praktiken interpretiert? Verhalten wird in der theoretischen Ökonomie aus der Interdependenz mit anderen Variablen erklärt, um Handlungsfolgen und Rückwirkungen auf die weitere Handlungsausrichtung zu erfassen, so etwa mit Konsum- und Investitionsfunktionen. Das Konsum- und Investitionsverhalten hängt jedoch von einer Vielzahl weiterer sozialer Faktoren ab wie traditionellen und kulturellen Leitbildern, sozialisierten Denk- und Handlungsmaximen, der gesamtgesellschaftlichen Lage und den Erwartungen bezüglich der Zukunft. Diese für die Handlungsorientierung relevanten Faktoren sind kultur- und zeitspezifisch und daher kann es dem Sozialwissenschaftler nicht gelingen zeitüberdauernde Verhaltensgesetze zu finden. Da diese Modelle keine praktische Relevanz haben, wird wohl ihre Funktion Legitimationscharakter haben. Beispielsweise wurden von Reagan (bzw. einem entsprechendem Team von Wissenschaftlern) Verhaltensgleichungen so lange manipuliert, bis sie das das gewünschte ‚balanced budget’ ergaben (vgl. Eberle, 1984, S. 316). 5.2.3.4. Die schützsche Auffassung bezüglich des homo oeconomicus Entspricht ein solches Vorgehen nun der schützschen Auffassung, wie idealtypische Modelle zu konstruieren sind? 104 Sowohl Weber (vgl. 1968a, 1968b und 1968c) als auch Schütz setzten sich für Mengers Position ein, versuchten aber auch die Anliegen der Historischen Schule zu retten. So hob Weber hervor, dass die idealtypischen Modelle der theoretischen Ökonomie nur Interpretationsschemata für die Deutung der Vorgänge in der empirischen Realität seien und keine Gesetzmäßigkeiten. Idealtypische Modelle seien „wirklichkeitsfremd“, bei ihnen gehe es darum, zu zeigen wie gehandelt werden würde, wenn sich das Handeln lediglich an wirtschaftlicher Zweckrationalität orientierte, und darum, das tatsächliche Handeln, in das Tradition, Affekte, Irrtümer u.ä. einfließen, insofern verstehbar zu machen, als es durch wirtschaftliche Zweckrationalität mitbestimmt wird. Des Weiteren sollen durch den Abstand zwischen idealtypischem und realem Handeln die wirklichen Motive bestimmt werden können (vgl. Weber, 1972, S. 10). Mises, ein Vertreter der Grenznutzenschule, protestierte gegen Webers Annahme, dass die Begriffe der theoretischen Ökonomie einen idealtypischen Charakter hätten. Sie seien vielmehr Gattungsbegriffe, die, sofern die vorausgesetzten Bedingungen (also die berühmte ceteris paribus – Klausel) vorliegen, die Wirklichkeit zutreffend erfassen würden. Die wirtschaftlichen Gesetze hätten daher die gleiche Allgemeingültigkeit wie die Aussagen der Naturwissenschaftler. Schütz dagegen meint, dass der Idealtypus nicht auf einen bestimmten Konstitutionsprozess oder ein bestimmtes genetisches Prinzip festgelegt sei. Idealtypische Konstruktionen setzen vielmehr bestimmte Motive invariant, hätten dabei aber darauf zu achten, dass sie der Handlungsorientierung der Handelnden, also dem Prinzip der Sinnadäquanz, entsprächen. Mit dem Typ wird also etwas invariant gesetzt, was in Wirklichkeit nicht invariant ist. Idealtypen erfassen also von der Realität nur das Typische. Betrachtet man nun wieder ökonomische Modellkonstruktionen, stellt man fest, dass sie mit der ceteris paribus - Klausel arbeiten und diese haben idealtypischen Charakter, denn sie befinden sich zur Wirklichkeit auf Distanz. Fraglich ist daher, ob die vorausgesetzten Bedingungen bzw. die ceteris paribus - Klauseln in der Wirklichkeit anzutreffen sind. Geht man von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns aus, wie es die theoretische Ökonomie tut, kann es ein Handeln, das diesen Gesetzen zuwiderläuft, gar nicht geben. Im Gegensatz dazu lässt sich aus Schützens Konzept der Typisierung - wenn man vom konkreten alter ego über bestimmte Personentypen zum anonymen Jedermann fortschreitet – Folgendes ableiten: Je anonymer der Typus desto geringer die Inhalte, die erfasst werden können. Daher können nur Aussagen über Jedermann allgemeingültig sein. Wird formales Vollzugshandeln entsprechend der Annahmen der Grenznutzentheorie formuliert und dann in konkrete Handlungsziele umgesetzt, dann kann entsprechend (fast) nur atypisches Handeln auftreten. Beo105 bachtet man also ein Individuum unter der Annahme, dass es typischerweise sein Einkommen beim Konsum nutzenmaximal verwendet, dann wäre eine typische Beobachtung, dass das Individuum sich atypisch verhält. Die Annahme nutzenmaximalen Verhaltens mündet also auf einer Ebene größerer Inhaltsfülle in eine Heterogenität von Motiven. Die theoretische Ökonomie geht aber nur von einem Motivtyp aus und daher haben Weber und Schütz Recht, wenn sie sagen, dass diese Modelle idealtypischen Charakter haben. 5.2.3.5. Die schützsche Ambivalenz Für Schütz ist die „Freiheit der Sinngebung“ (1974, S. 267) für jede Sinnwelt konstitutiv. Der Idealtypus bezieht sich auf typische Aspekte der Lebenswelt, atypische Motive können so also nicht erfasst werden. Die Allgemeinheitsstufe der Typisierung hängt dabei vom Relevanzsystem des Wissenschaftlers ab. Die theoretische Ökonomie ist ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliches Relevanzsystem und empirisch beobachtbares Verhalten auseinander fallen, ihre Annahmen entsprechen also nicht dem Sinn, den der Handelnde seinem eigenen Handeln zurechnet, was Schütz aber verlangt. Schütz bleibt aber letztlich bezüglich dieser Diskussion ambivalent: Einerseits scheint er empirieferne ökonomische Modelle für adäquat zu halten, um die subjektive Perspektive mit der objektiven Perspektive zu vermitteln, andererseits argumentiert er so, als müsse er dieses ablehnen. 5.2.4. Zur Motivtheorie von Schütz Mit der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Perspektive schließt Schütz an Weber an und bringt damit zum Ausdruck, dass die Intentionalität jeder Sinnerfassung zur Folge hat, dass alle sozialen Phänomene bezüglich ihres Sinns ambivalent sind. Die objektive Perspektive, so Schütz, modifiziert sich, je nachdem ob der Beobachter ein Interaktionsteilnehmer, ein außenstehender Dritter, ein Wissenschaftler u.ä. ist. Das Konzept der subjektiven Perspektive erscheint somit doppeldeutig: Schütz bezieht es sowohl auf die phänomenologische Analyse der Lebenswelt als auch auf soziawissenschaftliche Modellbildung. Unklar bleibt auch, ob die subjektive Perspektive sich auf individuelle Sicht bezieht oder auf eine Teilnehmerperspektive, die im Zusammenhang mit Intersubjektivität steht, und schließlich, ob sie sich auf Um-zuMotive oder Weil-Motive bezieht. Im Folgenden soll nun auf Schützens Motivtheorie eingegangen werden; auf das Problem mit der Intersubjektivität kommen wir später zurück. 106 Die subjektive Perspektive stellt Schütz in Zusammenhang mit der „Freiheit der Sinngebung“. (Schütz, 1974, S. 267) Auch Routinehandlungen ergeben ihren Sinn erst, wenn sie in Bezug zu den Zielen des Handelnden gesetzt werden. Aber wie frei ist die Sinngebung, kann man in Anschluss an Freud fragen, der Humanismus und individualistische Handlungstheorie in Frage stellte, indem er darstellte, dass der Mensch durch das „Unbewusste“ gesteuert wird; oder auch in Bezug auf die Soziologie, die zeigte, dass die Person durch Sozialisation und Enkulturation von den Bedingungen der sozialen Struktur geprägt ist? Mit Letzterem kann an die schützschen Weil-Motive angeschlossen werden. Schütz selbst argumentierte jedoch hauptsächlich in Bezug auf Um-zu-Motive. Bezieht man jedoch die subjektive Perspektive sowohl auf Um-zu-Motive als auch auf Weil-Motive, dann müsste der Handelnde auch die WeilMotive bewusst wahrnehmen können. Gleichzeitig behauptet Schütz, dass die Weil-Motive auch dem Beobachter zugänglich und daher in subjektiver und objektiver Perspektive deckungsgleich sein müssten. Daraus ergibt sich das Problem, wie ein Beobachter die WeilMotive des Handelns erkennen kann, wenn die Handlung doch nur in subjektiver Perspektive erfassbar ist. Mit diesem Problem werden wir uns noch im Rahmen der Schütz/ParsonsDebatte (vgl. I. 7.4.1.2. dieser Arbeit) auseinandersetzen. Anzumerken ist hier noch, dass Parsons von der ökonomischen Theorie rationalen Handelns zu psychoanalytischen Konzepten wechselte, da er hierin einen Weg sah irrationales Verhalten zu verstehen und sein Norminternalisierungskonzept in Beziehung zu Weil-Motiven (oder kulturellen Objektbeziehungen) setzen konnte, die durch Therapiegespräche auffindbar seien und zwar in Gestalt persönlicher (insbesondere frühkindlicher) Erlebnisse und pathologischen Charakter hätten. Schütz hingegen bezog sich in Anschluss an Weber auf rationale Handlungstypen, da nur diese evident seien. 5.2.4.1. Weil-Motive Soziales, so Durkheim (1985), kann nur aus Sozialem erklärt werden und nicht aus individuellen oder psychischen Ursachen. Die Gesellschaft ist nicht die Summe der individuell Handelnden, soziale Tatsachen sind nicht im individuellen Bewusstsein auffindbar, sie müssen wie Dinge betrachtet werden. Entsprechend müssen soziale Phänomene mit den sozialstrukturellen Bedingungen, in denen die entsprechenden Weil-Motive gesucht werden, erklärt werden, aus denen subjektive Erlebnisse resultieren. Die kognitive Orientierung darf aber nicht übersehen werden. Durkheim (1897) wollte in einer empirischen Studie einen Zusammenhang 107 zwischen der Selbstmordrate und sozialstrukturellen Bedingungen nachweisen, was aber nicht gelang. Sozialstrukturelle Bedingungen werden erst durch Handlungen wirksam. Die Mechanismen, die soziale Phänomene vermitteln, sind daher auf der Mikroebene des sozialen Geschehens zu suchen. 5.2.4.2. Um-zu-Motive Der Kern der subjektiven Handlungsorientierung liegt in den Um-zu-Motiven, Weil-Motive sind erst in der Retroperspektive relevant. „Solange der Handelnde in seinem Handlungsablauf lebt, hat er dessen Weil-Motive nicht im Auge.“ (Schütz, 1971ac, S. 81) Will man Umzu-Motive analysieren, muss man folglich auf die subjektiven Konstruktionen des Handelnden zurückgreifen. Aber auch einige Weil-Motive findet man in der kognitiven Handlungsorientierung, welche bleibt aber unklar, da Schütz nicht zwischen bewusst wahrgenommenen und unbewussten Weil-Motiven unterscheidet. Des Weiteren unterscheidet Schütz nicht zwischen Weil-Motiven, die sich aus der aktuellen Handlungssituation und jenen, die sich aus früheren Erfahrungen ergeben. Man spannt seinen Regenschirm auf, weil es anfängt zu regnen, um nicht nass zu werden. Analog hierzu würden in Interaktionen die Um-zu-Motive des eignen Handelns als Weil-Motive des Gegenübers antizipiert werden. Entsprechend kann man wohl davon ausgehen, dass nach Schützens Auffassung nur die Weil-Motive, die durch nachträgliche Reflexion sichtbar werden, der objektiven Perspektive zugänglich sind, die WeilMotive der aktuellen Handlungssituation bleiben der subjektiven Perspektive vorbehalten. 5.2.5. Wissen und die Konstruktion idealtypischer Homunkuli Eine vielschichtigere soziologische Analyse im Sinne einer auf phänomenologischen Prinzipien beruhende (wissens-) soziologische Analyse ist die Studie von Schütz über die soziale Verteilung des Wissens: „Der gut informierte Bürger“ (1972b, org. 19467, S. 85ff): In der schützschen Studie „Der gut informierte Bürger“ geht es um ein Wissen-von auferlegten Relevanzen und den gesellschaftlichen Verteilungen und Ursprüngen des Wissens. Zur Erkenntnis dieser Relevanzen, in Form idealtypischer Homunkuli, gelangt er durch Vergleichen und Generalisierungen zwischen unterschiedlichen Individuen, die dem handelnden Sub7 Die Angabe der Erstveröffentlichung erfolgt, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Darstellung der Schütz/Parsons-Debatte in dieser Arbeit zwar weiter unten erfolgt, aber vor dieser jetzt dargestellten Studie von Schütz entstanden ist. 108 jekt nicht bewusst sind. Schütz setzt also die intersubjektive Konstitution der Lebenswelt voraus und vermengt sie mit Sinnimplikationen des subjektiven Alltagswissens (Relevanzstruktur und Typik des subjektiven Wissensvorrats und räumliche, zeitliche und soziale Aufschichtungen), zu denen er mit Hilfe phänomenologischer Explikationen gelangt. Um die soziale Verteilung des Wissens darzustellen arbeitet Schütz dann mit zwei unterschiedlichen Gruppen idealtypisch konstruierter Homunkuli. Wir sind in der Regel mit einem Rezeptwissen ausgestattet, dass es uns erlaubt unsere alltäglichen Routinen zu bewältigen; dies meint ein Wissen, dass etwas funktioniert und wie dieses Etwas funktioniert. Gleichzeitig erleben wir, dass das Wissen der Menschen verteilt ist - unterschiedliche Elemente des Wissens werden von einigen als selbstverständlich erachtet und angenommen, andere widersprechen ihnen oder lehnen sie ab. Wie die Mechanismen der Verteilung des Wissens dann funktionieren, thematisiert die Wissenssoziologie. Es geht Schütz also nicht um die Form der ideologischen Begründung der Wahrheit in Abhängigkeit von sozialen und ökonomischen Bedingungen oder um das Problem der Sozialisation oder der sozialen Rolle. Es geht vielmehr um die Motive, welche die Menschen in der Moderne dazu bewegen, das sozial zuhandene Wissen zu akzeptieren oder abzulehnen. Schütz konstruiert daher drei idealtypische Homunkuli, Experte, Mann auf der Straße und gut informierter Bürger, diese sind, wie bei Webers Herrschaftstypen, in der Wirklichkeit so nicht anzutreffen. Jeder ist ein spezifischer Mix dieser Typen, je nachdem zu welchen Wissensregionen das Individuum in Beziehung gesetzt wird. Der Experte gründet sein Wissen auf (wissenschaftlich) gesicherte Behauptungen. Der Mann auf der Straße befolgt wie in einem Ritual sein Rezeptwissen. Solange er nicht bei seinem Streben nach Glück behindert wird, hält er an einem Komplex aus Überzeugungen und ungeklärten Ansichten fest. Der gut informierte Bürger befindet sich auf einem Kontinuum zwischen den beiden vorherigen Typen. Für Schütz bedeutet gut informiert zu sein, zu vernünftig begründeten Meinungen auf jenen Gebieten zu gelangen, die ihn zumindest mittelbar angehen, obwohl sie zu seinem zuhandenen Zweck nichts beitragen (z. B. weltpolitische Probleme). Die Idealtypen unterscheiden sich also dadurch, inwiefern sie Wissen akzeptieren oder ablehnen, je nachdem welches Verhältnis von Interesse und Wissensverteilung vorliegt. Dies ist abhängig von dem, was jeweils relevant ist. Auch die Relevanz kann vorgestellt werden als ein Kontinuum - zwischen sehr relevant und völlig irrelevant. Dies kann weiter ausdifferenziert werden: Interessen sind miteinander verwoben und ändern sich. Auch ist es nicht möglich Relevanzen isoliert zu betrachten, sie gehen durcheinander, überlagern sich und bilden Enklaven, und ihre Ränder dringen in Nachbarprovinzen ein 109 und schaffen Zwielichtzonen mit gleitenden Übergängen. Letztlich ist noch zwischen motivierten und auferlegten Relevanzen zu unterscheiden. In der Interaktion werden die Motive des anderen für uns zu auferlegten Relevanzen und umgekehrt. Unsere Zivilisation ist durch das Anwachsen der wechselseitigen Anonymität der Interaktionspartner beschreibbar, daher besitzen wir immer weniger das Recht zu definieren, was für uns relevant ist und was nicht. Es drängen sich uns immer mehr politisch, ökonomisch und sozial auferlegte Relevanzen außerhalb unserer Kontrolle als Bedingung unseres Handelns auf. Kognitiv wird das, je nachdem welches Mischungsverhältnis der Idealtypen vorliegt, unterschiedlich verarbeitet. Was für den gut informierten Bürger relevant ist, findet sich in einem virtuellen Bereich möglicher Bezugsrahmen; welcher akut wird, hängt von seinem Interesse ab. Dementsprechend begibt er sich auf Informationssuche - hierbei stellt sich die Frage, welche Informationsquellen er benutzt und wieso er diese als ausreichend erachtet. Hiermit sind wir bei der zweiten Gruppe idealtypisch konstruierter Homunkuli gelandet - den Infomationsvermittlern: Der Augenzeuge hat das, was uns interessiert, am eigenen Leibe erlebt, der Insider hat Kenntnis über den uns interessierenden Relevanzzusammenhang, er kennt die „innere Bedeutung“ der Ereignisse, die wir nicht kennen können, von daher vertrauen wir ihm. Der Analytiker hat sein Wissen aufgrund eines Relevanzzusammenhanges gebildet, von dem wir annehmen, dass er mit dem unserigem kongruent ist, je besser wir sein Wissen kontrollieren können und je mehr wir von Kongruenz ausgehen, desto mehr vertrauen wir ihm. Der Kommentator hat die gleichen Informationsquellen wie der Analytiker, er hat aber ein von dem unserigen divergierendes Relevanzsystem. Wir vertrauen ihm nur, wenn wir wissen, inwieweit sein Relevanzsystem von dem unserigen abweicht. Auch diese Konstrukte sind so in der Wirklichkeit nicht anzutreffen. Für die Informationssuche ist auch wichtig, ob es sich um einen Experten oder einen Laien handelt, bis zu welchem Intimitätsgrad wir ihn kennen etc. Phänomene können nur verstanden werden, wenn wir die ihnen zugrunde liegende Verteilung des Wissens kennen. Nur so können wir soziale Beziehungen wie beispielsweise zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten verstehen. Hieran schließt Schütz eine Bemerkung zur öffentlichen Meinung an: Es geht hier nicht nur um sozial abgeleitetes Wissen, sondern auch um sozial gebilligtes Wissen. Die Quelle des Prestiges und der Autorität ist somit als sozial gebilligtes Wissen zu verstehen. Nur wer sozial anerkannt ist, wird als Experte oder als gut informierter Bürger geachtet. 110 5.3. Die Kritik der Theorie des kommunikativen Handelns – die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem Kommunikationstheoretische Ansätze stellen sich als Alternative zur Lebenswelt dar, die versuchen, die Ambiguität in Schützens Werk zu überwinden. Die Ambiguität kommt dadurch zustande, dass er entsprechend der phänomenologischen Reduktion vom ego ausgeht, dabei aber gleichzeitig die intersubjektive Konstitution der Lebenswelt voraussetzt. Er arbeitet mit den subjektiven Sedimenten der räumlichen, zeitlichen und sozialen Aufschichtungen der Lebenswelt und verbindet diese mit dem subjektiven Wissensvorrat, je nach Relevanzstruktur und Typik, geht also vom Bewusstsein des Subjekts aus. Was die Verteilung des Wissens angeht, argumentiert er ohne weitere Vermittlung auf der sozialwissenschaftlichen Ebene. Um Aussagen über die Verteilung des Wissens machen zu können, ist empirisches Vergleichen der Wissensvorräte und der Austauschprozesse zwischen mehreren Individuen notwendig. Der Mix aus (kosmologischer) Wissenssoziologie und (egologischer) Lebensweltanalyse von Schütz lässt auf einen Einfluss des amerikanischen Pragmatismus schließen (Mead). Begreifen wir folglich als Prämisse, dass das subjektive Bewusstsein durch Vergesellschaftung konstituiert ist, entfernen wir uns von der Frage, „wie“ sich der sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereich konstituiert, und nähern uns sozialwissenschaftlichen Aussagen immer mehr an. Wenn also das Bewusstsein des Subjekts als eine spezifische Ausformung intersubjektiv tradierter, sozialer Kulturmuster (bzw. Rahmen oder „frames of reference“) vorgestellt wird, müsste auch die egologische Phänomenologie fallengelassen werden, zugunsten einer Perspektive, die - wie Habermas es tut - mit der Prämisse der intersubjektiven sprachlichen Konstitution der Lebenswelt operiert. Entsprechend kritisiert Habermas an Schütz, dass dieser bei der Generalisierung eigener Erfahrungen stehen geblieben wäre. Demgegenüber vertritt er die Auffassung, dass die Kommunikation mit anderen von ausschlaggebender Bedeutung sei, denn sie vermittele in der Lebenswelt das Besondere der Individualität der Subjekte mit allgemeinen Kategorien. „Die gesprochene Sprache, in der wir unsere Identität und die der anderen festhalten, ist das einzige Medium, in dem sich die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen alltäglich vollzieht.“ (Habermas, 1970, S. 215) Husserl und Schütz seien, so Habermas, davon ausgegangen, dass die Quelle sprachlicher Symbole das transzendentale Ich ist, aber: „Die Monaden spinnen die sprachliche Intersubjektivität erst aus sich heraus. Noch ist Sprache nicht als Gespinst durchschaut, an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen sich zu Subjekten sich erst bilden.“ (ebd. S. 220) 111 5.3.1. Von der Methode des Verstehens über die Analyse der Lebenswelt zur Diskursanalyse – die Sprache: das Medium, das Subjekte formt Sprache wird also als das Medium gedacht, welches das Subjekt formt. Nach Habermas (1970) muss dann die Analyse der Lebenswelt, also die Weiterentwicklung der Methode des Verstehens von Weber, durch Sprach- (beziehungsweise Diskurs-) analyse ersetzt werden. Wir verabschieden uns also erst einmal von der subjektiven Phänomenologie und begrüßen die von der subjektiven Sinnkonstitution gereinigte Lebenswelt. Anstelle der phänomenologischen Lebensweltanalyse geht Habermas den Weg der wittgensteinschen Sprachanalyse. Der frühe Wittgenstein versuchte die Grammatik einer weltabbildenden Idealsprache zu entwickeln. Diese erwies sich jedoch, da die Reflexibilität der Umgangssprache als Metasprache nicht hintergehbar ist, als nicht-möglich. Erst aus dem Kontext des pragmatischen Gebrauchs der Sprachsymbole ergibt sich deren Bedeutung. Wittgenstein verwarf daher sein Konzept einer intersubjektiv präzisen, weltabbildenden Sprache. Der Kontext des pragmatischen Gebrauchs der Sprachsymbole ist komplementär zu den situativ konstituierten Komponenten des phänomenologischen Fremdverstehens zu verstehen. Im wittgensteinschen Konzept fehlt jedoch die subjektive Sinnkomponente, da Sprache immer als intersubjektiv gedacht wird, und daher gibt es dann auch keine Privatsachen mehr. Habermas8 spricht Sprache und kultureller Überlieferung eine transzendentale Stellung zu. “Sprache und Kultur sind für die Lebenswelt selbst konstitutiv“. (Habermas, 1981b, S. 190) Das Bewusstsein stellt nicht die Basis der Intersubjektivität dar. Wenn die „bewußtseinsphilosphischen Grundbegriffe, in denen Husserl die Lebensweltproblematik behandelt“ aufgegeben werden, könne man sich die „Lebenswelt durch einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern denken“ (ebd. S. 189), auf bewusstseinsphilosophische Aspekte könne daher verzichtet werden. Verweisungszusammenhänge, welche „Situationsbestandteile untereinander und die Situation mit der Lebenswelt“ (ebd.) verbinden, seien ohne Bewusstsein zu denken. Vielmehr seien die Verweisungszusammenhänge Produkt „grammatisch geregelter Beziehungen zwischen Elementen eines sprachlich organisierten Wissensvorrats“ (ebd. S. 190). Er interessiert sich also nicht für das Bewusstsein und die Wahrnehmung von ego, in denen sich alter-ego spiegelt. Entsprechend kritisiert er an Schütz, dass dieser Husserls transzendentale Phänomenologie übernehme und eine regionale Ontolo- 8 Habermas ist ein Dialektiker, der versucht durch dialektische Analyse die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität zu lösen. Unter Dialektik verstehen wir hier allerdings kausale Wechselwirkungen, mit der unberechtigte Erkenntnisansprüche kritisiert und vorhandene Erkenntnisse philosophisch vermittelt werden können und nicht ein Forschungsinstrument. 112 gie der Gesellschaft betreibe (ebd. S. 198). Demzufolge sei es nicht verwunderlich, dass „Schütz und Luckmann die Strukturen der Lebenswelt nicht im direkten Zugriff auf die Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivität, sondern in der Spiegelung des subjektiven Erlebens einsamer Aktoren erfassen“ (ebd.). Beide würden den „Stellenwert der Sprache“ herunterspielen. Die Lebenswelt sei nunmehr mit dem kommunikationstheoretischen Begriff des „kommunikativen Handelns“ in seinem Sinne zu verstehen. Die Lebenswelt zu analysieren bedeute, das, was Durkheim kollektives Bewusstsein genannt hat, aus der Innenperspektive der Teilnehmenden zu rekonstruieren. Letztlich sei dieser „komunikationstheoretische Begriff der Lebenswelt“ auf der gleichen Ebene wie der der Phänomenologie. Auf dieser Ebene erscheint die Lebenswelt in der Perspektive der Teilnehmer „als horizontbildener Kontext von Verständigungsprozessen“ (ebd. S. 205). Die subjektive Perspektive sei aber auch nicht für „theoretische Zwecke brauchbar“ (ebd. 206). Daher müsse von dem Alltagskonzept der Lebenswelt ausgegangen werden, um dann die Form der Erzählung zu wählen, die dann ‚grammatisch’ dazu nötige, dieses „als kognitives Bezugskonzept“ (ebd. S. 207) zu Grunde zu legen. Er schließt also von dem kommunikationstheoretisch gewendeten Begriff der Lebenswelt auf die Perspektive beziehungsweise den Horizont derer, die an der Kommunikation teilnehmen. Den kommunikativ Handelnden stellt er sich als ein kognitives Bezugssystem vor, das der Lokalisierung und Datierung von Äußerungen in sozialen Räumen beziehungsweise historischen Zeiten dient. Es geht also nicht wie in seinem ersteren Lebensweltkonzept um bloße Horizontbildung, sondern darum eine Erzählerperspektive zu entwickeln, die kognitiven Zwecken dienen soll. Das kognitive Konzept der Lebenswelt beinhaltet drei Reproduktionsvorgänge symbolischer Strukturen: Kultur (Wissensvorrat), soziale Integration und Sozialisation. Die symbolische Ebene ist von der materiellen strikt getrennt. 5.3.2. Die Kritik an der Kritik der Theorie des kommunikativen Handelns Habermas unterscheidet nicht zwischen Verstehen und Verständigung, aber zwischen Verstehen und Beobachtung, da er zwei Zugänge zum Phänomen des Sozialen ausmacht: einmal den handlungstheoretischen, den interpretativen, sinn-verstehenden Zugang, mit dem die Sozialwelt aus der Binnenperspektive der handelnden Akteure untersucht wird, zum anderen einen makrosoziologischen Zugang mit dem er aus der Außensperspektive die Sozialwelt objektivierend beobachtet. Ersterer habe ein methodisches Primat, da anders ein Zugang zum Sozialen nicht machbar sei. An die im Mikrobereich vorgefundene Sprache müsse dann die makro- 113 soziologische Beobachtung anschließen. Als Verständigung bezeichnet Habermas das in der menschlichen Sprache aufzufindende Telos (vgl. Kneer, 1997, S. 50). Habermas integriert in seine Begrifflichkeit phänomenologische Konzepte, lehnt es aber aus methodologischen Gründen ab, vom individuellen Bewusstsein ausgehend die Intersubjektivität der Lebenswelt zu ergründen, stattdessen sei die Sprache, das kommunikative Handeln deren transzendentale Grundlage. 5.3.2.1. Subjektive Elemente Dem habermasschen kommunikativen Ansatz fehlen alle subjektiven Elemente, entsprechend aber auch jeglicher nicht sprachlich zu fassende Sinn. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns gibt es zwar eine „subjektive Welt“, zu der das Subjekt einen spezifisch subjektiven Zugang habe. Wenn er jedoch die Strukturen der Lebenswelt äquivalent zu denen der Sprache setzt (vgl. Habermas, 1981b, S. 192ff), dann müssen auch die Ereignisse, die sich im Bewusstsein konstituieren als intersubjektiv gedacht werden. Es gibt aber, wie ethnomethodologische Forschungen gezeigt haben (wir denken beispielsweise an Garfinkels Agnes Studie (1967, S. 116-185), aber auch Goffman (impression management (2001)), subjektive Interessen, die intersubjektiv nicht gezeigt werden. 5.3.2.2. Konsens Habermas wirft Schütz und Luckmann vor, sie hätten in ihren Analysen Sprache vernachlässigt. Schütz begreife sein Unternehmen als „regionale Ontologie der Gesellschaft“. Daraus erkläre sich, „dass Schütz und Luckmann die Strukturen der Lebenswelt nicht im direkten Zugriff auf die Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivität, sondern in der Spiegelung des subjektiven Erlebens einsamer Aktoren erfassen“ (Habermas, 1981b, S. 198). Schütz und Luckmann geben mit ihrem Modell der leistenden Subjektivität, die die Lebenswelt konstituiert, eine handlungstheoretische Wendung, wodurch phänomenologische Analyse und die Analyse der Handlungssituation an Tiefenschärfe gewinnen. Dies würde jedoch dazu führen, dass die hieran anschließende Systemtheorie die Bewusstseinsphilosophie „leichtfüßig“ beerben würde. Der Systemtheoretiker Luhmann, so Habermas weiter, würde dann auch die Situation des handelnden Subjekts als Umwelt des Persönlichkeitssystems deu- 114 ten. Luhmann9, so Habermas, ersetze die Subjekt-Objekt-Beziehung durch die zwischen System und Umwelt, wobei dann aber die Intersubjektivität der Lebenswelt aus dessen Theorie verschwände. An Stelle des Intersubjektivitätsproblems tritt dann, so Habermas, das Interpenetrationsproblem, nämlich die Frage, „wie bestimmte Arten von System füreinander bedingt kontingente, aufeinander abgestimmte Umwelten bilden können“ (ebd. S. 197). Entsprechend löst Luhmann auch das Integrationsproblem anders auf. Also nicht über „Konsens“, wie bei Habermas (vgl. ebd., 190ff), der als solcher immer „gut“ sei, denn Konsens ist für Luhmann eine konsistenzgeprüfte soziale Konstruktion des Kommunikationssystems (Wissen, das die kognitive Voraussetzung für individuelle Freiheit ist und diese gleichzeitig einschränkt), die nichts mit Intersubjektivität zu tun hat. Konsens, ähnlich wie Motive, ist vielmehr eine im Kommunikationssystem implizit oder explizit kommunizierte Annahme. Im Gegensatz dazu löst Luhmann dann das Integrationsproblem, indem er Integration als „die wechselseitige Einschränkung der Freiheitsgrade von Systemen“ (Luhmann, 2000, S.99) definiert. Die soziologische Systemtheorie werden wir im Anschluss noch gründlich diskutieren, wobei der luhmannsche Standpunkt noch weiter geklärt werden wird. Dass Habermas Schütz und Luckmann vorwirft, sie hätten sich nicht genügend mit Sprache auseinandergesetzt, ist aber zumindest was Luckmann betrifft falsch, wie wir oben unter I. 3.4.2. und I. 3.4.3. dieser Arbeit gesehen haben. Des Weiteren kann Sprache nur einen Teil des subjektiv erfahrenen Sinns vermitteln. Beispielsweise gibt es, vgl. Goffman (1977), der sich an Bateson orientiert, untergeordnete Kommunikationskanäle, zum Beispiel den Körper, durch die das sprachlich Kommunizierte relativiert und so in einen völlig anderen Sinnzusammenhang gestellt wird (vgl. auch Inhalts- und Beziehungsaspekt bei Watzlawik/Beavin/Jackson, 2000). Typen sind zwar weitgehend sprachlich konstituiert, aber ausschließlich? Schütz betont gerade, dass es verschiedene, also nicht nur sprachlich vermittelte „Sinnschichten“ gibt - Sinnlichkeit lässt sich nicht durch Sinn begrenzen, der versprachlicht werden kann. Von Seiten der Ethnomethodologie kann gezeigt werden, dass zwar phänomenologische Idealisierungen wie die der Kongruenz der Relevanzsysteme oder die des „Und So Weiter“ in den von ihnen transkribierten und analysierten Interaktionen nachgewiesen werden können. Jedoch gibt es auch intersubjektive Situationen, in denen die subjektiven Intentionen der teilnehmenden Individuen völlig inkongruent sind, obwohl dies nicht in der Interaktion beob9 In dieser Arbeit wird das luhmannsche Konzept der systemtheoretischen Soziologie noch ausführlich dargestellt werden. 115 achtbar ist, weil das jeweilige pragmatische Interesse sie für nicht weiter thematisierungs- und erklärungsbedürftig hält. 5.3.2.3. Die Versprachlichung der Lebenswelt Zwei mögliche Gegenargumente bezüglich der habermasschen, also sprachtranszendentalistischen, Überlegungen sind: 1/ Intersubjektiv10 nicht verfügbare Erfahrungen sind sozialwissenschaftlich nicht relevant und 2/ wir können Sprache soweit definieren, dass alles als sprachlich vermittelbar erscheint. zu 1/ Die Intersubjektivität ästhetischer wie sinnlicher Erlebnisse in der Lebenswelt geht im kommunikativen Handeln nicht auf. Sprechverbote, wie beispielsweise das subjektive Erlebnis des Sexus der Frau, welches aber gleichzeitig ein „transsubjektives“ Phänomen ist (wir denken auch an Protestbewegungen im Allgemeinen), hätten dann allerdings keinerlei sozialwissenschaftliche Relevanz, was aber nur schwach Sinn macht. Dies wäre sozusagen „AntiWissenssoziologie“, denn wir wissen Dinge, über die wir nicht sprechen dürfen (aber auch solche, über die wir nicht sprechen können, siehe da zu 2/). Ein weiteres typisch modernes „transsubjektives“ Phänomen, welches subjektiv, aber nicht intersubjektiv, erlebt wird, ist das der Körperfeindlichkeit. Körperfeindlich ist es aber gerade, die Sprache als einzigen Sinnvermittler zu betonen. zu 2/ Eine weitere Definition der Sprache entspricht der Position Gadamers, die Bilder, Musik etc. umfasst. Damit gelangen wir aber schnurstracks wieder zu den Vorteilen der Phänomenologie zurück, die alles, was dem Bewusstsein gegeben ist, in seiner besonderen Sinnhaftigkeit und unmittelbaren Evidenz zu erfassen versucht, um so die Krise der modernen Rationalität zu überwinden, indem sie menschliche Sinnlichkeit thematisiert. Sowohl Habermasens als auch Gadamers Ansatz zur Erfassung der intersubjektiven Lebenswelt haben einen blinden Fleck. Es erscheint sinnig, von der Sinnkonstitution des Bewusstseins auszugehen. „Erst wenn wir hingegen auf die zugrunde liegenden Bedingungen der Subjektivität zurückfragen, wird deren Vergesellschaftung und damit der intersubjektiv und historisch- sowie kulturspezifische Charakter der subjektiven Wissensinhalte sichtbar - auch das erkennende Bewusstsein kann hermeneutisch hinterfragt werden.“ (Eberle, 1984, S. 181) 10 Nach Eberle (1984) sind die „Sozialwissenschaften ... nun mal ex definitione auf Intersubjektives gerichtet“ (ebd. S. 179). Und eben das wird im Anschluss an Teil I. dieser Arbeit revidiert. 116 Luhmann, der Intersubjektivität als Ausgangspunkt soziologischen Denkens ablehnt, konstatiert hier eine co-evolutionäre Beziehung bzw. eine konditionierte Koproduktion zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Diese werden wir in den anschließenden Teilen dieser Arbeit im Rahmen der in Interaktionen zu beobachtenden Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft noch weiter thematisieren. Zusammenfassung Schütz entwickelt Webers Methode des Verstehens weiter und orientiert sich dabei an Husserls transzendentaler Phänomenologie; dadurch rücken die Sinn konstituierenden Bewusstseinsleistungen und deren Kategorisierungen in den Mittelpunkt seines Interesses. Sein Konzept der Lebenswelt umfasst deren räumliche, zeitliche und soziale Aufschichtungen sowie den subjektive Wissensvorrat, dessen Typik und Relevanz sich permanent ändert. Über den an den Naturwissenschaften orientierten Behaviorismus hinausgehend problematisiert er dieses Konzept auch im wissenschaftstheoretischen Zusammenhang - die Lebenswelt ist die Basis jeglichen Theoretisierens und sie konstituiert den sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich. Der Prozess des alltagsweltlichen Verstehens, also wie sich Sinn konstituiert, kann nicht wie naturwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände analysiert werden. Sozialwissenschaftler konstruieren auf der Basis ihres fachspezifischen Wissens und eines spezifischen Relevanzsystems Idealtypen. Das Hauptproblem dabei ist, objektive wissenschaftliche Sinnzusammenhänge aus subjektiven Sinnzusammenhängen zu gewinnen. Damit dies gelingt, ist es nach Schütz nötig, dass deren Konstruktionen die Postulate der logischen Konsistenz, der subjektiven Perspektive und der Adäquanz erfüllen. Problematisch ist vor allem das Verhältnis von wissenschaftlicher und lebensweltlicher Rationalität - denn es entsteht eine unausweichliche Distanz zwischen sozialwissenschaftlicher Modellkonstruktion und empirischer Alltagswelt, und zwar auf Grund des wissenschaftlichen Rationalitätsbegriffs sowie des Ausschlusses typentranszendenten Handelns. Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten haben immer einen idealtypischen und keinen naturalistischen Charakter. (Einige Nationalökonomen haben eben dieses nicht verstanden - oder nicht verstehen wollen). Daher müssen Sinnmodifikationen beachtet werden, die entstehen, wenn von der subjektiven zur objektiven Perspektive oder die Typisierungsebene gewechselt wird. Noch besser wäre es allerdings diese in einer „Transformationsformel“ zu beschreiben. 117 Durch Schützens Orientierung am rationalen Handlungstypus erhält sein Werk eine kognitive Schlagseite11. Durch das Vernachlässigen der sinnlichen und leiblichen Dimensionen erscheint seine Handlungstheorie als ergänzungsbedürftig. Fassen wir Sinnlichkeit und Leiblichkeit als Vorraussetzung für die Sinnkonstitution, wird die Möglichkeit der Validierung phänomenologischer Konzepte fraglich. Allerdings dreht es sich bei Schütz immer um konkrete Phänomene und so ist ein Abgleiten in puren Konstruktivismus nicht möglich12. Insgesamt stellt sich somit das Problem, was unter Sinn zu verstehen ist. Schütz hält Handeln und Handlung auseinander - Handeln ist sinnlos, erst in der Reflexion kann Handeln zur sinnvollen Handlung werden. Eine grundsätzliche Revision der Konzeption ist allerdings nötig, wenn man Sinnhaftigkeit mit Sinnlichkeit koppelt. Es spricht denn auch einiges dafür leiblich erlebte Handlungen als sinnhaft anzuerkennen, auch während der Blickstrahl hellwacher Aufmerksamkeit etwas anderes wahrnimmt. Die Frage, was Sinn denn nun sein soll, bleibt hier also ungelöst, wird aber weiter unten (vgl. II. 4.4.4., III. 1.2. und IV. 2.1.1. dieser Arbeit) wiederholt diskutiert. Hier erscheint diese Frage als Grenze zu jenen Prämissen, die phänomenologisch nicht begründet werden können, sondern gesetzt werden müssen.13 Husserls Versuch, eine transzendentalphilosophische Letztbegründung prämissenfreier Erkenntnis zu finden, ist gescheitert. Seine Untersuchungen, die sich auf die Konstitutionsanalysen des Sinns beziehen, haben aber auch die heutige Philosophie nachhaltig beeinflusst. Thematische Konvergenzen finden wir beispielsweise beim späten Wittgenstein, aber auch bei Luhmann (beispielsweise das Konzept der Intentionalität, wobei dies dann auch auf soziale Systeme übertragen wird). Schütz begeisterte sich anfänglich sowohl für seine konkreten Untersuchungen als auch für dessen Suche nach prämissenfreier Erkenntnis. Schütz verstand seine Untersuchungen stets als eidetisch, nicht aber als transzendental. Daher ist seine Zielsetzung und nicht seine Methode eidetisch, sein Ziel ist die reflexive Explication von Sinn- und Geltungsimplikationen in systematischer Form. Seine Methode, die sich an der Anschauung 11 Husserl (1976) hat sich durchaus mit den Implikationen der Leiblichkeit auseinandergesetzt, siehe den Abschnitt „Die Konstitution der seelischen Realität durch den Leib“ in „Ideen zur reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ – 1. Buch: „Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie“, Husserliana Bd. 3, S. 143-161. 12 Auch der systemtheoretische Phänomenologe Niklas Luhmann befasst sich mit Körpern und thematisiert diese als geschlossene biologische Systeme, die in einem Zusammenhang mit dem geschlossenen sozialen System und dem ebenfalls geschlossenen Bewusstseinssystem stehen. Diese Drei (biologische, psychische und soziale Systeme) stehen in seinem Werk an Stelle des Wortes Mensch. Sein Selbstverständnis ist allerdings das eines operativen Konstruktivisten. Entsprechend kann hier angeschlossen werden mit der Frage, inwieweit für ein Verständnis der Moderne überhaupt Körper thematisiert werden müssen, siehe dazu dann auch Kamper 2001. 13 Verstehen wir Bewusstsein als Organ sieht das allerdings anders aus. Dann dringen über den Wahrnehmungsapparat Bilder in den Körper ein, die verstoffwechselt werden. 118 des konkreten Phänomens orientiert, gewährleistet jedoch, dass wir nicht in puren Konstruktivismus abgleiten. 6. Der Strukturalismus Wir untersuchen im Folgenden, inwiefern der Strukturalismus vom Postulat der subjektiven Interpretation, das heißt der Prämisse einer handlungstheoretisch begründeten Sozialwissenschaft, abweicht. Die Anfänge strukturalistischen Nachdenkens finden sich bei Maus, der die Gymnastik unterschiedlicher Kulturen vergleicht, aber auch deren Inkommensurables oder auch „Mana“ (Levi-Strauss, 1978). Zu letzterem bemerkt Goffman, dass für Durkheim „die Persönlichkeit eines Individuums als eine Verteilung des kollektiven Manas angesehen werden könne und dass die Riten, die gegenüber Repräsentanten sozialer Kollektivität ausgeführt werden, manchmal auch gegenüber dem Individuum selbst ausgeführt werden“ (Goffman, 1999b, S. 54) In der urbanisierten, säkularisierten Welt hänge dies, in Anlehnung an anthropologische Begriffe, mit Ehrerbietung und Benehmen zusammen. Es gilt jedoch erst einmal zwischen dem linguistischen und dem anthropologischen Strukturalismus zu unterscheiden, wobei ersterer den Sprachwissenschaften zuzuordnen ist, und der zweite den Sozialwissenschaften. Wie wir aus dem Prinzip der Relevanz ableiten können, gibt es zwar durchaus wissenschaftstheoretische Fragestellungen, zum Beispiel wissenssoziologische, bei denen es sinnhaft ist Theoriemodelle zu konstruieren, die vom Subjekt abstrahieren um sich mit makrosozialen Problemen befassen zu können. Um aber die Sozialwissenschaften in- und miteinander abstimmen zu können ist es letztlich nötig auf die fundierenden Handlungs- und Motivationszusammenhänge zurückzugreifen. Folgt man hingegen Weber und Schütz, können Handlungen nur über den jeweiligen subjektiven Sinn erklärt werden; daher muss der Sozialwissenschaftler ein Modell eines individuellen Bewusstseins konstruieren, welchem er einen typischen Wissensvorrat mit typischen Motiven zuordnet Um eine „subjektive Interpretation“ sicherstellen zu können, ist es einerseits nötig die Vorinterpretiertheit der Lebenswelt, das heißt die Sinndimension der Sozialwelt, zu berücksichtigen; andererseits muss der Sinn der sozialen Phänomene immer auf die Handlungen der Menschen zurückgerechnet werden. Die subjektive Phänomenologie als Protosoziologie operiert auf der wissenschaftstheoretischen Ebene, die emisch genannt wird. Emisch bedeutet, dass die Untersuchungen, die auf dieser Ebene durchgeführt werden, die Bedeutungen mit einbeziehen, welche die Handelnden (und Dritte) ihren Aktivitäten und ihrer Umwelt zuschreiben. Von den emischen sind die etischen Untersuchungen abzugrenzen. Etische Untersuchungen 119 sind solche, wie sie der klassische Behaviorismus durchgeführt hat; es geht dabei um die Beobachtung von physikalisch definierbaren Einheiten (z. B. von menschlichen Bewegungsabläufen). Die Vorinterpretiertheit der Lebenswelt spielt bei etischen Analysen keine Rolle. Der Mensch wird als „black box“ betrachtet (vgl. auch Glanville (1988), der mit Hilfe der black box kybernetische Analysen betreibt). Der Strukturalismus führt, im Gegensatz zum klassischen Behaviorismus, seine Untersuchungen auf der emischen Ebene durch, vernachlässigt aber Wahrnehmung und Sinnstiftung. Die linguistische Variante ist durchaus anschlussfähig an Husserl. Die sozialwissenschaftliche Variante klammert jedoch die Sinnstiftung handelnder Subjekte aus, sie thematisiert nur sozial vergegenständlichte (institutionalisierte) Sinngehalte. Die Sinnhaftigkeit der Sozialwelt ist somit auf eine statische, sich also nicht wandelnde Symbolhaftigkeit reduziert, was den Anschluss an Husserl problematisch macht. „Schütz’ Postulat der subjektiven Interpretation fordert eine wissenschaftliche Konzeption, welche jedes menschliche Handeln oder dessen Ergebnis auf den subjektiven Sinn zurückführen lässt.“ (ebd. S. 242) Im Gegensatz zu diesem Postulat nimmt der Strukturalismus eine „subjektive“ Perspektive ein, bei der die internen Strukturen menschlicher Aktivitäten generalisiert werden. Der Strukturfunktionalismus erkennt dann zwar im Sinne Webers die Sinnhaftigkeit der sozialen Welt und eine handlungstheoretische Begründung der Sozialwissenschaften an. Im Gegensatz zu Schütz hält er aber subjektive Bewusstseinszustände für wissenschaftlich „verobjektivierbar“ und lehnt die Unterscheidung zwischen der Partikularität der Bewusstseinszustände, nämlich die der beobachteten Intentionalität der Handelnden und des beobachtenden Wissenschaftlers, ab. Mit seiner wissenschaftstheoretischen Konstruktion will der Strukturfunktionalismus Webers Idealtypen überwinden, mit denen Schütz gerade subjektive und objektive Perspektive vermitteln will. 6.1. Linguistische Variante Der Strukturalismus differenzierte mehrere Varianten aus. Unterscheidbar sind linguistische oder sprachwissenschaftliche Varianten und anthropologische oder sozialwissenschaftliche Varianten. Im Folgenden wird nun die linguistische oder sprachwissenschaftliche Variante behandelt. 120 6.1.1. Ferdinand de Saussure (1857-1913) Der Strukturalismus basiert auf den Arbeiten des Linguisten Ferdinand de Saussure. Seine Unterscheidungen zwischen „signifiant“ und „signifié“, „Synchronie“ (Sprache als System) und „Diachronie“ (Entwicklungsgeschichte der Sprache) und „langue“ und „parole“ gehören zu den bedeutendsten Einflüssen soziologischer Theoriebildung im 20. Jahrhundert. „Signifiant“ meint die lautliche Gestalt eines Zeichens (Phonemen), „signifié“ dessen Datum oder Bedeutung. Zwischen beiden herrscht keine geregelte Beziehung, die Beziehung ist vielmehr sozial organisiert - wie wir leicht erkennen, wenn wir uns unsere Vorstellung dessen, was mit „Baum“ bezeichnet wird, mit „signifiés“ in anderen Sprachen vergleichen. Einzelne Laute sind innerhalb einer Sprache in systematischer Weise untereinander verbunden und mit bestimmten semantischen Gehalten verknüpft. Ziel der strukturalistischen Linguistik ist es diese organisatorischen Prinzipien der Sprache aufzudecken. Sprache muss daher als System betrachtet und in synchronischer Perspektive untersucht werden, da die diachronische (entwicklungsgeschichtliche) Betrachtung diese immanente Sprachorganisation nicht in den Blick bekommt. „Die Sprache als System, „la langue“, macht nach Saussure auch das eigentlich Soziale aus, stellt das Intersubjektive bzw. das intersubjektiv Verbindliche dar.“ (Eberle, 1984, S.222) Von der „langue“ unterscheidet Saussure die „parole“, d.h. die gesprochene Sprache, die individuell und kontingent ist. Die „parole“ besteht lediglich aus Einzelfragmenten, deren Organisation aber auf dem System der Sprache, eben der „langue“, basiert. Das primäre Interesse der Linguistik soll es sein, die Strukturprinzipien der Sprache aufzudecken; die Untersuchung der „parole“ in diachronischer Perspektive bei der Untersuchung des Sprachwandels soll dagegen von untergeordnetem Interesse sein. 6.1.2. Die Differenz Untersuchungsgegenstand ist die Struktur; um diese eruieren zu können müssen ihre Elemente zerlegt werden. Hierbei geht es nicht um den Inhalt der Elemente, sondern um die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen. Konstitutiv für das Konzept des Strukturalismus ist hierbei das Konzept der Differenz. Die Identität des Zeichens bestimmt sich durch seine Differenz zu anderen Zeichen. Die Identität eines geschriebenen Buchstaben ergibt sich nicht aus einem Schrifttyp, sondern durch seinen Unterschied zu anderen Zeichen, so wie sich beispielsweise Zahlen von Buchstaben unterscheiden. Genauso ist es auch, wenn wir über den Zug acht Uhr fünfzehn von Charlottenburg nach Potsdam reden. Die Differenz, die für Fahr121 gäste einen Zug zu dem gleichen Zug macht, ist Abfahrtszeit und Ankunftszeit - und nicht etwa der Triebwagen oder der Schaffner. Die von Saussure initiierte synchronische Untersuchung der Sprache war für die Sprachwissenschaft revolutionär und führte wesentlich über die damals übliche (diachronische) Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der Sprache hinaus, wie sie seinerzeit beispielsweise in der deutschen Philologie üblich war. Man war der Meinung, einer präzisen Sprache, die eine präzise Darstellung der Welt ermöglichte, auf der Spur zu sein. 6.2. Anthropologische Variante Der anthropologische Strukturalismus betrachtet im Anschluss an Saussure die soziale Realität als Zeichensystem. Da Symbol und Zeichen zwischen den Menschen Sinn vermitteln, machen sie das Soziale aus und die Vermittlungsleistung gelingt nur, weil es sich um ein zusammenhängendes System handelt. Die Struktur ist nicht als konkretes Phänomen zu beobachten, da differentielle Abstände zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen untersucht werden und diese Abstände sind dann die konzeptionalisierten Objekte des Strukturalismus, die er untersucht. Der Strukturalismus befasst sich also letztlich nur mit den intersubjektiven Aspekten von Kulturgruppen und vernachlässigt das individuell Spezifische. Stellt sich also die Frage, wie eindeutig Zeichen für Subjekte sind. Diese Frage kann der Strukturalismus aber nicht beantworten, denn schon bei Saussure fällt das Problem der Interpretation unter den Tisch. Im Gegensatz dazu untersucht etwa der amerikanische Pragmatismus den Zeichengebrauch und Husserl und Schütz neben den objektiven auch die okkasionellen und subjektiven Sinnkomponenten. In Bezug auf das Zug-Beispiel können wir also fragen, für wen es sich aufgrund welcher Identitätsmerkmale um den „gleichen“ Zug handelt. Zwar erfolgte die Abgrenzung des ‚Identischen’ bzw. ‚Nicht-Identischen’ nach wie vor mittels des Konzepts der Differenz, die Kriterien sind aber je nach Gebrauch, d.h. je nach Person und Situation, verschieden. Betrachten wir die von Saussure vernachlässigte „parole“, stellen wir fest, dass eine subjektive Ambiguisierung von Phonemen (‚Verschlucken’ von Lauten, schlechte Artikulierung usw.) oft aus dem okkasionellen Kontext (z.B. dem Ort des betreffenden Wortes in einem Satzgefüge) interpretativ erschlossen werden kann. Auf jeden Fall wird aber an Saussures Zug-Beispiel die Problematik verständlich, die sich bei der Übertragung der strukturalen Methode vom linguistischen auf den sozialwissenschaftlichen Bereich ergibt. Im sozialwissenschaftlichen Strukturalismus geht es um die (gesell122 schaftlichen) Strukturen, die hinter den semantischen Gehalten stehen, die im Rahmen einer (regional oder/und historisch) spezifischen kulturellen Praxis bedeutungstragend sind, und nicht mehr um Sprachelemente, welche im Vergleich von standardisierten Zeichen untereinander als bedeutungsunterscheidend erkannt werden. Phänomenologie und Strukturalismus stehen also in einem komplementären Verhältnis zueinander: Einerseits befasst sich die Phänomenologie mit der (formalen) Konstitution der Phänomene, andererseits befasst sich der Strukturalismus mit der (formalen) Beziehung der Phänomene untereinander. Untersuchen wir beispielsweise Mythen, durch zuerst intra- dann interkulturelle Vergleiche, können anhand dieser Untersuchungen Strukturen entwickelt werden. Der Wunsch nach Präzision ist hierbei anfangs inhaltsleer und wird erst später durch Systematisieren des Partikularen gefüllt - Inhalt und Form bedingen also einander, anders als bei Saussure, der Inhalt auf Form reduziert. Der Strukturalismus beschäftigt sich nicht mit dem Sinn subjektiver und okkasionaler Handlungen, sondern er konstruiert intersubjektive Codes, die dem menschlichen Handeln und Denken zugrunde liegen sollen. Sprache wird als Code erster Ordnung gedacht, Mythen selber beruhen auf Codierungen zweiter Ordnung. Der Code dritter Ordnung ist dann das Ergebnis der strukturalen Analyse. Dieser Code hat die Funktion die wechselseitige Übersetzbarkeit mehrerer Mythen zu sichern. Der Strukturalismus thematisiert Handlungsrahmen, die es immer und überall gibt, in denen alle möglichen Handlungssequenzen und -konstellationen möglich sind. Der Strukturalismus scheint zwar als komplementäre Unternehmung phänomenologischer Analysen höchst willkommen zu sein, im Verhältnis zur schützschen Phänomenologie erscheint dies jedoch problematisch. Schütz geht es um die pragmatischen Motive, die jeweils an die Typen der subjektiven Relevanzsysteme gebunden sind, um so die Eigenartigkeit der Alltagsdeutungen erfassen zu können. Alltagsdeutungen werden aber gerade vom Strukturalismus durch „objektive“ Deutungen ersetzt. Da der Strukturalismus die Strukturen zwischen konkreten Elementen der sozialen Realität untersucht und nicht die Strukturen der Erzeugungspraxis dieser Realität, wie es die Ethnomethodologie im Anschluss an Schütz getan hat, erscheint die Verbindung von Phänomenologie und Strukturalismus nicht als möglich. 6.3. Der Strukturfunktionalismus - Talcott Parsons (1902-1979) Der Strukturfunktionalismus erkennt sowohl die Sinnhaftigkeit der Sozialwelt an als auch die Notwendigkeit die Sozialwissenschaften handlungstheoretisch zu begründen. Wir müssten 123 daher eigentlich davon ausgehen können, dass die schützschen Überlegungen mit denen des Strukturfunktionalismus, insbesondere mit denen seines Vaters Talcott Parsons (anzumerken ist, dass Eberle (1984) Parsons so einordnet, aber Jensen (1980) nur seine so genannte zweite Phase als strukturfunktionalistisch einordnet) anschlussfähig sein müssten. Dem ist aber nicht so. Parsons hält subjektive Bewusstseinszustände für verobjektivierbar, also objektiv (wissenschaftlich) darstellbar, Schütz nicht. Schütz stützt sich auf die Partikularität des „subjektiven Handlungssinn“, entsprechend ist zwischen den Intentionen des Handelnden und den Intentionen des wissenschaftlichen Beobachters zu unterscheiden - zwischen Alltagswelt und Wissenschaftswelt. Um diesen Unterschied zu überbrücken konstruiert er seine Idealtypen, und genau solche Konstruktionen will Parsons durch seine Architektur der Wissenschaftstheorie überwinden. 7. Die Schütz/Parsons Debatte (1940-1941) Die Korrespondenz zwischen Schütz und Parsons, die sogenannte Schütz/Parsons Debatte, wurde aus dem Nachlass von Schütz veröffentlicht. Anlass der Debatte war der Essay von Schütz zu Parsons’ „Structure of Social Action“ (1937) mit dem Titel: „Parsons’ Theorie sozialen Handelns“ (Teile des Essays sind unter dem Titel „The Social World and the Theory of Social Action“ (Collected Papers, Vol. 2., Den Haag 1964, dt. Gesammelte Aufsätze, Den Haag 1971, (vgl. Sprondel, 1977, S. 10ff) erschienen), den dieser an dem von Joseph Schumpeter und Talcott Parsons veranstalteten „Harvard Seminar of Rationality“ im April 1940 hielt. Der Originaltitel der Debatte lautete: „Zur Theorie sozialen Handelns – Ein Briefwechsel“ und wurde 1977 von Sprondel in Deutschland herausgegeben, zeitgleich wurde sie von Grathof, unter dem Titel „The Schütz-Parsons Correspondence. An Inquiry into the Structure of Social Action“, in Amerika veröffentlicht. 7.1. Talcott Parsons: „The Structure of Social Action“ (1937) Parsons war Ökonom, der zur Soziologie konvertierte und zwar, um eine über die Ökonomie hinausgehende und diese dabei umfassende Theorie eines allgemeinen Handlungssystems zu entwickeln. Er mischt hierzu Marshall (Utilitarist und Grenznutzentheoretiker), Pareto (ebenfalls Utilitarist, er arbeitet mit der für Parsons relevanten Unterscheidung von logischen Normen intrinsischer Rationalität und nicht logischen Wertelementen), Durkheim (radikaler Positivist, erkennt Tatsachen nur dann an, wenn sie beobachtbar sind) und Weber (methodologi124 scher Individualist). Mit seiner Perspektive der analytischen Abstraktion rahmt Parsons diese unterschiedlichen Autoren. Parsons ist zwar „Weberianer“, versteht Individuen also als Teile der Gesellschaft, grenzt sich aber von Weber ab, denn dieser verwende eher zu allgemeine Begriffe und seine wissenschaftlichen Idealtypen seien fiktiv, fiktiv im Sinne Webers und Vaihingers. Im Gegensatz dazu geht es ihm darum ein „generalized system of action“ zu entwerfen, dessen Begriffe, so Parsons, eben nicht fiktiv, sondern realistisch, sind. Parsons nennt daher seine Herangehensweise an das Soziale: „Analytischer Realismus“. Er meint hiermit, dass die wissenschaftlichen Begriffe einerseits nicht konkreten Phänomenen entsprechen müssten, sondern Elementen von diesen, welche von anderen Elementen analytisch entmischbar sind; und zum anderen, dass diese allgemeinen Begriffe nicht fiktiv sind, sondern objektive Aspekte der externen Welt erfassen. Parsons zufolge steht ihm Pareto, der seinerseits die Wirkung von Normen als rationalisierend und emotionalisierend definiert, diesbezüglich am nächsten. Parsons grenzt die Sozialwissenschaft gegenüber den Naturwissenschaften ab, da er die webersche Methode des Verstehens anwendet, mit der er dem Untersuchungsgegenstand „soziales Handeln“ gerecht werden will. Die Handlungen der/des Handelnden orientieren sich an der Zukunft und an einem gemeinsamen Wertesystem (shared symbolic system). Die kleinste Einheit seines Handlungssystems ist die Akteinheit. Sie ist ein Subsystem, das aus vier Elementen besteht: Konkreten - Zielen, - Bedingungen, -Mitteln und aus einer oder mehreren Normen. “Da selbst Normen nur im Bewusstsein des (der) Handelnden existieren können (zumindest wenn sie Handlungsrelevant sein sollen), ist der entworfene Bezugsrahmen (action frame of reference) ‚inherently subjektive’.“ (Eberle, 1984, S. 247) Das allgemeine Handlungssystem sei der unabdingbare logische Bezugsrahmen jeder konkreten empirischen Forschung. Verlässt man die Ebene der elementaren Akteinheiten und fasst die zunehmende Komplexität von Handlungssystemen ins Auge, geraten ihre emergenten Eigenschaften in den Blick, die, so Parsons, zum Gegenstand spezieller Untersuchungen gemacht werden müssten, nämlich zu Untersuchungen der: Ökonomie, Politologie, Soziologie, Psychologie und Technologie. Mit Technologie ist hier der Bezug zu konkreten Inhalten vorliegender Ziele, zu Normen und zu industriellem, militärischem, wissenschaftlichem, erotischem usw. Wissen gemeint. Die Geschichtswissenschaft solle diese Spezialwissenschaften miteinander verbinden. Die unterschiedlichen Untersuchungsperspektiven müssten sich auf das Schema der allgemeinen Handlungstheorie beziehen und ihrem jeweiligen Gegenstand entsprechende Subschemata benutzen. 125 7. 2. Inhaltliche Berührungspunkte zwischen Alfred Schütz und Talcott Parsons Beide beziehen sich auf Weber und beide sind der Meinung, dass die Sozial- bzw. Handlungswissenschaft auf die subjektiven Bewusstseinslagen zurückgreifen müsse. Beide meinen, da Sozialwissenschaftler, die Methode des Verstehens anwenden zu müssen. Beide meinen an einer Handlungstheorie im Sinne einer grundlegenden Methode zu arbeiten. Schütz versteht beider theoretische Bemühungen als komplementär: „Offensichtlich begannen ihre Überlegungen genau dort, wo mein eigenes Buch endet.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 110) Parsons versteht die Anmerkungen von Schütz seinerseits als Kritik und vermutet ein Missverständnis, woraufhin Schütz seinerseits ein Missverständnis vermutet. Der Briefwechsel endet letztlich in beiderseitiger Frustration. 7.3. Die Differenzen ihrer Sinnhorizonte - Phänomenologische und strukturfunktionalistische Weberrezeption – Weber unterscheidet zwischen funktionaler Analyse und motivationalem Verstehen, erstere sei zur forschungsleitenden Orientierung gut, tiefergehende Analysen bedürften aber der verstehenden Methode. Parsons interpretiert die verstehende Methode als den sozialwissenschaftlichen Bezug zu Ideen, Normen und Wertbegriffen, die den subjektiven Aspekt menschlicher Handlung ausmachen und in ihrer Motivationsfunktion untersucht werden müssen. Entsprechend versteht er unter ‚subjektiver Perspektive’ die konzeptuelle Referenz auf symbolische Gegenstände, die im subjektiven Bewusstsein ihre Existenzgrundlage haben. Er mischt also die funktionale Analyse mit der motivationalen Analyse und illustriert dies in seinem Handlungssystem und den mit ihm durch Interrelationen und Interpenetrationen verbundenen Subsystemen, er vermischt also system- und sozialintegrative Aspekte. Zweitens schränkt er die Verwendung der Idealtypen ein, die Verallgemeinerungen dürften nicht zu weit getrieben werden; denn eine konkrete historisch-kulturelle Wirklichkeit zu stark zu desindividualisieren und zu atomisieren, würde dem Postulat des Verstehens direkt widersprechen. Parsons gestaltet stattdessen sein Konzept mit der Unterscheidung zwischen konkreten Typenbegriffen und ihrer Generalisierung einerseits und den Kategorien eines allgemeinen theoretischen Systems andererseits. Parsons hält also den fiktiven Idealtypen Vaihingers (1913) seine “realistischen“ Kategorien entgegen. „Realistisch“ heißt hier: Sie entsprechen seinem „analytischen Realismus“. Die Kategorien würden so von Handlungselementen abstrahieren, dass diese mit dem 126 Konzept der Individualität kompatibel seien. Nur so sei ein adäquates Abstraktionsniveau zu erreichen und ein allgemeines sozialwissenschaftliches Paradigma zu schaffen. Schütz greift Weber anders auf. Er problematisiert stattdessen die philosophischen Aspekte des Handlungssinns, indem er sich mit der stets vorausgesetzten Intersubjektivität auseinandersetzt. Weber und Parsons setzen (wie im Alltagsverstand) Verstehen als intersubjektiv konform voraus. Aufgrund seiner biographischen Situation hätte aber jeder Mensch einen spezifischen, nach Typik und Relevanzen strukturierten Wissensvorrat; entsprechend sei Verstehen eine situierte Interpretationsleistung. Dieser alltägliche Sachverhalt und die Implikation des phänomenologischen Intentionalitätskonzepts (Subjekt-Objekt-Relationen sind untrennbare Einheiten) fordern ihm zufolge dazu auf, Sinn zu indexikalisieren als „Sinn für wen“: für einen Handelnden oder für dessen Beobachter, der dies, so Schütz, entweder alltagweltlich oder wissenschaftlich tun kann. 7.3.1. Die subjektive Perspektive und ihre wissenschaftliche Erfassung Die subjektive Perspektive ist zentraler Diskussionsgegenstand. Beide meinen auf diese zurückgreifen zu müssen, um eine Handlungstheorie entwerfen zu können, stellen sich dieses Vorhaben aber jeweils anders vor. Parsons entwirft sein Kategoriensystem in der Absicht entsprechende Theorie(n) konstruieren zu können. Schütz versucht stattdessen ein handlungstheoretisches Kategoriensystem zu erarbeiten, das dem lebensweltlich vorinterpretierten sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand adäquat ist. Auf Grund seiner Untersuchungen der lebensweltlichen Kognitions- und Verständigungsprozesse, stellt Schütz das Problem der Interpretation in den Mittelpunkt seiner methodologischen Überlegungen, Parsons übergeht es. Beide beziehen sich auf Weber, Schütz einerseits, indem er Webers Begriff des Handlungssinns durch eine sorgfältige Analyse der Kategorien des Handlungssinns ausdifferenziert. Parsons geht andererseits über Weber hinaus, indem er dessen Beschränkungen der verstehenden Methode und der Analyse mittels Idealtypen aufhebt, um so eine durch die ‚moderne’ Wissenschaftstheorie abgestützte Handlungstheorie produzieren zu können. Schütz beharrt auf seiner Konzeption der subjektiven Perspektive, das parsonssche Konzept geht ihm nicht weit genug. Nach seiner Auffassung reicht es nicht aus eine Motivationstheorie zu konzipieren, die auf objektivierte ‚subjective states of mind’ aufbaut; vielmehr gelte es die Sichtweise des Handelnden einzunehmen, wenn man subjektive Sinnzusammenhänge 127 wissenschaftlich erfassen will. Nur aus dieser Sichtweise, nicht aus der objektivierten, könne eine subjektive Perspektive erzeugt werden. In der objektiven Perspektive könnten die spezifischen kognitiven Handlungsorientierungen nicht zum Untersuchungsgegenstand werden. Da kognitive Aktivitäten der Handelnden nicht geleugnet werden könnten, folge hieraus, dass Sinn immer im „Hier“ und „Jetzt“ konstituiert wird und die Sinnhaftigkeit der Welt sich somit im dauernden Wandel befindet. Deduktion sei daher nicht möglich, stattdessen müsse man sich der Idealtypen bedienen, um die Wirklichkeit zu interpretieren, werde dabei aber dieser nicht vollständig gerecht werden. Um nun subjektive und objektive Perspektive zusammenzubringen ist nach Schütz erstaunlicherweise nicht intimer Kontakt zum Handelnden nötig, sondern die „Methode der idealtypischen Modellbildung“. Schützens Vorstellung ist es, hier mit der parsonsschen Handlungstheorie ansetzen zu können. Daher versichert er Parsons, dass es der „unschätzbare Verdienst“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 73) Marshalls, Paretos, Durkheims und insbesondere Webers gewesen sei, die Technik der idealtypischen Modellkonstruktion „in ihrer Fülle und großen Klarheit ausgebildet zu haben“ (ebd.). Wenn reale Menschen durch Puppen ersetzt werden, die den typischen Motiven entsprechen, sei die Sozialwelt sozialwissenschaftlich rekonstruierbar und in Folge entstehe ein „Modell, das der postulierten subjektiven Perspektive völlig entspricht“ (ebd. S. 74). Außerdem sei die Grenze der Akteinheiten mittels der idealtypischen Puppen-Motive zuverlässig bestimmt: „Da der Typus so konstruiert wurde, dass er ausschließlich typische Handlungen vollzieht, fallen bei der Bildung von Akteinheiten objektive und subjektive Elemente zusammen“. (ebd.) Solche idealtypischen Modelle lösen, so Schütz, das Problem der empirischen Erfassung subjektiver Bewusstseinszustände. Die soeben dargelegte schützsche Konzeption idealtypischer Modellbildung scheint seinem Postulat, dass nur der Handelnde weiß, welchen Sinn seine Handlung habe, also wie die Akteinheit begrenzt ist, zu widersprechen. Gemeint ist, dass die im Modell definierte Akteinheit der empirischen nicht entspricht. Verwirrend für Parsons war wohl vor allem, dass Schütz zwei unterschiedliche Definitionen von Rationalität benutzt, je nachdem ob er die Akteinheit oder die subjektive Perspektive thematisiert. Wenn sich wissenschaftliche Rationalität erst auf der Ebene der Idealtypen entfaltet, kann diese nicht zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Alltagslogik taugen, dies ist die Aufgabe der phänomenologischen Lebensweltanalyse. Bezüglich der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung geht es Schütz darum, den idealtypischen Status jeder Theoriebildung zu unterstreichen, was hier also auch für Rationalität und Akteinheit gilt. Hiermit stellt sich das Problem der Adäquanz, d.h. inwieweit sich eine ideal- 128 typisch designte Akteinheit mit der alltäglichen subjektiven oder interaktiven (Schütz ist hier mehrdeutig14) Organisation des Wissens deckt. Das Postulat der Adäquanz soll als Korrelat zum Postulat der subjektiven Interpretation sicherstellen, dass die Sozialwissenschaften sich mit der „wirklichen Sozialwelt“ (ebd. S. 75) beschäftigen. Ausgangspunkt einer Konstruktion von Begriffen, mit denen menschliche Handlungen adäquat erfasst werden, ist, dass sie der unmittelbaren menschlichen Erfahrung zugänglich sind (ebd. S. 73ff). Analysen in der subjektiven Perspektive im schützschen Sinne sind von der Fragestellung geleitet, was die Sozialwelt für den beobachteten Handelnden bedeutet, welchen Sinn er mit seinem Handeln verbindet. „Bei solchen Fragen nehmen wir die Sozialwelt mit ihren gebräuchlichen Idealisierungen und Formulierungen nicht länger naiv als abgeschlossenes und zweifelsfrei sinnvolles Etwas hin, sondern untersuchen den Idealisierungs- und Formalisierungsprozess als solchen, eben die Genese des Sinnes, den soziale Phänomene für uns so gut wie für die Handelnden haben, die Mechanismen der Handlungen, mit deren Hilfe Menschen sich und andere verstehen.“ (ebd. S. 64) Die genaue Analyse dieses Gegenstandes mittels der typisierenden Methode gehört für Schütz „zu den wichtigsten Aufgaben einer Theorie des Handelns“ (ebd. S. 75). Parsons fehle eine solche Perspektive, er müsse seine objektive Perspektive radikalisieren. Andererseits geht es Parsons um wissenschaftliche Modellbildung, sein wissenschaftliches Modell von personalen Idealtypen mit typischen Motiven entspräche „der postulierten subjektiven Perspektive völlig“ (ebd. S. 49f). 7.3.2. Tatsache Tatsachen sind nach Parsons „eine empirisch verifizierbare Aussage über Phänomene in Termen eines Begriffsschemas“. Er bezieht sich hiermit auf Henderson (1932) (vgl. Eberle, 1984, S. 262). Schütz hält dagegen, dass Parsons selbst zwischen Phänomenen und Aussagen über Phänomene unterscheidet, aber lediglich Aussagen über Phänomene Tatsachen nennt. Dabei vermische er bei dieser Herangehensweise an das soziale Handeln folgende drei zu unterscheidende erkenntnistheoretische Konzepte: „1) Tatsachen und Phänomene, wie sie dem menschlichen Bewusstsein gegeben sind. 2) Interpretation dieser Tatsachen und Phänomene im Bezugsrahmen eines Begriffsschemas; 3) Aussagen über die Tatsachen und ihre Interpretation“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 26) 14 Die Mehrdeutigkeit ergibt sich letztlich daraus, dass, wie bereits erwähnt (vgl. I. 2.4.2. dieser Arbeit), die lebensweltliche Intersubjektivität nicht phänomenologisch begründet werden kann. 129 Parsons sieht ebenfalls den Unterschied zwischen den Dingen und Aussagen über die Dinge: „Zweifellos ist die Unterscheidung zwischen dem Inhalt des Wissens, das ein System aufeinander bezogener Aussagen darstellt, und den Dingen, auf die sich die Aussagen beziehen, elementar und fundamental. Die Begrenzung des Ausdrucks ‚Tatsache’ auf eine der Kategorien ist fast willkürlich, aber diese Willkür liegt im Interesse der Klarheit.“ (ebd. S. 83) Die Differenzen sind insofern erklärbar, als dass es Schütz um eine Erkenntnistheorie geht, die sich auf ontologische Sachverhalte bezieht, Parsons’ Interesse hingegen ist ein wissenschaftstheoretisches, ihm geht es um die Konstruktion eines theoretischen Systems. Schützens Dreiteilung erscheint sinnvoll: Einerseits gibt es immer schon Gedächtnis (im Sinne der Intersubjektivitätsproblematik), gemeint ist, dass es vor den prädikativen Urteilen vorprädikativ interpretierte Phänomene gibt, und es gibt Erlebnisphänomene, die nicht verbalisiert werden können. Parsons meint dies aber auch: Er will „nicht sagen, dass verbale oder andere Symbolisierungen die volle Konkretheit der Erfahrung auszuschöpfen vermöchten. Aber jene Elemente der Erfahrung, die kristallisieren und kommuniziert werden, sind genau jene, welche in Sätzen formuliert werden, zumindest soweit es sich um Wissenschaft dreht. In der Perspektive des Subjekts besteht daher das Wissen über jene Aspekte der Erfahrung, die zu einer bestimmten Form kristallisiert sind, in einem System von Aussagen.“ (ebd. S. 83f) Aus Parsons’ wissenschaftstheoretischer Perspektive geht es also darum, das Wissen der Subjekte als ein sprachliches Aussagensystem zu konzipieren. Schütz kritisiert genau diese Einstellung: Gehe man von Parsons’ Definition des Begriffs Tatsache aus, vermische man den Unterschied zwischen schlichter Alltagsinterpretation sozialer Tatsachen und wissenschaftlichen Aussagen über sie (Schütz/Parsons, 1977, S. 27). Für das Postulat der subjektiven Interpretation, mit dem die an Husserl orientierte Phänomenologie arbeitet, ist diese Unterscheidung jedoch Programm. 7.3.3. Phänomenologischer Status im Sinne Husserls – Norm und Interpretation Parsons erfasst also die subjektive Handlungsorientierung als in ein normatives Wertesystem eingebettet. Schütz hingegen behauptet, in der subjektiven Perspektive im Sinne Husserls gebe es keine Normen. Schützens These, der Normbegriff gehöre nicht zur subjektiven Perspektive, betrifft jedenfalls das Postulat der Sinnadäquanz. Im Folgenden geht es, im Rahmen der Diskussion der subjektiven Interpretation, um das Verhältnis von Normbegriff und der interpretativen paradigmatischen Grundlegung der Sozialwissenschaften. 130 Das Problem der Interpretation beginnt schon bei Rechtsnormen. Richter haben auf Grund der Vagheit der Rechtsnormen ziemlich viel Ermessensfreiheit. Da Normen in unserem Sinne nicht einmal schriftlich fixiert sind, hat das tief greifende methodologische Konsequenzen: „Denn wenn soziale Normen zum Kernstück einer wissenschaftlichen Theorie gemacht werden, ist es offenbar rein technisch unmöglich, die Bedingungen anzugeben, unter denen die Normen realisiert werden. Wohl ist es stets möglich, Alltagssituationen in die Sprache des Rollenmodells zu übersetzen; der umgekehrte Weg ist jedoch ausgeschlossen: alltägliches Verhalten kann nicht aus einem Rollenmodell deduziert werden“ (Eberle, 1984, S. 291) Da Situations- und Normeninterpretationen variabel sind, kann es keine abbildende Beschreibung, im Sinne naturwissenschaftlicher deduktiver Theorien, der untersuchten Phänomene geben. „Damit bricht Parsons’ Anspruch, einen protosoziologischen Unterbau für Theorie in engerem Sinne - nämlich Theorie in Form von „Wenn-dann-Sätzen“ - zu entwickeln, in sich zusammen, und der beanspruchte Status seiner Begriffe wird problematisch. Das normative Modell kann nur aufrechterhalten werden, indem das inhärente Interpretationsproblem überspielt und zu einem rein technischen Problem der empirischen Sozialforschung gestempelt wird. Schütz dagegen behandelt die Interpretationsfrage in der hermeneutischen Tradition als zentral und zieht daraus wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Handlungstheoretische Begriffe haben stets idealtypischen Charakter.“ (ebd.) Parsons meint seinerseits mit seiner Theoriemischung einen erschöpfenden Rahmen für die Analyse der relevanten Aspekte menschlichen Handelns designt (moduliert) zu haben. Er missversteht den phänomenologischen Ansatz Husserls jedoch insofern, als er mit seinem Handlungsschema die Psychologie menschlichen Verhaltens, den ‚real subjective process’, klären will. Und zwar, indem er mit seinen vorgefassten wissenschaftlichen Kriterien, das was relevant ist, ex-ante bestimmt und nicht, wie Schütz es im Sinne der Phänomenologie versucht, die Selbstgegebenheit der Phänomene aus dem subjektiven Erfahrungsstrom (also einer intersubjektiven Verstrickung von Weil- und Um-zu-Motiven) ex-post bestimmt bzw. interpretiert. Dadurch dass Parsons die Intersubjektivitätsproblematik ausklammert, fällt seine Fassung der Subjektivität anders aus als die von Schütz. Entsprechend kritisiert dieser Parsons’ Konzept; In diesem würde fehlen: die „spezifisch sozialen Kategorien des Handelns und der wechselseitigen Interaktion, d.h. mit dem Problem des Bezugsrahmens eines alter ego, an dem das Handeln des Akteurs interpretiert ist.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 117) Was er zur Struktur der Handlung sagt, sei auf ein Subjekt, aber eben auch auf Interaktionen zwischen alter egos an131 wendbar. Daher beschäftige er sich „nicht mit dem für alles menschliche Handeln äußerst wichtigen Zeitelement und beachte nicht die logisch signifikanten Unterschiede zwischen bereits vollzogenen und projektierten Handlungen. Ebenso vermisst man die Kategorien der Personalität und Anonymität. Insbesondere sagen Sie nichts über die spezifische Einstellung, die ein Sozialwissenschaftler gegenüber der Sozialwelt einnehmen muss. Diese Einstellung hängt mit jener des Partners in der Sozialwelt eng zusammen, trägt aber ein ganz anderes ‚Subskript’, welches jeder Interpretation von alter egos Handlungen einen anderen Sinn beilegt.“ (ebd.) Parsons hingegen setzt die gesamte Sozialwelt in allen ihren strukturellen Differenzierungen schlicht als gegeben voraus, er übergeht die Intersubjektivitätsproblematik; auf eine derartige „Art von Analysen der subjektiven Perspektive und ihres Zusammenhangs mit Zeitelementen“ (ebd. S. 120) würde er sich nicht einlassen. Parsons problematisiert nicht die Zeitdimension sozialen Handelns, Schützens „scharfe Dichotomie der Zeitperspektiven“ sei „offensichtlich unhaltbar“ (ebd. S. 133). Erst kurz vor seinem Tode nennt er die schützsche Unterscheidung von Um-zu- und Weil-Motiven sinnvoll. 7. 4. Subjektive contra objektive Perspektive Schütz unterscheidet die alltägliche von der wissenschaftlichen Perspektive. Es stellt sich die Frage, ob dies sinnvoll ist und, wenn ja, inwieweit müsste Parsons sein Konzept eines allgemeinen Handlungssystems verändern? Parsons hält Schütz im Laufe ihres Briefwechsels wiederholt vor, er würde keine empirischen Beispiele für seine Überlegungen liefern: Ohne diesen empirischen Bezug wären seine Überlegungen nicht fruchtbar (ebd. 106f). Empirische Beispiele fehlen tatsächlich in Schützens Überlegungen, Parsons’ Konzeption erfasst diese, für ihn typisch, nur oberflächlich, wenn er zum Beispiel sagt, das Verhalten eines Arztes lasse sich voraussagen, weil er diesen oder jenen Normen folge (ebd. 101). Operiert man mit Schützens differenziertem Realitätsbegriff, landet man stattdessen in einer Detaildiskussion. Schütz problematisiert die bei Parsons fehlende Unterscheidung zwischen der subjektiven Perspektive des Handelnden und der objektiven Perspektive des Beobachters an drei Beispielen: (1) Akteinheit, (2) Rationalitätsbegriff und (3) soziale Norm. 132 7.4.1. Akteinheit Hiermit sind wir wahrscheinlich an einem Dreh- und Angelpunkt bezüglich der schützschen Vorstellungen angelangt, wie man Parsons’ System sozialen Handelns durch eine adäquate Mischung mit der phänomenologischen Lebensweltanalyse weiter ausdifferenzieren könnte, und zwar mit dem Ziel durch idealtypische Modellkonstruktion das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, das soziale Handeln, wissenschaftlich darzustellen. 7.4.1.1. Das Verhältnis von Selbst- und Fremdinterpretation der Akteinheit Hier geht es um die Frage, inwieweit Selbstinterpretation einer Handlung durch den Handelnden und Fremdinterpretation dieser Handlung durch einen Beobachter sich decken bzw. auseinander fallen. Schützt untersucht die Akteinheit im Rahmen der Unterscheidung von subjektiver Perspektive des Handelnden und objektiver Perspektive des Beobachters. Parsons problematisiere nicht, wie die Elemente der komplexen Struktur der Akteinheit (Ziel, Mittel, Bedingungen, Normen) in der empirischen Analyse operationalisiert werden können. Schütz tut dies, indem er feststellt, dass ein Akt stets ein Prozess in der Zeit ist. Ein Wissenschaftler könne nur in einer expost Perspektive beobachten, der Handelnde hingegen operiere zukunftsorientiert. Die Zukunft nehme er aus seinem subjektiven System von Um-zu- und Weil-Motiven wahr. Die Um-zu-Motive lieferten ihm dabei in sich verschachtelte Pläne, nur wenn er räsonierend inne halte, frage er sich nach dem Sinn seines Lebens (Weil-Motive). Die Grenze des Handlungsentwurfs seien also die Grenzen der Akteinheit, die der Handelnde nur selbst kennt und die sich aus seinem subjektiven Relevanzsystem ergeben. „Daher ist auch nur“ der Handelnde „in der Lage, seine eigene Handlungssysteme in genuine ‚Akteinheiten’ zu ‚zerlegen’.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 56) Denn letztlich „entscheidet der Beobachter nach eigenem Ermessen, ob die beobachtete Handlung als vollständig vollzogen angesehen werden soll oder als Teil einer noch im Fluss befindlichen größeren Handlungskette. Für den Beobachter ist daher die Akteinheit, deren Anfang und deren Ende, nicht mehr identisch mit der Spanne des Entwurfs des Handelnden.“ (ebd. S. 56f) Dasselbe gilt für das „Problem der ‚Rollen’, die ein Individuum in der Sozialwelt annimmt.“ (...) „Nur ego, das im Rückblick Handelnder genannt werden wird, kann die Rolle festlegen und beschreiben, die es im Vollzug einer entworfenen Handlung übernehmen wird. Nur ego kann sagen, auf welcher mehr oder weniger zentralen Ebene seiner Persönlichkeit sie lokalisiert ist, welchen Grad von Intimität sie besitzt etc.“ 133 (ebd. S. 58f) und nicht der wissenschaftliche, objektive Beobachter. Parsons widerspreche sich selbst, wenn er einerseits sagt die „subjektive Perspektive sei unverzichtbare Voraussetzung einer Handlungstheorie“ und andererseits, dass es „dennoch möglich ist, subjektive Phänomene im Rahmen eines objektiven Begriffsschemas zu bearbeiten“ (ebd.). Schützens Konzept des Handlungssinns geht davon aus, dass Sinn sich im „Hier und Jetzt“ konstituiert und sich je nach lokalem und zeitlichem Standort des Interpreten modifiziert. Gemeint ist also, dass sich sowohl das subjektive Motivsystem von Moment zu Moment ändert als auch der Sinn abgelaufener und zukünftiger Handlungen. Auch ändert sich der Sinn einer Handlung, je nachdem, ob man sie von dem Standpunkt des Handelnden oder des Beobachters aus bedeutet, wobei sowieso nur der Handelnde den „wahren“ Sinn seiner Handlung kenne. Stellt sich die Frage, ob von dieser Disposition Erkenntnis überhaupt möglich ist oder ob davon ausgegangen werden kann, dass Handlungen durch sprachliche Typisierungen soweit objektiviert sind, dass die Selbstinterpretation des Handelnden im Medium der gleichen Typen erfolgt wie die Interpretation durch den Beobachter? Dann würde sich der Unterschied zwischen Schützens objektiver und subjektiver Perspektive auf die Frage reduzieren, wie die einzelnen Handlungstypen motivational untereinander verkettet sind.15 Tatsächlich hat der bewusstseinsphilosophische Ansatz der Phänomenologie Schwierigkeiten die Intersubjektivität sprachlicher Typen zu begründen. Nichtsdestotrotz ordnet auch Schütz der Sprache in der Sozialwelt einen zentralen Platz zu, sie habe eine primär sinnkonstituierende Rolle. Parsons missversteht aber Schütz, wenn er sagt, dass dieser eine Position einnehme, „von der aus das Bewusstsein eines Handelnden der unmittelbaren Erfahrung mittels phänomenologischer Reduktion (Husserl) zugänglich ist, ohne dass es nötig wäre, solche ‚Erfahrung’ in irgendeinem Begriffschema (Henderson) zu ordnen.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 128) Dadurch, 15 Handlungstypisierungen können generell in zwei Richtungen erfolgen: Man kann sie in immer umfassendere Handlungszusammenhänge stellen oder sie immer weiter in Subhandlungen unterteilen (Beispiel: Holzhacken kann unterteilt werden in: man bückt sich - ergreift ein Stück Holz – richtete sich auf – legt das Stück Holz auf den Block – ergreift eine Axt – holt mit der Axt in der Hand aus – spaltet das Stück Holz, sofern man es trifft – das gespaltene Stück Holz fällt vom Bock auf den Boden), wobei man aber an die Grenzen der Plausibilität stößt. Subhandlungen sind nicht konstitutiv, konstitutiv für die Handlung ist vielmehr die Intention, das heißt dass sich der Sinn einer Handlung aus dessen Handlungsentwurf bestimmt. Des Weiteren kann man sich mit Parsons auf den Standpunkt stellen das sich subjektive und objektive Perspektive auf Grund des Gebrauchs von Sprache nicht radikal voneinander unterscheiden. „Stellt man nämlich in Rechnung, dass die Sinnhaftigkeit der Welt primär mittels sprachlicher Typen konstituiert und strukturiert wird, so folgt daraus, dass die Sprache Intersubjektivität gewährleistet und selbst innerseelische Ereignissen eine intersubjektive Logik verleiht (Giegel, 1969).“ (Eberle, 1984, S. 273) 134 dass Schütz vom phänomenologischen Standpunkt aus die subjektive Perspektive betont, spitzt er den Umgang mit Sprache auf den Akt des Interpretierens zu. Er arbeitet heraus, dass Sprache zwar eine interkulturell geteilte Ressource sei, die in ihrer Situiertheit aber derart komplex (mannigfaltig) ist, dass Intersubjektivität keineswegs gewährleistet ist. Erst ein Zugang zu dem Akt des Interpretierens erschließe die subjektiven und okkasionellen Sinnkomponenten. Bezieht man das soeben Gelesene auf Interaktion, wird das Auseinanderfallen der unterschiedlichen Perspektiven deutlicher -, es ist möglich, dass im Laufe der Interaktion ein neues Handlungsziel entsteht (z.B. durch geschäftliche - strategische Interaktion). In der alltäglichen (geselligen) Interaktion lässt sich etwaige Intentionalität, mit der sich die Akteinheit ja vielleicht abgrenzen ließe, meist nur noch als Selbstzweck interpretieren. „Je komplizierter die Handlungsstruktur und je vielschichtiger der Handlungszusammenhang, desto mehr Gewicht hat der Akt der Interpretation.“ (Eberle, 1984, S. 275) Dies gilt vor allem, wenn ein Beobachter den abgelaufenen Motivzusammenhang sequenziell rekonstruiert. Der Interpretationsakt ist zentral, er gestaltet (konstruiert) das Ereignis und damit auch die Ereignisse die an diesen anknüpfen, woraufhin ein differenzierender Prozess ansetzen kann, dessen Ereignisse wiederum Interpretationsakte erzeugen. Beispielsweise ist es ein großer Unterschied, ob man die Akteinheit Demonstration mit anschließendem Abbrennen einer Bank in subjektiver oder objektiver Perspektive interpretiert: War das Feuer ein geplanter Handlungsentwurf oder war es ein sich selbst organisierender Entscheidungsprozeß? Hier wird der zentrale Stellenwert des Interpretationsaktes deutlich. Der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Perspektive ist besonders brisant, wenn es, etwas weiter unten (vgl. I. 7.4.3. dieser Arbeit), um den Begriff der sozialen Norm geht. 7.4.1.2. Schützsche Motivtheorie contra parsonssche Norminternalisierung Schütz ist der Meinung er mache mit seiner Motivationstheorie „wirklich ernst“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 48) mit der subjektiven Perspektive. Die Um-zu-Motive stellten die Organisation der Planungssysteme des Subjekts dar, Weil-Motive16 hingegen seien Systeme 16 Die Soziologie setzt insofern an Weil-Motive an, weil sie sich mit sozialen Phänomenen beschäftigt welche, transindividuellen Charakter haben. Zentral für die Soziologie ist mithin ein Diktum Durkheims (1895): Soziales aus Sozialem zu erklären, soziale Tatsachen müssen als dem Bewusstsein äußerliche Dinge begriffen werden. Allerdings erkennt Durkheim (1897) in seiner Untersuchung des Selbstmords, dass die kognitiven Orientierungen der Handelnden nicht übersehen werden dürften, entsprechend entwirft er unterschiedliche Handlungstypen. Die sozialstrukturellen Bedingungen, die zum Selbstmord oder einem anderen Ding geführt haben, wirken erst, wenn sie vom handelnden Menschen vollzogen werden. Es geht also nicht nur um die Wechselbeziehungen 135 „die in der amerikanischen Literatur17 zutreffend unter dem Begriff der ‚sozialen Persönlichkeit’ bearbeitet werden“ (ebd. S. 50). Einerseits können „in der subjektiven Perspektive alle Sozialphänomene in Handlungen von Personen in der Sozialwelt zerlegt werden“ und andererseits können diese Handlungen selbst entweder als Systeme von Weil-Motiven, die ihre Basis bilden, interpretiert werden ..., oder als Systeme von Um-zu-Motiven, die ihre Ziele integrieren“ (ebd. S. 142, Anm. 60). Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es die (subjektive und interaktive) Verflechtung dieser Systeme zu untersuchen. (142, Fn. 63). Seine Motivtheorie enthält keine objektiven Elemente, stattdessen werden subjektive Tatsachen in ausschließlich subjektiven Termen beschrieben (ebd. S. 50). Diese Beschreibungen könnten die objektiv-analytischen Elemente der parsonsschen Akteinheit (Ziel, Mittel, Bedingungen, Norm) ersetzen. Es geht nicht darum „Aussagen über ein konkretes Substrat der Un-zu- bzw. der Weil-Motive“ (ebd. S. 51) zu machen, sondern mittels phänomenologisch hergestellter Definitionen die Adäquanz der subjektiven Perspektive zu sichern. Sie ist dann gesichert, wenn nach Zielen und Ursachen unterschieden werden kann. Um-zu-Motive bilden den Kern der kognitiven Handlungsorientierung. Schützens Äußerungen lesen sich so, als seien mit ‚subjektiver Perspektive’ die Um-zu-Motive des Handelns angesprochen, während der Status der Weil-Motive ambivalent bleibt. Denn auch WeilMotive bilden Bestandteile der kognitiven Handlungsorientierung, sind also von Schütz, wie oben angedeutet, mehrdeutig gefasst. Der Grund für diese Ambiguität liegt darin, dass er bzgl. der Weil-Motive keine weiteren Unterscheidungen trifft. Weder unterscheidet er WeilMotive, die dem Handelnden bewusst sind, von jenen, die ihm unbewusst sind, noch jene, die in der aktuellen Handlungssituation relevant sind von denen der Erfahrung, die ihm gedächtnisförmig gegeben sind. Parsons versucht mit seinem Konzept der Norminternalisierung durch Sozialisation bzw. Enkulturation Persönlichkeitssystem und soziales System miteinander zu vermitteln. Im Rückblick (Schütz/Parsons, 1977, S. 132ff), 35 Jahre nach ihrem Briefwechsel, schreibt er, dass Schütz die „Internalisierung von Objekten in der Lebensgeschichte des Individuums“ nicht mit konzeptionalisiert hätte. Schützens Konzept der subjektiven Perspektive sei nicht angemessen, da er sich nicht vorstellen könne, dass die subjektive Erfahrung des Menschen analytisch von der Objektwelt unabhängig sein soll (ebd. S. 133). zwischen sozialen Phänomenen sondern auch darum, wie diese hergestellt werden, und daher auch um die Mikroprozesse des sozialen Geschehens. 17 Gemeint sind. William James, George H. Mead, Florian Znaniecki, Gordon Allport und Talcott Parsons. 136 Hier tut er Schütz unrecht. Denn Schütz schreibt, dass der subjektive Wissensvorrat im sozialen Austausch gebildet wird; er schreibt auch vom sozialen Ursprung des Wissens, dies aber nicht in seinem Textentwurf, den er Parsons unterbreitet hat. Er geht vielmehr über Parsons’ Konzept der Norminternalisierung hinaus, indem er den Menschen als sozialisiertes und räsonierendes Wesen beschreibt. Subjektive Erfahrung und Objektwelt konstituieren sich in Schützens Konzeption wechselseitig; und es kann erst ein Etwas zu einem Objekt werden, wenn es bedeutet wird. Fruchtbar wird die parsonssche Kritik dann, wenn der Körper des Menschen mitbeschrieben und somit die affektuelle Seite der Sozialisation miteinbezogen wird. Parsons kann ZielMittel-Beziehungen thematisieren, die gleichzeitig durch affektiv verwurzelte Normen geregelt sind; Schütz dagegen stellt in Anlehnung an Weber das „affektuelle Handeln“ dem „rationalen Handeln“ polar gegenüber - der Handelnde agiert entweder affektgeleitet oder rationalräsonierend. Dabei betrachtet Schütz Affekte neben Geschmacksrichtungen und Prinzipien, Maximen und Haltungen als Weil-Motive, die sich in mannigfaltiger Erfahrung der Vergangenheit des Selbst gebildet haben, dies seien „die Elemente der Systeme, die der Handelnde als Person verkörpert“ (ebd. S. 50). 7.4.2. Rationalitätsbegriff Die normativen Elemente in Parsons’ Handlungstheorie haben, so Schütz, zwei Aspekte: Erstens, die Struktur des Handlungssystems zu integrieren durch „das normative Muster“, denn dieses schafft „letzte Werte“, welche entscheidend sind. Damit überwinde Parsons die positivistische Zufälligkeit der Zwecke, die die utilitaristische Handlungstheorie kennzeichnet. Zweitens die Regelung nicht rationaler, also affektiver Handlungen (ebd. S. 42f). Nichtrationale Handlungen hätten, so Schütz, bei Parsons die Funktion die Lücke zu füllen, die sich durch seine Interpretation des Rationalitätsbegriffs anhand wissenschaftlicher Kriterien auftut. Parsons meint nun, dass die „Rationalität“ einer Handlung sich auf der Grundlage wissenschaftlich verifizierbaren Wissens und folgerichtiger („logischer“) Mittelwahl bemesse. Damit ein Mensch rational handeln kann, muss er über Expertenwissen, „a more extended knowledge of the circumstances (Parsons (1968), S. 59)“ (Eberle, 1984, S. 277) verfügen. Normen integrieren im Gegensatz dazu Handlungen, die nicht diesem logischen Standard folgen, in das System. Schütz widerspricht, diese naive Gleichsetzung von wissenschaftlichem Wissen und wissenschaftlicher Logik „mit den rationalen Elementen des Handelns“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 137 44) sei nicht haltbar. Schütz meint, dass im Alltagshandeln „eine besondere Form der Logik“ (ebd. S. 43) auffindbar sei, die Husserls „Logik der Gelegenheitsurteile“ entspräche, jedoch sei diese Logik noch nicht entwickelt. Parsons begreift Rationalität also anders als Schütz: Er bezieht rationales Handeln auf einen gegebenen Wissensbestand. Ob Menschen rational handeln, ist abhängig von dem gegebenen kulturellen Kontext. Rationalität hängt also von der Adäquanz des Wissens des Handelnden ab, welche mittels wissenschaftlicher Methoden verifiziert werden könnte. Parsons geht von einem allgemeinen Zusammenhang von „Logik und Beobachtung“ (ebd. S. 91) aus. Erfolg beruht dementsprechend auf richtiger Einschätzung der Fakten, ist also planbar. Theoriebautechnisch entmischt Parsons Rationalität insofern, als dass er „von rationalen Elementen des Handelns“ spricht „niemals aber von einem Handeln, das von Vernunft allein regiert wird“ (ebd. S. 90). In der parsonsschen Akteinheit sind stets alle vier Elemente (Ziele, Mittel, Bedingungen, Normen) beteiligt. Als empirisches Beispiel für rationales Alltagshandeln nennt Parsons den Entscheidungsprozeß, der den amerikanischen Präsidenten Roosevelt dazu führte die Engländer gegen die Deutschen zu unterstützen. Roosevelt sei an der Wahrheit entsprechender Fakten interessiert gewesen und hätte sich daher entsprechende Informationen beschafft (ebd. S. 91). Stellt sich die Frage ob dies tatsächlich so gelaufen ist, wie Parsons sich rationales Handeln vorstellt, und ob alltägliches Handeln nach rationalen bzw. organisatorisch organisierten Entscheidungsprämissen abläuft oder überhaupt ganz anders als man sich dies im Allgemeinen vorstellt. Dazu aber mehr unter VII. dieser Arbeit. 7.4.3. Soziale Norm Auch an dieser Stelle zeigt sich, wie problematisch eine Vermischung von objektiver und subjektiver Perspektive ist. Parsons begreift Sprache als intersubjektiv geteiltes Symbolsystem. Wie bereits bemerkt, sieht Schütz das anders. Sprache sei zwar die interkulturell geteilte Ressource, sei aber in ihrer Situiertheit derart komplex bzw. mannigfaltig, dass Intersubjektivität keineswegs gewährleistet sei. Parsons unterstellt jedoch nicht nur der Sprache Intersubjektivität, sondern auch dem System sozialer Normen. Dementsprechend begreift Parsons Sprache als Objektivation erster Stufe, Normen als Objektivationen zweiter Stufe. Normen werden im „shared symbolic system“ repräsentiert und sind somit Parsons’ Lösung des Problems der doppelten Kontingenz 138 (siehe hierzu II. 3.3., II. 3.4. und III. 1.3.3. dieser Arbeit) und daher auch, so Eberle, intersubjektiv kommunizierbar. Darüber hinaus würden sie intersubjektiv anerkannte Geltungen installieren und damit dann auch kalkulierbare Verhaltensregelmäßigkeiten der Gesellschaftsmitglieder bewirken. „Normen sind die zentralen Elemente des Systems; sie bündeln sich zu Rollenerwartungen an die Inhaber sozialer Positionen, ihre Geltung erhält Dauer durch Institutionalisierung, und sie wird gesellschaftlich durchgesetzt durch Sanktionen (soziale Kontrolle). Über den Prozess der Internalisierung vermitteln Normen aber auch das soziale System mit dem Persönlichkeitssystem“. (Eberle, 1984, S. 282) 7.4.3.1. Der Widerspruch von Alfred Schütz bezüglich der parsonsschen sozialen Norm Das Konzept der Norm hat bei Parsons einen zentralen Stellenwert. Schütz versteht dieses Konzept nicht (Schütz/Parsons, 1977, S. 46). Dies liegt wiederum daran, dass beide unter „subjektiver Perspektive“ etwas anderes verstehen. Schütz sagt, dass die Nicht-Beachtung einer Norm eine Form der Sanktion zur Folge habe; wer jedoch eine solche Sanktion in seine Handlung miteinkalkuliere, sei frei eine solche Norm zu missachten (ebd. S. 47). In seiner Konzeption der subjektiven Perspektive gibt es also keine Normen, sondern nur Bedingungen und Mittel. Das Parsons eine Theorie normativer Werte konzipiert, ist für Schütz die Folge der Dethematisierung „der Motive sozialen Handelns“ (ebd. S. 48). Parsons meint zwar, dass die konkreten Situationsbedingungen den Widerstand der Handelnden wecken könnten und normative Werte im individuellen Entscheidungsprozeß miteinkalkuliert werden. Jedoch müssten diese in der Analyse strikt getrennt werden, ansonsten würden sich, wie Durkheim es gezeigt hat, konzeptionelle Schwierigkeiten auftun (ebd. S. 94f). Parsons arbeitet an einer Entmischung der Elemente sozialer Systeme. Eine „Psychologie der Wahl“, die zu betreiben er Schütz unterstellt, interessiert ihn nicht (ebd. S. 95). Eine Motivtheorie, so Parsons, sei ein zentrales Thema seines ganzen Buches (ebd.). Diese unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich wiederum aus ihrer unterschiedlichen Herangehensweise an das Soziale. Parsons geht es (um das Phänomen) der sozialen Ordnung, Schütz geht es um individuell sequenzierte Erfahrungsströme und die Unterschiedlichkeit der Erfahrungsströme zwischen anderen Menschen sowie um die Komplexität bzw. Mannigfaltigkeit der sozialen Räume, die sich in der Interaktion herstellt. Parsons’ Untersuchungsgegenstand sind hingegen die Normen und Rollen, die solche Interaktionen rahmen bzw. deren Bezugssystem sie seien. Je weniger relevant Normen und Rollen in der Interaktion sind, desto 139 unpräziser wird Parsons’ Konzept; dementsprechend wird der Unterschied zwischen geselliger und geschäftlicher Interaktion relevant. In diesem Rahmen erscheint der parsonssche normenkonforme Rollenspieler als Grenzfall. 7.4.3.2. Die Befürwortung von Alfred Schütz bezüglich der parsonsschen sozialen Norm Obwohl Parsons’ Normenmodell des Handlungssystems keine deduktiven Schlussfolgerungen auf alltägliche Handlungssituationen erlaube, sei es doch geeignet als ein „objektives“ Interpretationsschema der Wirklichkeit zu dienen. Seine normativen Werte seien ein hilfreiches Schema für die „Interpretation von Motiven sozialen Handelns“ (ebd. S. 52). Hierzu seien aber erst subjektive und objektive Perspektive strikt auseinander zu halten, und zwar in Form der Frage eines wissenschaftlichen Beobachters: „Was bedeutet diese Sozialwelt für mich?“ (ebd.) Mit dem Normenmodell komme man „in der Analyse sozialer Phänomene, wie etwa Institutionen aller Art, sozialer Beziehungen, auch sozialer Gruppen, ein gutes Stück voran, ohne dass es nötig wäre, den grundsätzlichen Bezugsrahmen zu verlassen, den man etwa wie folgt formulieren könnte: Was bedeutet dies alles für uns, die wissenschaftlichen Beobachter?“ (ebd. S. 63) Wird das handelnde Subjekt ausgeklammert, könne ein „ausgeklügeltes System von Abstraktionen entwickelt und angewendet“ (ebd.) werden. Da aber eine Theorie sozialen Handelns so nicht die „Sozialwelt der alltäglichen Erfahrung“ erfassen könne, müsse sie „an der subjektiven Perspektive mit aller Strenge festhalten“ (ebd. S. 65). Beide Perspektiven seien also legitim, das Problem liege vielmehr in der Vermischung dieser Perspektiven, da bei Wechsel des Bezugs- und Interpretationsrahmens die Begriffe notwendig ihre Bedeutung ändern (ebd). Entsprechend strikt müsse bei objektiven Analysen auf deren Entmischung von der subjektiven geachtet werden, damit diese nicht ihren Bezug zur „Sozialwelt der alltäglichen Erfahrung“ verlieren“ (ebd.). 7.4.3.3. Die Distanz der parsonsschen Konstruktionen von der empirisch-lebensweltlichen Basis Schütz, der eine Handlungstheorie im Rahmen eines interpretativen Paradigmas entwickelt, beschränkt sich auf idealtypische Deutungsmodelle. Gemeint ist Webers Definition der Rationalität, aus der folge, dass die semantische Distanz zum untersuchten Phänomen gewahrt werden muss. Er wollte nicht eine deduktive Theorie im Stile Parsons’ entwickeln, um menschliche Handlungen zu erklären. Daher stellt er die subjektive Perspektive des Interpre140 tationsaktes in das Zentrum seiner Überlegungen. Nur so könnten alltägliche Handlungen und Interaktionen in der Perspektive der Handelnden selbst erklärt werden. Parsons sagt, dass die unterschiedlichen Zeitorientierungen, einerseits die, in der die Handlung entworfen und durchgeführt wird und andererseits die, in der der Handelnde selbst oder ein Beobachter über diese Handlung nachdenkt, sich fundamental unterscheiden. „Abgesehen von allem anderen wird hier für mich eine fundamentale Differenz zu Schütz greifbar. Meine Position beruht teilweise auf meiner andauernden Überzeugung, dass alles wissenschaftliche Denken auf einer bestimmten Ebene sich bewegt und daher bis zu einem gewissen Grad abstrakt ist. Diese Auffassung habe ich von Max Weber und A. N. Whitehead übernommen.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 130) 7. 5. Die Relevanz des Postulats der Sinnadäquanz Weiter oben hatten wir den Normbegriff schon als Ausgangspunkt dafür genommen, um die methodologischen Implikationen des Postulats der subjektiven Perspektive zu entfalten. Die schützsche These, dass der Normbegriff nicht zur subjektiven Perspektive gehöre, betrifft aber das Postulat der Sinnadäquanz, um welches es geht: Mit dem Postulat der Adäquanz (ebd. S. 75) will Schütz die Konsistenz der wissenschaftlichen mit den alltäglichen Konstruktionen sicherstellen. Daher ist es für ihn immer mit der subjektiven Perspektive verbunden. Auch „objektiv“ beobachtbare körperliche Phänomene erhalten erst in der subjektiven Perspektive Sinn. Sinnadäquanz muss nach Schütz einerseits mit empirischer Validierung gekoppelt werden; andererseits muss das Postulat auch auf die wissenschaftliche Konstruktion idealtypischer Modelle angewendet werden. Er kalkuliert so diesen Unterschied in seine Vorstellungen mit ein. Dies wird in seiner Kritik an Parsons besonders deutlich. Subjektiv seien im strikten Wortsinn die „tatsächlichen Kategorien im Bewusstsein des Handelnden“, alle anderen Kategorien seien „lediglich geeignete Interpretationsschemata des Beobachters und daher objektiv“ (ebd. S. 45). Man kann bei Schütz also zwei Konstruktionsebenen unterscheiden: Einerseits die der alltäglichen Konstruktionen, andererseits die der wissenschaftlichen Konstruktion. Strikt subjektiv ist nur die alltägliche Konstruktion, entsprechend kann die wissenschaftliche Konstruktion, sofern mit der „subjektiven Perspektive ernst gemacht werden soll“ (ebd. S. 48), nur lebensweltliche Kategorien verwenden. Damit die beiden Konstruktionen in einer konsistenten Konstruktion miteinander abgestimmt werden können, muss die wissenschaftliche Konstruktion zur alltäglichen auf Distanz gehen. Ansonsten hätte die Unterscheidung zwischen wissen141 schaftlicher und alltäglicher Konstruktion keinen Sinn. Parsons stellt nie die entsprechende Frage: „Was geht im Bewusstsein des Handelnden, in dessen Perspektive, tatsächlich vor?“ (ebd. S. 52) Die wissenschaftliche Distanz zu dessen Perspektive muss allerdings so konstruiert werden, dass sich die Handelnden in der wissenschaftlichen Konstruktion in adäquater Weise wieder erkennen können, wie es z.B. bei Webers Begriffen der Bürokratie und der innerweltlichen Askese der Fall sei. „Zweifellos ist das Problem, subjektive Phänomene mit objektiven Begriffen angehen zu müssen, die entscheidende Frage der sozialwissenschaftlichen Methodologie.“ (ebd.) Sie wird im Folgenden anhand des Begriffs der sozialen Norm und der sozialen Rolle dargestellt. 7.5.1. Soziale Norm Schütz hat Parsons entgegengehalten, der Begriff der sozialen Norm gehöre der objektiven Perspektive an und sei daher aus der Terminologie einer Theorie sozialen Handelns zu streichen. Kehren wir nochmals zu seinem Argument zurück: In der subjektiven Perspektive gibt es danach keine Norm, die nicht in Bedingungen oder Mittel zerlegt werden kann, entsprechend kann die etwaige Sanktion in das Handeln miteinkalkuliert werden und ist somit frei die Norm zu missachten; der Handelnde wird also als kognitiv offen interpretiert. (Schütz/Parsons, 1977, S. 47) Nun argumentiert Parsons: Normen seien nicht nur kognitiv, sondern vor allem auch affektiv verwurzelt (ebd. S. 95). Schütz ist andererseits der Ansicht, dass, wenn dies so sei, jeder nichtrationale Akt zumindest wertrational sein müsse und insofern vernünftig sei. Außerdem vermische sich so der Unterschied, der generell „noch zwischen normativen Werten und Motiven besteht“ (ebd. S. 48). Schütz verkennt hier offenbar nicht die parsonssche Negativ-Definition der Normen: Sie grenzt eher die Handlungsfreiheiten der Individuen ein, als dass sie spezifische Handlungsweisen bzw. -Motive konstituiert. Ebenso berücksichtigt Schütz nicht, dass Handlungen auch an persönliche Emotionen gekoppelt sind. Bezüglich des Handlungsspielraums und der affektiven Verwurzelung greift Schützens kognitiver Ansatz zu kurz. Parsons gibt Schütz Recht in Bezug auf „die situationalen Bedingungen oder Notwendigkeiten“ (...) „Ich will gerne zugestehen, dass Gesetze und andere Normen, wenn sie erst einmal institutionalisiert sind, bei einem konkreten Handelnden einen ähnlichen Status gewinnen können wie andere außermenschliche Bedingungen.“ (...) „In bestimmten Grenzen mag es sehr wohl zutreffen, dass für ein konkretes Individuum der Prozess der Wahl zwischen Mitteln und Zwecken, die von einem normativen Wert regiert werden, ähnlich oder identisch ist 142 mit seinem Prozess, all das in Rechnung zu stellen, was im analytischen Sinne Situationsfaktoren heißt.“ (ebd. S. 94f) Aber: „Es war genau diese Konfusion, über die ich gerade spreche, nämlich faktische Situationsbedingungen mit normativen Mustern zu vermengen, auf die die prinzipiellen Schwierigkeiten in Durkheims frühem Begriffsschema zurückgehen und die das Problem des ’Gruppenbewusstseins’ haben entstehen lassen.“ (ebd. S. 94) 7.5.2. Situationsbedingungen, Normen und dramaturgisches Handeln Habermas greift die Unterscheidung zwischen Situationsbedingungen und Normen auf und fügt noch einen dritten Handlungstypen, dramaturgisches Handeln (im Sinne von Goffman), hinzu. „Für das kommunikative Handlungsmodell ist Sprache allein unter dem pragmatischen Gesichtspunkt relevant, dass Sprecher, indem sie Sätze verständigungsorientiert verwenden, Weltbezüge aufnehmen, und dies nicht nur wie im teleologischen, normengeleiteten oder dramaturgischen Handeln direkt, sondern auf eine reflexive Weise.“ (Habermas, 1981a, S. 148) Diese werden von den Sprechern zu einem System integriert „und setzen dies gemeinsam als einen Interpretationsrahmen voraus“ (ebd.). In der Interaktion werden diese Weltbezüge für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung mobilisiert. Der Sprecher bzw. Aktor erhebt somit in Bezug auf die Handlungstypen implizit drei Geltungsansprüche, nämlich: „- dass die gemachte Aussage wahr ist (bzw. dass die Existenzvoraussetzungen eines nur erwähnten propositionalen Gehalts tatsächlich erfüllt sind); - dass die Sprechhandlung mit Bezug auf einen geltenden normativen Kontext richtig (bzw. dass der normative Kontext, denn sie erfüllen soll, selbst legitim) ist; und - dass die manifeste Sprecherintention so gemeint ist, wie sie geäußert wird.“ (ebd. S. 149) Die Aktoren, Sprecher und Hörer, suchen Konsens und bemessen diesen an Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit in der Beziehung des kommunikativen Handelns zu drei entsprechenden Welten, auf die sich ihr Interpretationsrahmen systemisch bezieht: zu „- der objektiven Welt (als der Gesamtheit aller Entitäten, über die wahre Aussagen möglich sind); - der sozialen Welt (als der Gesamtheit aller legitim geregelten interpersonalen Beziehungen); und - der subjektiven Welt (als der Gesamtheit der privilegiert zugänglichen Erlebnisse des Sprechers).“ (ebd. S. 149) 143 Teleologischer, normativer und dramaturgischer Handlungstyp sind nur analytisch objektiv zu trennen; im konkreten, empirischen Interpretationsrahmen stellen sie Grenzfälle dar. „An den Modi der Sprachverwendung lässt sich klären, was es bedeutet, dass ein Sprecher, indem er einen der Standpunkte ausführt, eine pragmatische Beziehung aufnimmt - zu etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit der Entitäten, über die wahre Aussagen möglich sind); oder - zu etwas in der sozialen Welt (als Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen); oder - zu etwas in der subjektiven Welt (als Gesamtheit der privilegiert zugänglichen Erlebnisse, die der Sprecher vor einem Publikum wahrhaftig äußern kann), wobei die Referenten der Sprechhandlung für den Sprecher als etwas Objektives, Normatives oder Subjektives erscheinen. Bei der Einführung des Begriffs des kommunikativen Handelns habe ich darauf hingewiesen, dass die reinen Typen verständigungsorientierten Handelns lediglich Grenzfälle darstellen. Tatsächlich sind kommunikative Äußerungen in verschiedene Weltbezüge gleichzeitig eingebettet. Kommunikatives Handeln stützt sich auf einen Deutungsprozess, in dem sich die Teilnehmer auf etwas in der objektiven, der sozialen und der subjektiven Welt zugleich beziehen, auch wenn sie in ihrer Äußerung thematisch nur eine der drei Komponenten hervorheben.“ (Habermas, 1981b, S. 183f) Wie erwähnt schreibt Schütz an Parsons, dass soziale Normen der objektiven Perspektive angehören und daher nicht zu der Theorie des sozialen Handelns passen. Er argumentiert, dass es in der subjektiven Perspektive keine Normen gibt, die nicht in ´Bedingungen´ oder ´Mittel´ zerlegt werden könnten. Wer bereit ist die entsprechenden Sanktionen auf sich zu nehmen, ist frei eine Norm zu missachten. Er übergeht also die Möglichkeit, dass Normen affektiv verwurzelt sein können und verkennt dass Parsons über das Model der Grenznutzentheoretiker hinausgeht. In der phänomenologischen Lebensweltanalyse, in der die der subjektiven Perspektive adäquaten formalen Kategorien sichergestellt werden, erscheinen Normen nicht als Element der kognitiven Handlungsorientierung. Vielmehr sei der ‚unit act’ (Normen, Ziele, Mittel, Bedingungen) durch seine Um-zu- und Weil-Motive zu ersetzen. Schütz erkannte allerdings nicht in seinen Untersuchungen der Lebenswelt die (habermasschen) Typen der Geltungsansprüche, dass ihm diese in der transzendentalphänomenologischen Analyse, die die Seinsgeltung einklammert, nicht auffallen verwundert nicht. Dass sie ihm aber nicht in der phänomenologischen Untersuchung in natürlicher Einstellung auffallen, 144 in der Sinn und Geltung expliziert werden sollen, ist verwunderlich. Schließlich kann man sich in unterschiedlicher Weise über die Geltungsansprüche der subjektiven Erlebnisse einer Person, der Normen einer intersubjektiven Gemeinschaft oder natürlicher Tatsachen hinwegsetzen. Vorstellbar sind in diesem Zusammenhang „mikroskopische“ Untersuchungen über kulturspezifische (also nicht universale, wie bei Habermas) Geltungsansprüche und wie und ob sich über sie hinweggesetzt wird (z.B. über die Normen der formalen Organisation). (Im Folgendem werden wir nicht weiter auf Habermas eintreten.) Des Weiteren ist festzuhalten, dass die parsonsschen Normen keine spezifischen Handlungsweisen oder Handlungsmotive konstituieren, sondern negativ definiert sind und eher Grenzen eines Handlungsspielraums definieren, die oftmals nicht thematisiert werden. Die Grenzen des normativen Rahmens lassen sich gerade an Handlungen erkennen, die der Rahmen nicht erlaubt und es gibt Handlungen die nicht aufgrund von negativen Sanktionen, sondern aufgrund von persönlichen Emotionen und nicht aufgrund von Sanktionen unterbleiben (man denke nur an die Hemmung vor einem größeren Publikum zu sprechen). Nichtsdestoweniger gibt es Situationen in denen Normen als Bedingung des Handelns einkalkuliert werden. Bezüglich der affektiven Seite der Norm greift das rationale Modell des Handelns jedoch nicht. Erving Goffman macht schließlich den Begriff der sozialen Norm auf subtile Art in seinen Studien über Interaktionen zwischen Anwesenden fruchtbar. Schütz spricht später, wenn er von Normen spricht, von Gesetzesnormen. Dabei unterscheidet er zwischen subjektiver und objektiver Perspektive: Die objektive Perspektive ist die des Normgebers - die Sichtweise des Normadressaten ist die der subjektiven Perspektive. 7.5.3. Rolle Mit dem Begriff Rolle ist die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft bezeichnet. Eine Rolle kann als Bündel normativer Erwartungen definiert werden, die sich an seinen Träger richten. Deren Interpretationen können unterschieden werden, je nachdem ob es sich um den Rollen-Träger selbst oder um (relevante) Andere handelt. Somit kann behauptet werden, dass das Rollenmodell idealtypischen Charakter trägt; denn das Modell stellt eine Momentaufnahme dar, obwohl Rollen in der Wirklichkeit permanent interpretiert und sozial ausgehandelt werden. Die Rolle im schützschen Sinne ist Teil der objektiven Perspektive, sie bezieht sich auf das soziale System. In der subjektiven Perspektive betrachtet sich der Mensch keineswegs als Rollenträger, er nimmt vielmehr als Person an der Interaktion teil. Menschen orientieren sich, je nachdem um welche Rollen es geht, auch, aber nicht nur, an normativen 145 Rollenerwartungen. Sind Rollen völlig fremdbestimmt, wie die Insassenrolle (vgl. Goffman, 1972), ist uns dieses sehr bewusst, nichtsdestoweniger kann die persönliche Identität gerettet werden. Die Rollentheorie bringt also den Sollens- nicht den Seins-Aspekt zum Ausdruck. In der Interaktion treten wir uns als individuelle Menschen gegenüber - nicht als Rollenträger. Die Rollentheorie, die im „analytisch-realistischen“ Sinne Parsons’ verfährt, hat den Vorteil, dass die Wirklichkeit nach analytisch einheitlichen Gesichtspunkten strukturiert wird, andererseits aber auch den Nachteil, dass nur jene Aspekte ins Blickfeld rücken, welche das konzeptuelle Raster a priori selektiert. Um die Handlungsorientierung erfassen zu können, müssen wir also mehr in den Blick bekommen als die normativen Elemente einer Rolle. Daher wird an dieser Stelle Schützens Konzept der Lebenswelt interessant - denn es gilt all das zu erfassen, was für das Handeln relevant ist. Mit seinem Lebensweltkonzept (zeitliche, räumliche- und soziale Aufschichtung, Wissen) kann die Mikrowelt zerlegt werden. Andererseits können solche mikrosoziologischen Begriffe in der objektiven Perspektive im Sinne von Schütz thematisiert werden. Um Schützens Kategorien für die handlungstheoretisch orientierte Mikrosoziologie nutzbar machen zu können, sind diese Kategorien schließlich noch zu ergänzen, und zwar mit Aspekten der Leiblichkeit, der Differenzierung unterschiedlicher Arten von Weil-Motiven sowie dem Auseinanderhalten verschiedener Typen von Geltungsansprüchen. Die symbolischen Interaktionisten, so Eberle, revidieren die konventionelle Rollentheorie. Sie ergänzen und verfeinern sie mit Begriffen wie: ‚Rollendistanz’, ‚persönliche’ und ‚soziale Identität’, ‚stigmatisierte Identität’ und ‚Schein-Normalität’ (phantom normalcy), ‚Situationsdefinition’, ‚Strategie der Situationsbewältigung’ oder ‚Selbstdarstellungstechniken’, um die Mikrowelt in den Griff zu bekommen. Einem Teil dieser Begriffe attestiert Schütz, dass sie kongruent mit seinem Konzept der Lebenswelt sind. Andererseits müssen solche Begriffe mit phänomenologischen Konzepten untermauert werden, wenn sie gehaltvoll sein sollen. Garfinkel weist beispielsweise Goffman in seiner Agnes-Studie (Garfinkel, 1967c, S. 116-185) darauf hin, dass sein Konzept der „techniques of impression management“ notgedrungen ein Set von als selbstverständlich vorausgesetzten Hintergrundannahmen18 („background expectancies“) zur Grundlage haben müssten, welche die Interaktionspartner einander gegenseitig unterstellen. Wesentlich für Analysen, die im Sinne der schützschen Konzepte erarbeitet werden, ist zumindest, dass auf die Schwelle von der subjektiven zur objektiven Perspektive zu achten ist. 18 Vgl. zu Hintergrundannahmen bzw. Hintergrundwissen auch IV. 2.2. dieser Arbeit. 146 Untersuchen wir nun also das Postulat der subjektiven Perspektive noch einmal anhand der Rollentheorie, die laut Dahrendorf der Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft ist. Parsons, der an die erkenntnistheoretische Einsicht Whiteheads anschließt, dass Erkenntnis nicht ohne Begriffe ist möglich ist, will eine Handlungstheorie entwerfen, deren Vorteil es ist, dass die Wirklichkeit nach analytisch einheitlichen Gesichtspunkten strukturiert wird, deren Nachteil es aber ist, dass nur das beobachtet werden kann, was derart schon vorstrukturiert ist. Die soziale Wirklichkeit ist schon vor der wissenschaftlichen Kategorisierung vorinterpretiert, daher kann dann wohl auch umgekehrt, nämlich bei den Alltagsinterpretationen, angesetzt werden. Wenn sich die Leute nur zu einem kleinen Teil an Norm und entsprechender Sanktion orientieren, muss die ganze Breite der Handlungsorientierung untersucht werden. Man kann also um die subjektive Perspektive zu erfassen nur dann selektiv an den Untersuchungsgegenstand herangehen, wenn man sich bewusst mit einer wissenschaftlichen Konstruktion in der objektiven Perspektive beschäftigt, und sonst nicht. Mit dem phänomenologischen Ansatz wird es im Gegensatz zur konventionellen Soziologie möglich die soziale Mikrowelt bis ins Feinste auszudifferenzieren. Gleichzeitig kann man sich aber auch an den Definitionen der objektiven mikrosoziologischen Begriffe orientieren. Rollenerwartungen können als Typisierungen von Interaktionsmustern gefasst werden, „die gebilligte Methoden zur Lösung von typischen Problemen darstellen und häufig institutionalisiert sind.“ (Schütz, 1972, S. 250) Dies heißt aber nicht, dass man bei Schütz stehen bleiben muss. Erving Goffman hat ein Instrumentarium entwickelt um die Mikrowelt in den Griff zu bekommen; allerdings konnte er selbst die Mikrosoziologie nie von der Makrosoziologie abgrenzen. Er revidiert denn auch die Rollentheorie der klassischen Soziologie; hierbei geht es um Begriffe wie: Rollendistanz, persönliche und soziale Identität, stigmatisierte Identität und Schein-Normalität (phantom normalcy), Situationsdefinition, Strategie der Situationsbewältigung oder Selbstdarstellungstechniken (impression management). Zusammenfassung der Schütz/Parsons-Debatte Schütz will Parsons’ wissenschaftstheoretische Konstruktion, die „Structure of Social Aktion“ (Parsons verwendet die Begriffe Struktur und System übrigens synonym) nutzen, um sein idealtypisches Modell, genannt die objektive Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters, die er durch semantische Vermittlung mit der phänomenologischen Lebensweltanalyse (im Sinne Husserls) von der subjektiven Perspektive des alltäglich Handelnden entmischen will, 147 weiter ausbauen zu können. Damit dies gelingt, will er die parsonssche Akteinheit, in der er objektive und subjektive Perspektive vermischt, die aus konkreten Zielen, Mitteln, Bedingungen und einer oder mehreren Normen besteht und ein zentrales Moment in Parsons’ Theorie darstellt, durch seine Motivtheorie ersetzen. Ein Zwischenergebnis in Schützens Essay lautet den auch: „dass ein normativer Wert, rein subjektiv interpretiert, sich in seiner methodologischen Funktion nicht von der anderer Um-zu-Motive oder Weil-Motive unterscheidet.“ (Schütz/Parsons, 1977, S. 53) In der Schütz/Parsons-Debatte geht es vor allem darum, was unter der subjektiven Perspektive zu verstehen ist, wie diese behandelt werden muss um eine wissenschaftliche Konstruktion an diese anbinden zu können, und inwieweit diese Verbindung das „Postulat der Adäquanz“ (ebd. S. 75) erfüllt. Zentral für Schütz ist seine Vorstellung, wie das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft wissenschaftlich vermittelt werden kann. Schütz bedient sich hier der Um-zu-Motive seiner Motivationstheorie. Er versteht einerseits Parsons’ Konzept der Norminternalisierung nicht, denn der Handelnde könne immer etwaige Sanktionen kognitiv kalkulieren und seinen Um-zuMotiven entsprechend widersprechen. Hierzu gliedere er Mittel und Ziele in Um-zu-Motive, Normen seien hierzu nicht nötig. Parsons’ Normen beinhalten aber nicht nur rationale Elemente, die sich auf einen gegebenen Wissensbestand beziehen, sondern auch emotionale Elemente. Schütz übergeht letztere; er stellt wie Weber affektuelles und rationales Handeln als polare Gegenüber dar. Andererseits meint Schütz, dass das normative Paradigma ein geeignetes Interpretationsschema sei, um die subjektive von der objektiven Perspektive zu entmischen. 148