Psychopathologie für Psychologen Vorlesung 24.10.05 8h00-10h00 Hörsaal UPD Waldau Psychosomatik Chronische Schmerzen Dr. med. S. Begré Stv.-Chefarzt Psychosomatik Klinik für Allgemeine Innere Medizin Inselspital/Universitätsspital CH-3010 Bern e-mail: [email protected] Lernziele 1. Beschreibung des Begriffs „Psychosomatik“ 2. Das Bio-Psycho-Soziale Modell 3. Zusammenspiel zwischen Körper und Seele 4. Kognitives Stressmodell Der „eingebildete Kranke“ 5. Anwendung des Modells auf Phänomen Schmerz 6. Zur biopsychosozialen Anamnesetechnik: • Symptomdimensionen • Psychogeniekriterien 7. Fallvignette 8. Komorbidität bei chron. Schmerzen Definition: Psychosomatik • Begriff ist abgeleitet vom griechischen psyche (Atem, Hauch, Seele) und soma (Körper, Leib). • Lehre von den Zusammenhängen und Wechselwirkungen von Seele und Körper des Menschen. Bezeichnung für eine Krankheitslehre, die psychische Einflüsse auf körperliche Vorgänge berücksichtigt. Geburtsstunde der modernen Psychosomatik Bio-Psycho-Soziales Modell • Science 1977: The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. • „The dominant model of disease today is biomedical, and it leaves no room within this framework for the social, psychological, and behavioral dimensions of illness.“ George L. Engel 1913-1999 Körperliche Störungen sind komplexe Geschehen mit psychischen, psychosozialen und biologischen Komponenten. Wann wird’s krankhaft? • Die Bezeichnungen „psychosomatische Krankheiten“ meint eine pathologische (=krankmachende) Form von Körper-SeeleBeziehung • Das Zusammenwirken körperlicher und psychischer Faktoren für Entstehung und Verlauf von Krankheiten. • Psychosomatik bedeutet nicht, den körperlichen Faktoren weniger, sondern den seelischen Faktoren mehr Bedeutung zu geben! Zwei „hormonelle Stressachsen“ vermitteln die physiologische Stressantwort Reiz aus der Umwelt Stress Cortex „fordernder Chef“ Chef“ Gefühl Amygdala, Amygdala, Hippocampus „Ärger“ Thalamus Hypothalamus CRH Autonomes Nervensystem Sympathikus Hypophyse ACTH Nebennieren-Mark Adrenalin Noradrenalin NN-Rinde Physiologische Reaktionen Cortisol HHN-Achse „Kampf-Flucht-Reaktion“ – akut vs. chronisch Antwort auf akute Gefahr • Schreckreaktion („freezing“) • Flucht („flight“) • Kampf („fight“) • Todstellreflex („fright“) Antwort auf chronische Bedrohung Cannon WB, 1929 Seyle H, 1936 Williams & Bracha, Bracha, Psychosomatics 2004;45:448 • Rückzug („withdrawal“) • Konservierung („conservation“) • Erschöpfung („vital exhaustion“) • Krankheit („biological damage“) • Tod (z.B. Deprivation, Nachsterben) Unterschiedliche Physiologie: z.B. Cortisolwerte, Gerinnung Warum reagieren nicht alle Personen gleich? Stress-Reaktivitäts-Paradigma • Je nach individuellen Voraussetzungen (genetisches make-up, Persönlichkeit, Bewältigungsmöglichkeiten, Alter), gleichzeitig vorhandenen Krankheiten und Lebensumständen kann derselbe Stressor eine unterschiedliche physiologische Aktivierung zur Folge haben. • High reactors zeigen eine relativ grössere physiologische Stressantwort auf Bedrohungen und Belastungen des täglichen Lebens als low reactors. • Heterogenität im Ausmass der physiologischen Stressantwort erklärt unterschiedliche Anfälligkeit bzw. Widerstandsfähigkeit für körperliche Erkrankungen. Cacioppo et al, Ann N Y Acad Sci 1998;840:664 Symptome in der Allgemeinbevölkerung Epidemiologic Catchment Area Program • Befragung bei 13‘500 Personen in den USA. • Schmerz, Erschöpfung, Schwindel sind am häufigsten! • Lebenszeitprävalenz für Schmerzen: Gelenke 37%, Rücken 32%, Kopf 25%, Brust 25%, Extremitäten 24%, Bauch 24%; für Müdigkeit 24%, für Schwindel 23%. • 4 von 5 Patienten erlebten erhebliche Einschränkung bei Alltagsaktivitäten (Beruf, Familie) oder nahmen Medikamente ein oder gingen zum Arzt. • Bei jeder dritten Person fand sich keine organische Erklärung für die Beschwerden. Kroenke & Pierce, Arch Intern Med 1993;153:2474 Beispiel Schmerz • Schmerz entsteht erst im Gehirn. • Abpeicherung von früheren Schmerzerfahrungen in bestimmten Hirnregionen – neuronalen Netzwerken. • Körperliche Gewalt, Folter, Verletzungen etc. • Im späteren Leben wird das Experimenteller Hitzeschmerz Neuronales Netzwerk Schmerzgedächtnis „abgerufen“. • Auslöser können negative Gefühle und Erinnerungen sein, die mit dem Erleben von Schmerzen zusammen abgelegt und quervernetzt wurden. • Die Patienten empfinden Schmerzen ohne aktuelle Verletzung. Schmerzen bei Helikoptergeräusch nach Verletzung im Vietnamkrieg SUBGRUPPEN CHRONISCHER SCHMERZEN „psychische Überlagerung“ bio Nozizeptiv/ neuropathisch Inadäquate Bewältigung Nozizeptiv/neuropathisch Psychische Komorbidität Funktionelle Störung l a i z so Egle, 1999 Psychische Störung psycho „Psychogenie“ • 1. Fehlende Beeinflussbarkeit • 2. Pathologisch-anatomische Diskrepanz • 3. Pharmakologische Diskrepanz • 4. Kommunikative Diskrepanz • 5. Psychosoziale Stressoren • 6. Familienanamnese • 7. < 1 Symptom > 4 Monate (Escobar A, 1987) ♂ > 3 Symptome, ♀ > 5 Symptome (Smith et al, 1986) Kriminalfall: Schmerz 7 Symptomdimensionen • • • • • • • 1. Was - Tat? 2. Wo - Tatort? 3. Wann - Tatzeit? 4. Wie - Tathergang? 5. Wie - Schadenausmass? 6. Wer - Komplizenschaft? 7. Warum - Zeugen? - Welche Art Schmerz? - Lokalisation und Ausstrahlung - Zeitliches Auftreten - Begleitumstände - Intensität - Begleitzeichen - Intensivierende/lindernde Faktoren Fallvignette: Ganzkörperschmerzen Beschwerdeschilderung (1) • Offene Fragestellung: Spontan berichtet die 45- j.Patientin über brennende Schmerzen am ganzen Körper, über zunehmende Ängste vor weiteren, plötzlich auftretenden Krankheitssymptomen, Ein- und Durchschlafstörungen. Schmerzmedikamente unwirksam (Paracetamol, NSAID, Tramal). (Nach eigenen Angaben soll die Patientin wegen verschiedenster Körpersymptome in den letzten Jahren bei verschiedenen Aerzten gewesen sein) Fallvignette: Ganzkörperschmerzen Beschwerdeschilderung (2) • Geschlossene Fragestellung: intermittierend Taubheitsgefühl brennenden Charakters im rechten Arm sowie in der linken Hand und in beiden unteren Extremitäten mit Ausstrahlen auch in den Rücken, oftmals begleitendes Ameisenlaufen in Finger- und Zehenspitzen sowie Kribbeln an beiden Ohrläppchen und um den Mund sowie Bedürfnis nach mehr Luft. • Zusätzlich: seit langer Zeit Oberbauchdruck in der Magengrube und unter dem rechten Rippenbogen. Ausserdem Fremdkörpergefühl in den Augen und „verminderte Tränenflüssigkeit“ beidseits. • Sozial: Eheprobleme; neu Vd auf Drogensucht eines adoleszenten Sohnes. Fallvignette: Persönliche Anamnese • Nach geglückter Beziehungsaufnahme: In den paar letzten • • • • • • Jahren Schilddrüsen-Op wg Cyste, Distorsion re Fuss, Bienenstich mit schwerer allergischer Reaktion und infektiösen Komplikationen, Habseligkeiten gestohlen in den Familienferien, Aengste wegen banalem vaginalem Pilzbefall, Eheprobleme, starke Schuldgefühle gegenüber plötzlich im Heim verstorbenem Vater und ev. drogenabhängigem Sohn, hat ihn schwer atmend intoxikiert gefunden und gerade noch „vom Tod zurückholen“ können, 20 kg Gewichtszunahme innert 2 Jahren trotz Ernährungsberatungen Seit Jahren Reizdarmsymptome St. n. Gebärmutterentfernung in jungen Jahren Migräne seit Kindheit Allergisches Asthma seit 25 Jahren, Antiasthmatica Allergie auf Katzen- u. Pferdehaare Würde gerne arbeiten, jedoch ständig krank Fallvignette: Psychostatus • Bewusstseinsklare, allseits orientierte Patientin in gutem AEZ, leicht adipös (BMI 28.4), die auf die Eingangsfrage, worunter sie leide, zuerst über „brennende Schmerzen am ganzen Körper“ klagt, dann auf offene Nachfrage des Untersuchers etwas vage alle 4 Extremitäten zeigt, in der Folge dann auf Erkundigung des Untersuchers nach weiteren möglichen Beschwerden etwas gehetzt in schneller Abfolge verschiedenste anamnestische Angaben über verschiedenste Körpersymptome, Erkrankungen der letzten Jahre und ihre ungefähre Lebenssituation berichtet. Fehlende Hinweise auf Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen. Denken formal assoziativ, inhaltlich kreisend um zahlreiche Beschwerden, streift dissimulativ familiäre Probleme (Ehe, Vater, Sohn). Die Patientin spricht nur auf intensive Nachfrage über ihre begleitenden Gefühle. Grundstimmung vordergründig eu-, hintergründig hypothym, affektiv ratlos, hilfesuchend, ängstlich, verunsichert. Keine Hinweise für Suizidalität. Differentialdiagnose • • • • • • Fibromyalgie Somatisierungsstörung Konversion Hypochondrie Generalisierte Angststörung Depression DD Psychogene Schmerzen • Krankheitsverarbeitungsstörung (ICD-10 F54) – z.B. Trainingsmangel u. Verspannungen nach Sturz aufgrund einer Angst vor bleibendem Schaden beim nächsten Sturz • Somatischer Kern mit verstärkender komorbider psychiatrischer Störung (z.B. ICD-10 z.B. M + F32) – bei Arthrose + Depression • Krankheitsverarbeitungsstörung nach körperlichem Integritätsverlust (ICD-10 F45.4) – Z.B. Ein Leben lang Landwirt mit plötzlichem Trauma u. vorübergehendem Integritätsverlust trotz nachfolgender struktureller Restitutio ad integrum • „Konversionsschmerz“ (ICD-10 F45.4) – – – – Ambivalenzkonflikt Symptomwahl (<Modell) Lokalisation (<Modell) Konfliktneutralisierung • Psychophysiologisches Stresskorrelat (ICD-10 F 45.3) • Aggravation • Simulation Psychiatrische Komorbidität • 41 % der Gesamtbevölkerung – Davon 18% Abhängigkeitserkrankung (Epidemiologic Catchment Area Study, National Comorbidity Survey) • 20-60% auf Internmedizinischen Abteilungen (Wancata 1998, Hernandez 2001, Spahn 2002) • Chronische Schmerzpatienten: – 2/3 Depression (Davidson, 1985), 1/3 Angststörung (Davidson, 1985; Bradley, 2005), 1/2 Persönlichkeitsstörung (Polatin (Polatin,, 1993) Chronischer Schmerz und Komorbidität (1) • • • • • • • • • • • Sedative, Hypnotika, Alkoholabhängigkeit F1 Medikamentenmissbrauch F55 Depression F32-34 Anpassungsstörungen F43 Schlafstörungen F51 Somatoforme autonome Funktionsstörungen F45.3 Burn-out R53.0 Sexualstörungen F52 PTSD F43.1 Panik F41.0 Generalisierte Angststörungen F41.1 Chronischer Schmerz und Komorbidität (2) • • • • • • • • • • • Konversion F44.4-7 Hypochondrie F45.2 Fibromyalgie M79.0 Schmerzverarbeitungsstörung F45.4 Schmerzzentralisierung F45.4 Fatigue F48.0 Arbeitsunfähigkeit Z Aggravation Z Rentenbegehren F68.0 Münchhausensyndrom F 68.1 Persönlichkeitsstörungen F60 Somatoforme Störungen • • • • • • • (ICD-10 F45) Somatisierungsstörung F45.0 Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.1 Hypochondrische Störung F45.2 Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.3 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.4 Sonstige somatoforme Störungen F45.8 Nicht näher bezeichnete somatoforme Störung F45.9 Somatisierungsstörung ICD-10 F 45.0 • > 2 J. multiple Körpersymptome ohne • • ausreichende somatische Erklärung Festhalten an „bisher unerkannter somatischer Diagnose“ Beeinträchtigung sozialer Funktionen Hypochondrie vs Somatisierung Hypochondrie ICD-10 F 45.2 Somatisierung ICD-10 F 45.0 • Primär Angst • Angst vor somatischer • Primär Symptom • Angst vor somatischer • • • • • • Erkrankung Ueberzeugung Ein Symptom über gewisse Zeit Abklärung Aetiologie: Affekt • • Erkrankung Möglichkeit Multiple Symptome gleichzeitig Symptomentlastung Aetiologie: Physiol. Wahrnehmung ↑ Somatoforme autonome Funktionsstörung ICD-10 F 45.3 • • • • Symptome imponieren als Organerkrankung Vegetative Beteiligung Unspezifische subjektive Klagen Oft psychosoziale Stressoren Generalisierte Angststörung ICD-10 F 45.1 • • • • Frei flottierende anhaltende, generalisierte Angst Vegetative Symptomatik Befürchtung dass Patient oder Angehöriger demnächst erkranken oder verunglücken würde Ev. andere oder weitere Sorgen und Vorahnungen • • • Gehäuft bei Frauen Oft psychosoziale langandauernde Stressoren Tendenz zu Schwankungen und Chronifizierung Fallvignette 2: Beurteilung • Die Beschwerdeschilderung der Patientin bezüglich brennenden • • Schmerzen und Taubheitsgefühlen in den Extremitäten, begleitet von Atemnot und Kribbelparästhesien um den Mund, an den Ohrläppchen, Fingern und Zehen, Gefühl von zu wenig Luft sowie einer Oberbauchsymptomatik ist typisch für eine psychogene Hyperventilation im Rahmen eines chronic distress bei einer autonom vegetativ auslenkbaren Patientin. Eine Konversionsstörung kann nicht sicher ausgeschlossen werden. Montgomery Asberg Depression Rating Scale (MADRS) 24 Punkte, was einer mittelschweren Depression entspricht. Anamnestisch Dermographismus bei langjährig bekanntem allergischem Asthma bronchiale, das unabhängig von den Hyperventilationssymptomen auftritt (Tierhaare, Pollen) Fallvignette 2: Diagnosen • Somatoforme autonome Funktionsstörung des Respirationstraktes ICD-10 F45.33 • leichte Depression ICD-10 32.0 • Aa allergisches Asthma bronchiale Zusammenfassung • • • • • • Psychosomatik: Interaktionen Körper und Psyche Biopsychosoziale Modell Kognitive Stressmodell Spezielle Anamnesetechnik: 7 Symptomdimensionen Schmerz als Paradebeispiel Komorbidität bei Schmerzen