VORWORT Vorwort zur ersten Auflage Sprache ist eines der wichtigsten Mittel, mit denen Menschen Ideen und Gedanken ausdrücken und sich gegenseitig mitteilen können. Die vorliegende Einführung in Sprache und Sprachwissenschaft nimmt deshalb eine Sichtweise ein, in der Sprache vorzüglich als Ausdrucksmittel für Ideen und Gedanken erscheint. Aus einem solchen kognitiv-linguistischen Blickwinkel gesehen ist Sprache ein Teil des gesamten kognitiven Systems, über das Menschen verfügen. Das heißt, Sprache steht in engem Zusammenhang und auch in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung, Kategorisierung und Begriffsbildung von Menschen, mit ihrer Fähigkeit, zu abstrahieren, Gefühle zu empfinden und Absichten zu verfolgen und mit dem menschlichen Schlussfolgern und Denken im Allgemeinen. Zwischen der Sprache und den übrigen Leistungen des menschlichen Geistes bestehen rege Querverbindungen: Sie alle interagieren mit Sprache, prägen sie mit und sind von ihr beeinflusst. So gesehen beschäftigt sich die Wissenschaft von der Sprache also mit der Art und Weise, wie wir Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken und Wünsche in eine Form bringen, die es uns erlaubt, uns auszudrücken und untereinander zu verständigen. Dieses Buch ist Ergebnis des Projektes EuroPILL (European Practical Introduction to Language and Linguistics), das im Rahmen des Sokrates-Programms der Europäischen Union gefördert wurde. Neben der hier vorgelegten Einführung in die Sprachwissenschaft für ein deutschsprachiges Publikum sind daraus auch Einführungen in sechs weiteren europäischen Sprachen hervorgegangen, nämlich in Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch und Spanisch. Bei jeder einzelnen Fassung und insbesondere auch bei der hier vorgelegten deutschen wurde großer Wert darauf gelegt, dass Studienanfänger sie als grundlegende Einführung in die Linguistik verwenden können. Einen der besonderen Vorzüge dieser Einführung sehen wir darin, dass deutschsprachige Studierende auf hohem und doch allgemein verständlichem Niveau von Anfang an sowohl an wichtige deutsche Standardliteratur als auch an die neueste internationale Forschungsliteratur und -diskussion herangeführt werden. Zugleich unterstützen die insgesamt sieben Sprachfassungen auch ein Studium der Sprachwissenschaften auf europäischer Ebene. Studierenden, die an internationalen europäischen Austauschprogrammen teilnehmen, soll in allen Ländern ein sprachwissenschaftliches Studium ermöglicht werden, das sich an gemeinsamen Inhalten orientiert. Ebenso wie die Zielgruppe dieser europäischen Einführung ist auch das an dem Projekt beteiligte Autorenteam multilingual und multikulturell. Mitgewirkt haben (in alphabetischer Reihenfolge): XII SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Johan De Caluwé (Ghent, Belgien) René Dirven, (Duisburg, Deutschland) Dirk Geeraerts (Leuven, Belgien) Chris Goddard (Metz, Australien) Stefan Grondelaers (Leuven, Belgien) Ralf Pörings (Gießen, Deutschland) Günter Radden (Hamburg, Deutschland) Willy Serniclaes (Brüssel, Belgien) Marcello Soffritti (Bologna, Italien) Wilbert Spooren (Tilburg, Niederlande) John Taylor (Otago, Neuseeland) Ignacio Vazquez-Orta (Zaragoza, Spanien) Marjolijn Verspoor (Groningen, Niederlande) Anna Wierzbicka (Canberra, Australien) Margaret Winters (Carbondale, Illinois, USA). Jedes Kapitel der englischen Ausgangsfassung wurde zunächst von einem oder mehreren Autoren gemeinsam verfasst und aufgrund der Vorschläge des Autorenteams dann von den Autoren der einzelnen Kapitel mehrfach verändert. Diese neuen Fassungen schließlich wurden von den Herausgebern in unterschiedlich starkem Maße erneut überarbeitet, um einen für die gesamte Einführung kohärenten Inhalt und einheitlichen Stil zu gewährleisten. Die einzelnen Kapitel wurden von folgenden Mitgliedern des Autorenteams verfasst (die Urheber der Ausgangsfassungen stehen jeweils an erster Stelle): Kapitel 1 - Die kognitive Grundlage der Sprache: Dirven und Radden Kapitel 2 - Lexikologie: Geeraerts und Grondelaers; Dirven und Verspoor Kapitel 3 - Morphologie: De Caluwé; Dirven und Verspoor Kapitel 4 - Syntax: Verspoor, Dirven und Radden Kapitel 5 - Phonologie: Taylor und Serniclaes Kapitel 6 - Kulturvergleichende Semantik: Goddard und Wierzbicka Kapitel 7 - Pragmatik: Vazquez-Orta; Dirven, Pörings, Spooren, Verspoor Kapitel 8 - Textlinguistik: Spooren Kapitel 9 - Historische Linguistik: Winters; Dirven Kapitel 10 - Sprachvergleich und Sprachtypologie: Soffritti; Dirven. Ralf Pörings (Gießen) hat die gemeinsame englische Ausgangsfassung behutsam ins Deutsche übertragen, mit zahlreichen neuen Beispielen und Aufgaben versehen und in enger Zusammenarbeit mit Ulrich Schmitz (Essen) für deutsche Verhältnisse eingerichtet. Das Gesamtprojekt wurde von Ulrike Kaunzner (Bologna) und Ralf Pörings koordiniert. Die Zeichnungen entstammen der Feder von Tito Inchaurralde (Barcelona). Allen am Projekt Beteiligten sei für ihr großes Engagement und ihre sorgfältige und professionelle Arbeit gedankt. René Dirven und Marjolijn Verspoor (Herausgeber der englischen Fassung) Ralf Pörings und Ulrich Schmitz (Herausgeber der deutschen Fassung) VORWORT XIII Vorwort zur zweiten Auflage Für die zweite Auflage wurden alle Kapitel der Einführung sorgfältig durchgesehen und – wo nötig – überarbeitet. Die Literaturhinweise wurden aktualisiert und ergänzt. Das Buch folgt nun der neuen deutschen Rechtschreibung. Wir danken allen engagierten Lesern und Kollegen, die uns seit Erscheinen der ersten Auflage Hinweise auf Fehler sowie Anmerkungen und Kritik zum Inhalt geschickt haben. Besonderer Dank gilt Ulrike Claudi, Markus Egert und Hiroyuki Miyashita für ihre sehr detaillierten kritischen Anmerkungen zur ersten Auflage. Sehr herzlich möchten wir uns bei René Dirven bedanken, der uns unermüdlich mit seinen vielen Verbesserungsvorschlägen bei den Vorarbeiten zu dieser zweiten Auflage unterstützt hat. Essen, im Juni 2003 Ralf Pörings und Ulrich Schmitz Web-Seite zu diesem Buch Unter der Adresse www.linse.uni-essen.de/cell/german/cellgerman.htm bzw. www.linse.uni-essen.de sind Lösungshinweise zu den Aufgaben in den einzelnen Kapiteln abrufbar. Über diese Seite sind auch Informationen zu weiteren Sprachversionen dieser Einführung erhältlich. Über das Portal www.portalingua.uni-essen.de stehen multimediale Lehr- und Lernressourcen zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft zur Verfügung, darunter multimediale Lernmodule mit interaktiven Lernaufgaben, die in verschiedene Bereiche der Sprachwissenschaft einführen. Kontaktadresse der deutschen Herausgeber Die Autoren und Herausgeber dieses Buches würden sich über Rückmeldungen, Anregungen und Kritik freuen. Sie können Ihre Kommentare zu diesem Buch an folgende Kontaktadresse schicken: Prof. Dr. Ulrich Schmitz Universität Duisburg-Essen Fachbereich 3 - Germanistik Universitätsstraße 12 45117 Essen E-Mail: [email protected] XIV SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Einige Konventionen * Ein vorangestelltes Sternchen bedeutet, dass ein Wort, ein Satz oder eine Äußerung als nicht korrekt empfunden wird. Es kann außerdem anzeigen, dass die betreffende sprachliche Form rekonstruiert wurde. ? Ein vorangestelltes Fragezeichen bedeutet, dass Zweifel bestehen, ob ein Wort, ein Satz bzw. eine Äußerung akzeptabel ist. ?? Zwei vorangestellte Fragezeichen bedeuten, dass größte Zweifel bestehen, ob eine Äußerung als akzeptabel gelten kann. ‚...‘ Einfache Anführungszeichen werden verwendet, um die deutsche Bedeutung eines fremdsprachigen Wortes anzugeben. „...“ Doppelte Anführungszeichen markieren Konzepte / Bedeutungen. Sie werden außerdem zur Hervorhebung und für Zitate verwendet. { } Geschweifte Klammern markieren Morpheme. /.../ Schrägstriche markieren Phoneme sowie eine grobe, phonemische Transkription. [...] Eckige Klammern repräsentieren Laute und Allophone sowie eine genauere, phonetische Transkription KAPITEL 1 Die kognitive Grundlage der Sprache: Sprache und Denken 1.0 Überblick Dieses erste Kapitel möchte den Leser mit einigen grundlegenden Aspekten von Sprache und Sprachwissenschaft vertraut machen. Sprache ist ein Mittel zur Kommunikation zwischen Menschen. Wie alle übrigen Kommunikationssysteme zeichnet sich auch Sprache durch den regelhaften Gebrauch von Zeichen aus. Die systematische Untersuchung von Zeichen fällt in den Gegenstandsbereich der Semiotik, die verbale und nonverbale Systeme sowohl menschlicher als auch tierischer Kommunikation analysiert. Man unterscheidet zwischen drei Zeichenarten, nämlich verweisenden Zeichen oder Indizes, abbildenden Zeichen oder Ikons und konventionellen Zeichen, d. h. Symbolen. Den drei Zeichenarten liegen drei unterschiedliche kognitive Strukturierungsprinzipien zugrunde, durch die Formen mit Inhalten in Beziehung gesetzt werden. Im Unterschied zu allen übrigen Zeichensystemen stützt sich die Sprache des Menschen auf alle drei Strukturierungsprinzipien; in ihr finden sowohl indexikalische als auch ikonische und symbolische Zeichen Verwendung. Der größte Teil der menschlichen Sprache besteht allerdings aus Symbolen. Die Sprache ermöglicht es dem Menschen nicht nur zu kommunizieren, sie ist zugleich ein Medium und Spiegelbild seiner Vorstellungs- und Erfahrungswelt. Diese geht aus der Erfahrung des Menschen mit seiner Umwelt hervor und besteht aus Begriffen, die man auch als konzeptuelle Kategorien bezeichnet. Eine ganze Reihe dieser Begriffe bilden die Grundlage für sprachliche Kategorien. Dies gilt aber bei weitem nicht für alle: konzeptuelle Kategorien machen einen viel größeren Teil der menschlichen Begriffswelt aus und sind damit umfassender als das System der sprachlichen Zeichen. Die gewohnheitsmäßige, alltägliche Verwendung von Zeichen legt uns eine bestimmte Sichtweise auf unsere Umwelt nahe. 1.1 Einleitung: Zeichensysteme Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir wollen uns gegenseitig mitteilen, was in unseren Gedanken vor sich geht, was wir sehen, fühlen, glauben, wissen, was wir wollen oder was wir in diesem oder jenem Moment gerade tun. Dies können wir auf ganz unterschiedliche Art und Weise bewerkstelligen. So können wir etwa SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT unserem Erstaunen Ausdruck geben, indem wir die Augenbrauen hochziehen. Mit unseren Händen können wir Formen und Figuren andeuten, etwa wenn wir mit einem Zeigefinger die Form einer Wendeltreppe in der Luft nachzeichnen. Wir können unsere Gedanken aber auch zum Ausdruck bringen, indem wir sprechen. Diese verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten gewinnen für uns als Sprecher und Hörer an Bedeutung, weil wir sie als „Zeichen für etwas“ verstehen können. Durch ein Zeichen wird eine Form mit einer Bedeutung, oder anders gesagt: eine Bedeutung mit einer bestimmten Form in Beziehung gesetzt. Zieht beispielsweise jemand seine Augenbrauen hoch, so kann das als ein Zeichen für sein Erstaunen verstanden werden. Schnäuzt hingegen jemand seine Nase, so wird diesem Verhalten keine besondere Bedeutung zugemessen – wir würden lediglich bemerken, dass sich diese Person aus irgendeinem Grund die Nase geschnäuzt hat. Doch auch das Naseschnäuzen könnte zu einem Zeichen – sagen wir einmal für Protest – werden: man müsste sich nur auf diese Bedeutungszuordnung einigen. Diese Beispiele für Zeichen aus den Bereichen Mimik und Gestik sowie die durch Übereinkunft etablierte Verbindung einer Erscheinung mit einer Bedeutung illustrieren verschiedene Arten von Zeichen. Nach dem Begründer der Allgemeinen Semiotik, Charles Sanders Peirce (18391914), lassen sich drei Zeichenarten voneinander unterscheiden: Index, Ikon und Symbol. Beginnen wir mit dem Index. Er zeigt auf etwas in seiner unmittelbaren Nähe (lat. index ‚Zeigefinger‘). Ein eindeutiges Beispiel für einen Index ist etwa ein Umleitungsschild oder ein Richtungsschild, das den Weg in die nächste Stadt, z.B. nach Berlin, weist. Beide Schilder haben eine für alle erkennbare Bedeutung: „hier entlang“ bzw. „in dieser Richtung geht es nach Berlin“. Bei indexikalischen Zeichen stehen Form und Bedeutung in einer unmittelbaren Beziehung zueinander, die man als Kontiguität bezeichnet. Bei der gesamten Körpersprache des Menschen, so auch bei mimischen Ausdrücken wie hochgezogenen Augenbrauen oder einer gekräuselten Stirn, handelt es sich um Indizes: sie werden als für jeden sichtbare Anzeichen für den Gemütszustand einer Person verstanden, in diesen beiden Fällen für Erstaunen bzw. Verärgerung. Ein weiteres indexikalisches Zeichen ist z.B. ein schlingernder Gang – wir assoziieren unmittelbar, dass die so gehende Person offenbar volltrunken sein muss. Ein Ikon (griech. eikon = ‚Replik/Abbildung‘) ist die sichtbare, hörbare oder auf sonstige Weise wahrnehmbare Darstellung der Sache, für die es steht. Ein ikonisches Zeichen ist der bezeichneten Sache auf gewisse Weise ähnlich. Wenn eine Straße an einer Schule vorbeiführt, so trifft man nicht selten auf ein Verkehrsschild, auf dem zwei Kinder abgebildet sind, die offenbar gerade die Straße überqueren. Dieses Schild soll die Autofahrer darauf aufmerksam machen, auf Schulkinder zu achten, die eventuell die Straße überqueren könnten. Natürlich ist das Schild der dargestellten Situation aus der Realität nur annähernd ähnlich, denn zu einem Zeitpunkt überquert vielleicht nur ein einzelnes Kind die Straße, zu einem anderen dann vielleicht eine ganze Schulklasse. Dennoch ist die Bedeutung des Verkehrsschildes allgemein erkennbar: „Achtung, möglicherweise überqueren Schulkinder die Fahrbahn“. Im Straßenverkehr gibt es eine ganze Reihe von Schildern, die vor eventuellen Gefahrensituationen warnen, indem sie in stilisierter Form Dinge abbilden, durch die bestimmte Gefahren verursacht werden könnten: Kühe, springende Rehe, Kröten. SPRACHE UND DENKEN 3 Darüber hinaus werden auch Abbildungen von Lastwagen, PKWs, Traktoren, Fahrrädern, Flüssen, Brücken, herabfallenden Steinen, S-Kurven usw. eingesetzt. Diese stilisierten Abbildungen sind der bezeichneten Sache in gewisser Weise ähnlich und damit ebenfalls Beispiele für Ikons. Eine weitere Zeichenart ist das Symbol. Im Unterschied zum Ikon und zum Index besteht bei einem Symbol zwischen der bezeichnenden Form und der durch diese Form bezeichneten Bedeutung keine natürliche Verbindung. Die Zuordnung einer Form zu einer Bedeutung beruht nicht auf Kontiguität (wie bei einem Index) oder Ähnlichkeit (bei einem Ikon), sondern auf Übereinkunft (Konvention). Ein Beispiel für ein symbolisches Zeichen aus dem Zeichensystem Verkehrsschilder ist ein auf dem Kopf stehendes rotes Dreieck: zwischen dieser Form und der Bedeutung „Vorfahrt achten!“ gibt es keinen erkennbaren natürlichen Zusammenhang. Vielmehr hat man sich darauf geeinigt, dass mit dieser Form eine bestimmte Bedeutung assoziiert werden soll. Symbole wie militärische Embleme, das Eurozeichen €, nahezu alle Flaggen und eben auch der größte Teil der sprachlichen Zeichen beruhen auf Konvention. Zwischen der Wortform Erstaunen und der Bedeutung, die diese Form für uns hat, gibt es keinen erkennbaren natürlichen Zusammenhang – anders als etwa hochgezogene Augenbrauen (ein indexikalisches Zeichen) vermag nichts an dieser sprachlichen Form direkt auf einen Gefühlszustand zu verweisen. In der Sprachwissenschaft versteht man unter einem Symbol ein Zeichen, bei dem Menschen die Übereinkunft getroffen haben, eine bestimmte Form mit einer bestimmten Bedeutung in Beziehung zu setzen. Dieses Verständnis von Symbol lehnt sich an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes symbolon ‚Wiedererkennungszeichen‘ an. In der Antike verwendete man ein solches symbolon beispielsweise, um Gäste oder Freunde auch noch nach langen Jahren wieder erkennen zu können. Man zerbrach etwa einen Ring in zwei Teile, um ihn dann bei einem Wiedersehen wieder passend zusammenfügen und damit den Freund wieder erkennen zu können. Die beiden Hälften des Ringes bedeuten für sich genommen nichts, ihr Sinn ergibt sich erst, wenn sie wieder zusammengesetzt werden. Ähnlich wie mit einem solchen Ring verhält es sich auch mit der Form und der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens. Die Lehre von den Zeichen und den Zeichensystemen in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen heißt Semiotik (griech. semeion ‚Zeichen‘). Das elaborierteste Zeichensystem, mit dem sich die Semiotik beschäftigt, ist die menschliche Sprache. Doch die Semiotik interessiert sich nicht nur für sprachliche Zeichen, sondern auch für andere Formen menschlichen Kommunikationsverhaltens wie Gesten, Kleidung usw. Nicht nur der Mensch, auch Tiere können unter Umständen mittels sehr ausgefeilter Zeichensysteme miteinander kommunizieren: Bienen signalisieren einander durch komplexe Muster von Tänzelbewegungen die Richtung, Entfernung und Größe einer Honigquelle; Affen verwenden ein Kommunikationssystem aus neun verschiedenen Schreien, um die Größe einer möglichen Gefahr und deren Entfernung anzuzeigen; und Wale verwenden ein System aus ‚Liedern‘, deren Entschlüsselung die Meeresbiologen bis heute vor ein Rätsel stellt. Bei aller Komplexität sind diese tierischen Zeichensysteme in ihren Möglichkeiten doch auch stark eingeschränkt, denn sie alle bestehen nahezu ausschließlich aus indexikalischen Zeichen, die eine unmittelbare Nähe SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT des durch sie bezeichneten Gegenstandes voraussetzen. So kann eine Honigbiene zwar einer anderen Biene den Ort einer Nahrungsquelle (zu einem bestimmten Zeitpunkt) mitteilen, sie kann jedoch nicht zum Ausdruck bringen, wie viel Honig vielleicht in Zukunft zu erwarten ist. Durch den so genannten Rundtanz kann sie einen bis zu 100 Meter, durch den Schwänzeltanz einen bis zu 13 Kilometer entfernten Ort anzeigen. Die Bienen folgen der Leitbiene und gelangen so zu dem bezeichneten Ort. Diese indexikalischen Zeichen sind allerdings auf die horizontale Dimension beschränkt. Dies zeigte ein Experiment in Pisa, bei dem man an der Spitze des Schiefen Turmes eine Honigquelle angebracht hatte: die oben am Turm freigelassenen Bienen vermochten es nicht, anderen Bienen am Fuße des Turmes Informationen über diese Honigquelle zuzutragen. Die Entfernung der Honigquelle wird durch die Geschwindigkeit des Tanzes angezeigt: je größer die Entfernung, desto langsamer ist der Tanz. Der Tanz der Honigbienen hat also auch einen ikonischen Anteil, denn zwischen Entfernung und Fluggeschwindigkeit besteht ein Zusammenhang (vgl. Nöth 2000, 261f). Zwischen den drei Zeichenarten Index, Ikon und Symbol besteht ein klarer Unterschied: sie können unterschiedliche Grade der Abstraktheit erreichen. Indexikalische Zeichen sind in dieser Hinsicht die ‚primitivsten‘ und eingeschränktesten Zeichen: ihre Bedeutung ist an das „Hier“ und „Jetzt“ der jeweiligen Situation gebunden. Auch in menschlicher Kommunikation sind sie weit verbreitet: vor allem in der Körpersprache und bei Verkehrsschildern oder auch auf anderen Gebieten menschlichen Zusammenlebens, wie etwa in der Werbung. So sind die meisten kommerziellen Produkte an sich nur wenig attraktiv. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, versuchen Werbefachleute, sie mit einer für die potentiellen Käufer attraktiveren Welt in Verbindung zu bringen. Wenn dies gelingt, dann verweisen beispielsweise MarlboroZigaretten aufgrund des indexikalischen Prinzips auf das abenteuerliche Leben des amerikanischen Cowboys in Marlboro Country. Im Vergleich zu Indizes erreichen ikonische Zeichen einen höheren Grad der Abstraktheit und sind deshalb auch komplexer. Um sie zu verstehen, muss ihre Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten erkannt werden, d.h. der Betrachter muss die ikonische Verbindung zwischen Form und Bedeutung bewusst herstellen können. Ikonische Darstellungen können der dargestellten Sache in hohem Maße ähnlich sein. So etwa bei Abbildungen von Heiligen, wie sie in der russischen bzw. in der griechischorthodoxen Kirche verehrt werden. Die Abbilder können aber auch stark abstrakt sein – wie im Falle von Piktogrammen, d.h. den stilisierten Abbildungen von Männern und Frauen, Autos oder Flugzeugen usw. Aus diesem Grunde kommen auch ikonische Zeichen in tierischen Kommunikationssystemen höchstwahrscheinlich nicht vor. Im Vergleich zu Indizes und Ikons weisen Symbole den höchsten Grad an Abstraktheit auf. Symbolische Zeichen sind deshalb auch nur in menschlichen Kommunikationssystemen zu finden. Sowohl indexikalische als auch ikonische Zeichen allein können den kommunikativen Bedürfnissen der Menschen nicht hinreichend gerecht werden, denn diese gehen weit über das Zeigen auf Dinge in unmittelbarer Nähe bzw. über das bloße Abbilden von Dingen hinaus. Wir Menschen wollen auch über Ereignisse kommunizieren, die in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen, ebenso wie über Objekte in weiter Ferne und über SPRACHE UND DENKEN 5 Phantasiegebilde oder auch über unsere Gefühle, Sehnsüchte, Enttäuschungen und Hoffnungen usw. Diese Funktionen können nur durch Symbole erfüllt werden. Sie wurden von Menschen überall auf der Welt erfunden, um sich über alle möglichen Themen verständigen zu können. Das elaborierteste Zeichensystem, in dem alle drei Zeichenarten (mitunter auch in Kombination) zu finden sind, ist die menschliche Sprache in all ihren Erscheinungsformen. Ihre universalste Form ist gesprochene Sprache. Selbst wenn Menschen aufgrund von Behinderungen die Laute einer Sprache nicht hören können, so sind sie dennoch in der Lage, mittels Symbolen zu kommunizieren: Gehörlose haben mit der Gebärdensprache eine Form der menschlichen Sprache geschaffen, die nicht auf Lautformen angewiesen ist. Die Gesten der Gebärdensprache beruhen weitestgehend auf Konvention und werden mit bestimmten Bedeutungen assoziiert. Abbildung 1. Beziehung von Form und Bedeutung bei Index, Ikon und Symbol Index Form Bedeutung Kontiguität Ikon Form Bedeutung Ähnlichkeit Symbol Form Bedeutung Konvention Fassen wir anhand von Abbildung 1 nochmals zusammen. Die drei Zeichenarten Index, Ikon und Symbol spiegeln grundlegende kognitive Prinzipien wider, durch die Formen mit Bedeutungen in Beziehung gesetzt werden können. Indexikalische Zeichen stellen das grundlegendste Prinzip dar: bei ihnen stützt sich die Zuordnung von Form und Bedeutung auf Kontiguität, d.h. auf die zeitliche oder räumliche Nähe zwischen Bezeichnendem (der Form) und Bezeichnetem (der Bedeutung). Dinge, die in unserer Vorstellung nahe beieinander liegen, können dabei für einander stehen: so verbinden wir oftmals einen Künstler sehr stark mit seinem Werk und versprachlichen diese Relation in Form von Äußerungen wie Am stärksten haben mich die Picassos beeindruckt. Ikonische Zeichen beruhen auf einem stärker verallgemeinernden und damit abstrakteren Prinzip: hier steht ein Abbild der Sache für die Sache selbst. Dieses Prinzip machen sich Bauern schon seit Jahrhunderten zunutze, indem sie in ihren Feldern Vogelscheuchen aufstellen, deren Form einem Bauern mit einer Mistgabel ähnelt. Die Vögel nehmen diese Nachbildungen als reale Feinde wahr und werden so abgeschreckt. Symbolische Zeichen schließlich ermöglichen es dem menschlichen Denken, über die Grenzen der Kontiguität und Ähnlichkeit hinaus konventionelle Beziehungen zwischen jeder beliebigen Form und jeder beliebigen Bedeutung herzustellen. Auf diese Weise kann eine rote Rose für „Liebe“ oder eine Eule für „Weisheit“ stehen. Diese drei kognitiven Prinzipien der Indexikalität, Ikonizität und Symbolizität stellen die grundlegenden Strukturmomente von Sprache dar, auf die im folgenden Abschnitt etwas genauer eingegangen werden soll. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 1.2 Strukturierungsprinzipien in der Sprache 1.2.1 Das indexikalische Prinzip Der menschliche Geist besteht nur in einem und durch einen Körper. Die Körperwahrnehmung des Menschen bildet die Grundlage für seine Orientierung im Raum. Wir Menschen nehmen uns deshalb als Mittelpunkt der Welt wahr: alles um uns herum erfahren wir mit Bezug auf unseren Körper. Diese egozentrische Weltsicht schlägt sich auch in unserer Sprache nieder. Wenn wir miteinander sprechen, so dient uns unser Standort in Raum und Zeit als Referenzpunkt, um andere gedankliche Einheiten im Raum oder in der Zeit zu lokalisieren. Unseren Standort bezeichnen wir mit hier, den Zeitpunkt unseres Sprechens mit jetzt. Wenn etwa jemand sagt Mein Nachbar ist jetzt hier, so weiß der Hörer dieser Äußerung, dass hier den Ort bezeichnet, an dem sich der Sprecher befindet, und dass jetzt sich auf den Zeitpunkt seines Sprechens bezieht. Das trifft selbst dann zu, wenn es für Hörer und Sprecher eine große Differenz in Raum und Zeit gibt (z.B. bei einem transatlantischen Briefwechsel). Von unserem Standort aus entfernte Orte bezeichnen wir mit da, oder bei größerer Entfernung auch mit da drüben. In ähnlicher Weise bezeichnen wir Zeitpunkte, die vom Zeitpunkt des Sprechens abweichen, mit dann. Sowohl Zeitpunkte in der Vergangenheit (Dann wanderte er nach Australien aus) als auch in der Zukunft ( Dann wird er nach Australien auswandern) können wir so bezeichnen. Wörter wie hier, da, jetzt, dann, heute, morgen, dies, das, kommen und gehen sowie auch die Personalpronomen ich, du, wir werden als deiktische Ausdrücke bezeichnet (griech. deiktos, deiknumi ‚zeigen‘). Deiktika sind immer auf die Perspektive des Sprechers bezogen, aus der heraus dieser die Welt sieht. Sie sind somit von der Situation abhängig, in der sie verwendet werden. Nehmen wir einmal an, in einem Zugabteil habe jemand ein Flugblatt mit dem folgenden Aufruf liegen gelassen: Großdemonstration gegen Sozialkürzungen. Treffpunkt: Morgen, zehn Uhr, hier! Wir wissen weder an welchem Ort, noch zu welcher Zeit dieser Zettel ausgeteilt wurde. Ohne ein Wissen um den situativen Kontext fehlt uns jeglicher Referenzpunkt, der zur Interpretation der deiktischen Ausdrücke in diesem Demonstrationsaufruf notwendig ist. Der Handzettel macht für uns deshalb keinen Sinn. Das Ego des Sprechers stellt aber nicht nur bei der Beschreibung von Ereignissen das deiktische Zentrum dar, von dem aus dieser die Welt betrachtet. Auch wenn er die Anordnung von Dingen im Raum bezeichnen will, so lokalisiert er diese mit Bezug auf sein Ego als deiktisches Zentrum. Selbst Dinge, die im Vergleich zum Sprecher sehr viel größer sind, werden vom Standort des Sprechers aus gesehen und bezeichnet. So sprechen wir normalerweise von unserer Umgebung („alles, was uns umgibt“) und unserer Umwelt („die Welt um uns herum“) und machen damit uns selbst und nicht etwa die doch viel größere Welt zum Bezugspunkt. Wenn wir die Aufmerksamkeit des Hörers in besonderem Maße auf die Welt lenken wollen, so können wir allerdings auch die Welt zum Referenzpunkt machen – wie etwa in dem folgenden Titel einer Fernsehsendung über Umweltschutz: Globus – die Welt, in der wir leben. Wir sind also nicht SPRACHE UND DENKEN 7 gezwungen, immer eine egozentrische Perspektive einzunehmen, sie wird uns aber oft durch unsere Sprache nahe gelegt. Ebenso gut kann sich ein Sprecher auch in die Perspektive des Hörers versetzen und ihn ausdrücklich zum deiktischen Zentrum seiner Äußerung werden lassen. Für Touristenführer bei Stadtrundfahrten ist diese Verschiebung des deiktischen Zentrums durchaus die Regel: Zu Ihrer Rechten sehen Sie das mittelalterliche Kloster. Das Ego dient auch als deiktisches Zentrum, um Dinge in Bezug auf andere Dinge zu lokalisieren. Wenn der Sprecher in Abb. 2a sagt Das Fahrrad steht hinter dem Baum, so zieht er in Gedanken eine Orientierungslinie von seinem Standort aus zum Baum und lokalisiert dann das Fahrrad in Abhängigkeit von seinem Standort auf dieser Linie als hinter dem Baum. Wenn der Sprecher seinen Standort verändert (2b), verändert sich auch seine deiktische Orientierung, und das Fahrrad befindet sich von seinem neuen Standort aus gesehen vor dem Baum. In (2c) und (2d) wird die Position des Fahrrads nicht in Abhängigkeit vom Standort und der Perspektive des Sprechers beschrieben – Autos und Gebäude haben eine eigene Vorder- und Rückseite. Abbildung 2. Deiktische Orientierung (a, b) und intrinsische Orientierung (c, d) a. Das Fahrrad hinter dem Baum b. Das Fahrrad vor dem Baum c. Das Fahrrad hinter dem Auto d. Das Fahrrad vor dem Auto Diese intrinsische Orientierung, die wir von Menschen geschaffenen Artefakten wie dem Auto in den Abbildungen (2c) und (2d) zumessen, geht wiederum auf unsere Erfahrung mit der räumlichen Ausdehnung unseres Körpers zurück: sitzt der Fahrer im Auto, so sind die Vorderseite des Fahrers und die Vorderseite des Wagens in gleicher Richtung orientiert: rechts vom Fahrer befindet sich die rechte, links vom Fahrer die linke Seite des Autos. Die Rückseite des Autos ist auch für den Fahrer hinten. So wie wir in Bezug auf unseren Körper von vorne, hinten, oben, unten, der linken und der rechten Seite sprechen, so nehmen wir SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT auch für Hemden, Stühle, Autos, Häuser, Schränke und andere Artefakte jeweils eine intrinsische Orientierung an. Wir benutzen diese Dinge richtungsgebunden mit Bezug auf unsere eigene Vor- und Rückorientierung. Diese Artefakte haben deshalb für uns eine vordere, hintere, linke und rechte Seite, ein Oben und ein Unten, die von der Perspektive des Sprechers unabhängig ist. Auf einer viel grundlegenderen Ebene übertragen wir unsere egozentrische Orientierung auf den Menschen an sich. Die psychologische Nähe, die wir zu unseren Mitmenschen spüren, führt zu einer anthropozentrischen Perspektive (griech. anthropos ‚Mensch‘). Unsere anthropozentrische Orientierung beruht auf der Tatsache, dass wir in erster Linie an unseren Mitmenschen interessiert sind, an ihren Handlungen, ihren Gedanken, ihren Erfahrungen, ihrem Besitz, ihren Bewegungen usw. Bei der Beschreibung von Ereignissen nehmen Menschen deshalb stets eine privilegierte Stellung ein: wenn wir ein Ereignis beschreiben, in dem in irgendeiner Weise ein Mensch vorkommt, so wird dieser tendenziell zuerst genannt. Er bildet typischerweise das Subjekt des Satzes. Die folgenden Beispiele haben alle ein menschliches Subjekt und machen deutlich, wie wir üblicherweise Ereignisse oder Zustände beschreiben: (1) a. Der Streber kennt das Gedicht natürlich mal wieder in- und auswendig. b. Karl hätte gerne noch ein Stück Kuchen gegessen. c. Ich habe schon wieder meine Kontaktlinsen verloren. Eine nicht-menschliche Einheit wird nur dann einer menschlichen als Subjekt des Satzes vorgezogen, wenn sie besonders in den Vordergrund gestellt werden soll. Wenn beispielsweise ein Lehrer den Wissensabstand zu seinen Schülern hervorheben will, so könnte er sagen: Morgen muss dieses Gedicht aber von jedem hier in- und auswendig gekannt werden. Da es aber sehr unwahrscheinlich ist, dass wir uns von uns selbst (und in diesem Fall von unseren Kenntnissen) distanzieren wollen, werden wir kaum sagen: *Dieses Gedicht wird von mir in- und auswendig gekannt (ein vorangestelltes *Sternchen markiert einen sprachlichen Ausdruck als nicht akzeptabel). Satz (1b) lässt nur ein menschliches Subjekt zu, und auch (1c) lässt sich vielleicht noch als ?Meine Kontaktlinsen sind mir schon wieder verloren gegangen, aber wohl kaum als *Meine Kontaktlinsen wurden schon wieder von mir verloren konstruieren. Auch in anderen Bereichen der Grammatik erhält der Mensch eine besonders herausragende Rolle. Diese kann in den Grammatiken verschiedener Sprachen ähnlich, aber auch ganz unterschiedlich hervortreten. So wird sowohl im Englischen als auch im Deutschen bei der Verwendung von Personalpronomen viel stärker differenziert, wenn auf Menschen Bezug genommen wird, als beim Bezug auf Dinge. Für Menschen gibt es je zwei grammatische Personen im Singular und Plural, die für die sprechende (ich, wir) und die angesprochene (natürliche) Person (du, ihr) reserviert sind. Für die besprochenen Dinge (und Personen) gibt es jeweils nur eine Person im Singular und im Plural (er, sie, es). Im Englischen wird durch besondere Personalpronomen zwischen männlichen und weiblichen Personen differenziert (he bzw. she), für Dinge steht lediglich ein Pronomen zur Verfügung (it). Zudem gibt es spezielle Frage- und Relativpronomen, die sich auf SPRACHE UND DENKEN 9 Menschen, und andere, die sich auf nicht-menschliche Einheiten beziehen (who, whom für Personen gegenüber which für Sachen). Außerdem findet sich im Englischen auch noch eine besondere besitzanzeigende Form für Menschen (the man’s coat, aber nicht *the house’s roof, sondern the roof of the house). Ähnliches findet sich zunehmend auch in der deutschen Umgangssprache: neben dem standardsprachlichen das Haus des Vaters bzw. das Haus vom Vater ist in bestimmten sozialen Gruppen auch dem Vater sein Haus gebräuchlich, nicht aber *dem Haus seine Tür. 1.2.2 Das ikonische Prinzip Von Ikonizität oder Abbildhaftigkeit spricht man, wenn zwischen einer sprachlichen Form und der von ihr bezeichneten Sache Ähnlichkeiten bestehen. Man unterscheidet drei unterschiedliche Prinzipien der Ikonizität: das Abfolgeprinzip, das Distanzprinzip sowie das Quantitätsprinzip. Das Abfolgeprinzip stellt eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zeitlichen Ereignissen in unserer Erfahrung und der linearen Abfolge von sprachlichen Formen in einer sprachlichen Konstruktion her. Es kann in seiner einfachsten Erscheinungsform die Abfolge von zwei oder mehr Teilsätzen bestimmen. Nehmen wir nur einmal die geschichtsträchtigen Worte des römischen Feldherrn Julius Cäsar Veni, vidi, vici ‚Ich kam, sah und siegte‘. Die Abfolge der Teilsätze entspricht der Abfolge der wirklichen Ereignisse, die mit ihnen beschrieben werden. Oder noch ein Beispiel: Zirkusleute oder Schausteller locken ihr Publikum mit Slogans wie: Kommen, sehen, staunen: zuerst geht man in den Zirkus, dann sieht man die Auftritte, und durch das Zuschauen wird man ins Staunen versetzt. Würde man die Anordnung dieser einzelnen Teilsätze ändern, so erhielte man mehr oder weniger unsinnige Sätze (*Ich siegte, kam und sah; *staunen, kommen, sehen). In anderen Kontexten mag eine Umstellung aber durchaus möglich sein. Änderungen in der linearen Anordnung von Teilsätzen bringen dann automatisch eine veränderte Darstellung der erfahrenen Ereignissequenz mit sich: (2) a. Claudia heiratete und bekam ein Kind. b. Claudia bekam ein Kind und heiratete. Die koordinierende Konjunktion und sagt für sich genommen noch nichts über die Abfolge der Ereignisse aus, die sie miteinander verknüpft. Die natürliche Abfolge der Ereignisse wird durch die Anordnung der beiden Teilsätze in sprachlicher Form abgebildet. Setzen wir anstelle der beiordnenden Konjunktion und die temporale Konjunktion bevor bzw. nachdem ein, so kann ein und dasselbe Ereignis entweder ikonisch (3a, 4a) oder nicht-ikonisch (3b, 4b) versprachlicht werden: (3) a. Claudia heiratete, bevor sie ihr Kind bekam. (ikonisch) b. Bevor sie ihr Kind bekam, heiratete Claudia. (4) a. Nachdem Claudia geheiratet hatte, bekam sie ein Kind. (ikonisch) b. Claudia bekam ein Kind, nachdem sie geheiratet hatte. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Auch die innere Struktur von Sätzen kann auf dem ikonischen Prinzip der sequentiellen Abfolge beruhen. Die Beispielsätze in (5a) und (5b) bestehen aus denselben Wörtern, haben aber durch die jeweils unterschiedliche Stellung des Adjektivs grün unterschiedliche Bedeutungen. (5) a. Peter strich die grüne Türe an. b. Peter strich die Türe grün an. In (5a) war die Türe bereits grün, bevor Peter sie anstrich. Mit welcher Farbe er sie überstrich, lässt sich aus diesem Satz nicht erkennen. In (5b) hingegen ist die ursprüngliche Farbe der Türe nicht näher bestimmt. Hier ist die Farbe nach dem Streichen bezeichnet: nachdem Peter die Türe angestrichen hatte, war sie grün. Im Deutschen werden Adjektive in der Regel dem Substantiv, das sie näher bezeichnen, vorangestellt (5a). Wird das Adjektiv nachgestellt (5b), so spiegelt diese Stellung nach dem Prinzip der Ikonizität das Ergebnis der Ereignissequenz wider – im vorliegenden Fall die Farbe der Türe nach dem Anstreichen. Auch die sequentielle Anordnung von Einzelelementen in zweiteiligen Wendungen folgt dem ikonischen Prinzip der Abfolge, d.h. die lineare Abfolge der sprachlichen Formen entspricht der temporalen Abfolge der Ereignisse: (6) a. jetzt oder nie, früher oder später, Tag und Nacht, von früh bis spät. b. Ursache und Wirkung, Park and Ride, ein Kommen und Gehen, Geben und Nehmen, wer zuerst kommt, mahlt zuerst etc. Die Anordnung der einzelnen Wörter in diesen Beispielen ist in der Regel nicht umkehrbar – niemand würde von *nie oder jetzt, *später oder früher, oder gar von *Wirkung und Ursache reden. Die zweiteiligen Ausdrücke in (6) beziehen sich entweder auf rein zeitliche Abläufe, durch die die Abfolge der sprachlichen Formen bestimmt werden (6a), oder auf Ereignisse, die wir immer wieder als in dieser Reihenfolge ablaufend erfahren oder erwarten und die wir dieser Erfahrung entsprechend auch sprachlich so anordnen. Kehren wir in der Beschreibung von zeitlichen Abfolgen die Anordnung der Elemente um, so kann damit eine besondere Bedeutung ausgedrückt werden. Normalerweise würde man immer von Tag und Nacht (Für dieses Auto habe ich Tag und Nacht geschuftet), nicht aber von ?Nacht und Tag reden – es sei denn, der Sprecher will besonders hervorheben, welche bedeutungsvolle Rolle die Nacht für ihn spielt – wie etwa Frank Sinatra in seinem Song Night and Day. Ein weiteres Beispiel für das ikonische Prinzip der Abfolge ist die Wortstellung von Subjekt, Verb und Objekt in Sätzen. In nahezu allen Sprachen der Welt steht im Satz als Normalfall das Subjekt vor dem Objekt. Theoretisch gesehen können Subjekt (S), Verb (V) und Objekt (O) in einem einfachen Aussagesatz in sechs verschiedenen Kombinationen auftreten: SVO, SOV, VSO, OSV, OVS, VOS. Davon sind allerdings die ersten drei Wortstellungsmuster (7a-c) am gebräuchlichsten. (7) a. SVO: Der Anwalt schrieb den Brief. Engl. The Lawyer wrote the letter. SPRACHE UND DENKEN 11 b. SOV: (Er weiß, dass) der Anwalt den Brief schrieb. *(He knows that) the lawyer the letter wrote c. VSO: (Endlich) schrieb der Anwalt den Brief. *Finally wrote the lawyer the letter. Sowohl im Englischen als auch in den romanischen Sprachen besteht innerhalb des Satzes eine feste Wortstellung: wie die direkten Übersetzungsversuche in (7b) und (7c) zeigen, ist im Englischen nur SVO möglich. Deutsch, Niederländisch und die skandinavischen Sprachen lassen auch die übrigen Wortstellungsmöglichkeiten zu: SVO tritt in Hauptsätzen (7a), SOV in Nebensätzen (7b) und VSO nach Adverbien auf (7c). Was ist aber nun an diesem Phänomen ikonisch? In den Sprachen dieser Welt tritt das Subjekt im Satz überwiegend vor dem Objekt auf. Diese Anordnung ist durch die Art und Weise motiviert, wie wir Menschen die interne Struktur von Ereignissen wahrnehmen. Die agierende Einheit findet im Satz durch das Subjekt Ausdruck, darauf folgt die Aktion des Subjekts, gefolgt von den Auswirkungen dieser Aktion, die mit dem Objekt verbunden werden. Das Abstandsprinzip bildet sprachlich ab, in welchem konzeptuellen Abstand Dinge für uns stehen. Dinge, die konzeptuell als zusammengehörig wahrgenommen werden, treten tendenziell auch in der sprachlichen Form nah beieinander auf, während Dinge, die für uns konzeptuell nicht zusammengehören, in der sprachlichen Äußerung in einer gewissen Distanz zueinander stehen: (8) a. b. c. d. Rumpelstilzchen heiratet die Prinzessin. Rumpelstilzchen wird die Prinzessin heiraten. Rumpelstilzchen hofft, die Prinzessin zu heiraten. Rumpelstilzchen träumt davon, die Prinzessin zu heiraten. In (8a) stehen das Subjekt Rumpelstilzchen und dessen Handlung sowie das Akkusativobjekt, auf das sich diese Handlung bezieht, unmittelbar beieinander. Die Handlung wird vollzogen. In (8b) tritt das Vollverb in Entfernung zum Subjekt, und das Hilfsverb wird zum Anzeiger für eine mögliche Handlung in der Zukunft – aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Handlung stattfinden. In (8c) und (8d) wird der Vollzug der Handlung zunehmend irrealer. In der sprachlichen Form des Ausdrucks schlägt sich das in zunehmendem Abstand zwischen dem Subjekt, dem Objekt und dem Verb nieder. Ein weiteres Beispiel für ikonische Distanz ist die Wahl zwischen Dativobjekt und präpositionalem Akkusativobjekt im folgenden Satz: (9) a. Romeo schickte seiner Freundin einen Liebesbrief. b. Romeo schickte einen Liebesbrief an seine Freundin. In (9a) ist seine Freundin als Empfänger des Briefes direkt von der Handlung Romeos betroffen; aus der unmittelbaren Nähe des indirekten Objekts seiner Freundin zum Subjekt Romeo und seiner Handlung schicken erkennen wir, dass sie den Brief auch erhalten hat. In (9b) steht zwischen der Handlung Romeos (schicken) und seiner Freundin zunächst das von ihm verschickte Objekt als SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Akkusativobjekt (einen Liebesbrief) und dann an seine Freundin als Präpositionalobjekt. Durch den größeren Abstand zwischen dem Verb schickt und der präpositionalen Ergänzung mit an wird stärker in den Vordergrund gestellt, dass Romeo den Liebesbrief auf den Weg geschickt hat. Dabei bleibt unklar, ob Romeos Freundin den Brief auch tatsächlich bekommen hat. Das ikonische Abstandsprinzip tritt auch in abstrakterer Form auf. In Sprachen, die in der Anrede von Personen zwischen du und Sie unterscheiden, spiegelt sich die soziale Distanz des Sprechers zum Hörer im Personsystem wider. Wie bereits erwähnt wird im Deutschen zwischen der sprechenden Person ich (1. Person Singular), der angesprochenen Person du (2. Person Singular) und einer besprochenen Person (3. Person Singular) er, sie, es unterschieden. Die erste Person und die zweite Person sind für Personen reserviert. Wenn zwischen zwei Personen nun eine soziale Distanz besteht (z.B. bei Fremden usw.), wird jedoch bei der direkten Anrede in der Regel nicht die 2. Person Singular verwendet, denn diese Anrede mit du wäre der Situation unangemessen und unhöflich. Stattdessen wird die 3. Person Plural Sie, d.h. die sprachliche Form der besprochenen, unspezifizierten 3. Person Plural, als Distanzform verwendet. Die soziale Distanz wird durch Distanz im Personsystem der Sprache ausgedrückt. Das ikonische Quantitätsprinzip bezieht sich darauf, dass wir tendenziell ein Mehr an sprachlichen Formen mit einem Mehr an Bedeutung gleichsetzen bzw. weniger Form mit weniger Bedeutung. Durch die Dehnung von Vokalen können wir auf ikonische Weise ausdrücken, dass etwas sehr groß ist: ein Riiieseneis. Dasselbe Prinzip verwenden auch kleine Kinder, wenn sie Pluralität ausdrücken wollen, z.B. Guck mal, Mama: Blume, noch ’ne Blume, noch ’ne Blume. In vielen Sprachen wird das Quantitätsprinzip systematisch als Strategie verwendet, um durch mehr sprachliche Form Pluralität auszudrücken. So bedeutet cow-cow in Tok Pisin ‚Kühe‘, wil-wil (‚wheel-wheel‘)‚Fahrrad‘ und plek-plek (‚place-place‘) in Afrikaans ‚an mehreren Orten‘. Dieses ikonische Mittel der Wiederholung bezeichnet man als Reduplikation. Die Vorstellung „quantitativ mehr“, d.h. die Vorstellung von Pluralität, wird in vielen Sprachen nicht durch Reduplikation, sondern auf symbolischem Wege ausgedrückt. Auch dann bedeutet ein Mehr an sprachlicher Form ein Mehr an Bedeutung – so wird der Plural im Deutschen bei vier der insgesamt fünf häufigsten Pluraltypen durch Anhängen eines Pluralmorphems (d.h. einer zusätzlichen sprachlichen Form) gebildet: Übersicht 1. Pluralmorpheme Singular Schaf Bär Brett Opa Plural Schaf -e Bär -en Brett -er Opa -s Das Prinzip der Quantität findet sich auch in anderen Bedeutungsbereichen wieder – oftmals wird dieses Prinzip eingesetzt, um Höflichkeit auszudrücken. So zeigt im Folgenden ein Mehr an sprachlichen Formen ein Mehr an sozialem Abstand zwischen Sprecher und Angeredetem an: SPRACHE UND DENKEN (10) a. b. c. d. e. f. g. 13 Sehr geehrter Herr Professor Dr. Meier Sehr geehrter Herr Professor Meier Sehr geehrter Herr Meier Lieber Herr Meier Lieber Justus Hallo Hi Nicht selten werden auch wortreiche Phrasen (11a) verwendet, um einer Sache mehr „inhaltliches Gewicht“ zu geben: (11) a. Jetzt reicht’s aber: sei endlich still! Du gehst mir echt auf die Nerven. b. Halt’s Maul! Das Prinzip der Quantität legt darüber hinaus nahe, zum Ausdruck von weniger Bedeutung auch weniger sprachliche Form zu verwenden. Oft vermeiden wir die Wiederholung von Informationen, indem wir elliptische Sätze verwenden. Die weniger explizite Form (12a) wird der ausführlicheren Form (12b) vorgezogen: (12) a. Haribo macht Kinder froh, und Erwachsene ebenso. b. Haribo macht Kinder froh, und Haribo macht Erwachsene ebenso froh wie Kinder. In (12a) ersetzt ebenso den gesamten verbalen Teil des beigeordneten Satzes, der in (12b) auf das Subjekt Haribo folgt. Eine ganze Reihe syntaktischer Phänomene wie etwa die Verwendung von Pronomen und elliptischer Sätze geht auf das ikonische Prinzip der Quantität zurück. 1.2.3 Das symbolische Prinzip Das symbolische Prinzip liegt allen symbolischen sprachlichen Zeichen zugrunde: die Zuordnung einer bestimmten sprachlichen Form zu einer bestimmten Bedeutung beruht auf Konvention. Diese Zuordnungen finden sich als lexikalische Einheiten oder Wörter im Wortschatz einer Sprache. So wird dem Konzept „Haus“ im Deutschen die sprachliche Form Haus zugeordnet. Der Bedeutung „Haus“ sind in verschiedenen Sprachen unterschiedliche sprachliche Formen zugeordnet: im Englischen house, im Niederländischen huis, im Italienischen und Spanischen casa, im Französischen maison, im Finnischen talo und in der russischen Sprache dom. Diese verschiedenen Formen zeichnen sich durch nichts aus, das sie in besonderer Weise als zur Bezeichnung des Konzeptes „Haus“ besonders geeignet erscheinen ließe. Eine gleiche oder ähnliche sprachliche Form kann sogar in einer anderen Sprache einem völlig anderen Konzept zugeordnet sein. Das italienische casa ist dem Klang nach dem niederländischen kaas ‚Käse‘ sehr ähnlich, die bezeichneten Konzepte haben allerdings nichts miteinander gemein. Die deutsche Form Dom klingt im Deutschen ähnlich wie das russische dom; anders als im Russischen bezeichnet Dom im Deutschen aber nicht „ein einfaches Haus“, sondern „die Kirche des Bischofs“. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Anscheinend gibt es bei sprachlichen Symbolen zwischen der Form und dem durch diese Form bezeichneten Konzept keinen naturgegebenen Zusammenhang. Zur Bezeichnung hätte man sich auch auf eine andere sprachliche Form einigen können. Nach Ferdinand de Saussure, dem Gründer der modernen Sprachwissenschaft, ist das sprachliche Zeichen willkürlich geschaffen. Er sprach deshalb in diesem Zusammenhang von der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens (von lat. arbitrium ‚Willkür‘). Diese Charakterisierung trifft auf den überwiegenden Teil der einfachen Wörter einer Sprache mit Sicherheit zu. Allerdings steht die Hypothese von der Arbitrarität sprachlicher Zeichen nicht im Einklang mit einem unserer grundlegendsten Wesensmerkmale. Wir versuchen ständig, Formen auf ihre Bedeutung hin zu interpretieren. So kann beim überwiegenden Teil neuer Wörter oder neuer Bedeutungen die Zuordnung einer sprachlichen Form zu einer bestimmten Bedeutung eindeutig als nicht arbiträr charakterisiert werden. Neue komplexe Wörter werden in der Regel unter Rückgriff auf bereits bestehendes sprachliches Material gebildet. Gerade deswegen erhalten sie für uns Bedeutung. Komplexe Wörter sind also vielmehr durch bereits bestehende Zeichen motiviert. Auf den ersten Blick mag beispielsweise das aus dem Englischen ins Deutsche entlehnte Wort Software arbiträr erscheinen. Wenn wir aber einmal näher betrachten, wie es zu dieser Wortbildung kam, so zeichnet sich ein anderes Bild ab. Im Englischen wurde software in Analogie zum bereits bestehenden Wort hardware gebildet, das aus den einfachen Wörtern hard und ware zusammengesetzt wurde. Sowohl hard als auch ware sind arbiträr, d.h. die Zuordnung der sprachlichen Form zur Bedeutung ist willkürlich. Das zusammengesetzte Wort hardware allerdings kann man bereits nicht mehr als völlig arbiträr bezeichnen, denn die Wortzusammensetzung hat aufgrund der beiden Einzelwörter eine relativ offensichtliche Bedeutung. Die ursprüngliche englische Bedeutung von hardware ist „Ausrüstung und Geräte für Heim und Garten“. Diese Bedeutung wurde dann auf Maschinen- und Computerteile ausgedehnt. Analog zu diesen „greifbaren“ Teilen des Computers bezeichnet man die Programme als Software. Auch bei Software handelt es sich um ein Symbol, denn die Zuordnung der sprachlichen Form zu dieser Bedeutung beruht auf Konvention. Allerdings ist diese Zuordnung nicht rein willkürlich, sondern motiviert. Der sprachwissenschaftliche Begriff der Motiviertheit bezieht sich auf nichtarbiträre Zuordnungen sprachlicher Formen zu bestimmten Inhalten eines sprachlichen Ausdrucks. Motiviertheit ist ein Aspekt, der sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere bei neuen sprachlichen Ausdrücken ist der Hörer bemüht, deren Bedeutung unter Rückgriff auf bereits bekannte Ausdrücke zu entschlüsseln. Diese Suche nach dem Sinn eines Ausdrucks hat gelegentlich so genannte Volksetymologien zum Ergebnis. Dabei werden Wörter, deren ursprünglicher Sinn den Sprechern einer Sprache mittlerweile unklar geworden ist, nach Wörtern mit ähnlichem Klang bzw. ähnlicher Bedeutung umgedeutet. So ist beispielsweise das englische Wort crayfish das Ergebnis einer volksetymologischen Interpretation des französischen Wortes crevice, das wiederum auf das germanische Wort krebiz ‚Krebs‘ zurückgeht. Ähnlich verhält es sich mit dem etymologisch unklaren spanisch-karibischen Wort hamaca ‚hängendes Bett‘, das ins Englische entlehnt und zu hammoc assimiliert wurde. Im Niederländischen wurde dieser Ausdruck durch volksetymologische Interpretati- SPRACHE UND DENKEN 15 on als hangmat ‚hängender Teppich‘ und von dort ins Deutsche als Hängematte entlehnt. 1.3 Sprachliche und konzeptuelle Kategorien 1.3.1 Konzeptuelle Kategorien In den vorangegangenen Abschnitten wurde im Wesentlichen auf die Zuordnung von sprachlicher Form zu einem Konzept als der Bedeutung eines Symbols oder Wortes eingegangen. So stellt es sich in Wörterbüchern dar. Sprache existiert aber in den Köpfen der Sprecher einer bestimmten Sprache. Wenn man also dem Phänomen Sprache auf den Grund gehen will, so muss man auch die Vorstellungs- und Begriffswelt der Sprecher berücksichtigen, auf die diese Symbole zurückgehen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Sprache nur einen kleinen Teil der konzeptuellen Vorstellungswelt des Menschen ausmacht. Ein Konzept lässt sich definieren als „Vorstellung davon, wie etwas in unserer Erfahrungswelt ist“. Konzepte können sich auf einzelne gedankliche Einheiten, so genannte Entitäten, beziehen, wie etwa auf die Vorstellung, die man von seiner Mutter hat. Sie können sich aber auch auf ein ganzes Set von gedanklichen Einheiten beziehen: das Konzept „Gemüse“ bezieht sich nicht auf eine einzelne Entität, sondern umfasst eine Menge (oder ein so genanntes Set) einzelner Arten von Gemüse. Konzepte, die sich auf ein ganzes Set von Entitäten beziehen, sind strukturiert: sie umfassen bestimmte Einheiten, schließen andere aber aus. Das Konzept „Gemüse“ umfasst zum Beispiel die Gemüsearten Möhren, Kohl, Salat, Tomaten usw., während es Äpfel, Birnen und Bananen ausschließt. Letztere sind Teil eines anderen strukturierten Konzeptes. Strukturierte Konzepte, mit denen wir die Wirklichkeit in für uns relevante Einheiten zergliedern, bezeichnet man als konzeptuelle Kategorien – durch sie können wir ein Set einzelner gedanklicher Einheiten (z.B. Äpfel, Birnen, Bananen) zusammenfassen und als ein Ganzes (Obst) verstehen. Immer wenn wir etwas wahrnehmen, ordnen wir es unmittelbar in konzeptuelle Kategorien ein. Wenn wir beispielsweise von irgendwoher Musik hören, so werden wir diese Musik nahezu automatisch als eine bestimmte Art von Musik kategorisieren, als Pop, Hip-Hop, Rock’n Roll, Klassik oder eine andere uns bekannte Art von Musik. Unsere „Wirklichkeit“ ist also keineswegs so etwas wie eine „objektive Realität“, vielmehr wird sie durch unsere Kategorisierung, unsere Wahrnehmung, unser Wissen, unsere Einstellung, kurz durch unsere menschliche Erfahrung bestimmt. Das soll aber auch nicht bedeuten, dass wir uns eine individuelle, subjektive Welt schüfen. Es bedeutet lediglich, dass wir als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft über unsere intersubjektiven Erfahrungen und deren Bezeichnung übereingekommen sind. Konzeptuelle Kategorien, die in Sprache niedergelegt sind, bezeichnet man als sprachliche Kategorien oder auch als sprachliche Zeichen. Wenn man Sprache in diesem weiter gefassten Sinne als Zeichensystem verstehen will, so muss ein solches Modell von Sprache die menschliche Kategorisierung und die durch Menschen erfahrene Wirklichkeit mit einschließen. Der Zusammenhang zwi- SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT schen dem „menschlichen Konzeptualisierer“, seinen konzeptuellen Kategorien und sprachlichen Zeichen lässt sich wie folgt darstellen: Abbildung 3. Modell der konzeptuellen Vorstellungs- und Erfahrungswelt „menschlicher Konzeptualisierer“ erfahrene Welt Konzepte und Kategorien sprachliche Konzepte andere Gedanken (nicht in Sprache niedergelegte Konzepte) Sprachliche Zeichen Form Entität in der Erfahrungswelt Sprachliche Zeichen spiegeln also konzeptuelle Kategorien wider, die auf die Erfahrungen des menschlichen Konzeptualisierers mit der Realität zurückgehen. Ein solches Modell von Sprache bezieht auch ein, dass verschiedene Menschen ein und dieselbe Sache in der Realität unterschiedlich erfahren mögen, ja selbst ein und dieselbe Person mag zu verschiedenen Zeitpunkten zu unterschiedlichen Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache gelangen. Während eine Person ein zur Hälfte mit Wein gefülltes Glas als halb voll bezeichnet, wird eine andere es als halb leer bezeichnen. Jede Person konstruiert die Situation entsprechend ihrer Wahrnehmung und ihren dieser Situation vorausgegangenen Erfahrungen. Die jeweilige Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten zur Beschreibung der Realität nennt man Konstruktion (engl. construal). Vergleicht man, wie in verschiedenen Sprachen ein und dieselbe Sache bezeichnet wird, so wird sehr deutlich, dass die Wirklichkeit, so wie wir sie wahrnehmen, ständig von uns selbst konstruiert wird. Nehmen wir nur das deutsche Wort Hufeisen (Abbildung 4). Im Englischen spricht man von horseshoe ‚Pferdeschuh‘ und im Französischen von fer à cheval ‚Eisen für Pferd‘. Jedes dieser drei Zeichen ist motiviert: in der englischen wie auch in der französischen Sprache wird eine Beziehung zwischen dem Tier als Ganzem und dem Schutz gesehen. Im Deutschen hingegen wird der Schutz auf den zu schützenden Teil des Pferdes, nämlich den Huf, bezogen konstruiert. Sowohl im Deutschen als auch im Französischen wird das Material des Hufschutzes besonders hervorgehoben. In der englischen Sprache dagegen wird mit horseshoe ein anthropozentrischer Blick auf die Situation geworfen: der Schutz für den Huf wird als ‚Schuh‘ konstruiert. SPRACHE UND DENKEN 17 Abbildung 4. Verschiedene Konstruktionen des Konzeptes „Hufeisen“ engl.: horseshoe frz.: fer à cheval dt.: Hufeisen Betrachten wir noch zwei weitere Beispiele dafür, wie unterschiedlich in verschiedenen Sprachen ein und dieselbe Situation konstruiert wird: Mit dem englischen Wort grand piano wird die Größe gegenüber dem normalen piano ins Blickfeld gerückt. Die französische Konstruktion piano à queue ‚Schwanzpiano‘ ist ebenso wie die deutsche Konstruktion Flügel aus einem Metaphorisierungsprozess hervorgegangen: in beiden Fällen ist die Bezeichnung durch eine wahrgenommene Ähnlichkeit mit Teilen von Tieren motiviert. Betrachten wir als letztes Beispiel den „Teil der Straße für Fußgänger“, den man im Deutschen als Bürgersteig bezeichnet. Mit der englischen Konstruktion pavement ‚Pflasterung‘ wird das Material hervorgehoben, und mit dem frz. trottoir (von frz. trotter ‚eilen, schnell gehen‘) wird die Funktion betont. Bisher haben wir uns im Wesentlichen auf konzeptuelle Kategorien konzentriert sowie darauf, wie diese in Form von Wörtern im Wortschatz einer Sprache abgelegt werden. Auf diese Weise versprachlichte konzeptuelle Kategorien nennt man lexikalische Kategorien. Konzeptuelle Kategorien finden in einer Sprache jedoch nicht nur durch lexikalische, sondern auch durch grammatische Kategorien ihren Ausdruck. Oft gibt es mehr als nur eine Möglichkeit, eine lexikalische Kategorie in einem Satz zu verwenden und damit mehr oder weniger dasselbe auszusagen: (13) a. Sieh dir nur diesen Regen an! b. Sieh nur, wie es regnet! c. Heute und morgen ist es regnerisch. In allen drei Sätzen wird dieselbe lexikalische Kategorie Regen verwendet. Diese wird jedoch als unterschiedliche grammatische Kategorie konstruiert, in diesen Fällen als jeweils unterschiedliche Wortart: als Substantiv (13a), als Verb (13b) bzw. als Adjektiv (13c). An den Beispielen (13a-c) wird noch ein weiterer wesentlicher Aspekt von Sprache deutlich: in einer Satzstruktur ist jeder lexikalischen Kategorie zugleich auch eine grammatische Kategorie zugeordnet. Lexikalische Kategorien sind durch ihren jeweiligen Inhalt bestimmt. Grammatische Kategorien stellen die strukturellen Rahmen für das lexikalische Sprachmaterial. Im Folgenden wollen wir näher auf lexikalische und dann auf grammatische Kategorien eingehen. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 1.3.2 Lexikalische Kategorien Der konzeptuelle Inhalt einer lexikalischen Kategorie umfasst in der Regel einen großen Bereich von Einzelfällen. Nehmen wir als Beispiel nur einmal die unterschiedlichsten Arten und Funktionen von Vasen. Vasen können unterschiedlich groß, schlank und hoch oder aber auch klein und bauchig sein. Solange wir Blumen in sie hineinstellen können und üblicherweise auch würden, würden wir sie als Vasen kategorisieren. Vergleichbares gilt auch für Stühle. Hier gibt es ebenfalls die unterschiedlichsten Arten, wie sie etwa in Abbildung 5 dargestellt sind. Abbildung 5. Einige Mitglieder der lexikalischen Kategorie „Stuhl“ a. Küchenstuhl ? b. Schaukelstuhl c. Drehstuhl d. Sessel e. Rollstuhl f. Hochstuhl Ein Beispiel aus dieser Kategorie bezeichnen wir als „normalen“ Stuhl. Kategorien wie „Stuhl“ umfassen ein ganzes Set von Mitgliedern. Einige dieser Mitglieder sind für uns bessere, andere weniger typische Beispiele für die gesamte Kategorie. Bittet uns jemand, einen Stuhl zu zeichnen, so wird uns ein ganz bestimmtes Mitglied der Kategorie als Erstes in den Sinn kommen. Dieses beste Beispiel für die Kategorie bezeichnet man als prototypisches Mitglied der Kategorie. Unsere Zeichnung wird also höchstwahrscheinlich einen normalen Küchenstuhl und nicht einen Lehnstuhl zeigen. Welchen Stuhl wir als Prototypen empfinden, ist auch durch die Funktion bestimmt, die ein Stuhl für uns normalerweise hat. Ein prototypischer Stuhl ist für uns ein Stuhl, auf dem wir sitzen können, wohl kaum eine Art Stuhl, auf die wir uns legen müssten – obwohl es das ja auch gibt: etwa als Behandlungsstuhl in einer Zahnarztpraxis. Ebenso wie die Funktion spielen auch Form und Material eine wesentliche Rolle. Ein proto- SPRACHE UND DENKEN 19 typischer Stuhl hat vier Beine, eine Sitzfläche und eine Rückenlehne – damit wir auch sicher und bequem auf ihm sitzen können. Ein Schaukelstuhl ist deshalb weniger prototypisch als ein Küchenstuhl. Doch auch alle übrigen Gegenstände in Abbildung (5) werden wir sicherlich als Stühle bezeichnen – mit Ausnahme des Sessels. Eine Kategorie hat also prototypische, weniger prototypische, marginale oder periphere und sogar zweifelhafte Mitglieder. In der Kategorie Stuhl ist Küchenstuhl ein prototypischer Stuhl, Schaukelstuhl ist weniger prototypisch, Liegestuhl ist ein Grenzfall, und bei Barhocker hegen wir starke Zweifel, ob er noch unter die Kategorie Stuhl fällt. Bei Schemel haben wir bereits keinen Zweifel mehr, ebenso wenig bei (5d) Sessel – beide gehören sicherlich nicht zu den Stühlen, zu stark sind die Abweichungen im Vergleich mit den Eigenschaften des Prototypen der Kategorie. Ein Barhocker hat keine Rückenlehne, keine vier Beine, ist deutlich höher als ein normaler Stuhl und in der Regel nicht aus Holz gefertigt. Die Grenzen zwischen Stuhl und Hocker sind fließend: Was der eine Sprecher noch als Stuhl bezeichnen mag, wird von einem anderen vielleicht eindeutig als Hocker eingestuft. Generell erscheint uns das Zentrum einer Kategorie als fest etabliert und eindeutig. Die Grenzfälle von Kategorien sind nicht so eindeutig und klar, an den Rändern sind Kategorien tendenziell unscharf oder fuzzy und überschneiden sich mit angrenzenden Kategorien. Lexikalische Kategorien sind also fest etabliert und werden nicht ad hoc und spontan gebildet. Wäre dies der Fall, so hätten sie durchaus starke Ähnlichkeit mit der folgenden Unsinnskategorie von „Tieren“ aus einer frei erfundenen chinesischen Enzyklopädie: (14) Aus der chinesischen Enzyklopädie Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. „Auf ihren weit zurückliegenden Seiten steht geschrieben, dass Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“ (aus: J.L. Borges (1974). Befragungen. In: J. L. Borges. Gesammelte Werke. Bd. 5/II. München/Wien: Carl Hanser Verlag, S. 112) Eine solche Einordnung von Tieren macht für uns keinen Sinn, die einzelnen Mitglieder sind frei erfunden, und es fehlt an gewohnter Strukturiertheit und Ordnung. Eventuell könnte man sich ja noch vorstellen, dass es in einer Kultur Gründe dafür geben könnte (14a), (14b) und (14c) als Mitglieder einer Kategorie zusammenzufassen, doch schon (14d) würden wir nicht mehr als Mitglied einer solchen Kategorie erwarten – ganz zu schweigen von den übrigen Fällen. 1.3.3 Grammatische Kategorien Grammatische Kategorien stellen strukturelle Rahmen, die durch abstrakte Unterscheidungen zwischen Wortarten, Numerus, Tempus usw. gebildet werden. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Wir werden hier lediglich eine einzige grammatikalische Kategorie betrachten: die Wortarten. Jede Wortart stellt eine eigene Kategorie dar. Je nach Definition lassen sich im Deutschen acht bis zehn verschiedene Wortarten unterscheiden (15). (15) WORTARTEN a. Substantiv b. Pronomen c. Artikel d. Verb e. Adjektiv f. Adverb g. Präposition h. Partikel i. Konjunktion j. Interjektion Mutter, Vogel, Vergnügen, Geist ich, du, jemand, welches der, die, ein, eines sagen, brüllen, nachdenken, wünschen schön, reich, glücklich, groß heute, dort, eben, stets auf, unter, neben, bei desto, etwas, nicht, vielleicht und, weil, nachdem, bevor Huch! Autsch! Oh! Pfui! Die meisten Bezeichnungen für Wortarten gehen auf Begriffsbestimmungen zurück, die von griechischen und römischen Grammatikern eingeführt wurden. Diese Definitionen werden auch heute noch verwendet. Oftmals befinden sich diese auf philosophischen Überlegungen beruhenden Kategorien jedoch nicht im Einklang mit der sprachlichen Realität. Sogar moderne Wörterbücher verlassen sich immer noch auf diese traditionellen Begriffsbestimmungen. So wird ein Substantiv etwa als „Wort, das ein Ding, ein Lebewesen, einen Begriff, einen Sachverhalt o. Ä.. bezeichnet; Nomen“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2001:1544,3) und ein Pronomen als „Wort, das ein [im Kontext vorkommendes] Nomen vertritt oder ein Nomen, mit dem es zusammen auftritt, näher bestimmt“ definiert (1246,2). Diese zweite Bestimmung ist sehr ungenau: sie mag für Possessivpronomen gelten, ebenso gut aber auch für Adjektive. Diese Definitionen sind nicht unproblematisch, und es fällt nicht schwer, Gegenbeispiele zu finden, bei denen eine eindeutige Einordnung in die Kategorien „Nomen“ bzw. „Pronomen“ alles andere als leicht ist. In dem Satz Jemand hat mein Portemonnaie gestohlen kann nicht ohne Probleme behauptet werden, dass jemand und mein jeweils ein Nomen oder eine Nominalphrase ersetzen können. Zwar trifft für mein zu, dass es ein Nomen, mit dem es zusammensteht, näher bestimmt – doch auf jemand trifft auch diese Teildefinition nicht zu. Der Grund für diese Bestimmungsprobleme liegt in der irrigen Annahme, dass zum einen alle Wortarten eindeutig definiert und zum anderen alle in einer Sprache bzw. in einem Text vorkommenden Wörter eindeutig in dieses Raster eingeordnet werden könnten. Am Beispiel der lexikalischen Kategorie Stuhl haben wir aber bereits gesehen, dass eine Kategorie sowohl prototypische als auch periphere und sogar zweifelhafte Mitglieder umfassen kann. Dies gilt auch für grammatische Kategorien, und so lassen sich in einer grammatischen Kategorie unterschiedlichste Arten von Wörtern zusammenfassen. Die Wortartkategorie „Nomen“ umfasst beispielsweise die folgenden Unterarten von Nomen: SPRACHE UND DENKEN (16) a. b. c. d. e. f. 21 Gestern Morgen funktionierte mein Computer plötzlich nicht mehr. Also habe ich beim Computerservice angerufen. Am Nachmittag kam tatsächlich jemand vorbei und hat ihn repariert. Der hat seine Arbeit aber nicht besonders gut gemacht. Ich ärgere mich immer noch über seine Blödheit. Es ist wirklich zum Heulen. Ein Wort wie Computer ist ein prototypisches Nomen – es bezeichnet eine konkrete, materielle, dreidimensionale Sache. Das Wort Computerservice ist weniger prototypisch: es bezeichnet eine Einrichtung, die allerdings in gewisser Weise noch eine konkrete Existenz hat. Das Nomen Nachmittag ist nicht mehr konkret und damit ein noch weniger prototypisches Mitglied der Kategorie „Nomen“. Das Wort Arbeit bezieht sich auf eine Handlung und ist damit in seiner Bedeutung eher einem Verb ähnlich. Das Nomen Blödheit bezieht sich auf eine Eigenschaft und ähnelt damit in seiner Bedeutung eher einem Adjektiv. Heulen hingegen tritt als substantiviertes Verb auf. Die Bedeutungsbereiche, die traditionell den einzelnen Wortarten zugeschrieben werden, beziehen sich also offensichtlich lediglich auf die zentralen, prototypischen Mitglieder der jeweiligen Wortartkategorie – die Bedeutungen peripherer Mitglieder überlagern sich mit Bedeutungen von Mitgliedern benachbarter Wortartkategorien und können teilweise sogar von der syntaktischen Rolle abhängen, die sie im Satz spielen. Dennoch hat die Annahme von der Existenz unterschiedlicher Wortarten in einer Sprache durchaus ihren Sinn. Prototypische Nomina bezeichnen zeitlich stabile Entitäten, prototypische Verben, Adjektive und Adverbien dagegen eher vorübergehende Phänomene. Wenn also ein Sprecher Arbeit bzw. Blödheit in (16d,e) eher als Nomina denn als Verben oder Adjektive verwendet, so konstruiert er auf diese Weise Handlungen und Eigenschaften als zeitlich beständige und damit dingähnliche Phänomene. In (16d) und (16e) verleiht er so dem Ausdruck seiner Unzufriedenheit mehr Gewicht. Einzelne, in Anlehnung an die lateinische Grammatik definierte Wortklassen können in unterschiedlichen Sprachen als grammatische Kategorie einen unterschiedlichen Stellenwert haben. In allen Sprachen findet man die Wortklassen Nomen und Verb, und in den meisten Sprachen gibt es auch Adjektive. Doch müssen die übrigen Wortarten durchaus nicht so offensichtlich präsent sein. Zum Beispiel wird im Englischen sowie in den romanischen Sprachen der Unterschied zwischen Adjektiven und Adverbien in der herkömmlichen Definition deutlich markiert, in den übrigen germanischen Sprachen ist dies nicht der Fall: (17) a. Adjektiv: b. Adverb: He is beautiful He sings beautifully Er ist schön. Er singt schön. Im Deutschen ist schön als Adjektiv und in adverbialer Stellung hier formgleich. In (17b) spricht man auch von Adjektivadverb – die Form ist gleich dem Adjektiv, doch steht schön hier in Relation zum Verb, also in adverbialer Stellung. Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel für Wortarten, die auf den ersten Blick gleiche Formen, aber stark unterschiedliche Funktion haben können und SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT damit zu unterschiedlicher Bedeutung führen. Im Deutschen gibt es eine ganze Reihe von Verben, die aus schon vorhandenen Verben gebildet wurden, indem ihnen so genannte Verbpartikeln vorangestellt wurden, z.B. umstellen, abstellen, aufstellen. Mit dem Verb aufheben werden die beiden Konzepte des Hebens (er hebt) und des Ergebnisses dieser Handlung (auf) getrennt ausgedrückt. In den romanischen Sprachen gibt es im Allgemeinen keine solchen Verbpartikel – so werden in der französischen Sprache sowohl Handlung als auch Ergebnis mit einer lexikalischen Kategorie (einem Wortstamm) konstruiert: (18) a. Er hob die Zeitung auf b. Il ramassait le journal In den germanischen Sprachen (wie Deutsch und Niederländisch) gehen die Verbpartikeln ursprünglich auf Präpositionen zurück. Der Form nach sind sie diesen auch noch sehr ähnlich, allerdings haben sie in der Wortbildung von Verben eine andere Funktion bekommen. Bei einer Form wie auf kann es sich sowohl um eine Verbpartikel in einem Verb (aufschlagen, aufheben, auffassen) als auch um eine Präposition (auf den Tisch schlagen, jemanden auf einen Sockel heben, jemandem auf die Schulter fassen) handeln. Durch Verbpartikeln werden Unterkategorien von Verben gebildet (ziehen: um-ziehen, auf-ziehen, ab-ziehen, über-ziehen etc.) – d.h. durch die Verbindung mit einer vorangestellten Verbpartikel erhalten sie eine spezifischere Bedeutung (z.B. aufheben im Vergleich zu heben). Obwohl eine Reihe von Verbpartikeln und Präpositionen dieselbe Form haben, lassen sie sich sowohl in ihrer grammatischen als auch in ihrer morphologischen Funktion und Bedeutung bei der Wortbildung deutlich unterscheiden. Bei (19a) handelt es sich bei auf um die Verbpartikel des Verbs aufschlagen. Bei (19b) steht das einfache Verb schlagen mit einem präpositionalen Objekt, das die Richtung des Schlagens angibt (auf das Ei), hier handelt es sich bei auf also um eine Präposition. (19c) enthält sowohl das mit einer Verbpartikel gebildete Verb einschlagen („wiederholtes Schlagen“, also eine Unterkategorie des Verbs schlagen) als auch ein präpositionales Objekt mit der Präposition auf. (19) a. Der Koch schlug das Ei auf. b. Der Koch schlug auf das Ei. c. Der Koch schlug auf das Ei ein. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass grammatische Kategorien nicht so klar voneinander abzugrenzen sind. Grammatische Kategorien können darüber hinaus sehr stark sprachspezifisch sein. 1.4 Zusammenfassung Jede Art von Kommunikation – ob zwischen Tieren oder Menschen – stützt sich auf Zeichen. Die Analyse von Zeichen fällt in den Gegenstandsbereich der Semiotik. Zeichen stehen immer für etwas, nämlich für das Bezeichnete oder die Bedeutung des Zeichens. Es gibt drei Zeichenarten, die sich in der Art der Ver- SPRACHE UND DENKEN 23 knüpfung zwischen Form und Bedeutung unterscheiden. Der Index zeigt auf das, wofür es steht. Das Ikon ist eine mehr oder weniger ähnliche Abbildung dessen, wofür es steht. Symbole gründen auf einer durch Konvention festgelegten Beziehung zwischen ihrer Form und ihrer Bedeutung. Diese drei Zeichenarten gehen auf drei kognitive Prinzipien zurück, mit denen wir Menschen die Wirklichkeit und unsere Erfahrung der Wirklichkeit organisieren. Das indexikalische Prinzip spiegelt sich in unserer egozentrischen und anthropozentrischen Weltsicht wider. Das ikonische Prinzip hat drei Unterprinzipien: das Abfolgeprinzip, das Abstandsprinzip sowie das Quantitätsprinzip. Das symbolische Prinzip ist Grundlage für die rein konventionelle Verknüpfung zwischen Form und Bedeutung eines Zeichens. Dass diese Verknüpfung allein auf Übereinkunft beruht, bezeichnet auch den arbiträren Charakter des Symbols oder die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. Doch sollte der große Anteil an arbiträren lexikalischen Zeichen nicht vergessen lassen, dass ein wesentlicher Teil der Sprache nicht symbolisch, sondern indexikalisch bzw. auch ikonisch ist. Insbesondere komplexe Formen der Sprache wie etwa komplexe Wörter oder Sätze sind – wie wir noch genauer sehen werden – oftmals nicht arbiträr, sondern motiviert. Sprachliche Zeichen sind Teil der Begriffs- und Vorstellungswelt des Menschen. Menschen verfügen jedoch über viel mehr Gedanken und Konzepte als über sprachliche Zeichen. Doch alle Begriffe, die wir in Sprache abgelegt haben, bilden die Bedeutungen der einzelnen sprachlichen Zeichen. Unsere Vorstellungs- und Begriffswelt strukturieren wir durch konzeptuelle Kategorien, d.h. durch Konzepte, die eine Menge (oder ein Set) einzelner Bedeutungselemente zu einem Ganzen zusammenfassen. Konzeptuelle Kategorien können mitteilbaren Ausdruck als sprachliche Kategorien gewinnen. Die meisten der sprachlichen Kategorien bezeichnen je einen spezifischen konzeptuellen Inhalt und erscheinen als lexikalische Kategorien. Die Zahl grammatischer Kategorien ist weitaus geringer; sie liefern den strukturellen Rahmen der Sprache. Die Mitglieder einer Kategorie haben innerhalb dieser Kategorie einen unterschiedlichen Stellenwert. Einige sind zentrale oder prototypische Mitglieder der Kategorie, während andere eher periphere Mitglieder sind. Je stärker sie vom Zentrum der Kategorie entfernt sind, desto undeutlicher wird die Kategorie, sie wird unscharf (fuzzy). 1.5 Leseempfehlungen Neuere englischsprachige Einführungen in die Linguistik sind Fromkin et al. (2003), Taylor (1995) sowie Ungerer & Schmid (1996). In Lakoff (1987) Langacker (1987) und (1993) sowie Rudzka-Ostyn (ed.1988) werden die kognitiven Grundlagen der Sprache näher betrachtet. Talmy (1988b) analysiert die Beziehung von Sprache und menschlichem Denken. Einführungen in die Semiotik geben Keller (1995), Trabant (1996) und Eco (2002). Nöth (2000) führt in die verschiedenen Aspekte menschlicher und tierischer Kommunikation ein. Es gibt zahlreiche deutschsprachige Einführungen in die Linguistik mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Vorzügen und Nachteilen. Genannt seien etwa Dürr & Schlobinski (1994), Geier (2003), Linke et al. (2001), Müller (Hg.2002). SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Einen hervorragenden Überblick über die gesamte Sprachwissenschaft liefert Crystal (1993). Eine vorzügliche Sammlung wichtiger Texte zur Linguistik bietet Hoffmann (Hg.2000). Zuverlässige Lexika zur Sprachwissenschaft sind Bußmann (Hg.2002) und Glück (Hg.2000). Eine stets aktuelle Lektüre-Liste (und weiteres Material) zur Linguistik findet sich auf dem Linguistik-Server LINSE im Internet unter der Adresse http://www.linse.uni-essen.de. 1.6 Aufgaben 1. Um welche Zeichenart handelt es sich jeweils bei den folgenden Beispielen? Begründen Sie jeweils Ihre Entscheidung. (a) Auf dem Kopf stehendes, rot umrandetes Dreieck als Verkehrsschild; (b) Verkehrsschild, auf dem herabfallende Steine abgebildet sind; (c) Morsezeichen; (d) zugefrorene Windschutzscheibe; (e) Geschwindigkeitsanzeige im Auto; (f) ausgelöste Alarmsirene; (g) schreiendes Baby; (h) Schwanzwedeln beim Hund; (i) Tierzeichnungen in steinzeitlichen Höhlen; (j) Ehering; (k) emporgestreckte, geballte Faust; (l) Piercing 2. Inwiefern kann man folgende sprachliche Ausdrücke als ikonisch bezeichnen? (a) (b) (c) (d) (e) 3. In der Sprache Krio heißt ‚Erdbeben‘ shaky-shaky. Werbeslogan: Billig, billig, billig Werbung der GEZ: Erst anmelden, dann einschalten. japanisch: ie ‚Haus‘, ieie ‚Häuser‘ Parfümeriewerbung: Come in and find out. Welche ikonischen Prinzipien bestimmen die Abfolge der folgenden, nicht umkehrbaren Wortpaare? Ein Kommen und Gehen; dies und das; hie und da; Wein, Weib und Gesang; Kinder, Küche, Kirche; Gott und die Welt; auf Biegen und Brechen; mit Haut und Haar; Freund oder Feind; Mensch und Maschine, Haus und Hof 4. Erklären Sie bitte, durch welches ikonische Prinzip in den folgenden Beispielen ein Bedeutungsunterschied zustande kommt. (a) Sie schaute ihrem Freund tief in die Augen. (b) Sie schaute tief in die Augen ihres Freundes. (c) Das Ergebnis der Studie entsprach nicht der Erwartung der Öffentlichkeit. (d) ??Die Erwartung der Öffentlichkeit entsprach nicht dem Ergebnis der Studie. 5. Versuchen Sie jeweils, über zu kategorisieren – handelt es sich um eine Präposition oder eine Verbpartikel? Bestimmen Sie den Funktions- und Bedeutungsunterschied in den Satzpaaren. SPRACHE UND DENKEN 25 (a) Sie überredeten ihn mal wieder. (a') Sie redeten mal wieder über ihn. (b) Die Polizisten überführten den Täter. (b') Die Polizisten führten den Täter über den Hof. (b'') Der Täter wurde in eine andere Haftanstalt überführt. 6. Eine sprachliche Form kann Mitglied mehrerer Wortartkategorien sein. Welcher Wortart gehört rund jeweils in den folgenden Beispielen an? (a) (b) (c) (d) (e) In rund einem Jahr wird das neue Gebäude fertig sein. Das war wirklich eine runde Sache. Ich gehe noch mal mit dem Hund rund. Cäsar blickte in das weite Rund der Arena. Wie wär’s, wenn wir den Abend mit einem Glas Wein abrunden? 7. Führen Sie ein kleines Experiment durch: bestimmen Sie die prototypischen und peripheren Mitglieder einer Kategorie, z.B. der Kategorie „Dinge zum Schreiben“. Bitten Sie eine Reihe von Informanten, spontan fünf „Dinge zum Schreiben“ aufzuschreiben. Welche „Dinge“ sind prototypisch? Wieso? 8. Stellen Sie sich vor, Sie wären auf einer kleinen, anscheinend einsamen Insel gestrandet. Glücklicherweise treffen Sie dort dann doch einen anderen Schiffbrüchigen, der allerdings nicht Ihre Sprache spricht. Um zu überleben, sind Sie aufeinander angewiesen. Wie würden Sie sich mit dieser Person in der ersten Zeit verständigen? Welche Art von Zeichen würden Sie gebrauchen? Welche „Wörter“ mit welchen Bedeutungen würden wahrscheinlich von Ihnen beiden zuerst verwendet? Versuchen Sie, eine Begründung zu geben. KAPITEL 2 Wofür stehen Wörter? Lexikologie 2.0 Überblick In Kapitel 1 hatten wir bereits festgestellt, dass der größte Teil der sprachlichen Zeichen symbolisch ist. Deshalb werden wir in den nun folgenden drei Kapiteln systematisch untersuchen, wie Form und Bedeutung in Wörtern (Kapitel 2), in der Wortbildung (Kapitel 3) sowie in der Syntax (Kapitel 4) auf der Grundlage des symbolischen Prinzips miteinander verknüpft sind. In diesem Kapitel über Lexikologie werden Bedeutung und Struktur von Wörtern einer genaueren Betrachtung unterzogen. In der Lexikologie wird systematisch untersucht, wie verschiedene Wortbedeutungen sowohl untereinander als auch mit den Entitäten unserer Vorstellungswelt in Beziehung stehen. Man unterscheidet zwei grundlegende Verfahrensweisen. Zum einen kann man von der Formseite eines Wortes ausgehen und untersuchen, zu welchen Bedeutungen diese in Beziehung steht. Zum anderen kann man aber auch mit der Bedeutungsseite beginnen, d.h. man geht von einem Konzept aus und betrachtet, welche sinnverwandten Wörter oder Synonyme in einer Sprache vorhanden sind und wie diese mit unserer Begriffswelt zusammenhängen. Beide Verfahrensweisen folgen demselben Prinzip: Zunächst werden die zentralen Mitglieder einer Kategorie ausgemacht. Diese Prototypen einer Kategorie lassen sich gegenüber den Mitgliedern benachbarter Kategorien am klarsten abgrenzen. In einem nächsten Schritt werden dann die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Kategorie untersucht. Schließlich betrachtet man die im Vergleich zum Prototypen unscharfen Grenzfälle oder peripheren Mitglieder, die sich nicht so eindeutig und trennscharf einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen, sich an den Rändern einer Kategorie befinden und zu Überlappungen mit benachbarten Kategorien führen. 2.1 Einleitung: Wörter, Bedeutungen und Konzepte Die Sprache stellt für uns Menschen eine Möglichkeit dar, die Erfahrungen mit unserer Umwelt zu ordnen und zu kategorisieren. Die Antwort auf die Frage „Wofür stehen Wörter?“ liegt deshalb sehr nahe: „Für unsere ganze Welt“ – oder zumindest für alle Erfahrungen, die wir mit unserer Umwelt machen und die in einer Kulturgemeinschaft auf die eine oder andere Weise besonders bedeutsam sind und deshalb sprachlich kategorisiert werden. Nun könnte man ja durchaus annehmen, für jede konzeptuelle Kategorie gebe es eine einzige, eindeutige 28 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT sprachliche Entsprechung in Form eines Wortes – oder umgekehrt betrachtet: jedem Wort sei eindeutig eine bestimmte konzeptuelle Kategorie oder Bedeutung zugeordnet. Doch ein Blick auf die sprachliche Realität widerlegt eine solche Annahme schnell: eine Wortform steht nämlich in sehr vielen Fällen mit mehreren Bedeutungen in Beziehung. Die meisten Wörter haben also nicht bloß eine einzige Bedeutung, sondern sind polysem (griech. poly ‚viel‘ und sêma ‚Zeichen, Bedeutung‘). Wörterbücher tragen der Polysemie von Wörtern Rechnung, indem sie für gewöhnlich unter einem Eintrag für eine lexikalische Einheit (d.h. einem Wort) mehrere Bedeutungen anführen. Betrachten wir als Beispiel einmal, welche Bedeutungen im Brockhaus Wahrig Deutsches Wörterbuch (1981: 870,1) unter dem Eintrag Frucht angeführt werden: (1) Frucht: 1.0. „aus Samen u. dessen Hülle bestehendes pflanzliches Produkt“: die Früchte des Feldes, unseres Gartens, [...] eine große, saftige, reife, süße, wohlschmeckende Frucht. 1.0.1. reiche Früchte tragen: „sehr ergiebig sein“ 1.0.2. verbotene Früchte <fig.> „unerlaubte Genüsse“ 1.1. <Bot.> „das nach der Befruchtung aus dem Fruchtknoten der bedeckt samenden Pflanzen gebildete Organ, das die (o. den) Samen bis zur Reife umschließt u. dann ihrer Verbreitung dient“. 2. <unz. landschaftl.> „Getreide“: die Frucht steht gut dieses Jahr. 3. „in der Gebärmutter heranwachsender Keim“: Leibesfrucht 3.1. eine Frucht der Liebe <geh.; veralt.> „ein (uneheliches) Kind“ 4. <geh.> „Ertrag, Ergebnis“: die Früchte der Arbeit 5. <nur Pl.; Rechtsw.> 5.1. „organische Erzeugnisse, sonstige bestimmungsgemäße Ausbeute sowie Erträge einer Sache“: Sachfrüchte 5.2. „Erträge eines Rechts, die es seiner Bestimmung gemäß oder kraft eines auf die Erzielung dieser Erträge gerichteten Rechtsverhältnisses gewährt“ Man kann sehr gut erkennen, wie das Wörterbuch bei der Beschreibung des Wortschatzes verfährt: es geht zunächst von einer bestimmten Wortform aus (Frucht) und gibt dann unter dem Eintrag dieser Wortform deren unterschiedliche Bedeutungen an, d.h. es wendet ein semasiologisches Verfahren an, um die Relation von Form zu Bedeutung zu untersuchen. Bei einem semasiologischen Verfahren wird zunächst die Polysemie einer Wortform erfasst, die einzelnen Bedeutungen werden aufgelistet, und in einem nächsten Schritt wird beschrieben, in welcher Beziehung diese zueinander stehen. Das Wörterbuch geht dabei von den so genannten wörtlichen Bedeutungen (1.0; 1.1.; 2.) aus und führt dann die übertragenen Bedeutungen an (1.0.2.; 4.; 5.). An erster Stelle stehen dabei all diejenigen Bedeutungen, die für uns aus allen übrigen Bedeutungen des Wortes besonders hervortreten. Man sagt deshalb auch, dass diese Bedeutungen eines Wortes gegenüber allen übrigen stark prominent sind, also einen hohen Grad an Prominenz aufweisen. Schließlich nennt ein Wörterbuch auch weniger häufige, LEXIKOLOGIE 29 übertragene und eventuell auch noch sehr spezifische, fachsprachliche Bedeutungen. Bei der Beschreibung des Wortschatzes einer Sprache ist man nicht auf das semasiologische Verfahren festgelegt, denn die Beziehung zwischen Wort und Bedeutung lässt sich ja auch von der Bedeutungsseite her beschreiben. Man beginnt bei diesem Verfahren dann mit einem Konzept (z.B. „Frucht“) und untersucht, welche Wörter oder Ausdrücke im Wortschatz einer Sprache zur Bezeichnung dieses Konzeptes zur Verfügung stehen, d.h. welche Wörter in ihrem Sinn miteinander verwandt sind. So verfährt etwa das Duden Synonymwörterbuch der deutschen Sprache. Für das Konzept „Frucht“ gibt es die folgenden synonymen und auf sonstige Weise sinnverwandten Wörter an: (2a) 1 Frucht Avocado · Kiwi ·, chinesische Stachelbeere · Mango · Kaki; ↑Obst, ↑Südfrucht. 2 Frucht ↑Getreide, ↑Leibesfrucht; Früchte ↑Obst; reiche F. / Früchte tragen ↑einträglich [sein]; etwas trägt F. / Früchte ↑ Erfolg [haben] (Duden Synonymwörterbuch, 1997:270,1) Ein Synonymwörterbuch geht bei der Beschreibung des Wortschatzes, wie bereits gesagt, von einem Konzept oder einer Bedeutung aus und untersucht die verschiedensten Synonyme, die in einer Sprache zur Bezeichnung dieser Bedeutung zur Verfügung stehen. Diese Verfahrensweise der Lexikologie bezeichnet man als onomasiologisch (griech. onoma ‚Name‘. Die Onomasiologie beschäftigt sich mit Wörtern, die sinnverwandt oder synonym sind (reich und wohlhabend), entgegengesetzte Bedeutungen haben, d.h. antonym sind (reich im Gegensatz zu arm), sowie mit Wörtern, die konzeptuell in Beziehung zueinander stehen (Reichtum, Überfluss, Wohlstand, Armut usw.), d.h. mit Wortfeldern. Zur Verdeutlichung fassen wir diese Definitionen hier noch einmal zusammen: • Polysemie: ein Wort hat in der Regel mehrere Bedeutungen – bei Präpositionen (wie z. B. über) können es durchaus zwanzig oder mehr sein. • Homonymie: zwei Wörter haben lediglich dieselbe Form, ihre Bedeutungen stehen aber nicht in Beziehung zueinander, z.B. Fuge im Sinne von „schmaler [ausgefüllter] Zwischenraum zwischen zwei [Bau]teilen, Mauersteinen o. Ä.“ und Fuge im Sinne von „selbstständiges Musikstück od. Teil einer Komposition in zwei- bis achtstimmiger kontrapunktischer Satzart mit nacheinander in allen Stimmen durchgeführtem, festgeprägtem Thema“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2001: 583,2). Homonymie lässt sich über die Etymologie (d.h. die Herkunft) der betreffenden Wörter nachweisen. So geht Fuge im Sinne von „Zwischenraum“ auf mhd. vuoge ‚Verbindungsstelle‘ abgeleitet vom mhd. Verb füegen zurück, während Fuge in der Bedeutung „Musikstück“ aus dem Italienischen entlehnt ist: ital. fuga geht auf lat. fuga ‚Flucht‘ zurück (eine Stimme „flieht“ sozusagen vor der anderen). 30 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT • Synonymie: zwei Wörter sind sinnverwandt, d.h. sie haben gleiche oder ähnliche Bedeutung, z.B. glücklich, fröhlich, erfreut, froh. • Antonymie: zwei Wörter haben gegensätzliche oder nahezu gegensätzliche Bedeutung: groß im Gegensatz zu klein, dick zu dünn, kommen zu (weg)gehen etc. Der Wortschatz einer Sprache lässt sich im Hinblick auf den Zusammenhang von Wörtern und Konzepten also auf zwei unterschiedlichen Wegen beschreiben, die in Übersicht 1 zusammengefasst sind. Übersicht 1. Wortformen und Bedeutungen bzw. Konzepte Semasiologie Onomasiologie Wortform (z.B. Frucht) Bedeutungen a, b, c, d etc. in (1) Polysemie; Homonymie Konzept (z.B. „Frucht“) Wörter a, b, c, d etc. in (2) Synonymie, Antonymie In der Semasiologie konzentriert man sich auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter, während man in der Onomasiologie betrachtet, was die verschiedenen Wörter in ihrer Relation zu den wesentlichen Aspekten unserer Erfahrung gemein haben und wie sie sich in dieser Beziehung unterscheiden. Beide Verfahrensweisen werden in den nun folgenden Abschnitten 2.2 und 2.3 zunächst getrennt voneinander vorgestellt. In Abschnitt 2.4 werden wir dann allerdings sehen, dass diese Verfahren notwendigerweise in einem Zusammenhang stehen und sich bei der Erklärung bestimmter Phänomene ergänzen und auch überschneiden. 2.2 Vom Wort zur Bedeutung: Semasiologie Einmal angenommen, wir wollten jemandem mitteilen, dass wir einen Apfel sehen. Grundsätzlich können wir dazu zwischen drei verschiedenen Zeichenarten wählen (siehe Kapitel 1): wir können auf den Apfel in unserer Nähe zeigen (mit einem Index), wir können ein Bild zeichnen, das dem Apfel ähnelt (also ein Ikon), oder wir können das Wort Apfel aussprechen und damit ein Symbol verwenden. Doch wie hängt die Lautfolge [apfl] mit der Sache zusammen, die wir da gerade sehen? Das Wort ist ja weder die Sache selbst, noch ist es ihr ähnlich – es ist eine bestimmte Form, die aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft in einer Sprachgemeinschaft für ein bestimmtes Konzept (oder die Bedeutung) steht, d.h. dieses Konzept symbolisiert. Das so bezeichnete Konzept steht wiederum zu einer Menge von gedanklichen Einheiten in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt der Menschen in Beziehung. Sie werden als Referenten bezeichnet, denn auf sie wird mittels Sprache verwiesen oder referiert. Die Beziehung zwischen den drei Elementen Form, Konzept (oder Bedeutung) und den gedanklichen Einheiten in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt (den Referenten) lässt sich durch das semiotische Dreieck in Abbildung 1 darstellen. LEXIKOLOGIE 31 Dieses semiotische Dreieck wurde erstmals von Ogden und Richards (1974[1923]) eingeführt. Seither ist es heftigst diskutiert und kritisiert worden, und es gibt eine ganze Reihe von Interpretationen. Wir wollen hier auf diese Diskussion nicht eingehen, sondern eine für unseren Zusammenhang im Großen und Ganzen zutreffende Interpretation liefern. Abbildung 1. Semiotisches Dreieck Konzept (Bedeutung) B ZEICHEN A Form C Referent (d.h. Einheit in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt) Zwischen A (Form) und B (Konzept/Bedeutung) sowie B (Konzept) und C (Referent) bestehen direkte, wenn auch auf Konvention beruhende, Zusammenhänge. A (Form) und C (Referent, d.h. Einheit in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt) hängen allerdings nur indirekt zusammen (angezeigt durch die gestrichelte Linie zwischen A und C). Das semiotische Dreieck baut auf den Überlegungen des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure auf, der die Wortform signifiant (das Bezeichnende) und die Bedeutung des Wortes signifié (das Bezeichnete) nannte. Wir wollen uns ab jetzt an die folgende Konvention halten: wenn auf das Bezeichnende (signifiant) Bezug genommen werden soll, verwenden wir die Ausdrücke Wortform bzw. Wort und schreiben sie kursiv; das Bezeichnete (signifié) nennen wir auch die Bedeutung des Wortes – oder wenn für eine Wortform Polysemie vorliegt, auch einen Bedeutungsaspekt des Wortes. Wir schreiben es dann in doppelten Anführungszeichen. Das Wort Apfel steht also beispielsweise für die Bedeutung „eine Art Frucht“. Der in Abschnitt 2.1 zitierte Wörterbucheintrag macht deutlich, dass Frucht mehr als nur einen Bedeutungsaspekt hat. Neben der Grundbedeutung (1.0) „aus Samen u. dessen Hülle bestehendes pflanzliches Produkt“ wird es noch in anderen Bedeutungen gebraucht. Im biologisch-technischen Sinne (1.1) „das nach der Befruchtung aus dem Fruchtknoten der bedecktsamenden Pflanzen gebildete Organ, das die (o. den) Samen bis zur Reife umschließt u. dann ihrer Verbreitung dient“ beschreibt das Wort Frucht Dinge, die in seiner alltäglichen Verwendung nicht notwendigerweise eine Rolle spielen, wie aus Abbildung (2b) ersichtlich wird. Frucht wird auch in der viel allgemeineren Bedeutung von „Früchte des Feldes/Getreide“ gebraucht (und schließt damit auch Getreide und Gemüse ein). Neben diesen wörtlichen Bedeutungen gibt es auch eine Reihe von übertragenen 32 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Bedeutungen wie den abstrakten Sinn in (4) „Ertrag, Ergebnis“ oder die Bedeutung (3) „in der Gebärmutter heranwachsender Keim“, wie sie etwa in biblischen Ausdrücken wie Frucht des Leibes eine Rolle spielt. Jede dieser unterschiedlichen Verwendungsweisen stellt für sich einen eigenen Bedeutungsaspekt von Frucht dar – oder umgekehrt ausgedrückt: jeder Bedeutungsaspekt eines Wortes verweist auf eine andere Menge von Dingen in der Welt, eine bestimmte Menge von Referenten. Wenn wir das Wort Frucht in seiner Grundbedeutung (1.0) „aus Samen und dessen Hülle bestehendes pflanzliches Produkt“ verwenden, das die Bedeutung „süßer und eßbarer Teil einer Pflanze“ mit einschließt, dann verweisen wir damit auf eine Menge von Referenten, die Äpfel, Birnen, Apfelsinen, Bananen und viele andere süße, essbare Früchte, wie etwa die Apfelsine in Abbildung (2a), umfasst. Wenn wir Frucht in der Bedeutung (1.1.) „pflanzliches Organ, das die Samen bis zur Reife umschließt“ verwenden, dann denken wir an die biologische Funktion der Frucht als Samen für eine neue Pflanzengeneration, wie sie typischerweise als Samen oder Referenten in der Mitte der Melone in Abbildung (2b) zu sehen sind. Doch der samentragende Teil der Pflanze kann die ganze Frucht sein, wie etwa bei einer Walnuss, bei der es sich in der biologischen Fachterminologie (im zweiten Sinne) auch um eine Frucht handelt. Allerdings würde man in der alltäglichen Bedeutung immer nur von einer Nuss sprechen. Wenn also in der Biologie eine Walnuss als Frucht bezeichnet wird, so wird damit auf den gesamten samentragenden Teil als Referenten verwiesen. Bei einer Melone ist im fachterminologischen Sinn eher der Kern mit den Samen der Referent. Im Alltag sind diese speziellen Bedeutungsaspekte von Frucht eher unwesentlich – wir verweisen mit Frucht auf den essbaren und daher für uns wesentlichen Teil. Den mittleren, nicht genießbaren Teil bezeichnen wir zudem nicht als Samen, denn seine Bedeutung für die Fortpflanzung der Pflanze ist für uns unwesentlich, sondern als (uns beim Verzehr der Frucht eventuell störenden) Kern, bei Pflaumen und Kirschen etc. auch als Stein. Abbildung 2. a. aufgeschnittene Apfelsine b. Melonenkerne Darüberhinaus verwenden wir für einen großen Teil essbarer Früchte im Alltag überwiegend die Bezeichnung Obst, auf die in dem Synonymwörterbucheintrag unter (2a) als sinnverwandt verwiesen wurde. Wahrig Deutsches Wörterbuch (2000:935,2) gibt unter dem Eintrag Obst folgende Bedeutungsumschreibung: LEXIKOLOGIE 33 (2b) Obst <n.;-es;unz.> als Nahrung dienende Früchte; ~ ernten, einkochen, pflücken; frisches, gekochtes, getrocknetes , rohes, reifes, unreifes ~ [ < mhd. obez, eigtl. „Zukost“ < ahd. obaz; zu ob2 + essen] Andererseits fallen nicht alle essbaren, sondern überwiegend einheimische Früchte in die Kategorie „Obst“, bei der es sich offensichtlich um eine Unterkategorie (ein Hyponym) zu „Früchte“ handelt. Ein Referent wurde etwas vereinfacht als eine gedankliche Einheit oder der Teil einer solchen Einheit definiert, der durch die entsprechenden Wörter abgerufen wird. Jede Wortbedeutung ruft also ein bestimmtes Mitglied einer Begriffskategorie hervor. In unserem Beispiel Frucht bzw. Früchte handelt es sich bei den Mitgliedern dieser Kategorie um Vorstellungen von materiellen Objekten. Dies muss aber nicht notwendigerweise der Fall sein: so referieren zum Beispiel Verben auf Handlungen und Adjektive auf Eigenschaften. Zudem müssen die Mitglieder einer Kategorie, auf die referiert wird, nicht notwendigerweise in unserer materiellen Umwelt existieren, sie können auch lediglich in unserer Begriffs- und Vorstellungswelt als Begriffseinheiten bestehen. Die Kategorie „Frucht“ umfasst unter anderem Vorstellungen von allen real existierenden sowie auch von allen nicht realen, rein imaginären Äpfeln und Orangen, für die wir die Bezeichnung Frucht möglicherweise verwenden würden, ebenso wie wir mit Gespenst oder Außerirdische eine Menge mit bestimmten Mitgliedern assoziieren, völlig unabhängig davon, ob Gespenster oder Außerirdische nun real existieren oder nicht. In den nun folgenden Abschnitten wollen wir uns näher mit den Beziehungen beschäftigen, die zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Kategorie bestehen. Wir werden uns dazu einmal genauer ansehen, welches Mitglied einer Kategorie besonders zentral ist, d.h. für uns unter den übrigen Mitgliedern besonders herausragt, wie die Mitglieder durch ihre Bedeutungen miteinander verknüpft sind, und außerdem, weshalb Wortbedeutungen nicht immer klar voneinander abgrenzbar und deshalb unscharf sein können. 2.2.1 Prominenz: prototypische Wortbedeutungen In Kapitel 1.3.2 wurde am Beispiel der Kategorie „Stuhl“ bereits sehr deutlich, dass Kategorien prototypische oder zentrale Mitglieder und Grenzfälle oder periphere Mitglieder umfassen. Dieses Organisationsprinzip trifft nicht nur auf die Mitglieder einer Kategorie, sondern auch auf die verschiedenen Bedeutungen einer Wortform zu. Wie aber lässt sich die zentralste Bedeutung einer Wortform wie etwa Frucht ermitteln? Hier bieten sich drei Möglichkeiten an, die in einem engen Zusammenhang stehen. Zunächst einmal können wir festhalten, welche Bedeutung uns als erste in den Sinn kommt, wenn wir eine bestimmte Lautform hören. Wir können aber auch statistisch feststellen, welche Wortform in einer Sprachgemeinschaft am häufigsten verwendet wird. Dann gibt es auch noch eine dritte Möglichkeit: wir überlegen, welche Bedeutung die grundlegendste ist, d.h. auf welche Bedeutung wir zuallererst zurückgreifen würden, um die übrigen Bedeutungen am besten erklären zu können. Wenn wir den Satz Ich esse gerne Vanilleeis mit Früchten hören, so wird uns als erstes Frucht in einer Bedeutung wie „süßer, essbarer Teil der Pflanze“ in den 34 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Sinn kommen – und wohl erst gar nicht der eher biblische oder juristische Sinn „Leibesfrucht“. Der biologische Bedeutungsaspekt „samentragendes Organ der Pflanze“ würde uns nur dann in den Sinn kommen, wenn das Wort Frucht in einem entsprechenden biologischen Kontext geäußert würde. Wenn man nun untersucht, welcher Bedeutungsaspekt von Frucht im alltäglichen Sprachgebrauch vorkommt, so wird man feststellen, dass Frucht in der Bedeutung „süßer, essbarer Teil der Pflanze“ häufiger auftritt als alle übrigen Bedeutungen. Aus dieser Tatsache lässt sich nun schließen, dass der Bedeutungsaspekt „essbarer Teil der Pflanze“ in unserer Vorstellung stärker im Vordergrund steht als „samentragendes Organ“ und mit Sicherheit prominenter ist als die Bedeutung „Leibesfrucht“. Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Bedeutungen „essbarer Teil“ sowie „samentragender Teil“ als prominenter einzustufen sind als die übrigen Bedeutungen: sie bilden einen guten Ausgangspunkt, von dem aus man die übrigen Bedeutungen in der Kategorie „Frucht“ beschreiben kann. Nehmen wir nur einmal an, jemand kennt den etwas antiquierten Ausdruck Leibesfrucht nicht. Dieser eher selten vorkommende Bedeutungsaspekt von Frucht kann einfacher verstanden werden, wenn der zentrale Sinn „samentragender Teil“ bereits bekannt ist, als wenn man Frucht aufgrund der Kenntnis von Leibesfrucht erklären wollte. Mit anderen Worten: die prominentesten und grundlegendsten Bedeutungsaspekte garantieren als zentrale Mitglieder den inneren Zusammenhalt einer Kategorie. Sind sie bekannt, so ermöglichen sie es uns, die übrigen Bedeutungsaspekte zu verstehen. Die Tatsache, dass für uns einige Elemente aus einer Kategorie in ihrer Bedeutung stärker herausragen als andere und auch häufiger verwendet werden als die übrigen, bezeichnet man mit einem Fachbegriff als Zentralitäts- oder auch Prototypeneffekte. Solche Prototypeneffekte treten nicht nur auf der Bedeutungs-, sondern auch auf der Referentenebene auf. Wir hatten bereits gesehen, dass mit Frucht viele Referenten assoziiert werden. Bittet man jetzt etwa Nordeuropäer, Beispiele für „Frucht“ zu geben, dann werden sie höchstwahrscheinlich eher Äpfel und Birnen als Avocados oder Pomeranzen nennen, während Südeuropäern eher Früchte wie Feigen in den Sinn kommen. Wenn wir zudem die alltäglichen Verwendungen der Wörter in einem nordeuropäischen Kontext zählen, so sind Referenzen zu Äpfeln oder Birnen häufiger als zu Mangos. 2.2.2 Bedeutungsbeziehungen: Sternförmige Netzwerke Die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes zeigen nicht nur Prototypeneffekte, so dass einige Bedeutungen prominenter sind und andere in zunehmendem Maße peripher. Vielmehr stehen sie aufgrund gewisser kognitiver Prozesse in einem intern strukturierten Beziehungsnetz. Wir wollen im Folgenden diese Beziehungen und die kognitiven Prozesse, auf die sie zurückgehen, am Beispiel der Bedeutungen von Schule (3) genauer betrachten. LEXIKOLOGIE 35 (3) Schule a. „Institut für die Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen“: Er kommt dieses Jahr in die Schule. b. „Gebäude, in dem eine Schule (3a) untergebracht ist“: Die städtischen Schulen müssen dringend renoviert werden. c. <unz.> „Unterricht (der in einer Schule (3b) erteilt wird)“: Die Schule beginnt um acht Uhr morgens. d. <o.Pl> „Lehrer- und Schülerschaft in ihrer Gesamtheit“: Die ganze Schule ist heute auf Wanderfahrt. e. „Lehrgang“: Segelschule, Fahrschule, Rückenschule etc. Sie hat sich bereits vor ihrem 18. Geburtstag zur Fahrschule angemeldet. f. „Titel bestimmter Lehrbücher, besonders auf musikalischem Gebiet“: Flötenschule, Klavierschule, Gitarrenschule. g. „künstlerische oder wissenschaftliche Richtung, die von einem Meister oder von mehreren Meistern ausging“: Er ist bei den Klassikern in die Schule gegangen/hat von den Klassikern gelernt. Breughel ist ein Maler der flämischen Schule. h. Das wird Schule machen „nachgeahmt werden“. Hoffentlich macht das nicht Schule! i. „Bittere Erfahrungen im Leben gemacht haben“: Die harte Schule des Lebens durchgemacht haben j. „Gärtnerei für Bäume“, kurz für Baumschule k. „Schwarm, Schar, Rudel“: eine Schule Delphine, Heringe, Wale. (auf der Grundlage von Wahrig Deutsches Wörterbuch, 2000:1124,2; Duden Deutsches Universalwörterbuch 1409f) Die ersten beiden Bedeutungen (3a) und (3b) stellen die prominentesten Bedeutungen dar – die übrigen stehen mit ihnen auf die eine oder andere Art in Verbindung. Bedeutung (3k) ist problematisch: sie geht nicht durch Bedeutungserweiterung aus den vorhergehenden Bedeutungen hervor. Vielmehr liegt hier Homonymie vor, d.h. sprachgeschichtlich gesehen gibt es zwei unterschiedliche Wörter Schule – Bedeutung (3k) hat eine eigene Etymologie und geht auf die lateinische Bedeutung „Horde, Kriegerschar“ zurück. Aufgrund der gegenwärtigen Verwendung von Schule in der Bedeutung „Schwarm von Fischen“ lässt sich allerdings schließen, dass der durchschnittliche Sprecher des Deutschen hier eine Volksetymologie zugrundelegt und Bedeutung (3k) eher als eine metaphorische Erweiterung der Bedeutungen (3a-f) ansieht. Wir behandeln deswegen die Bedeutung „Schwarm von Fischen“ als das Ergebnis eines Prozesses der Volkssetymologie und damit als mit den übrigen Bedeutungen in Verbindung stehend. Diese elf Bedeutungsaspekte von Schule bilden ein Beziehungsnetz, das sich in Form eines sternförmigen Netzwerkes (engl. radial network) darstellen lässt, d.h. von einer zentralen Bedeutung in der Mitte dieser Menge gehen Strahlen aus, die in unterschiedliche Richtungen der Bedeutungsaspekte zeigen. Im Falle von Schule werden so vier wesentliche Richtungen deutlich (siehe Abbildung 3). 36 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Abbildung 3. Sternförmiges Netzwerk für die Bedeutungen von Schule d. „Lehrer- und Schülerschaft“ b. „Gebäude“ k. „Fischschwarm“ c. „Unterricht“ i. „Erfahrungen“ j. „Baumschule“ a. „Lehranstalt“ e. „besonderer Lehrgang“ f. „Lehr- und Übungsbuch“ g. „bestimmte künstlerische oder wiss. Richtung“ h. „Vorbildcharakter haben“ Auf welche Prozesse der Bedeutungserweiterung gehen nun also die Beziehungen innerhalb dieses sternförmigen Netzwerkes zurück? Bei Bedeutung (3a) „Lehranstalt für Kinder und Jugendliche“ handelt es sich ganz offensichtlich um die zentrale Bedeutung von Schule. Es gibt nun vier unterschiedliche Prozesse, die es uns erlauben, eine oder mehrere Bedeutungskomponenten dieser allgemeinen Kategorie ins Blickfeld zu rücken. Wir können die Aufmerksamkeit auf jeden untergeordneten Teil dieser komplexen Kategorie richten und diesen untergeordneten Teil stellvertretend für die ganze Kategorie stehen lassen – oder umgekehrt die ganze Kategorie für diese untergeordnete Kategorie. Wir erhalten dann eine Metonymie, d.h. eine semantische Verknüpfung zweier oder mehrerer Bedeutungen (3 b, c, d) eines Wortes, die auf Kontiguität beruht. Zwischen dem Ganzen (Schule als „Lehranstalt“) und einem Teil (dem Gebäude, dem Unterricht, der Lehrerschaft etc.) besteht konzeptuelle Nähe. Der Ausdruck die Schule kann metonymisch für jede dieser einzelnen Komponenten stehen. Eine Beziehung wird als Kontiguität bezeichnet, wenn zwei Teile in engem Kontakt oder Zusammenhang zueinander stehen, so wie ein Ganzes und seine Teile, ein Behälter und sein Inhalt, ein Ort und seine Einwohner usw. So kann man beispielsweise im Deutschen, wie auch in vielen anderen Sprachen, sagen Er hat 'ne ganze Flasche getrunken und damit natürlich nicht die Flasche selbst, sondern ihren Inhalt meinen. Flasche und Inhalt stehen nach unserer Erfahrung in unmittelbarem Kontakt und damit in metonymischer Verbindung zueinander. In Kapitel 4.3 werden wir sehen, dass dieses Konzept der Kontiguität nicht nur auf räumliche und physikalische Nähe zutrifft, sondern auch auf abstraktere Assoziationen, die etwa mit der Zeit oder einer Wirkung in Zusammenhang stehen. Wenn die Sprecher einer Sprache als Volksetymologen zwischen der zentralen Bedeutung von Schule als „Lehranstalt für Kinder und Jugendliche“ und der LEXIKOLOGIE 37 periphersten Bedeutung des Wortes als „Schwarm von Fischen“ eine Verbindung herstellen, so beruht diese auf einem Prozess, den man als Metaphorisierung bezeichnet. Eine Metapher ist das Ergebnis dieses Prozesses, d.h. eine semantische Relation, die auf wahrgenommener oder vorgestellter Ähnlichkeit beruht. Wenn beispielsweise der untere Teil eines Berges mit Fuß des Berges bezeichnet wird, dann übertragen wir damit unsere Wahrnehmung des Körperbaus auf den Aufbau der landschaftlichen Umgebung. Selbst die Interpretation eines Homonyms wie Schule in der Bedeutung „Gruppe von Fischen“ kann zur Bedeutung von Schule als „Gruppe von Schülern und Lehrern“ in Beziehung gesetzt werden. Eine solche Verbindung ist dann durch die Ähnlichkeit motiviert, die von den Sprechern einer Sprache zwischen einer Gruppe von Schülern, die ihrem Lehrer folgen (etwa bei einem Ausflug), und einer Gruppe von Fischen, die im Schwarm schwimmen und dabei einem Leitfisch folgen, wahrgenommen werden. Diese Ähnlichkeit muss nicht „objektiv“ bestehen. Wenn ein Betrachter eine Ähnlichkeit wahrnimmt, so besteht für ihn diese Ähnlichkeit auch. Dies gilt auch für Bedeutung (3j) „Baumschule“ – hier wurde offenbar eine Ähnlichkeit zwischen dem Aspekt der „Erziehung und Ausbildung von heranwachsenden Jugendlichen“ und der „Aufzucht und Pflege von Pflänzlingen in einer Gärtnerei“ wahrgenommen, die dann zur Metaphorisierung geführt hat. Im Gegensatz zur Metonymie beruht eine metaphorische Verknüpfung aber nicht auf Kontiguität, d.h. sie ist nicht durch die unmittelbare konzeptuelle Nähe der Bedeutungen vorgegeben. Eine lexikalische Einheit erfährt eine Metaphorisierung, wenn eine ihrer grundlegenden Bedeutungen, die sogenannte Ursprungsdomäne, verwendet wird, um eine Bedeutung aus einer anderen Domäne, der sogenannten Zieldomäne, zu verstehen. Dies trifft sowohl auf die metaphorische Bedeutung Leibesfrucht für „Sprößling“ als auch auf Schule für „Fischschwarm“ bzw. „Baumschule“ zu. In Abbildung 4 werden alle Prozesse der Bedeutungsausweitung dargestellt. Im Zusammenhang mit den Prozessen der Metaphorisierung und Metonymisierung ergibt sich noch ein weiterer interessanter Aspekt. Wie aus Abbildung 4 ersichtlich wird, gehen die Metaphern (3i-k) von den Bedeutungen (3c) bzw. (3d) aus, die bereits aus einem Prozess der Metonymisierung hervorgegangen sind. Die übrigen Bedeutungen von Schule beruhen auf den Prozessen der Generalisierung bzw. Spezifizierung. Der Prozess der Spezifizierung findet sich bei den Bedeutungen (3e) „Lehrgang“ und (3f) „Lehrbuch“. Hier wurde die grundlegende Bedeutung des Wortes Schule auf ein kleineres Feld von besonderen Referenten eingeengt. Von der allgemeinen Bedeutung Lehranstalt ausgehend hat sich die Bedeutung auf „Institution für einen bestimmten Ausbildungsgang“ wie Segelschule, Fahrschule usw. eingeengt. Ein weiteres Beispiel für Bedeutungsverengung ist das Wort Mann, das im heutigen Deutsch eine „erwachsene Person männlichen Geschlechts“ bezeichnet. Im Mittelhochdeutschen war die Bedeutung noch viel weiter: man bedeutete „Mensch“ (daher auch ie man, nie man ‚irgendein, kein Mensch‘ = nhd: jemand, niemand), ähnlich wie beim englischen Wort man, das auch heute noch den Bedeutungsaspekt „Mensch“ umfasst. Nach Beispielen für Spezifizierung muss man nicht lange suchen, sie sind recht häufig. Unser heutiges Wort Hochzeit hat die Bedeutung „Eheschließung“ – es geht auf das mhd. hôch(ge)zît zurück, das 38 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT noch viel allgemeiner „hohes kirchliches oder weltliches Fest“ bedeutete. Unter zitunge verstand man im Mittelalter noch „Nachricht, Kunde, Botschaft“, eine Zeitung ist für uns heute ein bestimmter Träger von Nachrichten, nämlich eine „regelmäßig erscheinende Druckschrift“. Abbildung 4. Bedeutungserweiterung am Beispiel von Schule a. Lehranstalt METONYMISIERUNG METAPHORISIERUNG i. „Schule des Lebens“ b. „Gebäude“ c. „Unterricht“ d. „Gruppe Schüler (mit Leiter )“ SPEZIFIZIERUNG e. „besonderer Lehrgang“ f. „Lehr- und Übungsbuch“ METAPHORISIERUNG j. „Baumschule“ k. „Schule Delphine“ GENERALISIERUNG g. „künstlerische Richtung“ h. „Vorbildcharakter haben“ Der zur Spezifizierung entgegengesetzte Prozess heißt Generalisierung. Unser Beispiel Schule hat mit den Aspekten (3g) „künstlerische oder wissenschaftliche Richtung“ und (3h) „Vorbildcharakter haben“ eine Bedeutungserweiterung erfahren: von Bedeutungsaspekt (3a) „Lehranstalt“ ausgehend hat sich der Bedeutungsumfang auf „Leute, die eine bestimmte Malweise oder Lehrmeinung teilen“ erweitert. Ein weiteres Beispiel für Generalisierung ist das Verb machen. Es bedeutete ursprünglich „den Lehmbrei zum Hausbau kneten“ und kann heute als Ergebnis eines Prozesses der Generalisierung anstelle einer ganzen Reihe von Verben stehen und die verschiedensten Tätigkeiten bezeichnen. Fassen wir noch einmal kurz zusammen: die unterschiedlichen Bedeutungen eines Wortes (in diesem Fall Schule) bilden ein zusammenhängendes Netz von Einzelbedeutungen, die auf verschiedene Art und Weise miteinander in Beziehung stehen, nämlich aufgrund von Prozessen der Metonymisierung, Metaphorisierung, Spezifizierung und Generalisierung. Zusammengenommen bilden diese Beziehungen zwischen den Einzelbedeutungen ein sogenanntes sternförmiges Netzwerk. In Abbildung 3 wird ein sternförmiges Netzwerk für das Wort Schule dargestellt. Im Zentrum der Menge steht eine (Reihe von) Bedeutung(en), von der bzw. denen Bedeutungsverschiebungen in unterschiedliche Richtungen ausgehen. 2.2.3 Unschärfen bei konzeptuellen Kategorien und Wortbedeutungen Bisher wurden die einzelnen Bedeutungen eines Wortes so behandelt, als wären sie für uns klar und eindeutig voneinander abgrenzbar. In Kapitel 1 hatten wir allerdings bereits gesehen, dass Bedeutungen konzeptuelle Kategorien symbolisieren. Kategorien mögen zwar eindeutige und trennscharfe, zentrale Mitglieder LEXIKOLOGIE 39 haben, doch an den Grenzen zwischen zwei Kategorien kann es auch Unschärfen geben, d.h. dort können sich Kategorien in ihren Bedeutungen überschneiden. Deswegen überrascht es nicht, dass Bedeutungen einer Kategorie nicht immer logisch definiert werden können. Mit anderen Worten: es lassen sich nicht immer eindeutige Kriterien finden, aufgrund derer man einerseits alle Referenten einer Kategorie zuordnen kann, die wir als zu dieser Kategorie zugehörig empfinden, und andererseits aber auch alle anderen Referenten ausschließen kann, die für uns nicht in diese Kategorie gehören. Nehmen wir als Beispiel noch einmal die zentrale Bedeutung von Frucht und untersuchen wir, ob sie sich klar abgrenzen lässt. Eine solche Abgrenzung versucht man durch eine klassische Definition zu erreichen. Hierzu werden alle hinreichenden und notwendigen Bedingungen aufgelistet, die eine Sache erfüllen muss, um Mitglied dieser Kategorie sein zu können. Klassische Definitionen lassen sich für jede mathematische Kategorie aufstellen, beispielsweise für die Kategorie „Dreieck“: Ein Dreieck ist eine „von drei Geraden begrenzte Fläche“. Diese Definition enthält zwei Kriterien: erstens „drei Geraden“, und zweitens „Begrenzung einer Fläche“. Bei einer klassischen Definition müssen sowohl hinreichende als auch notwendige Bedingungen erfüllt sein. Dabei nennt eine notwendige Bedingung alle Kriterien, die z.B. alle Dreiecke miteinander gemein haben; durch eine hinreichende Bedingung unterscheiden sich die Mitglieder einer Kategorie (z.B. ein Dreieck) von allen übrigen Kategorien (z. B. ). Diese Form besteht zwar aus drei Geraden, zusammen begrenzen sie aber keine Fläche: es kann sich also nicht um ein Dreieck handeln. Die Kriterien „von drei Geraden begrenzte Fläche“ sind notwendig und zugleich auch hinreichend: bei einer Fläche, die von drei Gerade begrenzt wird, kann es sich um nichts anderes als um ein Dreieck handeln. Auch wenn Definitionen aufgrund von hinreichenden und notwendigen Bedingungen bei mathematischen Kategorien ausreichen, liegen die Dinge bei natürlichen Kategorien oft etwas anders. Versuchen wir deshalb jetzt einmal, alle uns notwendig erscheinenden Eigenschaften von Frucht aufzulisten. Unmittelbar fallen uns Kriterien wie „süß“, „weich“, „mit Kernen“ usw. als treffliche Anwärter für unsere Definition ein. Doch obwohl diese Eigenschaften auf viele Früchte zutreffen, sind sie nicht immer auch zugleich notwendige Kriterien, indem sie allen Früchten gemeinsam wären: Zitronen sind nicht süß, bei Bananen und Brombeeren erkennen wir nicht unmittelbar irgendwelche Kerne oder Samen, und Avocados sind nicht unbedingt weich. Sicherlich lassen sich auch Eigenschaften finden, die den Charakter notwendiger Kriterien haben: alle Früchte wachsen über der Erde an Pflanzen oder Bäumen, essbare Früchte müssen erst reifen, bevor sie für uns genießbar sind, und wenn wir sie zubereiten wollen, dann werden wir in erster Linie Zucker dazu verwenden (oder sie für Gerichte verwenden, die überwiegend süß schmecken). Doch auch wenn wir diese notwendigen Kriterien zusammennehmen, so reichen sie noch lange nicht hin, denn Mandeln und andere Nüsse oder auch Rhabarber, den man für gewöhnlich mit Zucker kocht, werden durch sie nicht aus der Kategorie ausgeschlossen, obwohl wir uns sie nur schwer als Mitglieder der Kategorie „Frucht“ vorstellen können. An diesem kleinen Definitionsversuch sehen wir eines ganz deutlich: die zentrale Bedeutung von Frucht kann nicht mit einer klassischen Definition be- 40 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT stimmt werden, d.h. es lassen sich keine eindeutigen notwendigen wie auch hinreichenden Kriterien finden, die von allen Mitgliedern der Kategorie erfüllt werden bzw. alle Mitglieder anderer Kategorien ausschließen. Eine solche Definition müsste alle für die Sprecher einer Sprache nur denkbaren Bedeutungen von Frucht berücksichtigen können. Doch muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass unsere Konzeptualisierung von „Frucht“, also die begriffliche Vorstellung, die wir mit Frucht assoziieren, aufgrund dieser Tatsache notwendigerweise unscharf oder nicht wohldefiniert wäre. Es kann trotzdem durchaus der Fall sein, dass uns unsere Vorstellung von „Frucht“ überaus klar und von anderen Vorstellungen scharf abgegrenzt erscheint. Wenn man mehrere Leute bittet, einige Beispiele für „Frucht“ zu nennen, so erhält man sogar eine annähernd gleiche Liste von Mitgliedern dieser Kategorie. Dennoch müssen wir sicherlich zugestehen, dass nicht alle uns bekannten Früchte diesem geistigen Bild auch entsprechen. 2.3 Vom Konzept zum Wort: Onomasiologie Während eine semasiologische Analyse vom Wort ausgeht und seine verschiedenen Bedeutungen analysiert, beginnt eine onomasiologische Betrachtung des Wortschatzes umgekehrt mit einem bestimmten Konzept und untersucht dann die Wörter, die zur Bezeichnung dieses Konzeptes im Lexikon vorhanden sind. Was aber ist Sinn und Zweck der onomasiologischen Verfahrensweise? Zunächst einmal hilft sie herauszufinden, woher bestimmte neue lexikalische Einheiten stammen und welche Mechanismen zur Einführung neuer Wörter für ein und dasselbe Konzept im Wortschatz einer Sprache zur Verfügung stehen. Sinn und Zweck einer onomasiologischen Analyse ist, innerhalb einer Gruppe konzeptuell miteinander in Beziehung stehender Wörter (d.h. innerhalb eines Wortfeldes) gewisse Musterbildungen zu erkennen. Unter einem Wortfeld versteht man eine Gruppe von Wörtern, die begriffliche Einheiten aus ein- und derselben konzeptuellen Domäne bezeichnen. Wörter wie Frühstück, Mittagessen, Vesper und Abendessen zum Beispiel sind miteinander verbunden und gehören alle zum Wortfeld „Mahlzeiten“. Eine konzeptuelle Domäne oder auch ein Begriffsfeld ist ein in sich zusammenhängender (oder kohärenter) Bereich der Konzeptualisierung, wie etwa „Mahlzeiten“, „Raum“, „Geruch“, „Farbe“, „menschlicher Körper“, „Fußballregeln“ etc. Für eine onomasiologische Betrachtungsweise stellt sich nun folgende Frage: Welche Position und welchen Status haben Wörter in einem Wortfeld, das durch ein allgemeineres Wort wie Mahlzeiten begrenzt wird? Weitere Beispiele für Wortfelder finden sich etwa in konzeptuellen Domänen wie „Krankheit“, „Reise“, „Geschwindigkeit“, „Spiele“, „Wissen“ usw. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass die konzeptuellen Beziehungen zwischen den Wörtern eines lexikalischen Feldes analog zu den Beziehungen sind, die im Abschnitt über Semasiologie identifiziert wurden: auch im Bereich der Onomasiologie gibt es Prominenzeffekte, kognitive Verknüpfungsprozesse und Unschärfe. LEXIKOLOGIE 2.3.1 41 Prominenz in konzeptuellen Domänen: Basiskategorien Ebenso wie es in der Semasiologie Prominenzeffekte gibt, die etwas darüber aussagen, welche der Einzelbedeutungen eines Wortes oder welche seiner Referenten als erstes erinnert oder am häufigsten gebraucht werden, so gibt es diese Effekte auch in der Onomasiologie. Die Wortreihe Tier, Fleischfresser, Hund etwa ist hierarchisch geordnet: sie geht vom Allgemeineren zum Spezifischeren über. Wenn uns nun etwas gegenübersteht und uns anbellt, so wird uns sicherlich als allererstes ein Wort wie Hund und nicht Tier oder Fleischfresser in den Sinn kommen. Bei diesem Phänomen handelt es sich um einen Prominenzeffekt – das Wort Hund ist prominenter als die Bezeichnungsmöglichkeiten auf den übrigen Ebenen der Hierarchie. Eine andere Art von Prominenzeffekt kann innerhalb einer Gruppe von Wörtern auftreten, die auf derselben Ebene einer Hierarchie stehen – wie etwa Labrador, Bernhardiner, Dackel, Dachshund, Teckel etc. Hier treten einige Namen für Hunderassen eventuell öfter auf als andere. Beide Arten von Prominenzeffekten werden im Folgenden näher besprochen. Nach dem amerikanischen Anthropologen Brent Berlin folgen Alltagsklassifikationen (im Unterschied zu wissenschaftlichen Klassifikationen) innerhalb biologischer Domänen in der Regel einem allgemeinen Organisationsprinzip. Sie bestehen mindestens aus drei, in Berlins Untersuchungen sogar aus fünf Klassifikationsebenen, die vom sehr weiten und allgemeinen zum sehr engen und speziellen Begriff reichen. In konzeptuellen Domänen mit mehreren Ebenen (siehe Übersicht 2) steht die allgemeinste Kategorie auf der höchsten, die speziellste auf der untersten Ebene der Kategorisierung. Zwischen der allgemeinsten (z.B. Tier) und der speziellsten Ebene (z.B. Dackel) findet sich die sogenannte Basisebene. Wörter auf dieser basalen Ebene (z.B. Hund) werden am ehesten verwendet, wenn auf ein bestimmtes Phänomen Bezug genommen werden soll. Vieles deutet darauf hin, dass Bezeichnungen der Basisebene prominenter sind als andere. Wenn beispielsweise Kinder eine Sprache erwerben, so lernen sie zunächst basale Ausdrücke wie Baum, Hund, Hose, Auto, Apfel, ehe sie dann allgemeinere Ausdrücke wie Pflanze, Tier, Kleidung, Fahrzeug, Obst bzw. speziellere Termini wie Eiche, Dackel, Jeans, Sportwagen und Granny Smith hinzulernen. Von der formalen Seite her gesehen sind basale Ausdrücke in aller Regel kurz und haben einen einfachen morphologischen Aufbau. Übersicht 2. Alltagsklassifizierungen konzeptueller Domänen Ebenen der sprachlichen Konzeptualisierung allgemeine Ebene Basisebene spezifische Ebene konzeptuelle Domänen Pflanze Tier Baum Hund Eiche Dackel Kleidung Fahrzeug Hose Auto Jeans Sportwagen Obst Apfel Granny Smith Von der konzeptuellen Seite ausgehend konnte experimentell gezeigt werden, dass auf der Basisebene der Kategorisierung die deutlichsten Prominenzeffekte auftreten, die einzelnen Mitglieder einer Kategorie die größten Gemeinsamkeiten 42 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT aufweisen und sich zugleich auch am stärksten von verwandten basalen Ausdrücken unterscheiden. Nehmen wir als Beispiel die Domäne „Kleidung“. Kleidungsstücke wie Hose, Rock und Mantel sind allesamt Mitglieder der basalen Kategorisierungsebene. Alle Mitglieder der Kategorie „Rock“ haben folgende Gemeinsamkeiten: 1) sie werden normalerweise von Frauen getragen, 2) sie bedecken den Körper unterhalb der Taille, 3) sie bedecken nicht einzeln die Beine, und 4) sie sind in der Regel nicht kürzer als bis zum oberen Oberschenkel. Gemeinsamkeiten von Rock und Hose oder Sweatshirt sind viel schwieriger zu finden. Mitglieder von Kategorien auf einer übergeordneten Ebene wie etwa Unterwäsche und Oberbekleidung haben nur eine generelle Gemeinsamkeit – sie alle stellen eine „Kleidungsschicht“ dar. Das Modell der basalen Kategorisierungsebene lässt also bis zu einem gewissen Maße Vorhersagen darüber zu, welche Ebene der Kategorisierung in einer Alltagsklassifikation für die Sprecher am prominentesten ist. Es erlaubt allerdings keinerlei Aussagen darüber, welcher Terminus derselben Ebene bevorzugt und wie häufig er verwendet wird. Nehmen wir an, in einer Modezeitschrift sei ein sehr kurzer Rock abgebildet, der aus einem einzigen Stoffteil besteht, das vorne übereinandergeschlagen wird. Handelt es sich bei diesem Rock sowohl um einen Mini- als auch um einen Wickelrock? Wie würden wir diesen Rock normalerweise bezeichnen? Einer Studie zufolge bevorzugen Modejournalisten für diesen Rock die Bezeichnung Minirock. Das wirft folgende Fragen auf: wenn zur Beschreibung einer Sache mehrere Wörter zur Verfügung stehen, wieso hebt sich für uns ein Ausdruck stärker von allen übrigen ab? Welche Kriterien spielen eine Rolle, wenn eine bestimmte Bezeichnung einer anderen vorgezogen wird? Der amerikanische Linguist Ronald Langacker untersuchte, wie neue Ausdrücke gebildet werden und sich schließlich fest im Wortschatz einer Sprache etablieren. Er kam zu der Erklärung, dass ein neues Wort durch häufigen Gebrauch sozusagen in den Wortschatz eingeschliffen oder eingebürgert wird (Langacker verwendet hier den englischen Begriff entrenched ‚eingegraben sein‘). Betrachten wir ein Beispiel: das Wort vielleicht wurde aus den beiden mhd. Wörtern vil ‚sehr‘ und lihte ‚leicht‘ gebildet. Das neue Kompositum vielleicht wurde von den Sprechern des Deutschen so oft verwendet, dass sie schließlich nicht mehr bemerkten, dass es eigentlich aus den beiden Wörtern viel und leicht zusammengesetzt war. Mit anderen Worten: eine Wortgruppe kann durch den alltäglichen Gebrauch schließlich so stark in den Wortschatz eingebürgert werden, dass sie zu einem regulären und fest etablierten Ausdruck des Sprachsystems wird. Bei der Auswahl zwischen mehreren Bezeichnungsmöglichkeiten kommt wahrscheinlich ein sehr ähnlicher Prozess zum Tragen. Wie kann man aber herausfinden, ob dieses konzeptuelle Einbinden auch auf unsere Fragestellung zutrifft? Wir hatten uns ja gefragt, warum ein bestimmtes Mitglied einer Kategorie den übrigen Mitgliedern vorgezogen wird. Um diese Frage zu beantworten, könnte man zum Beispiel ein psychologisches Experiment durchführen oder eine Umfrage starten. Für eine sprachwissenschaftliche Herangehensweise an diese Frage ist es allerdings viel sinnvoller, Untersuchungen auf die tatsächliche Sprachverwendung zu stützen. Dazu greift man auf ein Sprachkorpus zurück – LEXIKOLOGIE 43 eine große Sammlung geschriebener und gesprochener Texte, die für sprachwissenschaftliche Analysezwecke zusammengestellt wurden. Kehren wir nun zu unserer Frage zurück, wie die sehr knappen Wickelröcke bezeichnet werden könnten. Angenommen ein großes Korpus von Modesprache enthalte 200 Verweise auf diese Art von Rock. Wenn nun in – sagen wir einmal – 150 Fällen zur Bezeichnung das Wort Minirock, hingegen in lediglich 50 Fällen Wickelrock oder ein anderer, allgemeinerer oder spezifischerer Terminus auftritt, so können wir von Minirock sagen, dass sich – aus welchen Gründen auch immer – diese lexikalische Form im Sprachgebrauch zur Bezeichnung des Rockes durchgesetzt hat und in den Wortschatz eingebürgert wurde. 2.3.2 Verknüpfungen in konzeptuellen Domänen: Taxonomien In Abschnitt 2.2.2 über die Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes (Semasiologie) hatten wir gesehen, dass Bedeutungserweiterungen von Wörtern auf die kognitiven Prozesse Metonymisierung, Metaphorisierung, Spezifizierung und Generalisierung zurückgehen. Diese Prozesse spielen auch in der Onomasiologie eine Rolle, die ja untersucht, in welchen Beziehungen die einzelnen Bezeichnungen für eine Kategorie untereinander stehen. Bei Kategorien handelt es sich wiederum nicht um isolierte Einzelerscheinungen, denn sie stehen durch Zugehörigkeit zu einer konzeptuellen Domäne miteinander in Beziehung. Eine solche Domäne ist nicht nur in eine allgemeine, eine basale und eine spezifische Ebene der Kategorisierung (vgl. Übersicht 2) gegliedert, die einzelnen Kategorisierungsebenen sind vielmehr auch hierarchisch geordnet. In einer solchen hierarchischen Taxonomie vereint die höchste, übergeordnete Ebene alle Elementen der allgemeineren Ebene, die ihrerseits alle Konzepte der Basisebene einschließt. Diese basale Ebene umfasst wiederum alle Konzepte der untergeordneten spezifischeren Ebenen (vgl. Abbildung 5 mit drei Ebenen). Abbildung 5. Hierarchische Taxonomie EBENEN Kleidungsstücke ÜBERGEORDNET BASIS SPEZIFISCH Rock Wickelrock Minirock Hose Leggings Shorts Jeans ? Hemd T-Shirt Pulli Begriffe auf einer übergeordneten Ebene bezeichnet man als Hyperonyme, Begriffe auf der jeweils untergeordneten Ebene als Hyponyme zu einem Oberbegriff. Eine hierarchische Taxonomie ist der Sonderfall eines Wortfeldes, denn alle lexikalischen Einheiten sind nun auf besondere Weise, nämlich hie- 44 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT rarchisch geordnet. In allen Fällen des Wortfeldes „Kleidungsstücke“ lassen sich drei hierarchische Ebenen ausmachen: geht man von einem Begriff aus um eine Ebene höher, so handelt es sich um Generalisierung; geht man hingegen um eine Ebene tiefer in der Taxonomie, so ist das Spezifizierung. Wie die dritte Gruppe in Abbildung 5 (Hemd, T-Shirt und Sweat-Shirt) zeigt, kann es durchaus vorkommen, dass wir auf der basalen Ebene einen Begriff erwarten, dort aber keiner anzutreffen ist. In diesen Fällen spricht man von einer lexikalischen Lücke. Mit der stetigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der Kulturen bilden wir nicht nur mehr oder weniger kohärente Mengen von Konzepten in Gestalt von Wortfeldern und Taxonomien. Oftmals verwenden wir ganze konzeptuelle Domänen, um unser Verstehen anderer Domänen zu strukturieren. So benutzen wir vor dem Hintergrund unserer anthropozentrischen Sichtweise die Domäne „menschlicher Körper“, um eine geographische Domäne, z.B. unsere Sichtweise der Teile eines Berges zu kategorisieren. Den untersten Teil des Berges bezeichnen wir als Fuß des Berges, den langen, aufstrebenden Teil als Bergrücken. In diesen Fällen bezieht sich die Metaphorisierung nicht bloß auf die Bedeutung eines Wortes, wie dies im weiter oben besprochenen Beispiel Schule in der Bedeutung „Baumschule“ bzw. „Schwarm von Fischen“ der Fall war (Abbildung 3). Im vorliegenden Fall von Berg verwenden wir vielmehr Teile einer konzeptuellen Domäne („menschlicher Körper“), um eine andere Domäne zu verstehen („Struktur eines Berges“). Lakoff und Johnson (1980) führten für diese Verwendung von Metaphern im Denkprozess den Begriff konzeptuelle Metapher ein. Insbesondere unser Verständnis von abstrakteren konzeptuellen Domänen wie „Denken“ und „Emotionen“ gründet sich wesentlich auf eine Reihe konzeptueller Metaphern – in der Regel werden abstraktere Domänen durch bestimmte Domänen strukturiert, die auf konkretere Erfahrungen gründen. So finden sich im Deutschen viele metaphorische Ausdrücke, die sich auf bestimmte Aspekte einer Argumentation beziehen: einen Streit verlieren, jemanden scharf angreifen, seine eigene Meinung verteidigen, unhaltbare Behauptungen aufstellen und viele andere mehr. Sie alle sind Ausdruck der konzeptuellen Metapher ARGUMENTIEREN IST KRIEG, die ihnen zugrunde liegt. In ähnlicher Weise werden viele Emotionen als heiße Flüssigkeit in einem Behälter verstanden, wir sprechen von vor Wut kochen, das Blut in Wallung bringen, explodieren usw. Hinter diesen Ausdrücken steht die konzeptuelle Metapher EMOTIONEN SIND FLÜSSIGKEITEN IN EINEM BEHÄLTER. Eine konzeptuelle Metapher strukturiert also Teile einer konzeptuellen Domäne wie „Berg“ oder „Gefühl“ durch Aspekte einer anderen konzeptuellen Domäne wie „menschlicher Körper“ bzw. „Flüssigkeit“. Zwischen Aspekten der Ursprungs- und der Zieldomäne werden von uns eine Ähnlichkeiten wahrgenommen. Eine konzeptuelle Metonymie nennt hingegen einen Aspekt oder ein Element aus einer konzeptuellen Domäne und verweist auf ein anderes Element innerhalb derselben Domäne, das zum ersteren in einer Beziehung der Kontiguität (unmittelbaren Nähe) steht. Die folgenden Beispiele (4) sind typische konzeptuelle Metonymien. LEXIKOLOGIE (4) Einige konzeptuelle Metonymien a. PERSON FÜR DEREN NAMEN b. PERSON FÜR ZUGEHÖRIGE SACHE c. AUTOR FÜR SEIN WERK d. ORT FÜR BEWOHNER e. HERSTELLER FÜR PRODUKT f. BEHÄLTER FÜR INHALT 45 Sie steht nicht im Telefonbuch. [Auf einem Parkplatz:] Wo stehst du? Dieses Semester lesen wir Goethe. Unser ganzer Stadtteil wählt Grün. Der erste Zeppelin flog 1900. Ich nehm’ noch ein Glas. In jedem dieser Beispiele könnte auch die zu bezeichnende Sache selbst genannt werden: (5) Ausführliche sprachliche Konzeptualisierungen zu den Beispielen in (4) a. Ihre Telefonnummer steht nicht im Telefonbuch. b. Wo steht dein Auto? c. Dieses Semester lesen wir Stücke aus Goethes Werk. d. Alle Bewohner unseres Stadtteils wählen Grün. e. Das erste von Graf Zeppelin erbaute Luftschiff flog 1900. f. Ich trinke noch ein Glas Whisky. Der Unterschied zwischen den Metonymien in (4) und den ihnen entsprechenden ausführlicheren sprachlichen Konzeptualisierungen in (5) liegt im Fokus der Betrachtung. Die metonymischen Konstruktionen sind allgemeiner; zu ihrer Interpretation muss stärker auf Wissen über die Situation und den sozio-kulturellen Hintergrund zurückgegriffen werden. Die entsprechenden Beispiele in (5) geben hingegen viel spezifischere Informationen. So ist aus Beispiel (4f) nicht explizit abzulesen, von welchem Getränk der Sprecher noch gerne ein Glas hätte; es könnte sich um Wein, Bier, Saft, Wasser, Whisky usw. handeln. In (5f) wird das Getränk ausdrücklich beim Namen genannt. Durch diese unterschiedlichen sprachlichen Konstruktionen werden also jeweils bestimmte Aspekte „ins Bild gebracht“, während andere dafür in den Hintergrund treten. Übersicht 3. Konzeptuelle Bezüge in der Semasiologie bzw. Onomasiologie Konzeptuelle Prinzipien 1. Hierarchie (übergeordnet/ untergeordnet) 2. Kontiguität (konzeptuelle Nähe) 3. Ähnlichkeit (wahrgenommen bzw. vorgestellt) Semasiologie (Zusammenhang der Bedeutungsaspekte eines Wortes) Generalisierung / Spezifizierung, (z.B. Schule: „künstlerische Richtung“ bzw. Segelschule) metonymische Bedeutungserweiterung (z.B. ausgehend von Schule im Sinne von „Lehranstalt“ zu „Unterricht“, „Schüler“) metaphorische Bedeutungserweiterung (Baumschule) Onomasiologie (Zusammenhang von Wörtern und Konzepten) konzeptuelle Domäne: Taxonomien (z.B. Tier, Hund, Dackel) und Wortfelder (z.B. Mahlzeiten) konzeptuelle Metonymie, z.B. BEHÄLTER FÜR INHALT konzeptuelle Metapher, z.B. ARGUMENTIEREN IST KRIEG 46 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT In Übersicht 3 sind nochmals die konzeptuellen Beziehungen zusammengefasst, die wir mit einer semasiologischen bzw. onomasiologischen Betrachtungsweise in den Blick nehmen. Bei beiden Analysewegen lassen sich hierarchische Beziehungen (vom Allgemeineren zum Spezifischeren) erkennen sowie solche, die auf Kontiguität bzw. Ähnlichkeit beruhen. 2.3.3 Unschärfe in konzeptuellen Domänen: problematische Taxonomien In Abschnitt 2.2.3 hatten wir bereits entdeckt, dass es im Zusammenhang mit der Kategorisierung bei natürlichen Kategorien per definitionem an den Rändern zu Unschärfen kommen kann. So ist nicht eindeutig bestimmbar, ob Rhabarber als Obst oder Gemüse zu klassifizieren ist, die Einordnung hängt stark von der kategorisierenden Person ab. Auch auf dem Gebiet der Onomasiologie verhält sich das nicht anders. Sieht man sich das Modell der basalen Kategorisierung in Abschnitt 2.3.1 an, so kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass bei genauer Betrachtung des Wortschatzes eine trennscharfe, mosaikartige Ordnung zu erkennen sei, durch die jede Einheit ihren eindeutigen Platz in der jeweiligen Taxonomie hat. Einer solchen Annahme stehen durchaus Zweifel entgegen: so ist es nicht immer möglich, eine exakte Entscheidung darüber zu fällen, auf welcher Ebene der Hierarchie eine Einheit anzusiedeln ist. Kleidung lässt sich noch problemlos als Element auf der obersten Ebene ansiedeln. Auf der Basisebene stehen Kleidungsstücke wie Rock, Hose und Anzug und auf der spezifischen Ebene Wickelrock, Minirock, Leggings usw. Es gelingt aber nicht, zwischen übergeordneter und basaler Ebene „Herrenbekleidung“ und „Damenbekleidung“ eindeutig auf einer allgemeinen Ebene einzuordnen. Die Einteilung in „Damenbekleidung“ und „Herrenbekleidung“ ist also kein eindeutiges Kriterium für die Klassifizierung von Kleidungsstücken – weder auf der basalen, noch auf der spezifischen Ebene. Abbildung 6. Taxonomie mit Unschärfeproblemen EBENEN ÜBERGEORDNET Kleidung BASIS SPEZIFISCH ALLGEMEIN? Rock Wickelrock Minirock Hose Leggings Damenbekleidung Shorts Anzug Jeans Herrenbekleidung LEXIKOLOGIE 47 Wie aus Abbildung 6 deutlich wird, fällt es überhaupt nicht schwer, in einer Sprache Beispiele für solche Einordnungsprobleme zu finden: Shorts, Jeans und Hosen werden in der Regel sowohl von Männern als auch von Frauen getragen – die Taxonomie zeigt deshalb deutliche Überlappungen, wenn man beide unter den Kriterien Herrenbzw. Damenbekleidung betrachtet. Eine genauere Analyse von Bezeichnungen für „Kleidung“ stellt uns vor folgendes Problem: Auf welcher Ebene in Abbildung 6 müssten wir die lexikalische Einheit Hosenrock einordnen? Handelt es sich um ein Wort, das zusammen mit Hose und Rock auf einer allgemeineren Ebene, d.h. der basalen Ebene, einzuordnen ist, oder muss es unterhalb dieser Ebene als untergeordnete Kategorie (auf der spezifischen Ebene) eingeordnet werden, wie dies in Abbildung 7 versucht wird? Abbildung 7. Hosenrock auf der (a) Basisebene oder auf einer (b) spezifischen Ebene der Kategorisierung? a. beinbedeckende Kleidung Hose Hosenrock b. beinbedeckende Kleidung Rock Rock Wickel- Faltenrock rock Hose Minirock Hosenrock Unser Problem bei der genauen Einordnung hat möglicherweise mit semasiologischen Prominenzeffekten zu tun. Wie wir bereits gesehen haben, sind diejenigen Mitglieder, die bevorzugt werden und am häufigsten auftreten, auch die in einer Kategorie herausragendsten Mitglieder. Abbildung 8. Einige Kleidungsstücke a. Wickelrock b. Faltenrock c. Minirock d. Hosenrock Wörter wie Hose und Rock treten viel häufiger auf als Hosenrock – sie sind deshalb auch viel typischere Beispiele für die Kategorie als nicht so prominente 48 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Mitglieder. Daraus lässt sich nun schlussfolgern, dass wenn unklar ist, ob ein Hosenrock als Hose oder Rock zu bezeichnen ist, es ebenso wenig klar ist, wo dieses Kleidungsstück in der Taxonomie einzuordnen ist. Diese Probleme werden auch im Sprachvergleich deutlich: während man im Englischen mit culottes eindeutig „women’s trousers“ bezeichnet, wird im Deutschen mit Hosenrock der Aspekt „Rock“ deutlich hervorgehoben. Auch Wörterbücher nehmen hier unterschiedliche Einordnungen vor. Das Duden Deutsches Universalwörterbuch (2001:803,1) gibt unter Hosenrock die Bedeutung „Kleidungsstück für Frauen von einer Form, die aus Rock und Hose kombiniert ist“ an, legt sich also auf keine Einordnung fest, nennt allerdings Rock an erster Stelle. Wahrig Deutsches Wörterbuch (2000:660,2) definiert hingegen „wie ein Rock geschnittene Hose mit sehr weiten Beinen“ und kategorisiert Hosenrock damit als spezielle Art einer Hose (siehe Abbildung 7). Ein weiterer Punkt kommt noch hinzu: anders als das hier dargestellte Modell der sprachlichen Kategorisierung vielleicht nahe zu legen scheint, kann der Wortschatz einer Sprache nicht mit einer einzigen taxonomischen Baumstruktur, quasi mit sich immer feiner verästelnden Ästen und Verzweigungen dargestellt werden. Im Wortschatz bestehen vielmehr mannigfaltige, einander überlappende Hierarchien. Man kann beispielsweise die Frage stellen, wie eine lexikalische Einheit wie Damenbekleidung – also „Kleidung, die typischerweise von Frauen getragen wird“ – in ein taxonomisches Wortschatzmodell integriert werden müsste. Abbildung 7 ist eine verkürzte Darstellung einiger Elemente aus Abbildung 6 und zeigt recht deutlich, dass eine Klassifikation auf der Grundlage des Merkmals Geschlecht zu keiner eindeutigen Taxonomie führt, denn einige Kleidungsstücke können von Frauen ebenso gut wie von Männern getragen werden (vgl. auch eine moderne Kategorie von Bekleidung wie Unisex). Folglich ist bereits die taxonomische Einordnung von Damenbekleidung unklar, denn diese Kategorie überschneidet sich mit der Klassifikation Rock – Hose – Anzug. 2.4 Semasiologie und Onomasiologie im Zusammenspiel In den vorausgegangenen Abschnitten dieses Kapitels wurden semasiologische wie auch onomasiologische Aspekte von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet. Wir wollen dieses Kapitel über Lexikologie aber nicht schließen, ohne bei der Untersuchung von Bezeichnungen und Bedeutungen einen praktischen Aspekt mit berücksichtigt zu haben. Fragen wir also nun, welche Faktoren die Auswahl einer bestimmten lexikalischen Einheit bestimmen bzw. warum ein Sprecher in einer bestimmten Situation eine bestimmte Bezeichnung für eine bestimmte Bedeutung und nicht eine andere auswählt? Für diese „pragmatisch ausgerichtete“ Form der Onomasiologie gelten zwei Grundprinzipien. Die Auswahl einer Bezeichnung für einen Referenten hängt sowohl von semasiologischen als auch von onomasiologischen Prominenzeffekten ab. Je prototypischer die Bedeutung eines Referenten für die Kategorie eingeschätzt wird, desto größer ist die semasiologische Prominenz dieser Bedeutung. Je stärker der Name für eine Kategorie sich im Sprachgebrauch eingebürgert oder eingeschliffen hat, desto größer ist die onomasiologische Prominenz dieses Ausdrucks. LEXIKOLOGIE 49 Semasiologische Prominenz impliziert also, dass eine Sache eher durch eine lexikalische Einheit benannt wird, wenn diese ein gutes, typisches Beispiel für die jeweilige Kategorie darstellt. Nehmen wir Kraftfahrzeuge als ein Beispiel. Warum bezeichnen wir in Europa Kraftfahrzeuge wie den Renault Espace, der eine Art Mischung aus Auto und Kleintransporter darstellt, als PKW und nicht als Kleintransporter? Die Bezeichnung PKW wird wahrscheinlich bevorzugt, da diese Wagen trotz der Tatsache, dass sie sowohl mit PKWs als auch mit Lieferwagen gewisse Charakteristika teilen, dennoch als bessere Beispiele für die Kategorie „PKW“ angesehen werden. In der Regel gehören sie nämlich Privatpersonen, die sie für den Transport von anderen Personen verwenden. Typische europäische Kleintransporter werden aber zum Transport von Gütern verwendet (in den USA gibt es diesen Fahrzeugtyp schon seit längerem, und vans werden schon seit geraumer Zeit als Familienautos benutzt, so dass sich dort der Name mini-van eingebürgert hat). Onomasiologische Prominenz lässt sich nun wie folgt bestimmen: ein Referent wird bevorzugt durch einen sprachlichen Ausdruck A anstatt durch B bezeichnet, wenn A eine lexikalische Kategorie darstellt, die sich in stärkerem Maße eingebürgert, d.h. im Sprachgebrauch stärker eingeschliffen hat als B. Unser Miniwickelrock ähnelt ebenso sehr einem Wickelrock wie auch einem Minirock. Folglich gibt es keine besondere semasiologische Motivation dafür, eine der beiden Kategorien zur Bezeichnung dieses Kleidungsstückes der anderen vorzuziehen. Der Ausdruck Minirock wird dann zur Bezeichnung dieser Mischform ausgewählt werden, wenn er sich durch den Sprachgebrauch stärker im Wortschatz eingeschliffen hat als Wickelrock. Kurz, die Auswahl einer lexikalischen Einheit zur Bezeichnung eines bestimmten Referenten wird sowohl durch onomasiologische als auch durch semasiologische Prominenzeffekte bestimmt. Diese Erkenntnis deutet in Richtung einer vollständig integrierten Lexikologie, bei der sowohl semasiologische als auch onomasiologische Verfahrensweisen in logischer Weise miteinander kombiniert werden. 2.5 Zusammenfassung In der Lexikologie werden die Beziehungen zwischen Wörtern und deren Bedeutungen untersucht. Wörter sind oft polysem, d.h. sie haben eine Reihe von unterschiedlichen Bedeutungen. Andererseits verwenden wir viele verschiedene Wörter, um auf gleiche oder annähernd gleiche Referenten zu verweisen. Im Wortschatz finden sich also Synonyme sowie spezifischere (d.h. Hyponyme) bzw. allgemeinere Wörter (Hyperonyme). In ihrer Bedeutung entgegengesetzte Wörter bezeichnet man als Antonyme, gleiche Wortformen mit unterschiedlichen Bedeutungen als Homonyme. Bedeutungsverwandte Wörter werden in Synonymwörterbüchern dargestellt. Die Beziehung zwischen Wörtern und Bedeutungen kann man durch zwei unterschiedliche Herangehensweisen untersuchen: in der Onomasiologie geht man von einem Konzept aus und sucht nach Bezeichnungen für dieses Konzept. In der Semasiologie schlägt man den umgekehrten Weg ein: ausgehend von einer Wortform untersucht man, welche Bedeu 50 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT tungsaspekte ihr zugeordnet sind und in welchen Beziehungen sie untereinander stehen. Obwohl es sich dabei um grundlegend verschiedene Verfahrensweisen zur Untersuchung der Bedeutungen einzelner Wörter und der Bezeichnung einzelner Sachen handelt, sind Semasiologie und Onomasiologie doch durch Gemeinsamkeiten geprägt – beide Verfahren lassen ähnliche Phänomene erkennen, nämlich Prototypikalität, Beziehungen zwischen einzelnen Bedeutungen bzw. Wörtern sowie Unschärfe. Von den verschiedenen Bedeutungsaspekten der Wörter sind einige immer stärker zentral oder prototypisch, während andere Bedeutungsaspekte auf einem Kontinuum von weniger zentral bis hin zu peripheren Grenzfällen der Kategorie anzuordnen sind. Wenn wir an die Bedeutungen eines Wortes denken, kommt uns ein Bedeutungsaspekt als erstes in den Sinn: es handelt sich um die für uns prominenteste Bedeutung des Wortes, die aus allen übrigen hervorsticht. Die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes stehen in einem sternförmigen Netzwerk untereinander in Beziehung. Die vom Zentrum der Kategorie ausgehenden Verknüpfungen beruhen auf kognitiven Prozessen wie Metonymisierung und Metaphorisierung sowie Generalisierung und Spezifizierung. Die Verknüpfung zweier Bedeutungsaspekte eines Wortes in einer Metonymie beruht auf Kontiguität. Eine Metapher geht aus wahrgenommener bzw. vorgestellter Ähnlichkeit zwischen zwei Elementen bzw. Situationen hervor, die zwei unterschiedlichen kognitiven Domänen angehören. Bei einer Metapher werden Teile einer Zieldomäne (z.B. „Gestalt eines Berges“) durch Teile einer sogenannten Ursprungsdomäne (z.B. „Körperbau“) kategorisiert. Die Grenzen zwischen den einzelnen Bedeutungsaspekten innerhalb eines sternförmigen Netzwerkes, insbesondere aber zwischen den peripheren Mitgliedern zweier Kategorien (wie etwa Obst und Gemüse) sind stark verschwommen. Sie können deshalb von klassischen Definitionsversuchen in ihrer Bedeutung nicht exakt erfasst werden – eine Ausnahme bilden hier hochspezialisierte Bedeutungen, die in Wörterbüchern als technische/fachsprachliche Bedeutungen ausgewiesen werden. Unter den verschiedenen Wörtern, die uns zur Benennung einer Sache zur Verfügung stehen, gibt es immer eine prototypische Bezeichnung in Form eines Basisbegriffs wie Baum, Hose, Auto, Apfel, Fisch etc. Anstatt dieser basalen Ausdrücke wie Hose oder Rock können wir aber auch übergeordnete Ausdrücke wie Kleidung oder Fahrzeug bzw. spezifische Ausdrücke wie Jeans oder Minirock verwenden. Basisbegriffe sind in stärkerem Maß in den Wortschatz eingebürgert als Begriffe auf anderen Ebenen der Kategorisierung. Wörter stehen in sogenannten Wortfeldern miteinander in Beziehung. Wortfelder spiegeln grundlegende Unterscheidungen wider, die innerhalb einer konzeptuellen Domäne von einer Sprachgemeinschaft getroffen wurden. Wenn eine konzeptuelle Domäne auf eine andere übertragen wird, bezeichnet man das Ergebnis als konzeptuelle Metapher. Wenn ein Teil einer Domäne für die gesamte Domäne oder auch umgekehrt die gesamte Domäne für einen Teil steht, spricht man von einer konzeptuellen MetoSchließlich muss noch erwähnt werden, dass die Taxonomien lexikalischer Einnymie. heiten sich nicht zu einer einzigen großen Taxonomie mit sich verzweigenden Bedeutungsverästelungen ergänzen. Auch hier gibt es Unschärfen. Selbst eine einzige Einheit wie Hosenrock lässt sich weder auf der basalen Ebene zusammen LEXIKOLOGIE 51 mit Hose und Rock noch auf der spezifischen Ebene zusammen mit Unterkategorien von Rock wie Wickelrock oder Minirock eindeutig einordnen. Ein solches Beispiel stellt auch jeglichen Versuch in Frage, Kleidung in die Zweige Damen- und Herrenbekleidung zu unterteilen – viele Einheiten gehören beiden übergeordneten Kategorien an. 2.6 Leseempfehlungen Eine Einführung in die Prototypensemantik gibt Kleiber (1998). Ein leicht zugängliches Buch über linguistische Kategorisierung und Prototypensemantik ist Taylor (1995). Die Analysen von lexikalischen Einheiten zur Bezeichnung von Bekleidung in diesem Kapitel stützen sich auf Geeraerts, Grondelaers & Bakema (1994). Studien über basale Termini wurden von Berlin (1978) und Berlin et al. (1974) für den Bereich Pflanzen und von Berlin & Kay (1969) für Farbbezeichnungen durchgeführt. Studien zur Metapher und ihren Einfluß auf die Bedeutungserweiterung finden sich in Lakoff & Johnson (2000) und Indurkhya (1992). Eine Untersuchung zur Bedeutungsveränderung insbesondere durch das Prinzip der Metonymie liegt mit Stern (1931) vor. Eine Studie zu lexikalischen Relationen, Taxonomien und Antonymen präsentiert Cruse (1991). Eine kritische Einschätzung klassischer Definitionsversuche von Wörtern durch hinreichende und notwendige Kriterien findet sich in Geeraerts (1987), von Prototypikalität in Geeraerts (1988) und von Unschärfe in Geeraerts (1993). Lehrer (1974) und (1994) sowie Lehrer & Lehrer (1995) diskutieren Wortfeldstudien. Studien zur Generalisierung und Spezifizierung finden sich in Ullmann (1957). Dörschner (1996) vergleicht Wortfeldkonzeption und Prototypentheorie. Eine ausführliche deutschsprachige Darstellung und Diskussion zu Metaphern gibt Liebert (1992). Gute Darstellungen der kognitiven Metapherntheorie mit empirischen Untersuchungen sind Baldauf (1997) zu Alltagsmetaphern und Jäkel (1997) zu Konzeptualisierungen von Geistestätigkeit, Wirtschaft und Wissenschaft. 2.7 Aufgaben 1. Das Dictionary of Contemporary English führt unter fruit ‚Frucht‘ die beiden folgenden Bedeutungen an. Im Deutschen wie auch im Niederländischen werden diese Bedeutungen durch zwei unterschiedliche Wörter kategorisiert: fruit a. „sweet, soft and edible part of plant“ = dt. Obst. nl. fruit b. „seed-bearing part of plant or tree“. = dt. Frucht nl. vrucht. Erklären Sie bitte, inwiefern im Englischen eine semasiologische, im Deutschen und anderen germanischen Sprachen eine onomasiologische Lösung für dasselbe Problem der Kategorisierung gefunden wurde. 2. Nehmen Sie ein anderes Wörterbuch als Wahrig Deutsches Wörterbuch zur Hand (etwa Duden Deutsches Universalwörterbuch, Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul) und vergleichen Sie die Einträge unter Frucht und Obst. Vergleichen 52 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Sie diese Einträge mit (1). Finden sich in beiden Wörterbüchern dieselben Angaben? Werden sie in derselben Reihenfolge angeführt? Was sagen die Ähnlichkeiten und Unterschiede über Wörterbücher aus – oder vielleicht sogar über das gesamte sprachliche System? 3. a. b. c. d. Gehen Sie in einen größeren Supermarkt oder auf den Wochenmarkt und notieren Sie alles, was dort in der Abteilung „Obst/Gemüse“ angeboten wird. Ordnen Sie die Bezeichnungen alphabetisch und legen Sie diese Liste mehreren Informanten vor. Bitten Sie diese, zu unterscheiden, was sie aus dieser Liste als Obst bzw. als Gemüse bezeichnen würden. Werten Sie Ihre Umfrage aus. Gehen Sie dann umgekehrt vor: bitten Sie eine weitere Gruppe von Informanten, jeweils 10 Beispiele für „Obst“ bzw. „Gemüse“ aufzuschreiben. Wie lassen sich die Ergebnisse aus (a) und (b) aufeinander beziehen? Diskutieren Sie nun nach Ihren Erhebungen, in welcher Beziehung die Kategorien „Obst“ und „Gemüse“ zueinander stehen. Kann „Gemüse“ klassisch definiert werden? Unternehmen Sie einen Versuch und begründen Sie Ihre Antwort. 4. Das Wort Kopf hat im Deutschen eine ganze Reihe von Bedeutungsaspekten, von denen hier einige wiedergegeben sind: (a) „oberster, rundlicher Körperteil, zu dem Augen, Nase, Mund, Ohren und Gehirn gehören“. Fußballrowdies schlugen den Polizisten auf den Kopf. (b) „Ort des Denkens“: Ich hatte den Kopf voller toller Ideen. (c) „Verstehen“: Der Prof redet wieder über die Köpfe der Studenten hinweg. (d) „Willen“: Sie hat wie immer ihren Kopf durchgesetzt. (e) „Emotion“: Er ist ein Hitzkopf; einen kühlen Kopf bewahren (f) „Anführer einer Gruppe“: Der Kopf der Bande ist immer noch frei. (g) „Person“: Das wurde einfach über seinen Kopf hinweg entschieden. (h) „oben/Spitze von etwas“: Kopfzeile, am Kopf der Tafel sitzen (i) „rundlicher, oberer Teil von etwas“: Streichholzkopf (j) „pro Person“: Pro-Kopf-Einkommen. (k) „Intelligenz“: Sie ist ein kluger Kopf. (l) „essbarer, rundlicher Teil von Gemüsepflanzen“: ein Kopf Salat, Kohlkopf Stellen Sie diese einzelnen Bedeutungsaspekte in einem sternförmigen Netzwerk dar. Welche Prozesse der Bedeutungserweiterungen haben stattgefunden, welche Bedeutungen sind als Metaphern, welche als Metonymien zu verstehen? Handelt es sich jeweils um eine „sprachliche“ Metapher bzw. Metonymie wie in „Schule“ oder eher um eine konzeptuelle Metapher bzw. Metonymie wie bei „Bergrücken“? 5. Sammeln Sie Wörter aus dem Wortfeld Fußbekleidung wie Stiefel, Sandalen, Bergstiefel, Gummistiefel, Schuhe, Holzklotschen, Pumps und setzen Sie sie untereinander und zu Bezeichnungen wie Hausschuhe, Sportschuhe, Straßenschuhe etc. in Beziehung. Welche dieser Wörter sind Hypo- bzw. Hyperonyme? Welche dieser Wörter könnte man als Bezeichnungen der Basisebene ansehen? Welche dieser Wörter sind stark in den Wortschatz eingebürgert, welche nicht? Zeichnen Sie für die Menge all dieser Wörter eine hierarchische Taxonomie. a. b. c. d. KAPITEL 3 Die kleinsten Bedeutungsbausteine der Sprache: Morphologie 3.0 Überblick In Kapitel 2 über Lexikologie haben wir gesehen, dass lexikalische Einheiten mehrere zueinander in Beziehung stehende Bedeutungen haben können (Semasiologie). Von der Bedeutungsseite her gesehen kann ein Begriff aber auch durch verschiedene lexikalische Einheiten ausgedrückt werden (Onomasiologie). Sowohl die Beziehungen zwischen einzelnen Bedeutungsaspekten eines Wortes als auch die Bedeutungsunterschiede zwischen Wörtern eines Wortfeldes sind Ergebnisse von Prozessen der Spezifizierung, Generalisierung, Metaphorisierung und Metonymisierung. Diese Prinzipien lassen sich auch bei der Betrachtung von Bedeutungsbausteinen aufzeigen, aus denen Wörter bestehen. Die Untersuchung der Struktur von Wörtern fällt in den Bereich der Morphologie. Wörter lassen sich in kleinste bedeutungstragende Einheiten zerlegen, so genannte Morpheme. Wie Wörter haben Morpheme sowohl prototypische als auch periphere Bedeutungsaspekte, die sich in sternförmigen Bedeutungsnetzwerken darstellen lassen. Morpheme kann man nach formalen Kriterien in freie und gebundene Morpheme einteilen. Inhaltlich gesehen lassen sich Morpheme in lexikalische und grammatische Morpheme unterscheiden. Beide Morphemarten kommen sowohl in freier als auch in gebundener Form vor. Freie lexikalische Morpheme bilden auf der Wortebene einfache Wörter, also Simplizia. Gebundene lexikalische Morpheme können nicht ohne Flexionsendungen als Wörter auftreten. Sowohl freie als auch gebundene lexikalische Morpheme tragen jeweils die Kernbedeutung von Wörtern – man nennt sie deshalb auch Kernmorpheme. Aus freien Kernmorphemen (Simplizia) und auch aus gebundenen Kernmorphemen lassen sich komplexe Wörter bilden. Die wichtigsten Wortbildungsprozesse im Deutschen sind Zusammensetzung (Frucht + Saft = Fruchtsaft) und Ableitung (frucht + -ig = fruchtig). Darüber hinaus gibt es noch Konversion (schwimmen > (das) Schwimmen), Wortkreuzung oder Wortverschmelzung (ja + nein > jein), Kürzung (Omnibus > Bus) und Akronymbildung (Europäische Union = EU) sowie Rückbildung (notland(en) rückgebildet aus Notlandung). Durch freie und gebundene grammatische Morpheme werden Wörter zu grammatischen Einheiten verknüpft. Grammatische Morpheme sind Bauelemente 54 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT für syntaktische Gruppen (die grünen Zweige) und für die Satzbildung (er arbeit-et-e). 3.1 Einleitung: Bedeutungsbausteine und Wortbildung Nach einer kurzen Einführung in einige traditionelle Grundbegriffe der Morphologie werden wir darauf eingehen, welche Rolle die Wortbildung bei der Bezeichnung von neuen Bedeutungen spielt. 3.1.1 Bedeutungsbausteine: lexikalische und grammatische Morpheme In Kapitel 2 hatten wir uns auf die Betrachtung von Wörtern und ihre Bedeutungen konzentriert. Vergleicht man Wörter wie Kind, Kinder und kindlich miteinander, zeigt sich, dass es unterhalb der Wortebene noch kleinere sprachliche Einheiten gibt, die Bedeutung tragen. Durch das Anhängen von -er an das Substantiv Kind wird signalisiert, dass von mehr als nur einem Kind die Rede ist. Durch das Anhängen von -lich wird das ursprüngliche Substantiv zu einem Adjektiv mit der Bedeutung „wie ein Kind“. Wenn man Wörter so weit in bedeutungstragende Einheiten zerlegt, bis keine weitere Zerlegung mehr möglich ist, erhält man die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten in einer Sprache, so genannte Morpheme (von griech. morphē ‚Form‘). Ebenso wie die bedeutungstragenden Einheiten -er und -lich lässt sich auch das Wort Kind nicht weiter zerlegen, d.h. es besteht aus einem Morphem, das die lexikalische Bedeutung „nicht erwachsener Mensch“ trägt. Morpheme sind Konzepte, die nicht mit Wörtern oder Lexemen verwechselt werden dürfen. Deshalb schreiben wir von nun an Morpheme in geschweiften Klammern. Morpheme, die selbstständig Wörter bilden können, schreiben wir in Großbuchstaben (z.B. {BAUM} oder {UNTER}, während wir nicht selbstständige Morpheme in Kleinbuchstaben und mit Bindestrich notieren (z.B. {-lich}). Morpheme lassen sich nach inhaltlichen Kriterien danach unterscheiden, ob sie lexikalische oder grammatische Bedeutung tragen. Morpheme wie {KIND}, {TISCH} und {GELB} tragen lexikalische Bedeutung und heißen deshalb lexikalische Morpheme. Morpheme wie {DER}, {UND}, {ÜBER} und das Pluralmorphem {-er} tragen hingegen grammatische Bedeutung. Es sind grammatische Morpheme. Nach formalen Kriterien lassen sich Morpheme danach unterscheiden, ob sie in einem Satz selbstständig als Wörter oder nur gebunden an andere Morpheme auftreten können. Die Morpheme {KIND}, {TISCH}, {GELB}, {DER}, und {ÜBER} können selbstständig als Wörter auftreten (nämlich Kind, Tisch, gelb, der, und über) und sind deshalb freie Morpheme. Morpheme wie {-er} und {-lich} können nur gebunden an andere Morpheme auftreten und heißen deshalb gebundene Morpheme. Bei der Einordnung von Morphemen werden formale und inhaltliche Kriterien miteinander kombiniert: {KIND}, {TISCH} und {GELB} tragen lexikalische Bedeutung und können selbstständig Wörter bilden: es sind freie lexikalische Morpheme. Die {UND} sowie {ÜBER} tragen grammatische Morpheme {DER}, MORPHOLOGIE 55 Bedeutung, stehen im Satz für sich alleine und sind somit freie grammatische Morpheme. Das Morphem {-er} trägt ebenfalls grammatische Bedeutung, kommt aber nur in Verbindung mit anderen Morphemen vor: es ist ein gebundenes grammatisches Morphem. Weitere Beispiele sind das Morphem {-t}, das als Endung an Verbstämme angehängt wird (z.B. geht, springt, singt) und mit dem die 1. Person Singular Präsens angezeigt wird, die Morpheme {-et} und {-e} in wartete (dabei zeigt {-et} den Imperfekt an, {-e} ist die Personalendung für die 3. Person Singular) sowie die Morpheme zur Bildung des Partizip I {-end} in gehend bzw. des Partizip II {ge- + -et} in gewartet etc. Aber nicht nur grammatische, sondern auch lexikalische Morpheme kommen in gebundener Form vor. So bestehen im Deutschen alle Verben aus einem Verbstamm, der die inhaltliche Bedeutung trägt, und einer Verbendung, die Tempus, Numerus und Person anzeigt z.B. gehen, gehe, gehst, geht, etc. Die Verbstämme {geh-}, {lauf-}, {schreib-} sind gebundene lexikalische Morpheme. Sowohl freie als auch gebundene lexikalische Morpheme stellen den Bedeutungskern von Wörtern dar. Man bezeichnet sie deshalb auch als Kernmorpheme. Sie bilden auf der Wortebene (evtl. zusammen mit anderen Morphemen) so genannte Inhaltswörter. Freie grammatische Morpheme werden auf der Wortebene als Funktionswörter bezeichnet, wie die bestimmten Artikel der, die, das. Im Vergleich zu Inhaltswörtern ist die Bedeutung von Funktionswörtern abstrakt und daran orientiert, Inhaltswörter miteinander funktional in Beziehung zu setzen. Ihre Anzahl ist beschränkt. Funktionswörter können zusammen mit einem oder mit mehreren Inhaltswörtern eine Wortgruppe oder auch syntaktische Gruppe bilden, so wie in Grammatik der deutschen Sprache oder Institut für deutsche Sprache. Gebundene grammatische Morpheme sind stets an Substantiv-, Verb- oder Adjektivformen gebunden, wie etwa die Morpheme zur Bildung des Partizip I und II {end} in gehend bzw. {ge- + -et} in gewartet etc. Sie bilden so genannte flektierte Formen. Ihre Beschreibung fällt in einen Teilbereich der Morphologie, den man als Flexion bezeichnet. An Kernmorpheme gebundene grammatische Morpheme heißen daher auch Flexionsmorpheme. Ein Beispiel ist die Bildung des Plurals im Deutschen: an ein Substantiv wird jeweils eine bestimmte Pluralendung angehängt: {-e} (Bein, Beine), {-en} (Bär, Bären), {-er} (Kind, Kinder – Wald, Wälder), {-s} (Wrack, Wracks). Obwohl es sich um unterschiedliche Formen handelt, tragen sie alle dieselbe Bedeutung „Plural“. Man bezeichnet sie als Allomorphe des deutschen Pluralmorphems. 3.1.2 Einfache und komplexe Wörter Viele Wörter wie Traum, Elefant, zwei, weiß etc. bestehen jeweils nur aus einem einzigen freien Kernmorphem. Man nennt sie deshalb auch einfache Wörter oder Simplizia. Freie und gebundene Kernmorpheme wie {FRUCHT}, {SAFT}, {lauf-}, und {BAND} lassen sich zu komplexen Wörtern zusammensetzen, nämlich Fruchtsaft bzw. Laufband. Das Ergebnis einer solchen Zusammensetzung oder Komposition ist ein Kompositum. 56 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Komplexe Wörter können auch gebildet werden, indem im einfachsten Fall ein gebundenes Morphem an ein freies oder gebundenes Kernmorphem angehängt wird, z.B. {FRUCHT} + {bar} → fruchtbar, {GELB} + {-lich} → gelblich oder {spring-} + {-er} → Springer. Auf diese Weise werden neue Wörter aus bestehenden Wörtern abgeleitet, und man bezeichnet diesen Prozess zur Bildung komplexer Wörter als Ableitung oder Derivation. Das Ergebnis des Prozesses sind Ableitungen oder Derivate. Gebundene Morpheme, mit deren Hilfe Ableitungen gebildet werden, heißen Derivationsmorpheme; diesen Zweig der Morphologie nennt man Derivationsmorphologie. Komposition und Derivation sind die beiden Hauptarten unter den Wortbildungsprozessen. Abbildung 1. Wortbildungsprozesse und komplexe Wörter Wortbildungsprozesse Komposition Kernmorphem + Kernmorphem {FRUCHT} + {SAFT} {lehr-} + {BUCH} Derivation Kernmorphem + Derivationsmorphem {FRUCHT} + {-bar} {lehr-} + {-er} Nicht nur Kernmorpheme, sondern auch bereits zusammengesetzte oder abgeleitete komplexe Wörter können die Basis für weitere Prozesse der Zusammensetzung bzw. Ableitung sein, wie folgende Beispiele zeigen (KM = Kernmorphem, fKM = freies Kernmorphem, gKM = gebundenes Kernmorphem): Tischtennisplatte Tischtennis {TISCH} {PLATTE} {TENNIS} Komposition: Kompositum + freies KM Komposition: freies KM + freies KM Deutschlehrer {DEUTSCH} Lehrer {lehr-} Komposition: freies KM + Derivat {-er} Derivation: geb. KM + Derivationsmorphem MORPHOLOGIE 57 Sommerschlussverkauf : {SOMMER} Schlussverkauf {SCHLUSS} Komposition: fKM + Kompositum Verkauf Komposition: fKM + Derivat (Konversion) {ver-} {kauf-} Derivation: Präfix + geb. KM Hochspannungsleitung Hochspannung {HOCH} -s- Spannung {spann-} {-ung} leitung Komposition: (Derivat + Fugenelement -s- + Derivat Derivation: gKM + Suffix {leit-} {-ung} Komposition: fKM + Derivat Derivation: gKM + Suffix Derivate können zum einen durch Voranstellung eines Derivationsmorphems vor ein freies oder ein gebundenes lexikalisches Morphem gebildet werden wie in {un-} + {KLUG} → unklug bzw. in {be-} + {schreib-} → beschreib(en). Solche vorangestellten gebundenen Morpheme bezeichnet man als Präfixe, den Wortbildungsprozess als Präfigierung. Zum anderen können gebundene grammatische Morpheme aber auch an ein Kernmorphem angehängt werden; in diesem Fall bezeichnet man sie als Suffixe und den Prozess als Suffigierung, z.B. {FURCHT} + {-bar} → furchtbar. Zirkumfixe umgeben ein Kernmorphem von beiden Seiten her, wie {ge- + -et} in gearbeitet. In manchen Sprachen gibt es darüber hinaus noch Infixe , d.h. gebundene grammatische Morpheme, die in ein Kernmorphem eingefügt werden (z.B. lat vinco, vici). Im Deutschen spielen Infixe keine Rolle. Präfixe, Suffixe, Zirkumfixe und Infixe werden zusammengefasst als Affixe (von lat. affigere ‚anheften‘) bezeichnet. Affixe lassen sich nach ihrer Funktion in zwei Gruppen unterscheiden. Eine Gruppe von Affixen, so genannte Derivationsaffixe, dienen bei der Bildung komplexer Wörter zur Derivation. Eine andere Gruppe zeigt bei der Satzbildung in Verbindung mit Verben, Substantiven, Adjektiven, Pronomen und Artikel die grammatischen Beziehungen im Satz an. Durch das Anhängen dieser Flexionsmorpheme entstehen flektierte Formen. Die Beschreibung von Flexionsmorphemen und flektierten Formen fällt in den Bereich der Flexionsmorphologie. Abbildung 2 fasst die Funktionen von grammatischen Morphemen bei der Bildung grammatischer Einheiten noch einmal zusammen: 58 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Abbildung 2. Grammatische Morpheme und grammatische Einheiten Grammatische Einheiten syntaktische Gruppen das Haus {DAS} {HAUS} freies grammatisches Morphem freies lexikalisches lexikalisches Morphem 3.1.3 flektierte Formen gehst {geh-} {-st} gebundenes lexikalisches Morphem gebundenes grammatisches Morphem Wortbildung und die Bezeichnung neuer Konzepte Bisher haben wir vier verschiedene Möglichkeiten kennen gelernt, mit denen wir neue Konzepte sprachlich bezeichnen und durch neugebildete Formen zum Ausdruck bringen können. So entstehen Komposita, Derivationen, gemischte Formen und syntaktische Gruppen. Nun stellt sich die Frage, wieso sich unter all diesen Möglichkeiten zum Ausdruck eines neuen Konzeptes eine bestimmte Neubildung durchsetzt, eine andere aber nicht? Betrachten wir zur Klärung dieser Frage einmal folgendes Beispiel. Vor einigen Jahren wurde ein neuartiges Telefon entwickelt, das man nicht mehr über ein Telefonkabel fest an eine Telefonbuchse anschließen muss, sondern überall hin mitnehmen kann. Diese Neuentwicklung könnte beispielsweise mit folgenden Neubildungen bezeichnet werden: Mobiltelefon, Taschentelefon, schnurloses Telefon, tragbares Telefon, Funktelefon, unabhängiges Telefon etc. Jede dieser denkbaren Bezeichnungen spiegelt eine bestimmte Konstruktion der Realität wider. Ein bestimmter Aspekt, nämlich das Neue an diesem Telefon, wird durch die Konstruktion hervorgehoben und steht metonymisch für den gesamten Apparat. Welche der möglichen Neubildungen setzt sich nun aber im Sprachgebrauch durch? Vergleichen wir einmal, wie diese technische Neuerung in verschiedenen Sprachen bezeichnet wird. Im Deutschen wird diese Art des Telefons mit einem scheinbar englischen Wort als Handy bezeichnet. Im amerikanischen und britischen Englisch existiert zwar ein Adjektiv handy ‚praktisch, handlich’, aber kein entsprechendes Substantiv zur Bezeichnung eines Telefons. Da Bildungen wie Handy oder Dressman im Englischen nicht existieren, bezeichnet man sie oft als Scheinentlehnungen (siehe etwa Simmler 1998:359). Die deutsche Bezeichnung Handy ist allerdings durch die englische Bedeutung des englischen Wortes handy motiviert, denn durch Handy wird der Aspekt „handlich und praktisch“ besonders hervorgehoben und metonymisch zur Bezeichnung des ganzen Gerätes verwendet. Das englische Adjektiv handy wurde ohne Veränderung der Form im Deutschen in eine andere Wortart umgesetzt (diese Wortbildungsart der Konversion wird weiter unten behandelt) und hat eine andere Bedeutung erhalten. Im Englischen verwendet man die Ausdrücke mobile phone sowie cellular phone MORPHOLOGIE 59 oder einfach cellular und betont damit die Mobilität bzw. die technische Bauart des neuen Gerätes. Im Französischen und im Niederländischen wird der Aspekt der Tragbarkeit in den Blick genommen – diese Art des Telefons nennt man un portable ‚ein Tragbares‘ bzw. een draagbare telefoon. Italiener betonen mit telefonino die Kleinheit des Gerätes. Man könnte also im Deutschen ebenso wie im Niederländischen von einem tragbaren Telefon oder vielleicht auch von einem Tragetelefon sprechen. Allerdings wird tragbar im Deutschen überwiegend in Zusammenhang mit größeren Geräten verwendet, die normalerweise nicht tragbar sind (wie etwa tragbarer Fernseher). Des Weiteren sind Zusammensetzungen mit Trag(e)- bereits für Ausdrücke wie Tragetasche, Tragegurt etc. in der Bedeutung „Hilfsmittel zum Tragen“ üblich und stehen zur Bezeichnung anderer Bedeutungen nicht mehr zur Verfügung. Das gilt auch für schnurloses Telefon, das aus einem tragbaren Teil (einem Handgerät) und einer an eine Telefondose angeschlossenen Station besteht und im Gegensatz zum Handy in seiner Reichweite begrenzt ist. Handy hat sich gegenüber all diesen möglicherweise denkbaren Bezeichnungen im alltäglichen Sprachgebrauch durchgesetzt. Im Deutschen werden viele technische Neuerungen mit sogenannten Lehnwörtern aus dem Englischen bezeichnet, so zum Beispiel Computer, E-Mail, mailen, Workstation, Harddisk, Monitor, Homepage, downloaden. Insbesondere bei Bezeichnungen aus dem Computerbereich besteht eine ständige onomasiologische Konkurrenz zwischen Lehnwörtern und neugebildeten komplexen Wörtern bzw. Wortgruppen der deutschen Sprache: Rechner, elektronische Nachricht, elektronische Nachricht versenden, Einzelarbeitsplatz, Festplatte, Computerbildschirm, Startseite, herunterladen etc. Einige dieser Bezeichnungen bestehen nebeneinander, andere setzen sich durch häufigen alltäglichen Gebrauch allmählich im Sprachgebrauch als alleinige Bezeichnung durch und werden als Lexeme in den Wortschatz der deutschen Sprache aufgenommen. Neben einfachen Zusammensetzungen aus Kernmorphemen gibt es noch eine ganze Reihe anderer Wortbildungsprozesse, die zu neuen komplexen Wörtern führen. Übersicht 1 fasst die wesentlichen Möglichkeiten zur Wortbildung und damit zur Bezeichnung neuer Konzepte im Deutschen zusammen: Übersicht 1. Verschiedene Arten lexikalischer Formen Simplex Komposition gelb hellgelb Derivation kombinierte Arten gelblich gelbstichig Kopf Kopftuch köpfen kopflastig Tag Arbeitstag täglich Vertagung syntaktische Gruppen ein gelbes Auto Kopf der Bande Tag der deutschen Einheit weitere Arten z.B. Akronym AIDS = Acquired Immune Deficency Syndrome Die nun folgenden Abschnitte werden die Haupttypen der deutschen Wortbildung behandeln. In Abschnitt 3.2 geht es um Komposition, in Abschnitt 3.3 um Derivation, in 3.4 um weitere Arten der Wortbildung, und 3.5 dreht sich um grammatische Morpheme. In jedem dieser Abschnitte werden wir auf die ver- 60 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT schiedenen Bedeutungsaspekte von Morphemen und ihre Rolle bei der Bezeichnung von Konzepten eingehen. 3.2 Komposition Im Deutschen werden Komposita gebildet, indem man zwei Kernmorpheme direkt aneinanderfügt wie in (1a). Oft sind auch sogenannte Fugenelemente notwendig, die zwischen die beiden Bestandteile in die Kompositionsfuge eingeschoben werden. Diese Fugenelemente gehen oft auf Flexionsendungen zurück, haben aber deren ursprüngliche syntaktische Funktion und Bedeutung verloren (1b). (1) Zusammensetzung (a) ohne und (b) mit Fugenelementen a. Baumhaus, eiskalt, Kampfhund b. Dehnungsfuge, Küchenstuhl, Lesebuch Die Bedeutungen der Einzelkomponenten lassen in vielen Fällen auch erkennen, in welcher Beziehung diese zueinander stehen. Im Folgenden werden wir zunächst untersuchen, welche besondere Rolle Komposita für die sprachliche Konzeptualisierung spielen. Dann werden wir den Unterschied zu syntaktischen Gruppen erläutern und schließlich auf verschiedene Kompositionsmuster im Deutschen eingehen. 3.2.1 Grundmuster der Komposition Die Komposition folgt festen Mustern: das Erstglied eines Kompositums wird in der Regel betont, während das Zweitglied die Wortart bestimmt, zu der das neugebildete Wort gehört. In deutschen Beispielen wie Braunbär, Waschbär, Tanzbär trägt das Zweitglied Bär die Hauptbedeutung und bestimmt die Wortart des Kompositums (hier: Substantiv). Es wird deshalb auch als Kopf des Kompositums bezeichnet. Das Erstglied modifiziert die Bedeutung des Kopfes und wird deshalb auch Modifikator genannt. Der Kopf gehört überwiegend einer der drei Hauptwortarten Substantiv, Adjektiv und Verb an. Es gibt also im wesentlichen drei Kategorien der Komposition, mit jeweils drei Mitgliedern, nämlich Substantiv-, Adjektiv- und Verbkomposita: (2) SUBSTANTIVKOMPOSITA a. Substantiv + Substantiv b. Verb + Substantiv c. Adjektiv + Substantiv Küchenstuhl, Hausboot Drehstuhl, Tretboot Hochstuhl, Schnellboot Die Bedeutungen der Substantivkomposita in (2) hängen auch von den abstrakten Grundbedeutungen der drei Wortarten Substantiv, Verb und Adjektiv ab: Substantive bezeichnen eine Klasse von Einheiten, die im prototypischen Fall als zeitbeständig konzeptualisiert werden. Verben bezeichnen hingegen vorübergehende zeitliche Relationen zwischen Einheiten wie zeitabhängige Aktionen und MORPHOLOGIE 61 Vorgänge. Adjektive nehmen eine Mittelstellung ein: sie stellen eine Beziehung zwischen Substantiven und Eigenschaften her und bezeichnen dabei sowohl Relationen, die zeitlich beständig sind, als auch Relationen, die zeitlich nicht beständig sind. In der Zusammensetzung unter (2a) Substantiv + Substantiv bezeichnet Küchenstuhl einen Stuhl, der für die Verwendung in der Küche bestimmt und prototypisch dort auch zu finden ist. Ein Drehstuhl (Typ b) ist ein Stuhl, mit dem man sich in verschiedene Positionen drehen kann, ein Hochstuhl (Typ c) ein besonderer Stuhl, auf dem ein Baby erhöht in Tischhöhe sitzen kann. Unsere Charakterisierungen der konzeptuellen Relation zwischen den mindestens zwei Komponenten eines Kompositums sind nur sehr allgemein formuliert. Sie beziehen sich auf prototypische Fälle. Natürlich spielen neben den hier aufgeführten noch viele andere konzeptuelle Relationen eine Rolle. Die folgenden Substantivkomposita mit dem Kopf Schuhe sind Beispiele hierfür: in (3a) gibt der Modifikator das Material an, aus dem die Schuhe gefertigt sind, in (3b-e) jeweils den Verwendungszweck, während er in (3f) den Personenkreis angibt, für den diese Schuhe bestimmt sind. (3) a. b. c. d. Lederschuh Tennisschuh Bremsschuh Schneeschuh „Schuh aus Leder“ „Schuh zum Tennisspielen“ „keilförmiger Bremsklotz für Eisenbahnwagons“ „Holzrahmen mit Netzbespannung zum Laufen im Schnee“ e. Arbeitsschuh „besonders verstärkter Schuh zum Schutz der Füße in bestimmten Berufen“ f. Kinderschuhe „Schuh für Kinder“ Neue Komposita interpretieren wir vor dem Hintergrund unseres kulturellen Wissens. In (3b-e) ist die Zweckrelation jeweils offensichtlich. In den beiden Fällen (3d) und (3e) ist die Bedeutung von Schuh jeweils allgemeiner als in (a) und (b). „Bremsschuh“ in (3c) geht auf einem metaphorischen Prozess zurück: die Form des Bremsklotzes motiviert eine Konstruktion durch die Ursprungsdomäne Schuh. In Schneeschuh (3d) ist der Kopf Schuh allgemeiner als „Rahmen mit Netz, der unter die Schuhe geschnallt wird und das Einsinken in Tiefschnee verhindert“ zu verstehen. Die einzelnen Elemente der Zusammensetzung behalten also nicht notwendigerweise ihre ursprünglichen Bedeutungen bei – diese werden oft erweitert (generalisiert) oder verengt (spezifiziert). So bedeutet Handschuh nicht “Schuh für die Hand“ sondern „Bekleidung, welche die Hand umschließt“. Verben und Adjektive bezeichnen Relationen (im Gegensatz zum Substantiv). Verb- und Adjektivkomposita werden also anders interpretiert als Substantivkomposita. Betrachten wir zunächst die drei Kombinationsmöglichkeiten zwischen Substantiv, Verb und Adjektiv bei der Verbkomposition: 62 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (4) VERBKOMPOSITA a. Substantiv + Verb b. Verb + Verb c. Adjektiv + Verb Rad fahren, Maschine schreiben, schlafwandeln, schlagbohren, trockenreinigen, festbinden Der Kopf eines Verbkompositums bezeichnet ein Ereignis, d.h. eine zeitliche, nichtbeständige Relation. Der Modifikator gibt dabei allgemein gesagt die Umstände an, unter denen dieses Ereignis stattfindet: in (4a) wird die Beziehung zwischen Erst- und Zweitglied instrumentell interpretiert „mit dem Rad fahren/der Maschine schreiben“, in (4b) zeitlich, nämlich als „gleichzeitig schlafen und wandeln“ bzw. „gleichzeitig schlagen und bohren“, und in (4c) wird durch die Zusammensetzung angegeben, wie eine Tätigkeit ausgeführt wird: „etwas reinigen und es dabei trocken lassen“ bzw. „etwas fest an etwas anderes binden“. (5) ADJEKTIVKOMPOSITA a. Substantiv + Adjektiv b. Verb + Adjektiv c. Adjektiv + Adjektiv farbenblind, zollfrei triefnass, stinkreich dunkelblau, hellgelb Bei den Adjektivkomposita in (5a) bezeichnet der substantivische Modifikator jeweils den Bereich oder das Gebiet, auf den sich der adjektivische Kopf bezieht. Das Verb in (5b) bezeichnet den Grad, zu dem die genannte Eigenschaft auf eine Sache zutrifft, und bedeutet etwa so viel wie „sehr“, z.B. triefnass „so nass, dass es trieft“. Das Adjektiv als Erstglied in (5c) gibt den Grad, die Schattierung bzw. die Intensität an, mit denen die bezeichnete Eigenschaft auf eine Sache zutrifft: eine Farbe kann dunkel oder am anderen Ende der Helligkeitsskala hell sein. 3.2.2 Komposita im Vergleich zu syntaktischen Gruppen Syntaktische Gruppen bestehen aus mehreren Wörtern, die nach bestimmten Regeln zusammengestellt werden, z.B. Nominalphrasen wie eine elektrische Zahnbürste, die aus einem Artikel, evtl. einer Präposition, einem Adjektiv und einem Nomen bestehen. Eine Nominalphrase ist eine Einheit zwischen der Wort- und der Satzebene, die ein Nomen oder Pronomen als Kern hat. Komposita und syntaktische Gruppen mit ähnlichen lexikalischen Bestandteilen müssen nicht notwendigerweise auch gleiche Bedeutungen haben. Zwischen dem Kompositum (6a) und der syntaktischen Gruppe (7a) gibt es keinen nennenswerten Bedeutungsunterschied. Für das Konzept „atomare Waffe“ sind mehrere Bezeichnungen üblich; es besteht sozusagen eine onomasiologische Konkurrenzsituation. Zwischen (6b) und (7b) gibt es aber einen Unterschied: ein Großmarkt ist ein „Markt für Einzelhändler“, während die syntaktische Gruppe ein großer Markt lediglich die Eigenschaft eines Marktes bezeichnet. Der Unterschied zwischen den Bedeutungen (6c) eine Jungfrau und (7c) eine junge Frau ist schon deutlich größer. Die letzten beiden Beispiele und haben völlig verschiedene Bedeutungen: mit Weichei (6d) ist kein weiches Ei (7d) gemeint. MORPHOLOGIE (6) KOMPOSITUM a. Atomwaffe b. Großmarkt c. Jungfrau d. Weichei (7) 63 SYNTAKTISCHE GRUPPE a. eine atomare Waffe b. ein großer Markt c. eine junge Frau d. ein weiches Ei Wie an den Beispielen (6c) und (7c) deutlich wird, kann nicht immer aus den bereits bekannten Bedeutungen der Einzelbestandteile auf die Bedeutung des Kompositums geschlossen werden. Bei einigen Zusammensetzungen ist es sogar umgekehrt: zwar ist die Bedeutung des Kompositums bekannt, die Bedeutung der einzelnen Komponenten ist allerdings verblasst oder die Zusammensetzung als Ganzes für uns nicht mehr als solche erkennbar. Die Bedeutung des Kopfes {BEERE} des Kompositums Himbeere ist beispielsweise offensichtlich, aber die Bedeutung des ersten Bestandteils {him-} können wir heute nicht mehr erkennen. Aus ähnlichen Komposita wie Erdbeere, Blaubeere, Stachelbeere lässt sich aber schließen, dass es sich auch bei {him-} um einen Modifikator handeln könnte, dessen Bedeutung irgendwann einmal bekannt war. Wir können diese Bedeutung zwar mithilfe eines Wörterbuches ermitteln, doch im alltäglichen Sprachgebrauch ist sie für uns nicht mehr transparent: „mhd. hintber, ahd. hintperi, zu: hinta = Hinde, Hirschkuh u. ↑Beere‘ viell.: Gesträuch, in dem sich die Hirschkuh mit ihren Jungen verbirgt, od. Beere, die sie gerne frisst“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2001: 770,1). Auch beim Wort Bräutigam ist die Bedeutung des Zweitgliedes heute unklar und kann nur durch einen Blick auf die sprachgeschichtliche Entwicklung rekonstruiert werden (ahd. brutgomo, aus brut ‚Braut‘ und gomo ‚Mann‘). Oftmals wird solchen verblassten Bestandteilen durch volksetymologische Interpretation wieder neue Bedeutung zugeschrieben, wie zum Beispiel bei Friedhof. Der erste Teil dieser Zusammensetzung geht nicht etwa auf Fried- von Frieden zurück, sondern auf mhd. vrithof, ahd. frithof, ursprünglich in der Bedeutung „eingefriedeter Raum“, und bedeutet „Ort, an dem die Toten bestattet werden“. Ehemals transparente Komposita wie Himbeere, Bräutigam und Friedhof zeigen deutlich, dass Zusammensetzungen nach und nach so stark in den Wortschatz einer Sprache eingebürgert werden können, dass sie nicht mehr auf ihre Einzelbestandteile hin analysiert zu werden brauchen. Zwischen Zusammensetzungen und Simplizia wird in solchen Fällen kaum mehr ein Unterschied wahrgenommen. Die Bedeutungen von Komposita sind also in unterschiedlichem Maße transparent. Ihre Einzelbestandteile unterscheiden sich darüber hinaus in ihrer Produktivität, d.h. darin, in welchem Maße sie bei Kompositionen verwendet werden. Man kann nun Wortbildungen nach ihrer Produktivität und Motiviertheit auf einem Wortbildungskontinuum ansiedeln. Am produktiven Ende können Zusammensetzungen sehr einfach gebildet werden, treten deshalb im Sprachgebrauch nicht nur sehr häufig auf, sondern sind auch motiviert und transparent. Komposita sind unterschiedlich stark durch die Bedeutung ihrer Einzelkomponenten motiviert. Sie sind vollständig motiviert, wenn beide Komponenten und deren Bedeutungsbeziehung unmittelbar transparent sind (Kirchturm, Hauptstraße). Wenn zwar beide Bestandteile unmittelbar verständlich, die Art ihrer Verknüpfung aber nicht eindeutig erkennbar ist, so sind sie noch teilweise trans 64 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT parent. Komposita sind idiomatisch und nicht mehr transparent, wenn die Komposition auf einem metonymischen bzw. metaphorischen Prozess beruht, wie etwa bei den Werkzeugbezeichnungen Fuchsschwanz „eingriffige Säge mit breitem, nach vorn schmaler werdendem Blatt“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2001: 583,1) motiviert durch die Form des Sägeblatts oder – ebenfalls durch die Form motiviert – Kuhfuß „Brechstange mit gebogenem und geteiltem Ende“. 3.2.3 Die kognitive Funktion der Komposition Komposita erfüllen eine wichtige konzeptuelle Funktion. Sie spielen eine Rolle bei der Ausbildung von Taxonomien innerhalb des Wortschatzes. In Kapitel 2.3 haben wir bereits gesehen, dass Taxonomien aus Begriffen auf der konzeptuellen Basisebene sowie aus untergeordneten und übergeordneten Termini bestehen. Komposita stellen eine Möglichkeit dar, neue untergeordnete Kategorien zu bezeichnen. Ein Sportwagen ist eine bestimmte Unterart der Kategorie Wagen, ein Minirock eine Unterkategorie zu Rock und ein Apfelbaum eine Unterkategorie zu Baum. Die Vielzahl an komplexen Komposita bezeichnen also überwiegend Unterkategorien zu bereits bestehenden Kategorien (Schnellstraße, Hauptstraße, Bundesstraße bezeichnen beispielsweise Unterkategorien zu Straße) zeigen außerdem die Beziehung dieser neuen Hyponyme zu ihren Hyperonymen auf. Diese Art von Zusammensetzungen bezeichnet man als Determinativkomposita (z.B. Latzhose „Hose mit Latz“, Hosenlatz „Latz an einer Hose“).Wenn wir zur Bezeichnung einer neuen Unterkategorie jedes Mal ein neues Simplex bilden würden, wäre die Anbindung an bereits bestehende sprachliche Bezeichnungen für Kategorien nicht so offensichtlich zu erkennen. Unser mentales Lexikon wäre hierarchisch relativ unstrukturiert, das Gedächtnis mit der Speicherung dieser Liste von Einheiten überfordert. Es wäre nahezu unmöglich, die vielen, alljährlich neu auftretenden Dinge und Phänomene so bezeichnen zu können, dass ihre Beziehung zum bereits Bekannten erkennbar ist. Wenn wir heute Post versenden wollen, so sind wir nicht mehr nur auf die Briefpost angewiesen, sondern können über Computer auf eine neue und schnellere Nachrichtenübermittlung zurückgreifen und E-Mails verschicken – die herkömmliche Briefpost ist viel langsamer und wird im Vergleich zu den neuen E-Mails zunehmend als snailmail, vereinzelt auch schon einmal als Schneckenpost bezeichnet. Die Übertragung elektronischer Informationen geschieht auf einem neuen Kommunikations- und Informationsweg, den wir wegen der schnellen Übertragungsgeschwindigkeit mit dem Transport von Personen und Gütern auf Autobahnen vergleichen und als Datenautobahn bezeichnen. Bei weitem nicht so häufig wie Determinativkomposita sind sogenannte Kopulativkomposita, bei denen beide Glieder kognitiv nahezu gleichwertig sind. Das neugebildete Wort ist in diesen Fällen kein Hyponym, sondern bleibt auf derselben Ebene der sprachlichen Kategorisierung wie die beiden Einzelkomponenten. Im Lexikologiekapitel wurde das Beispiel Hosenrock besprochen, bei dem nicht eindeutig klar ist, ob es sich um eine Hose oder um einen Rock handelt – weitere Beispiele sind Strumpfhose „eine Beinbekleidung, die sowohl etwas MORPHOLOGIE 65 von einem Strumpf als auch von einer Hose hat“, Strichpunkt, Sprechgesang sowie nasskalt. Kopulativkomposita drücken also auf der Wortbildungsebene aus, dass ein sprachliches Konzept nicht eindeutig einer Kategorie zugeordnet werden kann. Darüber hinaus gibt es noch eine kleine Gruppe von Substantivkomposita wie Kahlkopf, Dickkopf, Großmaul und Geizhals, deren Zweitglied meist den Körperteil einer Person zur Bezeichnung der ganzen Person hervorhebt. Hier steht ein Teil metonymisch für das zu bezeichnende Ganze. Mit dem Erstglied wird eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben, die diese Person hat. Diese Unterart der Determinativkomposita nennt man deshalb Possessivkomposita (von lat. possidere ‚besitzen’). Die Bedeutungen neugebildeter Wörter sind für uns erkennbar, weil wir auf eine ganze Reihe von bekannten Wissensfaktoren zurückgreifen können. Wir kennen bereits die Bedeutung der Einzelkomponenten (z.B. Daten + Autobahn). Aus ihnen ergibt sich sehr oft, in welcher konzeptuellen Beziehung sie im neuen Kompositum zueinander stehen. Auch die abstrakte Bedeutung der Wortarten dieser Komponenten ist uns bereits bekannt, ebenso wie allgemeine kognitive Prozesse (z.B. Metaphorisierung), die ebenfalls eine Rolle spielen können. Als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft ist uns schließlich auch der kulturelle Hintergrund bekannt, vor dem diese Neubildungen zu interpretieren sind. 3.3 Derivation Bisher haben wir Zusammensetzungen (Komposita) behandelt. Sie werden im einfachsten Fall aus zwei Kernmorphemen gebildet. Ableitungen (Derivate) werden hingegen im einfachsten Fall gebildet, indem man an ein Kernmorphem ein Derivationsmorphem anhängt. Dabei handelt sich um Affixe zur Ableitung von Wörtern (so genannte Derivationsaffixe oder auch Formationsmorpheme). Neben Affixen zur Ableitung von Wörtern gibt es Affixe zur Bildung von grammatischen Konstruktionen, die man als Flexionsaffixe oder Relationsmorpheme bezeichnet. 3.3.1 Derivations- und Flexionsaffixe Derivationsaffixe sind gebundene grammatische Morpheme, die nur in Zusammenhang mit Kernmorphemen auftreten können. Ihre Bedeutung ist in der Regel viel allgemeiner und abstrakter als die Bedeutung von Kernmorphemen. Dieser Unterschied lässt sich erkennen, wenn wir an zwei Sprachen vergleichen, wie dieselbe Sache einmal durch Zusammensetzung und ein anderes Mal durch Ableitung konstruiert wird. Als Beispiel wählen wir hier die Bezeichnungen für Obstbäume im Französischen und im Deutschen. Im Deutschen werden Unterarten von Obstbäumen als Komposita konstruiert: Apfelbaum, Pflaumenbaum, Kirschbaum etc., d.h. das Grundwort Baum wird durch die jeweilige Obstsorte näher bestimmt, und wir erhalten Bezeichnungen für Unterarten von Bäumen (anders gesagt: die Determinativkomposita sind Hyponyme zum Simplex Baum). Im Französischen werden diese Baumarten sprachlich in Form von Ableitungen 66 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT konstruiert: aus dem französischen Wort für die jeweilige Obstsorte (z.B. pomme ‚Apfel‘) wird durch Anhängen des Affixes {-ier} eine Bezeichnung für einen Baum mit dieser Obstsorte abgeleitet. Die Bedeutung des französischen Affixes {-ier} ist aber viel weiter zu fassen als nur „Baum“ – es findet auch in Verbindung mit vielen anderen Substantiven Verwendung. So gibt es nicht nur pommier ‚Apfelbaum‘, prunier ‚Pflaumenbaum‘ oder cérisier ‚Kirschbaum‘, sondern auch Bezeichnungen für Gegenstände wie encrier ‚Tintenfass‘, cendrier ‚Aschenbecher‘ und calendrier ‚Kalender‘. Das Affix {-ier} hat eine allgemeinere Bedeutung, nämlich „strukturelles Ganzes, das einzelne Dinge zusammenhält“. Diese Bedeutung umfasst die strukturelle Relation eines Baumes zu seinen Zweigen mit Früchten, eines Behälters zu dessen möglichen Inhalt oder einer sonstigen Struktur zu deren einzelnen Teilen. Fassen wir also zusammen: während im Deutschen Apfelbaum sprachlich durch Wortkomposition als eine Unterkategorie zu Baum kategorisiert wird, wird mit der französischen Entsprechung pommier eine abstraktere Konstruktion gewählt: nämlich Apfel + {-ier} „übergeordnete Struktur“. Auch für deutsche Derivationsaffixe lassen sich Bedeutungen aufzeigen, zum Beispiel bei Adjektivableitungen aus Substantiven mit dem Suffix {-los}. Durch Derivate wie planlos, arbeitslos, ergebnislos, grundlos sowie atemlos, zahnlos, fleischlos etc. wird hervorgehoben, dass ein Aspekt abwesend ist, der durch das abgeleitete Nomen (N) bezeichnet wird; {-los} bedeutet also so viel wie „ohne N“. Dabei muss die Anwesenheit von (N) im Normalfall zu erwarten sein, nämlich „nach Plan vorgehen“, „in Arbeit stehen“, „zu einem Ergebnis kommen“ bzw. „aus einem bestimmten Grund heraus handeln“ bzw. „genügend Atem, Zähne, Haare haben“. Das Fehlen dieser Eigenschaft wird hervorgehoben, d.h. es ist prominent. Diese Bedeutungsbeschreibung trifft anscheinend auch auf Derivate mit {-frei} zu. Sind {-los} und {-frei} also synonym? Vergleichen wir einmal Ableitungen mit den beiden Derivationsmorphemen: (8) Adjektivableitungen mit {-los} bzw. {-frei} glücklos schmerzlos gewissenlos planlos furchtlos arbeitsloser Lehrer atemlos sorgenloses Leben salzlose Kost *asbestlos *angstloses Lernen *arbeitsloser Tag *holzloses Papier *glückfrei *schmerzfrei *gewissenfrei *planfrei *furchtfrei *arbeitsfreier Lehrer *atemfrei sorgenfreies Leben salzfreie Kost asbestfrei angstfreies Lernen arbeitsfreier Tag holzfreies Papier MORPHOLOGIE 67 Bei den mit {-los} gebildeten Adjektiven kann das Fehlen der Eigenschaft offensichtlich sowohl negativ (glücklos, arbeitslos, planlos), positiv (furchtlos, schmerzlos) als auch neutral (schnurlos, salzlos, beispiellos) gewertet sein. Im Vergleich (8) fällt auf, dass parallel zu Ableitungen mit {-los} Ableitungen mit {-frei} möglich sind, wenn die Abwesenheit des durch die substantivische Basis bezeichneten Sachverhaltes bei den Bildungen mit {-los} als positiv bewertet wird: sorgenlos – sorgenfrei „ohne Sorge“ und schmerzlos – schmerzfrei „ohne Schmerzen“. Nicht möglich sind hingegen: *glückfrei, *planfrei, *atemfrei *gewissenfrei, *grundfrei. In einigen Fällen haben die mit {-los} bzw. {-frei} gebildeten Adjektive völlig verschiedene Bedeutungen, z.B. Er ist arbeitslos vs. Er hat einen arbeitsfreien Tag – arbeitslos ist negativ, arbeitsfrei positiv bewertet. Die prototypische Bedeutung des Suffixes {-los} lässt sich also in etwa mit „ohne normalerweise zu erwartendes N“ umschreiben; bei Adjektiven, die mit {-frei} aus Substantiven gebildet wurden, ist die Abwesenheit des durch das Substantiv bezeichneten Gegenstandes/ Sachverhaltes positiv bewertet (vgl. Fleischer & Barz 1992:264 und Motsch 1999:265). 3.3.2 Bedeutung und Produktivität von Affixen Wenn wir ein produktives Präfix wie un- und eine zufällige Auswahl von Adjektiven nehmen, so lassen sich rein theoretisch zum Beispiel folgende Adjektivderivationen bilden: unreif, unrot, ungut, unschön, unklar, undick, unhoch etc. Offenbar wird aber nicht alles, was theoretisch möglich ist, auch tatsächlich gebildet und verwendet: *unrot, *undick, *unhoch. Wenn wir klären wollen, warum einige dieser Ableitungen in den Wortschatz eingebürgert wurden, andere aber nicht – und sich auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durchsetzen werden, so müssen wir das betreffende Affix näher auf seine abstrakte Bedeutung hin untersuchen. Auf diese Weise können wir feststellen, bei welchen Ableitungen es produktiv ist bzw. wo es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Verwendung finden wird. Bei der Untersuchung solcher Aspekte muss man sehr genau die so genannte Basis der Ableitung beachten. Wir betrachten hier lediglich Ableitungen, bei denen ein einfaches Adjektiv Basis der Ableitung ist. Unsere wenigen Beispiele zeigen, dass die Ableitung [{un-} + Adjektiv] ganz offensichtlich das durch das Adjektiv bezeichnete Attribut negiert: unklug bedeutet „nicht klug“, unklar „nicht klar“ (im metaphorischen Sinn) und unfair „nicht fair“. Diese Bedeutung von {un-} lässt sich allgemein so formulieren: (9) [{un-} + A] – „die durch A bezeichnete Eigenschaft fehlt, das Gegenteil von A wird impliziert“ Durch Präfigierung eines einfachen Adjektives mit un- wird also ein Antonym zu diesem Adjektiv gebildet. Wieso aber sind *unrot und *unleer nicht als Antonyme zu rot und leer akzeptabel? Die Antwort lässt sich als ein einfaches Prinzip der Derivation formulieren: Ein Affix wird nur dann auf ein bestimmtes Lexem angewandt, wenn seine abstrakte, allgemeine Bedeutung mit einer Bedeutung des Wortstammes vereinbar ist. Wir gehen hier davon aus, dass Neubildungen stattfinden, um einen für uns prominenten Aspekt auszudrücken, d.h. einen Aspekt, 68 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT der unter allen anderen hervorsticht. Mit einem Adjektiv wird ausgedrückt, dass wir ein Substantiv zu einer bestimmten, für uns prominenten Eigenschaft in Beziehung setzen. Wenn wir jetzt eine Ableitung mit {un-} bilden, dann drückt dies „Eigenschaft A fehlt“ aus. Einem durch ein Substantiv bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt können aber sehr viele Eigenschaften fehlen. Nur die Eigenschaften, deren Fehlen in Hinblick auf ein Substantiv für uns besonders auffällig ist, werden mit dem o.g. Wortbildungsmuster bezeichnet. Nun zu den problematischen Bildungen *unrot und *unleer. Wenn einer Sache die Eigenschaft „rot“ oder „leer“ fehlt, so ist offenbar das Fehlen dieser Eigenschaft für uns nicht so prominent, dass wir dies durch eine Ableitung mit un- besonders hervorheben würden. Wenn wir sagen wollen, dass irgendetwas die Eigenschaft „rot“ fehlt, so verwenden wir die Negation nicht rot – doch ist dies ein Urteil, das nur in dieser bestimmten Situation gefällt wird, und es hat offenbar zu geringe soziale Bedeutung für uns, als dass ein besonderes komplexes Wort für diesen besonderen Verwendungskontext gebildet werden würde.. Ähnlich auch im Fall von unleer – wir können sagen, dass eine Flasche leer oder voll oder auch halbleer bzw. halbvoll ist, doch anscheinend gibt es keine Notwendigkeit, eine Ableitung wie *unleer oder *unvoll zu bilden. Zudem bestehen hier bereits Antonyme: eine Flasche ohne Inhalt ist leer, eine Flasche mit Inhalt voll, d.h. es besteht offenbar kein onomasiologisches Bedürfnis für die Bildung eines neuen komplexen Wortes. Gleiches gilt für *unhoch und *undick, weil es ja bereits die Antonyme tief bzw. dünn gibt. Die Bedeutung des Suffixes {-bar} in Verbindung mit Verbstämmen wie in essbar, trinkbar, machbar und lieferbar lässt sich wie folgt bestimmen: (10) [V+{-bar}] – „kann unserer Erfahrung nach aufgrund seiner Eigenschaften der durch V bezeichneten Handlung unterzogen werden“ Doch nicht in allen Fällen ist eine Ableitung mit dem Suffix {-bar} akzeptabel, wie die Beispiele *malbar, *sehbar, *sagbar, *findbar, *suchbar zeigen. Ein Grund dafür ist sicherlich wiederum, dass Eigenschaften von uns als prominent und mitteilenswert angesehen werden müssen, damit zu ihrer Bezeichnung neue Wörter gebildet werden. Nun trifft beispielsweise auf sehr viele Gegenstände zu, dass sie gemalt, gesehen, gesagt, gesucht und gefunden werden können – diese Eigenschaften bedürfen keiner besonderen Hervorhebung, weswegen die Neubildung von Adjektiven offenbar nicht notwendig ist. In anderen Fällen wie z.B. *kaufbar wird die Bedeutung „kann gekauft werden/ ist zu kaufen“ bereits durch Derivation mit {-lich} ausgedrückt (käuflich). Ebenso wie Kernmorpheme haben auch Affixe Bedeutungen oder Verwendungen, die prototypischer, und andere, die peripherer sind. Das trifft typischerweise auf das sehr produktive Suffix {-er} zu. Historisch gesehen tritt es zunächst zur Bezeichnung einer Person auf, die über längere Zeit in einem bestimmten Ort wohnt, z.B. Berliner, Kölner, Städter. An Verbstämme angehängt ist {-er} sehr produktiv und bezeichnet jemanden, der eine Handlung ausführt, wie in Sänger, Lehrer, Lerner, Arbeiter, Schneider, usw. Die Bedeutung von {-er} ist auch in diesem Zusammenhang nicht etwa „jemand, der gerade singt, lehrt oder lernt“, sondern lässt sich eher wie in (11) umschreiben: MORPHOLOGIE 69 (11) [V + {-er}] – „jemand, der regelmäßig bzw. wiederholt die durch V bezeichnete Aktivität ausführt“ Ein Sprecher ist also nicht „jemand, der gerade spricht“, sondern vielmehr „jemand, der in einem Interaktionsverlauf wiederholt die Rolle eines Sprechers einnimmt“, oder „jemand, der in dieser Rolle eine Gruppe in der Öffentlichkeit repräsentiert“, wie in der außenpolitische Sprecher der Grünen. Zwar lassen sich auch deverbale Ableitungen auf {-er} finden, die nur gelegentliche (okkasionelle) Tätigkeiten bezeichnen, wie Gewinner, Finder usw., doch sind diese in der Minderzahl und innerhalb der Kategorie {-er} nicht zentral. Mit [V+{-er}] wird eine soziale Rolle bezeichnet, die Teil eines bestimmten Szenarios menschlicher Interaktion ist. Wörter wie Käufer haben deshalb eine viel allgemeinere Bedeutung, als wenn nur jemand einmalig eine Sache kauft. Bei einem Käufer handelt es sich um eine feste Rolle innerhalb der Szene „Verkauf“, die immer wieder von unterschiedlichen Personen eingenommen wird und an die ein bestimmtes, prototypisches Handlungsmuster gebunden ist. Die Bedeutung „jemand, der regelmäßig bzw. wiederholt die durch V bezeichnete Tätigkeit/ Handlung ausführt“ kann auf nicht-menschliche Kräfte übertragen werden, wenn das Verb die Angabe eines Instrumentes ermöglicht, mit dessen Hilfe die Tätigkeit ausgeführt wird, wie bei Radierer oder (Dosen-/ Flaschen-/ Tür-)öffner. Weitere Beispiele sind Werkzeuge und Maschinen mit elektrischem Antrieb: Geschirrspüler, Trockner, Staubsauger etc., die wir bei der Ausführung einer Arbeit zu Hilfe nehmen bzw. die diese Arbeit für uns übernehmen. Dieser Aspekt von [V + {-er}] lässt sich wie folgt paraphrasieren: (12) [V + {-er}] – „etwas, mit dem die durch das Verb bezeichnete Tätigkeit ausgeführt werden kann/ etwas, das die bezeichnete Tätigkeit verrichtet“ Je nach der Bedeutung des Verbs können durch deverbale Ableitungen auf -er in einigen Fällen sowohl Personen als auch Geräte bezeichnet werden, z.B. Drucker. In solchen Fällen wird oft durch ein Determinativkompositum differenziert (d.h. ein Hyponym gebildet): Laserdrucker („ein Instrument, das etwas druckt/ mit dem eine Person etwas druckt“) – Buchdrucker („ein Mensch, der etwas druckt“). Die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte des sehr produktiven Wortbildungsmodells [V+ {-er}] lassen sich wie folgt charakterisieren: (13) [V+ {-er}] – „ein Mensch bzw. eine andere Kraft, die mit dem durch das Verb beschriebenen Ereignis ursächlich in Verbindung steht.“ Diese allgemeine und sehr abstrakt gehaltene Charakterisierung aller Bedeutungen eines Morphems wie {-er} wird auch die schematische Bedeutung oder das Schema dieser Form genannt. Ein Schema ist eine abstrakte Darstellung der allgemeinen Bedeutung einer Form, die alle Einzelbedeutungen umfasst oder zusammenhält. Diese einzelnen Bedeutungen von {-er} in deverbalen Ableitungen lassen sich wie in Abbildung 3 in einem sternförmigen Netzwerk darstellen. 70 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Abbildung 3: Sternförmiges Netzwerk für [V + {-er}] c. „Beruf“ Arbeiter, Drucker b. „gewohnheitsmäßig Handelnder“ Raucher, Trinker, Spieler e. „Rolle“ Gewinner, Begleiter d. „Instrument“ Drucker, Schläger a. [„jemand, der wiederholt die f. „juristische Rolle“ Geber, Schenker g. „menschliche Bewegung“ Hopser, Hüpfer durch V bezeichnete Aktivität ausführt“] h. „menschliche Äußerung“ Seufzer, Rülpser i. „Tierbezeichnung“ Mauersegler, Nestflüchter Die prototypischste Bedeutung im Zentrum der Kategorie ist (a) „jemand, der wiederholt die durch V bezeichnete Aktivität ausführt“. Von ihr geht die Bezeichnung für Personen aus, die Handlungen gewohnheitsmäßig ausführen (b). Mit (c) werden Personen bezeichnet, die eine Tätigkeit als Beruf ausüben, d.h. ihr gewohnheitsmäßiges Handeln ist als Beruf gesellschaftlich etabliert. Mit (e) werden Rollen bezeichnet, die von einzelnen Personen nur gelegentlich besetzt werden, z.B. Gewinner und Verlierer als Rollen in einem Spiel, Begleiter wie in Wer ist denn heute dein Begleiter? Bedeutung (f) ist auf einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens spezialisiert. Mit (d) werden metonymisch Instrumente bezeichnet, mit denen ein Geschehen ausgeführt werden kann/ die eine Aktivität ausführen. (g) und (h) bezeichnen jeweils einen Einzelaspekt einer menschlichen Handlung oder eine Bewegung bzw. einer menschlichen Äußerung. Bei (i) ist die Bedeutung auf Tiere ausgeweitet. Abschließend lässt sich nochmals festhalten, dass auch die Bedeutung gebundener Morpheme, wie hier die des Suffixes {-er}, als sternförmige Netzwerke mit zentralen und peripheren Mitgliedern der Kategorie dargestellt werden können. Im Vergleich zu den Bedeutungen von Wörtern sind die Bedeutungen und einzelnen Bedeutungsaspekte von Wortbildungsmorphemen nur wesentlich abstrakter. 3.3.3 Woher stammen Affixe? Grammatikalisierung Affixe sind das Ergebnis eines Prozesses, den man Grammatikalisierung nennt. Ein ursprünglich lexikalisches Morphem erhält nach und nach eine rein morphologische Funktion im Wortschatz oder auch in der Syntax, während die ursprüngliche Wortbedeutung verblasst. In den desubstantivischen Adjektiven hoffnungsvoll, schmerzvoll, wundervoll geht das Suffix {-voll} vom Adjektiv voll, das zunächst wie in er hat die Hand voller reifer Beeren verwendet wurde, dann tritt es metaphorisch verallgemeinert auf, wie in eine handvoll Demonstranten in der Bedeutung „einige wenige“ und wird dann als Suffix {-voll} in Derivationen MORPHOLOGIE 71 nicht mehr mit einer konkreten Menge verbunden. Als Suffix hat es mit der Zeit eine stark generalisierte Bedeutung angenommen, nämlich „besitzt in einem sehr hohen Maße den (abstrakten) Aspekt A“. Derivationen mit dem Suffix {-voll} sind deshalb tendenziell auf abstrakte Wörter wie hoffnungsvoll, vertrauensvoll, liebevoll, sorgenvoll beschränkt. Weitere noch immer transparente Suffixe sind {-los} wie in hoffnungslos, lieblos, sorgenlos, arglos, das im Althochdeutschen noch ein eigenständiges Wort war, nämlich ahd. los „fehlt/oder ist frei von A“. Im heutigen Deutsch kommt los in freier Form nur noch als Substantiv Los und als Adverb los! im Sinne von „Weg!“ oder wie in jemanden los werden vor. Das gebundene Morphem {-los} trägt im Unterschied zur freien Form eine allgemeinere, abstraktere Bedeutung und ist stark reihenbildend oder produktiv, d.h. es gibt sehr viele Wortbildungen mit {los}. Es wird daher eindeutig als Suffix und damit als gebundenes Morphem klassifiziert. Die Form frei tritt hingegen auch sehr häufig als Simplex auf, z.B. in sich frei fühlen, freie Stellen, frei von etwas sein (frei von Steuern – steuerfrei, frei von Sorgen – sorgenfrei etc.). Wortbildungen mit der Form frei bzw. könnten also entweder als Derivation mit dem Derivationsmorphem{-frei}, oder auch als Komposita mit dem Zweitglied {FREI} klassifiziert werden - offensichtlich durchläuft die Form frei in Wortbildungen im heutigen Deutsch einen Prozess der Grammatikalisierung. Meist sind Affixe in einem so starken Maße grammatikalisiert, dass ihre ursprüngliche lexikalische Bedeutung für uns nicht mehr transparent ist. Dies trifft beispielsweise auf das Suffix {-schaft} in Freundschaft oder Mannschaft zu, das auf die althochdeutsche Form scaf ‚schaffen‘ zurückgeht und die abstrakte Bedeutung „Art und Weise“ bezeichnet. Im Zusammenhang mit Substantiven bezeichnet es den Zustand einer Sache (Wissenschaft „Wissen hervorbringen, einen Zustand des Wissens schaffen“ oder Elternschaft „Eltern sein“). In Zusammenhang mit Berufsbezeichnungen ist die Bedeutung kollektiv: Ärzteschaft, Beamtenschaft, Schülerschaft, Adjektivableitungen mit {-schaft} bezeichnen einen Zustand: Bereitschaft, Schwangerschaft. Ähnlich verhält es sich mit {-heit} bzw. {-keit}, das im Deutschen Abstrakta wie Klugheit, Deutlichkeit, Einsamkeit, Zufriedenheit etc. bildet und auf ahd. heit ‚Person, Stand, Rang, Wesen, Beschaffenheit, Art, Geschlecht‘ und gotisch haidus ‚Art und Weise‘ zurückgeht. Dieses Suffix erscheint in den Varianten {-heit}, {keit}, {-igkeit}, die alle die gleiche Bedeutung haben, aber abhängig von der Endung des Basiswortes der Ableitung verwendet werden: {-keit} steht insbesondere bei Basiswörtern auf -bar (Dankbarkeit), -lich (Besinnlichkeit) sowie -sam (Betriebsamkeit), -er (Heiserkeit), und -el (Eitelkeit). Die Variante {-igkeit} steht unter anderem bei -haft und -los (Ernsthaftigkeit, Interesselosigkeit) und mit Adjektiven auf -e (müde – Müdigkeit); {-heit} steht bei vielen einsilbigen Adjektiven wie Grobheit, Klugheit, bei einfachen Adjektiven auf -en (Trockenheit) und bei mehrsilbigen Basiswörtern mit Betonung auf der letzten Silbe (gesund – Gesundheit). Die Morpheme {keit} und {-igkeit} tragen die gleiche Bedeutung wie {-heit}, treten aber in Abhängigkeit von bestimmten morphologischen Umgebungen auf: es sind also Allomorphe des Morphems {-heit}. Ein weiterer komplexer Grammatikalisierungsprozess findet sich in der Adjektivbildung durch Suffigierung mit {-lich}, wie in wunderlich, verletzlich, zugänglich. Dieses Suffix geht auf das mhd. lîch ‚Leib, Körper‘ zurück und 72 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT bedeutet so viel wie „auf eine gewisse Art charakteristisch für eine Person oder Sache“ und wurde später weiter generalisiert zur allgemeinen Bedeutung „Art und Weise“. 3.4 Weitere Wortbildungsprozesse Neben Komposition und Derivation gibt es noch eine Reihe weiterer Wortbildungsprozesse, die wir hier kurz besprechen wollen: Konversion (Säge – sägen), Wortkürzung (Omnibus wird zu Bus), Rückbildung (notland(en) aus Notlandung), Verschmelzung (ja + nein = jein), und Akronymbildung (DIN = Deutsche IndustrieNorm). Bei der Konversion (Umsetzung) wird ein Wort in eine andere Wortart umgesetzt, ohne dass weitere Wortbildungsmorpheme hinzugefügt werden. Die umgesetzte Form nimmt lediglich die Flexionsendungen an, die für die Zielwortart typisch sind. Konversionen können im Deutschen Verben, Adjektive, Substantive, Adverbien, Numerale, Pronomen, Präpositionen, syntaktische Gruppen und Sätze zur Grundlage haben. Wir wollen uns hier jedoch nur kurz die drei Hauptwortarten Substantiv, Adjektiv und Verb ansehen. Substantive können im Deutschen aus Verben gebildet werden, indem zum einen die Infinitivform des Verbs in die Wortart „Substantiv“ umgesetzt wird: schreien – das Schreien. Durch die Konversion wird das bezeichnete Geschehen eher als abgegrenzte Einheit gesehen und nicht so sehr der zeitliche Aspekt des Geschehens fokussiert (wie das bei Verwendung des Verbs schreien der Fall ist). Auch Verbstämme wie {schrei-} selbst können zu Substantiven umgesetzt werden – der Schrei bezeichnet beispielsweise das Ergebnis des durch das Verb schreien bezeichneten Geschehens. Es lassen sich auch Adjektive zu Substantiven umsetzen wie in ernst – Ernst, fremd – (der) Fremde, oder Substantive zu Verben: der Pfeffer – pfeffern, Langeweile – (sich) langweilen. Bei den angehängten Morphemen handelt es sich – wie gesagt – nicht um Derivationsmorpheme, sondern um Flexionsmorpheme, die nach der Konversion in der jeweiligen Zielwortart erforderlich werden. Welcher konzeptuelle Prozess liegt Konversionen zugrunde? Das Ergebnis der Konversion oder Konversionsprodukt gibt einer bestimmten Konstruktion einer Szene oder eines Ereignisses Ausdruck. Stellen wir uns vor, jemand sitzt an einem Teich, um dort Fische zu fangen. Diese Tätigkeit können wir sprachlich unterschiedlich konstruieren: etwa mit Hilfe des Verbs fischen. Es handelt sich um ein Konversionsprodukt auf der Basis des Substantivs Fisch, mit dem unser Augenmerk metonymisch auf einen bestimmten Aspekt des Ereignisses gelenkt wird, nämlich auf den gefangenen Fisch als das gewünschte Ergebnis des Prozesses. Wir können aber die Szene auch bezeichnen, indem wir das Instrument hervorheben, mit dem die Fische gefangen werden, und durch die Konversion Angel – angeln metonymisch für das gesamte Ereignis stehen lassen. Das aus dem Substantiv Angel konvertierte Verb angeln beschreibt nun eine temporäre Relation (die vorübergehende Tätigkeit „Fische mit einer Angel fangen“). Wir können aber diese Relation auch wieder zeitstabil, d.h. als dinghafte Tätigkeit konstruieren: das Angeln oder Peter ist beim Angeln. Bei solchen instrumentellen Verben wird die Beziehung zwischen Aktion, dem verwendeten Instrument und dem MORPHOLOGIE 73 Objekt nicht ausdrücklich benannt, sie wird lediglich impliziert, und aufgrund unseres kulturellen Wissens interpretieren wir deren Beziehung in der Szene „Angeln“. Es lässt sich also festhalten, dass der Wortbildungsprozess der Konversion oft die metonymische Ausdehnung eines Elementes in einem Ereignis zur Bezeichnung des Gesamtereignisses bedeutet. Durch die Umsetzung in eine andere Wortart nimmt das umgesetzte Wort auch Bedeutungsaspekte dieser Wortkategorie an. Wird beispielsweise ein Verb wie essen durch Konversion zu das Essen substantiviert (Das Essen war gut oder Sie lud ihn zum Essen ein), so entspricht die Bedeutung nicht mehr völlig dem Verb, das heißt, dieselbe lexikalische Bedeutung wird nicht mehr als rein zeitliche Relation konstruiert (wie das mit einem Verb prototypischerweise der Fall ist). Vielmehr nähert sich die sprachliche Konstruktion der Bedeutung eines Substantivs an und wird (prototypischerweise) als zeitlich beständiges Phänomen kategorisiert. Liegt der Konversion ein Adjektiv zugrunde, so wird ein bestimmtes Attribut metonymisch für den Träger des Attributs stehen: deutsch – Deutsch (er spricht Deutsch). Bei der Wortkürzung wird ein Ausgangswort um einen Teil gekürzt. Dabei kann der vordere Teil des Wortes wegfallen wie in Fahrrad zu Rad. Das Ergebnis sind dann so genannte Schwanzformen. Es kann aber auch der hintere Teil weggelassen werden, dann erhält man Kopfformen: Uni < Universität, Kilo < Kilogramm. Daneben sind noch sogenannte Klammerformen möglich: Fernmeldeamt > Fernamt. Durch die Wortkürzung ändern sich weder Wortart, noch Bedeutung des Wortes: Fotografie > Foto; Europäische Television > Eurovision; Professor > Prof. Eine große moderne Stadt nennt man auch Metropole (von griech. metropolis). Die UBahn in einer solchen Metropole wird metonymisch als Metro bezeichnet. Die Rückbildung verbindet die Wortbildungsprozesse der Wortkürzung und der Konversion miteinander. Zunächst wird ein Wort – meist ein Kompositum mit einem Derivat als Zweitglied – um das Derivationsmorphem gekürzt, bzw. dieses Morphem ausgetauscht. Das gekürzte Wort wird dann in eine andere Wortart (zumeist Substantiv oder Verb) umgesetzt (Konversion). So wird aus dem Kompositum Notlandung mit dem Erstglied Not und dem Zweitglied Landung durch Wegfall des Derivationsmorphems {-ung} und anschließende Umsetzung in die Wortart ‚Verb’ der Verbstamm notland- gebildet. Auf gleiche Weise werden aus Schutzimpfung „Impfung zum Schutz (gegen Krankheit)“ der Verbstamm schutzimpf- und aus den Ableitungen sanftmütig und weitsichtig die Substantive Sanftmut bzw. Weitsicht. Ob ein Wort durch Rückbildung entstanden ist, kann oft nur durch diachrone Betrachtung entschieden werden. Von Wortkreuzung oder auch Wortverschmelzung spricht man, wenn Teile von Wörtern zu neuen Formen zusammengesetzt werden, wie in angeheitert, das aus angetrunken + erheitert entstanden ist. Die Verschmelzung findet dabei nicht nur auf der Formseite der Wörter statt. Für gewöhnlich geht sie auch mit einem Prozess der Verschmelzung von Kategorien einher. Das Lehnwort Brunch ist eine Verschmelzung aus den englischen Komponenten breakfast ‚Frühstück‘ und lunch ‚Mittagessen‘. Die Bedeutung des neugebildeten Wortes Brunch ist ‚spätes, ausgedehntes und reichliches Frühstück, das das Mittagessen ersetzt‘. Wir haben es hier mit einem Prozess nicht-eindeutiger Kategorisierung zu tun: 74 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT diese Mahlzeit hat Elemente von breakfast (erste Mahlzeit am Tag), aber der Zeitpunkt dieser Mahlzeit liegt – deutlich später als das Frühstück – kurz vor dem Mittagessen. Da es beide Mahlzeiten ersetzt, ist es auch wesentlich umfangreicher als ein Frühstück, jedoch (der Idee, nicht unbedingt der Praxis nach) nicht so umfangreich wie ein Mittagessen. Ähnliche Prozesse formaler und konzeptueller Verschmelzung finden sich in jein (aus ja und nein), mit dem ein Sprecher ausdrücken kann, dass er in seinem Urteil unentschlossen ist, oder in dem englischen Lehnwort Infotainment – Mischung aus „Information“ und „Entertainment“. Weitere Beispiele sind Smog aus engl. smoke und fog, Stagflation oder Workaholic. Akronyme sind Buchstabenwörter wie EU, USA, BRD, DGB usw. Sie werden aus den Anfangsbuchstaben oder Anfangssilben einer Wortgruppe oder eines Kompositums gebildet. In der modernen Gesellschaft werden die politischen, militärischen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Netzwerke und Dienstleistungen, an denen wir teilhaben, so komplex und zahlreich, dass wir sie nicht ständig beim vollen Namen nennen wollen oder können. Wir müssen diese Organisationen und Einrichtungen gut bezeichnen können, die Namen müssen einprägsam und schnell abrufbar sein. DGB steht also für die lange Form Deutscher Gewerkschaftsbund. Oft werden diese Abkürzungswörter auch zu Bestandteilen von Zusammensetzungen, um etwa Angehörige einer Organisation zu bezeichnen: DGB-Vorsitzender für Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder CDU-Generalsekretär für Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union. Viele Akronyme kommen aus dem Englischen und gehen auf amerikanische Langformen zurück, die uns überhaupt nicht bewußt sind: UNESCO – United Nations Educational Social Organisation; WHO – World Health Organisation. Akronyme finden sich zur Bezeichnung von Aspekten in allen Bereichen der Gesellschaft. Eine wichtige Abkürzung ist beispielsweise AIDS. Dieses Akronym steht für die amerikanische Langform Acquired Immune Deficiency Syndrome (dt.: Erworbener Immundefekt oder Erworbene Immunschwäche-Krankheit). Die Abkürzung wurde direkt aus dem Amerikanischen übernommen und ist vollständig lexikalisiert, d.h. die Einzelbestandteile des Akronyms sind den Sprechern meist überhaupt nicht bekannt. Das Konzept zur Bezeichnung dieser Krankheit wurde durch das Akronym in die Alltagssprache übernommen. Es ist Nicht-Medizinern zugänglich, und das Bewusstsein über die Gefahr dieser Krankheit wurde international geschärft. Akronyme brauchen also nicht einmal mehr als Abkürzungen erkennbar zu sein. Weitere Beispiele für Akronyme sind etwa TÜV für Technischer Überwachungsverein, StGB für Strafgesetzbuch und BAföG für Bundesausbildungsförderungsgesetz. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet BAföG aber oft nicht das Gesetz selbst, sondern steht metonymisch für die Förderung nach diesem Gesetz, z.B. Bekommst du auch BAföG? („Förderungsgelder aufgrund des Bundesausbildungsförderungsgesetzes“). 3.4.1 Komplexe Wortbildungen Durch Komposition oder Derivation neu gebildete komplexe Wörter können Basis für weitere Wortbildungsprozesse sein. Dies kann zu sehr komplexen Wör- MORPHOLOGIE 75 tern führen. Nehmen wir als Beispiel nochmals das Kompositum Bundesausbildungsförderungsgesetz, das sich wie in Abbildung 4 analysieren lässt. Abbildung 4. Komplexe Wortbildungsprozesse am Beispiel BAföG BAföG Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundes {BUND} Ausbildungförderungsgesetz {-es} Ausbildungsförderung Ausbildung {ausbild-} {-ung} {aus-} {bild-} -s- -s {GESETZ} förderung {förder-} Komposition (Flexion) Komposition Komposition {-ung} Derivation Derivation Der Verbstamm {bild-} wurde durch Präfigierung mit dem Präfix {aus-} zum Stamm ausbild-. Zugrunde liegt ein Prozess der Spezifizierung‚ die Bedeutung des Kernmorphems {bild-} in der Bedeutung „geistig seelisch entwickeln“ wird spezifiziert zu „jemanden schulen“. Der Stamm ausbild- wird durch Suffigierung mit dem Derivationsmorphem {-ung} zum abstrakteren Substantiv Ausbildung abgeleitet. Ausbildung ist Modifikator des Substantivkompositums Ausbildungsförderung, wobei das Fugenelement -s- notwendig wurde. Förderung ist durch Suffigierung des Verbstamms {förder-} mit {-ung} entstanden. Ausbildungsförderung wird durch Komposition mit der spezifizierenden Konstituente Bundes zum Bundesausbildungsförderungsgesetz. Das Substantiv Bundes steht im Genitiv, wie aus der Wortgruppe Gesetz des Bundes zur Ausbildungsförderung deutlich wird. Es besteht also aus dem Kernmorphem {BUND} und dem Flexionsmorphem {-es} mit der Bedeutung „Genitiv Plural“. Das durch diese Kette von Wortbildungsprozessen entstandene Wort Bundesausbildungsförderungsgesetz ist für den alltäglichen Gebrauch allerdings viel zu komplex und wird deshalb durch das Akronym BAföG abgekürzt. Dieses Akronym kann ebenfalls Bestandteil neuer Zusammensetzungen werden, wie in BA föG-Regelung, BAföG-Bewilligungsbescheid, oder es kann als Bestandteil von Zusammensetzungen auch Teil von syntaktischen Gruppen werden: zum Beispiel Berliner Initiative gegen BAföG-Volldarlehensregelung. 76 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 3.5 Grammatische Morpheme: Flexionsmorpheme und Funktionswörter Grammatische Morpheme lassen sich – wie bereits gesagt – ebenfalls in freie und gebundene Morpheme unterscheiden. Freie grammatische Morpheme werden auf der Wortebene als Funktionswörter bezeichnet, die den Wortarten Artikel, Präposition, Partikel, Konjunktion und Pronomen angehören. Gebundene grammatische Morpheme, die zur Flexion von Verb, Substantiv, Adjektiv und Pronomen dienen, nennt man Flexionsmorpheme. Auch sie zeigen die Beziehungen zwischen den einzelnen Wörtern in Wortgruppen und Sätzen an. Verben werden konjugiert, d.h. durch Anhängen eines Morphems in die Kategorien Person, Numerus, Tempus, Modus sowie Partizip und Infinitiv eingeordnet. Substantive, Adjektive und Pronomina werden dekliniert, d.h. ein angehängtes Morphem markiert Kasus, Numerus und Genus. Adjektive können zusätzlich noch gesteigert werden, d.h. durch Anhängen eines Komparationsmorphems wird der Grad der durch das Adjektiv bezeichneten Eigenschaft bestimmt (schön, schöner, am schönst(en); ein schönes Haus, ein schöneres Haus, das schönste Haus). Ganz allgemein lässt sich sagen, dass grammatische Morpheme hochgradig abstrakte konzeptuelle Kategorien bezeichnen. Durch sie werden zwischen den einzelnen an einer Sprechsituation beteiligten Elementen des sprechenden Ichs (dem Sprecher), dem Hörer, zu dem der Sprecher spricht, und den Themen (Dingen oder Vorgängen), über die der Sprecher spricht, Beziehungen hergestellt. Der Sprecher setzt Dinge und Vorgänge aus seiner Perspektive mit anderen Dingen und Vorgängen in seiner Vorstellungs- und Erfahrungswelt zueinander in Beziehung. Er geht dabei vom Hier und Jetzt seines Sprechens aus und lokalisiert die besprochene Situation aufgrund des indexikalischen Prinzips in Raum und Zeit. Er verankert die Dinge und Vorgänge in der Sprechsituation des Hier und Jetzt und bezieht dabei das von ihm angenommene Wissen des Hörers mit ein. Diese Verankerung (engl. grounding) geschieht mithilfe grammatischer Morpheme. Substantive, die prototypisch für Dinge oder Entitäten stehen, werden durch die unterschiedlichen Kasus- und Numerusmorpheme miteinander in Beziehung gesetzt. Verben hingegen, die prototypisch für Handlungen oder Vorgänge stehen, werden durch Person- und Tempusmorpheme miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Verankerungen wird ausführlich im nächsten Kapitel über Syntax eingegangen. An dieser Stelle soll nur an einigen Beispielen verdeutlicht werden, welche Rolle grammatische Morpheme dabei spielen. Durch grammatische Morpheme werden beim Substantiv „Dinge oder Entitäten“, durch Morpheme beim Adjektiv „Eigenschaften“ und bei Verben „Ereignisse“ in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers situativ verankert. Nehmen wir als Beispiel die syntaktische Gruppe das Haus. Sie besteht aus zwei freien Morphemen, dem freien lexikalischen Morphem {HAUS} und dem freien grammatischen Morphem {DAS}. Doch der Status dieser beiden Morpheme ist nicht gleich, das grammatische Morphem {DAS} ist nicht im selben Maße frei wie ein lexikalisches Morphem. Lexikalische Morpheme wie {HAUS} sind innerhalb der Kategorie „freie Morpheme“ zentraler und prototypischer als freie grammatische Morpheme wie der Artikel das, der in Zusammenhang mit der lexikalischen Kategorie Haus eine Referenzfunktion MORPHOLOGIE 77 erfüllt, in dem er auf ein bestimmtes Haus verweist. In einigen Sprachen wird diese Funktion des Artikels nicht durch ein freies Morphem erfüllt, sondern durch ein Affix, so etwa im Norwegischen hus-et ‚Haus + das‘. Im Deutschen wird der Artikel dem Substantiv als Funktionswort vorangestellt, und das Substantiv erhält eine entsprechende Endung, die Kasus und Numerus entsprechend dem Genus des Substantivs markiert, wie in Beispiel (14). Es wird also nach zwei grammatischen Kategorien konzeptualisiert, die in vier bzw. zwei Unterkategorien unterteilt werden: (14) Deklination von Haus KASUS Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ NUMERUS: SINGULAR das Haus des Hauses dem Haus(e) das Haus NUMERUS: PLURAL die Häuser der Häuser den Häusern die Häuser Aus dieser Deklinationstafel wird deutlich, dass die Markierungen in einigen Fällen formgleich sind (z.B. Nominativ, Genitiv und Akkusativ im Plural). In diesen Fällen wird der Kasus nur aus der Stellung im Satz deutlich. Umgekehrt können aber auch mehrere Allomorphe zur Verfügung stehen, um eine bestimmte Bedeutung auszudrücken. Das Pluralmorphem hat im Deutschen mehrere Allomorphe: {-e} wie in Schaf – Schafe, {-er} + Umlaut wie in Haus – Häuser, {-s} wie in Opa – Opas und {-en} wie in Mensch – Menschen. Endet das Substantiv auf -e, -el, oder -er, so wird lediglich ein -n angehängt, d.h. abhängig von der Lautumgebung wird entweder -en oder n angehängt: Schachtel – Schachteln und nicht *Schachtelen, Auge – Augen (*Augenen), Feder – Federn (*Federen). Schließlich gibt es auch noch Fälle, in denen das Pluralmorphem als Form nicht realisiert ist, wie in (der) Wagen – (die) Wagen. Man spricht dann von einem so genannten Nullmorphem und markiert es als {∅}: Singular: {WAGEN} – Plural: {WAGEN} + {∅}. Auch das Morphem {-t}, das an Verbstämme angehängt „3. Person Singular Präsens“ bedeutet, wird in Abhängigkeit von der Lautumgebung unterschiedlich realisiert. Endet der Verbstamm auf /t/, wird es als {-et} realisiert, wie in (er) wartet im Vergleich zu er geht. Die Morphemvariante {-et} ist ein phonologisches Allomorph des Morphems {-t}. Deutsche Verben bestehen aus einem Verbstamm (einem gebundenen lexikalischen Morphem) an den Flexionsmorpheme angehängt werden, die Tempus, Numerus Modus und Person markieren. Durch Flexionsmorpheme wie {-et} in sie arbeitet bzw. {et}+{e} in sie arbeitete werden Ereignisse mit der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers in Beziehung gesetzt: mit sie arbeitet verankert der Sprecher die Relation „sie + arbeit-“ zeitlich in der Gegenwart, mit sie arbeitete vor der Sprechzeit in der Vergangenheit. Mit Hilfsverben wie sein und haben können weitere zeitliche Verankerungen im Verhältnis zur Sprechzeit ausgedrückt werden: sie ist gelaufen bzw. sie hat gearbeitet. 78 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 3.6 Morphologie, Lexikologie und Syntax im Zusammenhang Bisher wurden Lexikologie, Morphologie und Syntax (detailliert im nächsten Kapitel) getrennt voneinander betrachtet. So könnte leicht der falsche Eindruck entstehen, dass es sich um klar voneinander abzugrenzende und isoliert zu betrachtende Bereiche der Sprache und der sprachwissenschaftlichen Untersuchung handle. Tatsächlich war dies in der modernen Linguistik seit Saussure oft die vorherrschende Annahme. Dass diese Ansicht aber nicht ganz zutreffen kann, dafür haben wir sowohl im Kapitel über Lexikologie als auch in diesem Kapitel über Morphologie wichtige Anhaltspunkte gewonnen: in beiden Bereichen finden wir ähnliche Prinzipien der Zuordnung von Form zu Bedeutung vor (wie z.B. Polysemie), die auf eine grundlegende Übereinstimmung zwischen konzeptueller Welt und Bedeutungsstruktur schließen lassen. Wir nehmen also an, dass für alle sprachlichen Formen grundlegende konzeptuelle Gemeinsamkeiten bestehen, die sowohl im lexikalischen als auch im morphologischen und syntaktischen Bereich ausgedrückt werden und auf die wir im nächsten Kapitel noch detaillierter eingehen werden. Wenn aus Gründen der Analyse diese Bereiche getrennt betrachtet werden, so darf das nicht über solche grundlegenden Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen. Fassen wir die bisher behandelten konzeptuellen Ebenen zusammen. Es gibt einfache und komplexe Wörter, die durch Komposition und Derivation gebildet werden können. Außerdem gibt es gebundene grammatische Morpheme, die nur im Zusammenhang mit Kernmorphemen auftreten und als Flexionsmorpheme an diese angehängt werden. Sie bilden damit das andere Ende des Kontinuums (siehe Abbildung 5). Abbildung 5. Abstraktheitskontinuum der Morphem- und Konzeptarten Lexikologie Morphologie einfache Lexeme Komposition Morphemarten Konzeptarten Syntax Derivation Kernmorpheme mind. zwei DerivationsKernmorpheme morpheme Zeit arbeit(en) Zeitarbeit Arbeitszeit zeitlich Arbeiter eigenständige Konzepte spezifiziertes Konzept abstrakteres Konzept Flexion Wortstellung Flexionsmorpheme Zeiten arbeitet hochabstraktes Konzept Er arbeitet vs. Arbeitet er? höchstabstraktes Konzept An den beiden Enden des Kontinuums stehen sehr unterschiedliche Kategorisierungsarten. Auf Seiten des Wortschatzes (Lexikologie) können sie in hohem Maße als einzelne Bedeutungseinheiten abgegrenzt werden, während sie auf Seiten der Grammatik (oder Syntax) sehr abstrakt sind. Doch lässt sich sehr gut erkennen, dass es einen graduellen Übergang vom einen zum anderen Ende des Kontinuums gibt: von den individuellen Konzepten der Lexeme über das spezifi- MORPHOLOGIE 79 zierte Konzept der Komposita und den abstrakten Elementen bei Derivaten zu den hochabstrakten Konzepten der Grammatik wie Flexion und Wortstellung. Trotz aller Unterschiede beruhen alle Morpheme auf demselben Prinzip, denn bei allen Konzepten handelt es sich um Abstraktionen menschlicher Wahrnehmungen und Erfahrung. Die verschiedenen Morphemarten nehmen unterschiedliche Bereiche auf einem Abstraktheitskontinuum ein, d.h. sie können nicht streng voneinander abgegrenzt werden, gehen ineinander über und spiegeln unterschiedliche Grade der Abstraktion wider. 3.7 Zusammenfassung Die Morphologie ist die Lehre von den Bedeutungsbausteinen, mit denen komplexe Wörter, Wortgruppen oder syntaktische Gruppen und Sätze gebildet werden. Die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache nennt man Morpheme. Nach formalen Kriterien unterscheidet man freie Morpheme wie z.B. {FURCHT}, die unabhängig auftreten können, und gebundene Morpheme (z.B. {-bar}), die an freie Morpheme angehängt werden (furchtbar). Nach inhaltlichen Kriterien lassen sich lexikalische und grammatische Morpheme voneinander unterscheiden. Lexikalische Morpheme bilden den Bedeutungskern von Wörtern, es sind Kernmorpheme. Sowohl lexikalische als auch grammatische Morpheme kommen in freier und gebundener Form vor. Freie Kernmorpheme bilden auf der Wortebene Simplizia (Sg. Simplex). Verben bestehen aus einem Verbstamm (einem gebundenen Kernmorphem) und einer Verbendung. Die Morphologie umfasst den Bereich der Wortbildung, in der es unterschiedliche Wortbildungsprozesse durch die komplexe Wörter gebildet werden können. Die zwei Hauptarten der Wortbildung sind Zusammensetzung (Komposition) und Ableitung (Derivation). Durch Komposition werden mindestens zwei (freie oder gebundene) Kernmorpheme zu einem Kompositum zusammengesetzt. Komposita bestehen aus Erst- und Zweitgliedern. Eine Zusammensetzung unterscheidet sich von einer syntaktischen Gruppe durch ein anderes Muster der Betonung und eine andere Kategorisierung. Komposita sind überwiegend Ausdruck einer Unterkategorisierung, während syntaktische Gruppen eine bestimmte Gruppe von Referenten auf derselben Kategorisierungsebene bezeichnen. Oft wird bei der Komposition in die Kompositionsfuge zwischen Erst- und Zweitglied ein Fugenelement eingefügt. Durch Determinativkomposita wird die Konzeptualisierung einer spezifischeren Unterkategorie des Zweitgliedes ausgedrückt. Das Zweitglied bezeichnet man in diesen Fällen als Kopf, das Erstglied als Modifikator. Bei Kopulativkomposita sind Erst- und Zweitglied konzeptuell gleichrangig (Strumpfhose). Durch Possessivkomposita werden meist Personen metonymisch durch eine ihrer typischen Merkmale bezeichnet (Blondschopf). Je nach der Basis der Zusammensetzung lassen sich Substantivkomposita (Küchenstuhl), Verbkomposita (schlafwandeln) und Adjektivkomposita (dunkelblau) unterscheiden. Einige Zusammensetzungen sind nicht mehr als solche zu erkennen, sie sind verblasst (Himbeere, Friedhof). Gelegentlich wird verblassten Bestandteilen durch volksetymologische Interpretation neue Be- 80 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT deutung zugeschrieben. Bei vielen Zusammensetzungen ist noch zu erkennen, wie sie durch die Bedeutungen ihrer Einzelkomponenten motiviert sind; sie können entweder ganz oder auch nur teilweise aufgrund der Einzelbedeutungen und deren Beziehung zueinander interpretiert werden, d.h. sie sind noch transparent. Im Gegensatz zu Zusammensetzungen bestehen Ableitungen oder Derivationen jeweils aus einem Kernmorphem, an das ein Derivationsmorphem angehängt wird ({FRUCHT} + {-bar} = fruchtbar). Gebundene grammatische Morpheme bezeichnet man auch als Affixe, die man nach ihrer Stellung unterscheiden kann. Ein Präfix wird dem Ausgangswort oder der Basis der Ableitung vorangestellt ( {un-} + {FAIR} = unfair), ein Suffix wird angehängt ({trink-} + {-bar} =trinkbar) und ein Zirkumfix umklammert das Kernmorphem ({ge-} + {arbeit-} + {-et} = gearbeitet). In manchen Sprachen gibt es zudem Infixe ( z.B. lat. vinco, vici), die in ein Kernmorphem eingefügt werden. Im Deutschen kommen Infixe allerdings nicht vor. Ableitungen drücken konzeptuell gesehen entweder Generalisierungen der ursprünglichen Kategorien oder abstrakte Kategorien aus. Affixe waren ursprünglich lexikalische Morpheme, die im Laufe der Zeit eine immer abstraktere Bedeutung angenommen haben, oft auch in ihrer Form gekürzt wurden und die ursprüngliche lexikalische Bedeutung verloren haben. Diesen wichtigen sprachgeschichtlichen Prozess bezeichnet man als Grammatikalisierung. Wortbildungsaffixe lassen sich von Kompositionsgliedern durch die Kriterien Reihenbildung oder Produktivität unterscheiden. Neben Komposition und Derivation gibt es noch weitere Prozesse der Wortbildung. Durch Konversion werden Lexeme von ihrer ursprünglichen in eine andere Wortart umgesetzt, und zwar ohne dass ein Derivationsmorphem angehängt wird. Die Konversion ist oft Ausdruck eines metonymischen Prozesses (essen – das Essen). Komplexe Wörter können durch Wortkürzung einen Teil ihrer Form einbüßen (Fahrrad – Rad). Bei der Rückbildung wird ein Kompositum mit einem Derivat als Zweitglied (z.B. Notlandung) um ein Derivationsmorphem gekürzt und dann durch Konversion in eine andere Wortart umgesetzt (notland(en)). Eine Wortkreuzung oder Wortverschmelzung besteht nur aus Teilen der ursprünglichen Ausgangswörter und ist Ausdruck einer Verschmelzung zweier Kategorien auf der konzeptuellen Ebene der Kategorisierung (ja + nein = jein). Ein Akronym oder Abkürzungswort ist ein aus den Anfangsbuchstaben oder Anfangssilben der Wörter einer Zusammensetzung oder syntaktischen Gruppe zusammengefügtes neues Wort. In der Regel handelt es sich um eine Kombination aus den Anfangsbuchstaben der einzelnen Wörter (EU = Europäische Union). Morpheme spielen auch in der Grammatik und Syntax einer Sprache eine bedeutende Rolle. Grammatische Morpheme lassen sich ebenfalls in freie und gebundene Morpheme unterteilen und treten zusammen mit den Hauptwortarten auf. Freie grammatische Morpheme oder Funktionswörter sind etwa Artikel und Präpositionen, die dazu beitragen, die durch Inhaltswörter bezeichneten Gegenstände und Sachverhalte in der Erfahrungswelt des Sprechers zu verankern. Dies gilt auch für gebundene grammatische Morpheme, die zur Flexion von Substantiv, Verb, Adjektiv und Pronomen dienen. Die Flexionsmorpheme des Verbs markieren Person, Numerus, Tempus und Modus, die des Substantivs und MORPHOLOGIE 81 adjektivs Kasus, Numerus und Genus. Adjektive und Adverbien können zudem durch Komparationsmorpheme gesteigert werden. Diese Aspekte sind Gegenstand der Flexionsmorphologie. 3.8 Leseempfehlungen Einführungen in die Morphologie sind Bhatt (1991) und Bergenholtz & Mugdan (1979). Eine umfassende Darstellung zur Flexions- und Wortbildungsmorphologie ist Simmler (1998), einen guten Überblick gibt Eisenberg (1998). Die umfangreichste Beschreibung der Wortbildung des Deutschen ist die vom Institut für deutsche Sprache herausgegebene mehrbändige Sammlung Deutsche Wortbildung. Einen kurzen Überblick über die Wortbildung im Deutschen gibt die Duden Grammatik (1998) in einem gesonderten Kapitel. Eine detaillierte Einführung gibt Erben (1993). Eine umfassende Darstellung zur deutschen Wortbildung liefern Fleischer & Barz (1995) und Motsch (1999). Barz et al. (2002) ist ein Arbeitsbuch zur Wortbildung mit Lösungsteil. 3.9 Aufgaben 1. Wie lassen sich die folgenden Wörter den Kategorien lexikalischer Formen aus Tabelle 1 zuordnen: a) einfache Lexeme, b) Komposita, c) Derivationen, d) komplexe Prozesse, e) syntaktische Gruppen, f) weitere Wortbildungsprozesse: Bohrinsel, Raumschiff, Vorgang, Sonnenaufgang, traurig, Kunstturnen, vergeblich, herzkrank, künstliches Licht, Dokudrama, Ausnüchterungszelle, CD-Player, flaschengrün, Euro, ECU, Selbstlosigkeit, Radar, fönen, ADAC, Pharmadies, Sprachwissenschaftler, Studierende, Staatliches Prüfungsamt für Lehrämter an Schulen, Studentenausweis, Studium der Germanistik, Hochschullehrer, Prüfling, Prüfer, Hochschulzugangsberechtigung. 2. Technische Hilfsmittel (beispielsweise im Haushalt) können als Geräte, Apparate, Maschinen oder Automaten bezeichnet werden. Gerät Hörgerät Radiogerät Fernsehgerät - Apparat Maschine Rechenmaschine Hörapparat Rasierapparat Radioapparat Fernsehapparat Geschirrspülmaschine Nähmaschine Waschmaschine Schreibmaschine Kaffeemaschine Automat Rechenautomat Geschirrspülautomat Waschautomat Schreibautomat Kaffeeautomat Verb + {-er} Rechner (*Hörer) Rasierer Fernseher Geschirrspüler - Eine technische Neuerung wird häufig durch Komposition als Hyponym einer dieser Kategorien zugeordnet. Wann wird nun (der Tendenz nach) Maschine, wann Apparat, Gerät, oder Automat als Zweitglied der Komposition verwendet, wann ist auch eine Ableitung [V+ {-er}] gebräuchlich? (Denken Sie daran, dass 82 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT durch unterschiedliche sprachliche Konstruktion jeweils verschiedene Aspekte „ins Bild gebracht“ werden.) Versuchen Sie, für Ihre Argumentation noch weitere Gerätebezeichnungen zu finden. 3. Wie wurden die folgenden Bezeichnungen für Landesbewohner gebildet? Vergleichen Sie diese mit den entsprechenden Ländernamen. Belgier Däne Franzose Italiener Pole Schwede Brite Deutscher Niederländer Norweger Portugiese Spanier Bulgare Finne Ire Österreicher Russe Tscheche Monegasse Montenegriner Waliser Ghanaer Schweizer Thai Ungar Türke Serbe Nepalese Marokkaner Kanadier 4. Erläutern Sie die Unterschiede der Konzeptualisierungen und der Wortbildung von Hufeisen, horseshoe, fer à cheval . Nehmen Sie Abbildung 4 aus Kapitel 1 zur Hilfe. 5. (a) Welche Wortbildungen finden sich in dem folgenden Ausschnitt aus einem Zeitungsbericht über eine Automesse? Welche der komplexen Wörter sind Ihnen bereits bekannt, welche müssen Sie genauer interpretieren? (b) Zerlegen Sie die Wörter in bedeutungstragende Einheiten und ordnen Sie diese nach Morphemarten. (c) Lassen sich Allomorphe finden? Elf Tage lang ... ist Frankfurt wieder einmal der Nabel der Auto-Welt: 33 Welt-, acht Europaund 14 Deutschlandpremieren werden während der 57. Internationalen Automobilausstellung (IAA) auf den Ständen der Fahrzeughersteller zu betrachten sein. Darunter sind wie immer einige Butter-und-Brot-Autos ⎯ ein Begriff, unter dem Großserienmodelle wie Golf, Astra und was sonst noch in hohen Auflagen produziert wird, zusammengefaßt werden... Besonders auffällig ist heuer die Flut an Spaß- und Freizeitautos, mit denen man sich zwar ins Gelände wagen kann, schwieriges Terrain und tiefen Matsch jedoch besser meidet. Doch auch die Spezies der (Mini-)Vans, Coupés, Sportautos, Roadster und Cabrios gedeiht in Frankfurt bestens – vor allem in Form der sogenannten Concept Cars. Wo die Kunden herkommen, die diese PKWSpielarten kaufen, ist noch nicht endgültig abzusehen. Die traditionellen Kombis, die Beobachter nach dem Erscheinen der Großraumlimousinen für besonders gefährdet hielten, behaupten sich bisher erstaunlich gut. Schwer unters Volk zu bringen sind Branchenberichten zufolge vielmehr die Stufenheck-Limousinen – bis hoch in die Mittelklasse bröckeln die Verkaufszahlen ab. (SZ-Auto, Beilage Nr. 208, Süddeutsche Zeitung vom 10.9.97) 6. Auf welche Prozesse der Bedeutungserweiterung gehen die folgenden Komposita mit Farbbezeichnungen zurück? Wodurch sind sie motiviert? Um welche Art der Komposition handelt es sich jeweils? (a) Blaumeise (e) Rotschopf (i) Schwarzarbeit (b) Blaukopf (f) Rotkehlchen (j) Schwarzafrika (c) Blaumann (g) rotbraun (k) Schwarzbuch (d) Blauhemden (h) Rotkreuzschwester (l) Schwarzkittel KAPITEL 4 Sprachliche Konzepte zueinander in Beziehung setzen: Syntax 4.0 Überblick In den Kapiteln über Lexikologie und Morphologie haben wir uns mit der Beziehung zwischen sprachlichen Konzepten und Wörtern bzw. Morphemen beschäftigt. Hier wollen wir uns nun der Frage zuwenden, wie solche sprachlichen Konzepte in Sätzen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das Ende eines Satzes ist in geschriebener Sprache durch Punkt, Frage- oder Ausrufezeichen markiert. In gesprochener Sprache wird insbesondere durch die Intonation deutlich, wann ein Satz endet und der nächste beginnt. Durch Sätze können wir sprachlich zum Ausdruck bringen, wie wir komplexe Ereignisse in unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt konstruieren. Von der konzeptuellen Seite her gesehen bestehen solche Ereignisse immer aus mehreren Komponenten, die in diesem Kapitel näher untersucht werden sollen. Wenn wir ein Ereignis als Ganzes beschreiben wollen, so wählen wir in der Regel einen, zwei oder mehr Hauptteilnehmer aus, die wir auf die eine oder andere Art miteinander in Beziehung setzen. Ein Teilnehmer tritt in einer bestimmten Teilnehmerrolle auf. Dabei muss es sich nicht notwendigerweise um eine Person handeln. Unter Teilnehmer verstehen wir begriffliche Einheiten, die durch ein Verb, das ein bestimmtes Ereignis bezeichnet, zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Zwar ist jedes Ereignis für sich genommen einzigartig, doch kategorisieren wir Ereignisse nach einer begrenzten Anzahl von Typen, d.h. in so genannten Ereignisschemata. Diesen Ereignistypen ordnen wir auf der sprachlichen Seite jeweils typische Satzmuster zu. In diesen besonderen Anordnungen sprachlicher Formen spiegelt sich wider, wie wir auf konzeptueller Ebene die Teilnehmer in einem Ereignis miteinander in Beziehung setzen. In der deutschen Sprache werden die Beziehungen zwischen den Teilnehmern auf der Satzebene zudem durch entsprechende Kasusendungen signalisiert. Weitere sprachliche Elemente des Satzes helfen, das Ereignis in Bezug auf uns selbst sowie den Ort und Zeitpunkt unseres Sprechens zu positionieren. Durch so genannte Verankerungselemente können wir ausdrücken, wo und wann das Ereignis stattfindet oder stattgefunden hat, oder auch – wenn das Ereignis für uns rein hypothetisch ist – ob es stattfinden wird, stattfinden könnte oder unter bestimmten Bedingungen stattfinden würde. 84 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 4.1 Einleitung: Syntax und Grammatik Beginnen wir mit der zentralen Frage, was überhaupt ein Satz ist. Das Wahrig Deutsche Wörterbuch (2000: 1082,2) definiert einen Satz so: „sprachlicher, nach bestimmten Regeln aufgebauter, sinnvoller Ausdruck eines in sich abgeschlossenen Gedankens“. Diese Vorstellung der traditionellen Grammatik über den Zusammenhang von Sprache und Denken, nach der wir Menschen durch die Sprache unsere Gedanken zum Ausdruck bringen, ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen. Auch aus einer kognitiv-sprachwissenschaftlichen Perspektive heraus gesehen stellt ein Satz ein sowohl konzeptuell als auch sprachlich in sich abgeschlossenes Ganzes dar. Wie ein Wort hat also auch ein Satz eine konzeptuelle und eine sprachliche Seite. Von der konzeptuellen Seite her besehen drückt ein Satz ein Ereignis aus, wie es von demjenigen konstruiert wird, der den Satz sagt. Ein typischer Satz stellt ein Ereignis mit wenigstens einem Teilnehmer dar und bezeichnet zudem eine Handlung, die dieser ausführt, den Vorgang, von dem er betroffen ist, oder den Zustand, in dem er sich befindet. Außerdem enthält ein Satz noch Informationen darüber, wie die mit ihm beschriebene Aktion oder dieser Zustand des Teilnehmers auf die Perspektive des Sprechers, d.h. auf seinen Standpunkt in Raum und Zeit, bezogen ist. In einem Satz werden Wörter, die aus bedeutungstragenden Einheiten (lexikalische und grammatische Morpheme) bestehen, nach bestimmten Mustern systematisch angeordnet und so auf sinnvolle Art und Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Die Untersuchung dieser systematischen Anordnung fällt traditionell in die sprachwissenschaftliche Disziplin der Syntax (griech. syn ‚mit‘ und tassein ‚anordnen‘). Die Syntax einer Sprache umfasst die Anordnungsmöglichkeiten sprachlicher Elemente in Sätzen nach einer begrenzten Anzahl von Satzmustern. Aufgrund unseres sprachlichen Wissens können wir diese sprachlichen Muster wieder erkennen und die mit ihnen zum Ausdruck gebrachten Gedanken interpretieren und verstehen. Das soll nicht heißen, dass wir in jeder Äußerung automatisch nur ein ganz bestimmtes Muster erkennen und damit schon den Satz verstehen. Es kommt durchaus vor, dass wir in derselben Abfolge von Wörtern mehr als nur ein Satzmuster oder – von der konzeptuellen Seite her betrachtet – mehr als nur eine der möglichen Anordnungen von Teilnehmerrollen erkennen können. Jede sprachliche Äußerung ist auf die eine oder andere Weise mehrdeutig oder ambig. Wenn wir verstehen wollen, was ein Sprecher mit einem Satz meint, so kommt es also darauf an, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Bedeutung zu erkennen und zu einer dem Kontext angemessenen Interpretation zu gelangen. Beispielsweise kann der geschriebene Satz in (1a) im Prinzip auf zweierlei Art und Weise (1b bzw. 1c) gelesen und interpretiert werden. (1) a. Mark hat Meike nicht gesehen. b. Der Junge hat das Mädchen nicht gesehen. c. Den Jungen hat das Mädchen nicht gesehen. Die doppelte Leseweise in diesem Beispiel ist möglich, weil im Deutschen sowohl Subjekt als auch Objekt am Anfang eines Satzes stehen können und Eigen- SYNTAX 85 namen nicht durch Fallendungen markiert werden. Die zwei möglichen Lesarten werden in (1b) bzw. (1c) paraphrasiert, indem man Mark durch der Junge und Meike durch das Mädchen ersetzt. Bei der Junge wird durch die Wortendungen angezeigt, um welchen Kasus es sich handelt, d.h. ob das Substantiv Junge in Subjekt- oder in Objektposition steht. Gleiches gilt für den Artikel der bzw. den. Der Kasus von Mädchen ist hingegen nicht explizit markiert, kann aber leicht über die anderen Teilnehmer des Satzes identifiziert werden: In Satz 1b) signalisiert die Form der Junge als Kasus Nominativ. Das Verb sehen macht ein Subjekt im Nominativ und ein direktes Objekt im Akkusativ notwendig. Bei das Mädchen kann es sich in diesem Satzmuster folglich nur um einen Akkusativ handeln. Satz (1b) paraphrasiert die „normale“, unmarkierte Abfolge der Satzkomponenten: erst steht das Subjekt (Mark) und dann das Objekt (Meike). Demgegenüber gibt (1c) den markierten Fall wieder, durch den das Objekt besonders hervorgehoben wird. Hier ist den Jungen durch die Fallendung –en und den Artikel eindeutig als Akkusativ und damit als Objekt zu identifizieren. Bei das Mädchen muss es sich in diesem Satzmuster also um das Subjekt handeln. Wir werden weiter unten noch sehen, wie die einzelnen Kasus, d.h. Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ, mit den semantischen Teilnehmerrollen innerhalb des Ereignisses zusammenhängen. In gesprochener Sprache wird die syntaktische Mehrdeutigkeit in (1a) durch besondere Betonung des Objektes in Anfangsstellung aufgelöst. Unser Wissen über die symbolischen Einheiten einer Sprache zusammen mit unserem Wissen um die Satzmuster, in denen sie auftreten können, bezeichnet man als Grammatik dieser Sprache (siehe Übersicht 1). Diese sehr weit gefasste Definition von Grammatik bezieht alle Aspekte der sprachlichen Struktur mit ein, die in den sprachwissenschaftlichen Disziplinen Lexikologie, Morphologie, Syntax sowie Phonetik und Phonologie (siehe Kapitel 5) untersucht werden. Die Grammatik einer Sprache umfasst also das gemeinsame sprachliche Wissen aller Sprecher einer Sprachgemeinschaft. Übersicht 1. Die einzelnen Bestandteile der Grammatik LINGUISTISCHE DISZIPLIN Lexikologie Morphologie Syntax Phonetik/Phonologie SPRACHLICHE KATEGORIEN lexikalische Kategorien (Wörter) Morpheme (z.B. Affixe) grammatische Kategorien (z.B. Wortarten) Phone/ Phoneme (z.B. Konsonanten, Vokale) VERKNÜPFUNGSREGELN morphologische Prozesse (z. B. Derivation) grammatische Muster (z.B. Satzmuster) phonologische Muster (z.B. Assimilation) Wir wollen uns bei unseren Betrachtungen der Grammatik lediglich auf drei Hauptaspekte beschränken. Abschnitt 4.2 beschäftigt sich damit, wie wir unterschiedliche Arten von Ereignissen anhand von Ereignisschemata einordnen und erkennen; Abschnitt 4.3 gibt einen Überblick über grundlegende Ereignisschemata und die zugehörigen Satzmuster; und Abschnitt 4.4. stellt dar, wie wir Ereignisse zu dem Zeitpunkt unseres Sprechens in Beziehung setzen. 86 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 4.2 Ereignisschemata und Teilnehmerrollen Wenn wir ein Ereignis beschreiben wollen, müssen wir dazu nicht alle möglichen Personen, Dinge und kleinen Details nennen, die in irgendeiner Weise an diesem Ereignis beteiligt sind. Wenn wir eine Szene wahrnehmen oder sie uns vorstellen, dann wählen wir lediglich diejenigen Aspekte des Ereignisses aus, die für uns unter allen anderen Aspekten besonders hervortreten, d.h. besonders prominent sind. Alle uns nebensächlich erscheinenden Elemente blenden wir dabei aus bzw. lassen sie in den Hintergrund treten. Das Verhältnis zwischen einem in sich vollständigen Ereignis und dem Satz, mit dem wir dieses Ereignis beschreiben, ist also durch einen Prozess der Abstraktion gekennzeichnet: wir nehmen lediglich einige wenige Teilnehmer in den Blick und setzen sie in einem Satz durch ein Verb untereinander in Beziehung. Unsere anthropozentrische Weltsicht (siehe Kapitel 1.2.1.) führt oft dazu, dass uns solche Teilnehmer ins Auge fallen, die wir als uns Menschen ähnlich wahrnehmen oder zu denen wir in einer engen Beziehung stehen: in der Regel sind das Personen, Tiere oder auch Dinge. Betrachten wir nun einmal an einem Beispiel, wie in unterschiedlichen Vorstellungen von ein und derselben Szene jeweils andere Elemente dieser Szene stärker in den Blickpunkt rücken und wie unterschiedlich diese Vorstellungen dann sprachlich konstruiert werden können. Der Lehrer hat den Klassenraum kurz verlassen. Während seiner Abwesenheit kommt es zu einer Prügelei zwischen zwei Schülern. Die Situation spitzt sich dermaßen zu, dass Christian einen Tennisschläger aus seinem Schulrucksack nimmt und versucht, Marcel damit zu schlagen. Er holt aus, schlägt daneben und trifft die Fensterscheibe, die in tausend Stücke zerspringt. Wenn der Lehrer nun in die Klasse zurückkommt und die übrigen Schüler als Augenzeugen des Vorfalls danach befragt, was passiert ist, so kann das Ereignis von diesen Sprechern auf unterschiedliche Art und Weise dargestellt werden: (2) a. b. c. d. e. f. g. Christian ist schuld. Die Fensterscheibe zersprang in tausend Stücke. Christian hat das Fenster eingeschlagen. Christian war wütend und wollte Marcel schlagen. Christian hatte plötzlich einen Tennisschläger in der Hand. Der Tennisschläger hat die Scheibe getroffen. Christian hat seinen Mitschülern ein schlechtes Beispiel gegeben. Natürlich gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, diese kleine Szene zu beschreiben. Mit jedem der Sätze (2a-g) wird jeweils ein anderer Aspekt in den Blick genommen. Die Sprecher konstruieren diese Szene in ihrer Vorstellungs- und Erfahrungswelt als ein Ereignis. Darunter verstehen wir hier in einem sehr weiten Sinne einen Zustand (2a), einen Vorgang (2b), eine Handlung (2c), eine Erfahrung (2d), eine Besitzrelation (2e), eine Bewegung (2f) oder eine Übertragung (2g) (zur Terminologie s.u.). In ein solches Ereignis sind ein oder mehrere begriffliche Einheiten involviert, die wir als Teilnehmer dieses Ereignisses bezeichnen. Bei der Konstrukti- SYNTAX 87 on von Ereignissen folgen wir einer begrenzten Anzahl von konzeptuellen Mustern, die man Ereignisschemata nennt. Diese Schemata umfassen eine oder mehrere semantische Teilnehmerrollen, in denen die Teilnehmer auftreten können, sowie einen sprachlichen Begriff, der die Beziehung zwischen diesen Teilnehmerrollen bezeichnet. Wir können uns das Ereignis als einen Vorgang vorstellen, indem wir das Verb zerspringen wählen – dann ist nur ein Teilnehmer (die Fensterscheibe) nötig. Wenn wir uns das Ereignis als Handlung vorstellen und unsere Vorstellung durch das Verb schlagen ausdrücken wollen, so benötigen wir zwei Teilnehmer (2c). In einem solchen Handlungsschema bekommen die Teilnehmer sehr unterschiedliche Rollen zugewiesen. Ein Teilnehmer (hier: Christian) handelt aktiv. Er bringt eine gewisse Energie auf und ist damit das Agens in diesem Ereignis. Der zweite Teilnehmer (die Scheibe) bringt keine Energie auf, sondern ist von der Handlung des Agens und der von ihm aufgebrachten Energie betroffen. Diese Rolle wird als Patiens bezeichnet. Unter dem Patiens in einem Ereignis versteht man diejenige Rolle, die am geringsten in jede Art von Beziehung involviert ist. Je nach Rollenkonfiguration gibt es nun eine Reihe grundlegender Ereignisschemata. Sie lassen sich durch grundlegende Verben erfragen, für die sich Entsprechungen in allen Sprachen dieser Welt finden (siehe Kapitel 6 über Semantische Primitiva): sein, geschehen, tun, fühlen, sehen, haben, bewegen, geben. Übersicht 2. Prototypische Ereignisschemata 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Essivschema: Vorgangsschema: Handlungsschema: Erfahrungsschema: Besitzschema: Bewegungsschema: Übertragungsschema: Wie ist etwas? Was ist was? Was geschieht (gerade)? Was tut jemand? Was erfährt, fühlt, sieht etc. jemand? Was hat jemand/etwas? Wohin bewegt sich jemand? Wer gibt wem was? In den folgenden Abschnitten werden diese Schemata ausführlicher dargestellt. In Abschnitt 4.3 werden dann einige grundlegende Satzmuster sowie die Wortstellung besprochen, mit denen diese Schemata typischerweise sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können. 4.2.1 Das Essivschema Durch ein Essivschema wird eine konzeptuelle Einheit (eine so genannte Entität) mit einer Eigenschaft oder einer anderen Begriffskategorie in Beziehung gesetzt. Der Hauptteilnehmer ist nicht aktiv und nimmt die Rolle des Patiens ein. Das Patiens in einem Essivschema kann mit unterschiedlichen Arten des Seins in Beziehung gesetzt werden: mit einem identifizierenden Element (3a), einer Kategorie oder Klasse (3b), einem Charakteristikum (3c), einem bestimmten Ort (3d) oder einer Existenzbeschreibung (3e): 88 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (3) a. b. c. d. e. Die große Fläche auf der Karte ist die Sahara. (Identifikation) Die Sahara ist eine Wüste. (Kategorisierung) Die Sahara ist gefährlich. (Zuschreiben einer Eigenschaft) Die Sahara ist/liegt in Nordafrika. (Ortsangabe) In Afrika gibt es Wüsten. (Existenzbehauptung) Mit (3a) identifiziert der Sprecher einen bestimmten Ort auf der Landkarte, indem er diesen Ort zu einen Eigennamen (die Sahara) in Beziehung setzt. Bei einer identifizierenden Konstruktion lassen sich die beiden nominalen Bestandteile des Satzes miteinander vertauschen: Der Unterschied zwischen (3a) Die große Fläche auf der Karte ist die Sahara und dem Satz Die Sahara ist die große Fläche auf der Karte besteht lediglich darin, welches Element der Sprecher als Erstes identifizieren will – die Bedeutung bleibt im Wesentlichen unverändert. Beide Elemente können als identifizierende Elemente dienen. In Beispiel (3b) wird der erste Teilnehmer (die Sahara) der Kategorie „Wüste“ zugeordnet. Mit (3c) beschreibt der Sprecher eine Eigenschaft oder ein Charakteristikum der Sahara. Diese drei Teilnehmerrollen in Ereignissen lassen sich unter dem Oberbegriff Essiv (lat. esse ‚sein‘) zusammenfassen. Unter einem Essiv verstehen wir eine Rolle, die durch „ist“ mit dem Patiens in Beziehung gesetzt wird. Nach dieser Definition ist auch das Schema in Satz (3d) ein Essivschema: das Patiens Sahara ist diesmal nicht mit einer Eigenschaft, sondern mit einem Essivlokativ in Beziehung gesetzt. Dieser wird im Deutschen häufig nicht durch das Verb sein, sondern eher durch Synonyme wie liegen, stehen, setzen, sich befinden etc. ausgedrückt. Ähnlich verhält es sich mit dem existenzbehauptenden Gebrauch von es gibt – auch wenn es sich um ein eher peripheres Mitglied der Rollenkategorie „Essiv“ handelt. Essive bezeichnen jeweils einen Zustand des Seins. 4.2.2 Das Vorgangs- oder Prozessschema Während ein Sein-Schema also auf einen Zustand referiert, hebt das Vorgangsschema einen momentan stattfindenden Prozess hervor. Die in diesen Prozess eingebundene konzeptuelle Einheit bestimmt jedoch nicht aktiv den Ablauf des Prozesses. Sie nimmt deshalb auch die Rolle des Patiens ein. Wie die Beispiele in (4a-e) zeigen, kann das Patiens in einem Vorgangsschema dennoch als in unterschiedlichem Maße autonom und am Prozess beteiligt konstruiert werden. Die „Autonomieskala“ beginnt mit Beispiel (4a), in dem ein meteorologisches Phänomen Patiens ist, und geht über die Beispiele (4b,c) mit leblosen Objekten bis zu Menschen und anderen Lebewesen (4d,e). (4) a. b. c. d. e. Das Wetter/Es klart auf. Der Stein rollt den Hang hinunter. Das Wasser kocht. Der Junge kränkelt/wird krank. Der Hund winselt. In jeden dieser Prozesse ist ein Teilnehmer eingebunden, der nicht selbst zu der Energie beiträgt, die während des Prozesses entsteht. Die Teilnehmer in (4a-e) SYNTAX 89 sind vielmehr von dem Prozess betroffen. Dies wird sicherlich in (4a) am deutlichsten: das Wetter selbst trägt nicht zu seiner Entwicklung bei. Man kann deswegen das Wort Wetter auch durch es ersetzen – wie auch in den Sätzen Es schneit, Es regnet etc. In diesen Sätzen, wie auch in Sätzen mit Existenzangabe, die mit es gibt ausgedrückt wird, drückt das Patiens es einen allgemeinen Rahmen, eine Wetterlage, oder allgemein gesagt, eine physikalische oder anthropologische Lage aus, in der etwas passiert. Die Entität im Vorgangsschema ist also ein prototypischeres Patiens als die Entität im Sein-Schema. Der Stein in (4b) bleibt solange an derselben Stelle liegen, bis er durch einen Energieanstoß ins Rollen kommt. Bei dem Verb kochen (4c)ist die Energie stets mitgedacht. Wie Beispiel (4d) zeigt, werden Menschen nicht nur als selbstbestimmte, denkende und aktiv handelnde Wesen konstruiert, sondern auch als Organismen, die allerlei Prozessen unterliegen können: sie können kränkeln, gesunden, altern, sterben etc. Deshalb nehmen menschliche Subjekte innerhalb von Vorgangsschemata auch nicht die Teilnehmerrolle des Agens, sondern vielmehr die des Patiens ein. Selbst das Winseln des Hundes in (4e) kann als ein angeborener ReizReaktions-Reflex gesehen werden. Der Hund wird dann nicht als Ursprung der Energie konzeptualisiert. Kein Zweifel: der Hund erscheint in dieser Hinsicht immer noch autonomer als das Wasser im Kessel (4c) oder der den Hang hinunterrollende Stein (4b), die beide nicht durch einen weiteren Stimulus, sondern einzig und allein durch eine Gegenkraft gestoppt werden können. Die instinktgeleitete Energie des winselnden Hundes wird auch als prototypisch stärker wahrgenommen als die körperlichen und/oder psychologischen Prozesse des Krank- oder Gesundwerdens. Alle Subjekte in (4) zeigen sich also in der Rolle des Patiens, die sich mit „Was geschieht mit dieser Entität?“ erfragen lässt. Vielleicht würden wir die Ursache für das Winseln des Hundes nicht gerade mit der Frage „Was geschieht mit dem Hund?“ erfragen. Wenn dieser allerdings ohne für uns erkennbare Erklärung anhaltend laut und aufgeregt bellt, so würden wir uns sicherlich mit „Was ist denn mit dem Hund los?“ eine ähnliche Frage stellen. Auch mit dieser Frage vermuten wir eher bestimmte äußere Umstände, die zum Winseln des Hundes führen, als dass wir dem Hund eine eigene Motivation zuschreiben. In einem anderen Zusammenhang kann es sich allerdings bereits anders verhalten: wenn etwa ein Hund jeden Morgen seinem Herrchen die Zeitung bringt, dann können wir das sicher auch mit dem im folgenden Absatz zu besprechenden Schema als eine zwar auf Dressur gestützte, aber dennoch in gewisser Weise „autonome“ Handlung kategorisieren. Das Verhalten eines Hundes, oder allgemeiner eines Tieres, kann offensichtlich sowohl durch ein Vorgangs- als auch durch ein Handlungsschema konstruiert werden – je nachdem, wie viel Autonomie dem Tier in einem bestimmten Zusammenhang zugemessen werden soll. 4.2.3 Das Handlungsschema Die Beispiele für das Vorgangsschema unter (4) wird man für gewöhnlich nicht mit „Was tut X (gerade)?“ erfragen. Natürlich können wir bei Tieren, z.B. einem winselnden Hund, auch fragen „Was hat der Hund gemacht, als du ihn gerufen hast?“ – dann interpretieren wir das Verhalten des Hundes als in irgendeiner 90 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Weise kontrollierbar. In einem Handlungsschema wird eine gedankliche Einheit als Quelle der aufgebrachten Energie und damit als Ausführender einer Handlung angesehen. In einem Vorgangsschema ist die Energiequelle viel unklarer, tritt in den Hintergrund bzw. ist gar nicht offensichtlich. Diese Unterscheidung erklärt nun auch, warum ein prototypisches Handlungsschema nahezu ausschließlich auf menschliche Agenten beschränkt ist. Unter einem Agens versteht man in einem Handlungsschema eine Entität, die im prototypischen Fall vom eigenen Willen geleitet wird und aus eigenem Antrieb die mit dem Verb bezeichnete Handlung ausführt. Handlungsschemata unterscheiden sich von Vorgangsschemata im Wesentlichen durch die Rolle des Agens als Ursprung der Energie, i.e. in dessen Rolle als Handelnder. Die von ihm oder ihr entwickelte Energie kann durchaus in der Handlung selbst „verbraucht“ werden. Im prototypischen Fall wird sie aber auf ein Patiens übertragen. Diese beiden Extreme des Handlungsschemas, d.h. dass einerseits die Energie in der Handlung selbst (5a) und andererseits auf einen anderen Teilnehmer in der Rolle des Patiens (Objekt) übertragen wird (5e), sowie alle Variationen, die zwischen diesen Extremen liegen, werden in (5) dargestellt. (5) a. b. c. d. e. Martin steht früh auf. Er schreibt den ganzen Morgen. Er schreibt die Geschichte seines Lebens. Er schreibt einen Brief. Später zerreißt er den Brief wieder. (Kein Objekt möglich) (Objekt wird impliziert) (Objekt ist betroffen) (Objekt entsteht) (Objekt wird vernichtet) Hier finden sich die drei wesentlichen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für das Handlungsschema. In (5a) ist kein direktes Objekt möglich, obwohl es konzeptuell eigentlich durchaus vorhanden ist, denn um sich selbst zu bewegen, muss man eigene Energie aufbringen. In einigen Sprachen wird dies auch zum Ausdruck gebracht. Im Französischen wird ein reflexives Verb verwendet: il se lève ‚er hebt sich auf‘, il se couche, il se promène. Im Deutschen sind ähnliche Ausdrücke möglich: er erhebt sich, er legt sich hin, er bewegt sich etc. Am anderen Ende des Kontinuums stehen Handlungen wie zerreißen, bei denen ein Objekt obligatorisch ist. Zwischen diesen Extremen stehen Handlungen wie schreiben, essen und trinken und viele andere, bei denen das Objekt sowohl implizit bleiben kann wie in Karl isst oder aber explizit genannt werden kann: Karl isst Kartoffeln. 4.2.4 Das Erfahrungsschema Begriffskategorien gehen aus unseren Erfahrungen mit unserer natürlichen und kulturellen Umgebung hervor. Darunter versteht man im Allgemeinen körperliche, soziale und kulturelle Erfahrungen. Im Zusammenhang mit konzeptuellen Schemata verwenden wir „Erfahrung“ in einem engeren, fachsprachlichen Sinn: mit einem „Erfahrungsschema“ konstruieren wir die mentale Verarbeitung des menschlichen Kontaktes mit der Umgebung und Umwelt, wie sie sprachlich durch Verben wie sehen, fühlen, wissen, denken, wollen usw. zum Ausdruck kommt. SYNTAX 91 Im Gegensatz zum Handlungsschema, das ein Agens voraussetzt, ist der Teilnehmer in einem Erfahrungsschema weder passiv wie ein Patiens noch aktiv wie ein Agens. Er registriert und verarbeitet vielmehr Wahrgenommenes, Gedanken, Gefühle und Wünsche, d.h. er macht mentale Erfahrungen. Wir bezeichnen die Hauptrolle in einem Erfahrungsschema deshalb als Erfahrungszentrum oder Experiens. Die Rolle des Experiens in einem Erfahrungsschema lässt sich an folgenden Beispielen erklären: (6) a. b. c. d. e. Der kleine Junge sieht eine Schlange. Er weiß, dass sie gefährlich ist. Trotzdem will er sie mit der Hand packen. Er glaubt, sie durch Schnelligkeit überlisten zu können. Plötzlich spürt er einen stechenden Schmerz. Die zweite Teilnehmerrolle in einem Erfahrungsschema kann entweder mit einem konkreten Objekt wie Schlange (6a) oder mit einer abstrakten Denkeinheit, d.h. einem weiteren Ereignisschema, besetzt werden (6b-e). Dieses zweite Schema wird dann in einem Nebensatz mit dass oder einer Infinitivkonstruktion ausgedrückt. Der zweite Teilnehmer in einem Erfahrungschema tritt dabei als Patiens auf. Der Hauptunterschied zu einem Patiens in einem Handlungsschema besteht nun darin, dass das Patiens in einem Erfahrungsschema nicht von irgendeiner Energieeinwirkung betroffen ist und deshalb nicht – oder nur schwerlich – zum Subjekt eines passivischen Satzes werden kann (?Die Schlange wird von ihm gesehen bzw. *Der Schmerz wird von ihm gespürt.). 4.2.5 Das Besitzschema Das Besitzschema hat mehrere Unterarten. Im prototypischsten Fall assoziiert es einen menschlichen Besitzer mit einem Besitztum (einem Objekt). Es kann aber auch eine betroffene Entität mit ihrer Ursache, ein Ganzes mit seinen Teilen oder auch ein Mitglied einer Kategorie mit einem anderen in Beziehung setzen. Im prototypischen Fall des Besitzschemas (7a) wird ein (menschlicher) Besitzer mit einem Objekt in Beziehung gesetzt. Es handelt sich um ein materielles Objekt, das beweglich oder zumindest übertragbar ist, d.h. es kann in jemandes anderen Besitz übergehen (Eigentum). Die Besitzrelation im Besitzschema hat im Deutschen aber auch weniger zentrale Mitglieder wie mentale Einheiten (7b) sowie periphere Mitglieder wie Betroffenheit von einer Krankheit (7c), Teil-Ganzes-Relationen (7d) oder Verwandtschaftsbeziehungen (7e). (7) a. b. c. d. e. Petra hat ein tolles Haus. Er hat oft die tollsten Ideen. Der Lehrer hat eine starke Erkältung. Dieser Tisch hat nur drei Beine. Sie hat eine Schwester. (materieller Besitz) (mentaler Besitz) (Betroffenheit) (Ganzes – Teil) (Verwandtschaftsbeziehung) Ähnlich dem Erfahrungsschema gibt es auch hier keine eigentliche Energieübertragung zwischen den beiden Teilnehmern, denn der erste handelt nicht, sondern 92 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT wird eher mit einer Art Zustand assoziiert. Die Rolle des Besitzers ähnelt daher sehr stark der Rolle eines Patiens. Auf den ersten Blick scheinen deshalb auch Essivschema und Besitzschema einander sehr ähnlich zu sein – tatsächlich sind sie aber doch sehr verschieden. Das Besitzschema kann im Gegensatz zum Essivschema durch mit paraphrasiert werden: Die Frau mit der tollen Eigentumswohnung/der Junge mit den tollen Ideen, der Mann mit der starken Erkältung, der Tisch mit den drei Beinen. 4.2.6 Das Bewegungsschema Ein Bewegungsschema ist eine Kombination aus einem Vorgangsschema bzw. einem Handlungsschema mit den Punkten, an denen entweder Prozess oder Handlung beginnen (der Ursprung), oder aber die sie passieren (den Weg) bzw. auf die sie hinauslaufen (das Ziel). Diese drei Punkte bilden zusammengenommen ein UrsprungWeg-Ziel-Schema, das im räumlichen (8a,b), im zeitlichen (8c,d) oder in einem abstrakten metaphorischen Sinn (8e) gebraucht werden kann. Wie die Beispiele in (8) zeigen, kann ein konkretes Ereignisschema leicht auf abstrakte Bedeutungen ausgedehnt werden, wobei sich dann einige Elemente des Schemas grundlegend verändern. Aus dem Weg im konkreten, räumlichen Sinn (8b) wird in einem zeitlichen Kontext ein Konzept der Dauer (8c,d). In einem Prozesskontext (8e) gibt es einen Ausgangszustand, der durch den Prozess in einen Endzustand übergeht. (8) a. Der Apfel fällt vom Baum ins Gras. Vorgangsschema + Ursprung – Ziel b. Der Einbrecher kletterte von der Terrasse aus das Regenrohr entlang auf den Balkon hinauf. Handlungsschema + Ursprung – Weg – Ziel c. Die Party ging von zehn Uhr an die ganze Nacht hindurch bis um fünf in der Früh. Vorgangsschema + Beginn – Dauer – Ende d. Die Ärzte operierten von morgens um sieben bis abends um zehn. Handlungsschema + Beginn – Ende e. Das Wetter wechselte von nieseligen 12 Grad zu sonnigen 18 Grad. Vorgangsschema + Anfangszustand – Ergebniszustand In Kombination mit einem Bewegungsschema stehen die einzelnen Elemente des Ursprung-Weg-Ziel-Schemas alle gleichermaßen für uns im Vordergrund, d.h. sie sind in gleichem Maße prominent (siehe Abb.1). Deswegen können sie auch unabhängig voneinander zum Ausdruck gebracht werden: Der Apfel fällt vom Baum („Ursprung“) oder Der Apfel fällt ins Gras („Ziel“) oder in einer Kombination dieser Einzelschemata: Der Apfel ist vom Baum ins Gras gefallen („Ursprung-Ziel“). SYNTAX 93 Abbildung 1. Gleiche Prominenz von Ursprung und Ziel im Bewegungssschema Der Apfel fällt vom Baum. Der Apfel fällt ins Gras. Interessant ist, dass in diesem Apfel-Beispiel der Weg für uns nicht in gleichem Maße prominent ist wie Ursprung und Ziel. Man wird wohl kaum sagen ??Der Apfel fällt den Baum hinunter/herunter. Das würde bedeuten, dass er am Stamm entlang nach unten kullert, ihn also dauernd berührt. Für uns ist aber eher von Bedeutung, ob ein Apfel oben am Baum hängt oder als Ergebnis des Fallens unten im Gras liegt. Anders bei einer menschlichen Handlung. Hier können wir auch den Weg hervorheben: Der Junge klettert auf den Baum (Ziel hervorgehoben) vs. Der Junge klettert den Baum hinauf (Weg hervorgehoben). Mit einem Handlungsschema wird, wie gesagt, ein willensgeleitetes Handeln beschrieben, das auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausgerichtet ist. Wir interessieren uns deshalb sehr viel stärker für das Ergebnis als für den Anfangspunkt der Handlung. Wenn also eine menschliche Handlung involviert ist, dann ist das Ziel prominenter als der Ausgangspunkt. Ein Satz wie *Der Einbrecher kletterte von der Terrasse aus erscheint merkwürdig, weil der Ursprung, wie er durch von konstruiert wird, nur ein Punkt oder eine Fläche ist und auch einen Weg oder ein Ziel erfordert. Dagegen wird durch aus die Vorstellung ausgedrückt, dass der Ursprung in einem „Behälter“ (einem geschlossenen dreidimensionalen Raum) liegt. Dies reicht zur Orientierung aus: Er kletterte aus dem Küchenfenster. Das Ziel kann hingegen alleine auftreten: Der Einbrecher kletterte auf den Balkon klingt ganz natürlich, und die Frage, von wo aus er dorthin kletterte, ist nicht so wesentlich. In zeitlichen Zusammenhängen findet ein ähnliches Prinzip Anwendung. In Zusammenspiel mit einem Vorgangsschema können sowohl Ursprungs- oder Weg- als auch Zielelemente ohne Unterschied in ihrer Prominenz für sich allein auftreten: Die laute Party ging dann von zwei Uhr an (Anfangspunkt), Der ganze Krach ging bis um zwei (Endpunkt). In einem Handlungsschema ist eine menschliche Aktion beteiligt. Auch hier wird eher der Endpunkt als der Ausgangspunkt explizit genannt werden. Sie suchten von früh morgens bis um Mitternacht oder Sie suchten bis um Mitternacht klingt natürlicher als ?Sie suchten ab Mittag/von mittags an. Halten wir also fest, dass für das Ursprung-Weg-Ziel-Schema in der alltäglichen Erfahrung ganz offenbar eine Hierarchie gilt: für menschliche Handlungen 94 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT ist das Ziel wesentlich wichtiger als der Ursprung, und Ursprung wie Ziel sind wichtiger als der Verlauf. Wir wollen diese Hierarchie als das Ziel-vor-Ursprung-Prinzip bezeichnen. Zudem kann in abstrakten Zusammenhängen wie (8e,f) lediglich der Ergebniszustand alleine auftreten, nicht der Ausgangszustand: Das Wetter wechselte zu sonnigen 18 Grad, aber nicht *Das Wetter wechselte von nieseligen 12 Grad. Auch hier kommt das Ziel-vor-Ursprungsprinzip zum Tragen: uns interessieren eher zukünftige als vergangene Wetterverhältnisse. 4.2.7 Das Übertragungsschema Das Übertragungsschema besteht – ebenso wie das Bewegungsschema – aus der Kombination je zwei verschiedener Schemata: entweder aus dem Besitzschema und dem Vorgangsschema oder aus dem Handlungsschema und dem Bewegungsschema. Das Übertragungsschema impliziert zwei unterschiedliche Zustände: einen Anfangszustand, bei dem ein Teilnehmer A etwas besitzt und es an einen anderen Teilnehmer B weitergibt, sowie den Ergebniszustand, der angibt, dass sich die weitergegebene Sache nun im Besitz des Teilnehmers B befindet. Die folgenden Beispiele sollen dieses Übertragungsschema erläutern helfen (9): (9) a. b. c. d. Jana hat ihrer Kollegin das Buch gegeben. Jana hat das Buch an ihre Kollegin weitergegeben. Jana hat der Tür einen neuen Anstrich gegeben. *Jana hat einen neuen Anstrich an die Tür gegeben. In (9a) wie auch in (9b) hat zunächst Jana das Buch und gibt es dann ihrer Kollegin. Als Ergebnis befindet sich nun diese im Besitz des Buches. Beide Sätze (9a,b) geben das Übertragungsschema sprachlich wieder. Doch besteht ein kleiner Bedeutungsunterschied. Das Satzmuster in (9a) mit indirekten Objekt drückt aus, dass der zweite Teilnehmer nun der neue Besitzer des Buches ist, zumindest aber der Empfänger. In Satz (9b) ist Janas Kollegin nicht die neue Besitzerin, sie bekommt das Buch nur vorübergehend. Das Verb weitergeben lässt kein Objekt im Dativ zu, sondern nur eine präpositionale Ergänzung im Akkusativ. Mit an ihre Kollegin wird die Prominenz des Zieles ausgedrückt, nicht die des Empfängers. In der abstrakteren Bedeutung in (9c) wird die gleiche Satzkonstruktion wie in (9a) verwendet – als Ergebnis des Anstreichens wird die Farbe Teil der Türe, d.h. die Türe erscheint in der semantischen Rolle des Empfängers. Satz (9d) ist grammatikalisch nicht korrekt, weil die Tür als unbelebter Empfänger nicht etwas vorübergehend in Empfang nehmen kann. Die Hauptereignisschemata mit ihren Teilnehmerrollen lassen sich zusammenfassend wie in Übersicht 3 darstellen. SYNTAX 95 Übersicht 3. Rollenkonfigurationen in grundlegenden Ereignisschemata Teilnehmer in Teilnehmerrollen erster zweiter dritter Essivschema Patiens Essiv Vorgangsschema Patiens Patiens/ -Handlungsschema Agens Patiens/ -Erfahrungsschema Erfahrungszentrum Patiens Besitzschema Besitzer Patiens Bewegungsschema (Agens) Patiens Ziel Übertragungsschema Agens Empfänger Patiens Ereignisschemata 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 4.3 Hierarchische und lineare Struktur von Sätzen Die Wortstellung innerhalb eines Satzes spiegelt auf sprachlicher Ebene wider, wie auf der konzeptuellen Ebene die Teilnehmer eines Ereignisses miteinander in Beziehung stehen. Diese lineare Struktur ist allerdings nur ein Aspekt der komplexen Struktur von Sätzen. In einem Satz bestehen darüber hinaus auch noch hierarchische Beziehungen. Von den Bestandteilen des Satzes, die man auch als Satzkonstituenten bezeichnet, stehen einige mit bestimmten Konstituenten in einem engeren Zusammenhang als mit anderen. So gehören Verb (V) und Objekt (O) sehr eng zusammen. Sie bilden die Verbalphrase und stehendem Subjekt gegenüber. Wir werden nun die komplexeren Aspekte auf allen hierarchischen Ebenen eines Satzes näher betrachten. 4.3.1 Die hierarchische Struktur der Satzkonstituenten Mithilfe der Sprache vollbringen wir eine erstaunliche Leistung: die verschiedenen Ebenen des Denkens werden in gesprochener oder geschriebener Sprache linear – d.h. in räumlicher bzw. zeitlicher Abfolge – abgebildet. Bevor wir nun zu der Frage kommen, wie die hier dargestellten konzeptuellen Ereignisschemata durch die sprachliche Struktur abgebildet werden, müssen wir zunächst einmal betrachten, wie dieser Linearisierungsprozess verläuft. Wie Menschen Ereignisse wahrnehmen, wird teilweise auch durch ihre Sprache beeinflusst. In verschiedenen Sprachen nimmt der Linearisierungsprozess die unterschiedlichsten Formen mit den unterschiedlichsten Ergebnissen an. Selbst in so eng miteinander verwandten Sprachen wie Deutsch, Niederländisch, Englisch und Französisch lassen sich erhebliche Unterschiede erkennen: (10) a. b. c. d. Er hat sie seiner Schwester gegeben. Hij heeft ze (aan) zijn zuster gegeven. He has given them to his sister. Il les a donnés à sa sœur. 96 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Im Vergleich dieser vier Sprachen gibt es in einem solchen Satz neun verschiedene Positionen für die einzelnen Satzkonstituenten. Jede der vier Sprachen macht von diesen Positionen auf eine andere Weise Gebrauch: Übersicht 4. Unterschiedliche Positionen innerhalb der linearen Satzstruktur S Deutsch Er Pro. HV hat Niederl. Hij heeft Englisch He Franz. Il has a les Pro. IO sie seiner Schwester ze zijn zuster Part. given donnés Pro. them Erg. Part. gegeben (aan zijn zuster) to his sister à sa sœur gegeven (S = Subjekt, Pro.= Pronomen, HV = Hilfsverb, Part. = Partizip, Erg. = Ergänzung) In diesen vier Sprachen ist das pronominale Objekt die beweglichste Konstituente, die in eine der Leerstellen der linearen Satzstruktur eingefügt werden muss. Die unbeweglichste Konstituente nach dem Subjekt ist das Hilfsverb. Im Deutschen und im Niederländischen gibt es die so genannte Satzklammer, mit der das Hilfsverb und das Vollverb ein indirektes Objekt bzw. eine Ergänzung (Niederländisch) umklammern. Im Englischen und Französischen zeigt sich ein nahezu entgegengesetztes Strukturierungsprinzip: hier kommen Hilfsverb und Partizip nicht getrennt voneinander vor. Im Französischen kann das pronominale Objekt auch vor dem Hilfsverb stehen. In die Klammer können außerdem nicht nur ein einzelnes Objekt, sondern viele andere Konstituenten eingefügt werden: (11) Gestern hat er Anne nach einem heftigen Streit, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, alle ihre Briefe zurückgegeben. Natürlich spielt die Struktur einer Sprache bei der Kommunikation von Bedeutung eine viel wichtigere Rolle. Es handelt sich nicht bloß um einen Strukturrahmen mit Leerstellen, in die bestimmte Konstituenten eingesetzt werden können. Wenn ein Sprecher des Deutschen oder des Niederländischen das Hilfsverb hat bzw. heeft in dem unter (11) gegebenen Satz hört, so wird er aufgrund seines grammatischen Wissens um die „Klammerregel“ erwarten, dass im weiteren Verlauf des Satzes ein Verb im Partizip auftritt (wie gegeben), mit dem zusammen das Hilfsverb eine Kompositionseinheit bildet. Je nachdem, ob das Hilfsverb haben oder sein verwendet wird, kann er darüber hinaus eine bestimmte Art der Verbalphrase erwarten, mit der bestimmte Teilnehmerrollen einhergehen: er hat etwas gegeben, gelesen usw. vs. er ist gekommen, gegangen, gerannt. Ganz allgemein gesagt muss ein Hörer bei der Verarbeitung eines Satzes dessen Kompositionsstruktur erkennen. Sätze sind nicht nur linear, sondern auch hierarchisch geordnet – ihre Konstituenten liegen auf unterschiedlichen grammatischen Ebenen. Niedere Konstituenten werden dabei zu höheren Konstituenten zusammengesetzt. So lässt sich die Struktur des Satzes Er möchte Petra Blumen schenken wie in Abbildung 2 mit einem Baumdiagramm darstellen. SYNTAX 97 Abbildung 2. Baumdiagramm eines Satzes HIERARCHISCHE STRUKTUR: Satz Nominalphrase LINEARE STRUKTUR: Prädikatsphrase Er Hilfsverb Er Nominalphrase möchte Petra Subjekt Verbalphrase Hilfsverb ind. Objekt Nominalphrase Verb Blumen schenken dir. Objekt Verb Das Baumdiagramm dieses Satzes veranschaulicht eine dreistufige hierarchische Struktur: auf der untersten Ebene werden das Verb schenken und die Nominalphrasen Petra und Blumen in einer Verbalphrase miteinander in Beziehung gesetzt. Auf der nächsthöheren Ebene ist diese Verbalphrase mit einem Hilfsverb verbunden. Das Ergebnis dieser Verbindung aus dem Hilfsverb möchte und der Verbalphrase Petra Blumen schenken ist eine Prädikatsphrase, die auf der höchsten Ebene der hierarchischen Satzstruktur mit der Nominalphrase Er in Beziehung steht. Außerdem zeigt Abb.3, dass Pronomen in unterschiedlichen Positionen zwischen den Hauptkonstituenten des Satzes (Subjekt, Hilfsverb, Verbalphrase) eingesetzt werden können. Die lineare Struktur S-HV-IO-O-V ist damit nur eine der möglichen Satzmuster, die im Deutschen zur Verfügung stehen. 4.3.2 Die lineare Abfolge im einfachen Satz: Satzmuster Die Grammatik des Deutschen lässt – ebenso wie die Grammatiken aller übrigen natürlichen Sprachen – nur bestimmte Grundmuster des Satzbaus zu. Unter Satzmustern versteht man hierbei die strukturellen Rahmen, die für die Grundtypen von Sätzen in einer Sprache existieren. Sie beschreiben die grammatische Struktur einfacher Sätze, die lediglich aus den obligatorischen Satzelementen bestehen. Im Deutschen gibt es sechs Haupttypen von Satzmustern, die in Übersicht 5 aufgeführt sind. Diese Satzmustertypen zeichnen sich durch unterschiedliche Kombinationen der fünf grundlegenden funktionalen Konstituenten aus, nämlich Subjekt, Verb, direktes Objekt, indirektes Objekt und Ergänzung. Alle Satzmuster haben ein Subjekt und ein Verb. Das Subjekt ist diejenige Komponente, auf das sich das Verb bezieht, d.h. die Komponente, über die etwas in einer Prädikatsphrase ausgesagt (prädiziert) wird. Das direkte Objekt ist die zweit-, das indirekte Objekt die drittwichtigste Nominalphrase. Satzmuster mit einem – obligatorischen oder fakultativen – direkten Objekt sind transitiv. Satzmuster, in denen kein direktes Objekt vorkommen kann, und zwar unabhängig davon, ob andere Objekte (Dativobjekte, Genitivobjekte oder Präpositionalobjekte) vorkommen können, bezeichnet man als intransitiv. Ergänzungen sind neben Subjekt sowie direktem 98 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT und indirektem Objekt notwendige Konstituenten und umfassen auch verbalartige Strukturen, die nach dem Verb stehen, wie zu- und dass-Ergänzungen (Der alte Mann versucht, über die Straße zu gehen; Er sieht, dass er jetzt nicht über die Straße gehen kann). Übersicht 5. Grundlegende Satzmuster deutscher Aussagesätze a. Boris S ist V-kop ein toller Typ. Erg. b. Boris S grinste. V c. Boris S lud V uns alle O ein. V-Part (transitives Muster) d. Wir S schenkten V Boris IO ein Ticket. O (ditransitives Muster) e. Boris S gehört V zu einem Verein. Erg. f. Boris S nahm V das Flugzeug O (kopulatives Muster) (intransitives Muster) (Ergänzungsmuster) nach Paris. Erg. (transitives Ergänzungsmuster) (S = Subjekt, V = Verb, V-kop = kopulatives Verb, O = direktes Objekt, IO = indirektes Objekt, Erg. = Ergänzung) a) b) c) d) e) f) Das kopulative Muster unterscheidet sich von allen übrigen Mustern durch die Funktion des kopulativen Verbs sein. Es verbindet lediglich das Subjekt mit einer Ergänzung. Das intransitive Satzmuster besteht nur aus einem Subjekt und einem Verb. Das transitive Muster macht ein direktes Objekt erforderlich, das in einem passivischen Satz zum Subjekt werden kann: Wir alle wurden von Boris eingeladen. Das ditransitive Muster hat ein direktes wie auch ein indirektes Objekt. Das Ergänzungsmuster hat in der Regel eine Präpositionalphrase als notwendige Ergänzung. Im transitiven Ergänzungsmuster verschmilzt ein transitives mit einem Ergänzungsmuster (Boris nahm das Flugzeug nach Paris). Jedes Satzmuster hat eine abstrakte Bedeutung. Wenn wir ein bestimmtes Ereignis beschreiben wollen, verwenden wir das Muster, das uns am geeignetsten erscheint, unsere Vorstellung auszudrücken. Wenn wir beispielsweise einen bestimmten Ort erreichen wollen, so wird zum Ausdruck unserer Absicht höchstwahrscheinlich das Ergänzungsmuster (12a) ausgewählt werden. Verstehen wir das Ereignis als eine besondere Kraftanstrengung und wollen wir den mühevollen Aufstieg betonen, entspricht eher (12b) unserem Verständnis: (12) a. Morgen wollen wir auf das Rinerhorn klettern. b. Morgen wollen wir das Rinerhorn erklettern. (Ergänzungsmuster) (transitives Muster) SYNTAX 99 Die in einer Sprache vorhandenen Satzmuster bilden das Arsenal sprachlicher Formen für die grundlegenden Ereignisschemata. Natürlich ist die Anzahl der wahrnehmbaren Einzelereignisse enorm groß. Wenn wir etwas darüber aussagen wollen, wie wir ein Ereignis sehen, sind wir gezwungen, dieses Ereignis im Rahmen eines der grundlegenden Satzmuster bzw. einer Kombination aus diesen Mustern auszudrücken, die uns in unserer Sprache zur Verfügung stehen. Die Beziehung zwischen Ereignisschemata und Satzmustern ist systematisch. Die Essivrolle kann nur in einem kopulativen Muster auftreten (Mark ist ein guter Kumpel) oder in einem transitiven Muster (Ich halte Mark für einen guten Kumpel). Das Vorgangs- und das Handlungsschema können beide sowohl in einem transitiven als auch in einem intransitiven Muster auftreten, und zwar abhängig davon, ob der Energiefluss auf eine andere Entität gerichtet ist oder nicht. Im ersten Fall wird das transitive Muster verwendet (Der Tennisschläger traf das Fenster oder Der Mann strich die Tür). Hier sind sowohl das Fenster als auch die Tür Objekte, auf die sich die Handlungsenergie richtet. Im zweiten Fall wird das intransitive Muster verwendet (Der Hund bellt oder Der Junge rennt). In diesem Fall richtet sich die vom Jungen bzw. vom Hund aufgebrachte Energie auf kein besonderes Objekt. Das Erfahrungsbzw. das Besitzschema umfassen in der Regel zwei Entitäten: eine in der Rolle des Experiens bzw. des Besitzers und eine Entität, die erfahren bzw. besessen wird. Folglich ist in den meisten Fällen ein transitives Muster notwendig (Er spürte einen stechenden Schmerz. Sie hat ein schönes Haus). Sowohl Bewegungsschema als auch Übertragungsschema können einen Ursprung, einen Weg und ein Ziel notwendig machen. Diese werden durch ein intransitives Ergänzungsmuster (Ich klettere aufs Dach) oder ein transitives Ergänzungsmuster ausgedrückt (Wir schickten den Brief an sie). Wenn als Ergebnis der Bewegung eines Objektes dieses Objekt in den Besitz eines Menschen übergeht, wird das ditransitive Muster verwendet wie in Wir schenkten ihr Rosen oder Wir gaben der Tür einen neuen Anstrich. Die hier dargestellten Fälle sind die regulären Fälle, in denen Ereignisschema und Satzmuster übereinstimmen. Es gibt hunderte von Fällen, die von diesen prototypischen Fällen abweichen, auf die wir hier aber nicht eingehen können. Ereignisse müssen nicht nur in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt verankert werden – ein Sprecher weist auch auf bestimmte Aspekte eines Ereignisses hin, über das er spricht. Zum Beispiel deutet er an, ob es sich bei seiner Äußerung um eine Feststellung, eine Frage oder eine Aussage handelt. Zudem muss er anzeigen, ob seine Äußerung Aspekte der Realität wiedergibt oder nicht. Er zeigt die Zeit an, zu der dieses Ereignis stattfindet, wie dieses Ereignis zu anderen Ereignissen in Beziehung steht und ob das Ereignis als andauernd betrachtet wird. Viele dieser Faktoren können durch grammatische Faktoren ausgedrückt werden, die man als Verankerungselemente bezeichnet. Im folgenden Abschnitt werden wir uns mit diesen Elementen näher beschäftigen. 100 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 4.4 Die verankernden Elemente eines Satzes Unterschiedliche Typen von Ereignissen können also durch einige wenige grundlegende Satzmuster ausgedrückt werden. Doch reicht die Wahl eines der Situation angemessenen Satzmusters noch nicht aus, um unser Verständnis einer Situation jemandem mitteilen zu können. Der Hörer/Leser braucht zur Interpretation auch Hinweise darauf, wo sich die Teilnehmer eines Ereignisses befinden und wann das Ereignis stattfindet. Ein Ereignis mit seinen Teilnehmern muss auf die Erfahrungswelt des Sprechers bezogen, es muss in dessen Erfahrung verankert (engl. grounded) sein, damit es erfolgreich kommuniziert werden kann. Dazu wird in der Regel die sprechende Person als räumlicher und der Moment ihres Sprechens als zeitlicher Bezugspunkt gewählt. Ein Demonstrativpronomen wie diese (dieser, dieses) zeigt beispielsweise auf Dinge in unmittelbarer räumlicher oder psychologischer Nähe des Sprechers; auf weiter entfernte Dinge wird mit jener, dort verwiesen. Andere Möglichkeiten, dem Hörer Dinge zugänglich zu machen, umfassen den Gebrauch von Eigennamen, von Personalpronomina (ich, du, wir) oder von anderen definiten Nominalphrasen (d.h. von solchen, die einen bestimmten Artikel oder ein Demonstrativpronomen enthalten), mit denen auf die besprochenen Dinge Bezug genommen wird, wie in dem Satz Marion ist an der Tür. Diesen Prozess, in dem mit sprachlichen Mitteln auf Dinge in der Wirklichkeit bzw. in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt gezeigt wird, bezeichnet man als Referenz (für eine ausführlichere Behandlung dieses Themas siehe Kapitel 8). Wenn Sprecher sich etwas über ein Ereignis mitteilen wollen, müssen sie noch weitere Informationen über das Ereignis geben, damit es angemessen verstanden werden kann. Handelt es sich bei der Äußerung um eine Tatsachenäußerung, eine Frage, oder einen Befehl? Spiegelt die Äußerung die Realität wider oder bezieht sie sich auf vorstellbare oder mögliche Ereignisse? Wie ist das Ereignis zeitlich einzuordnen, und in welchem zeitlichen Bezug steht es zu anderen Ereignissen? Wird es als abgeschlossen oder als andauernd betrachtet? Ein großer Teil von Informationen zu diesen wesentlichen Fragen werden durch grammatische Morpheme ausgedrückt, die man auch als Verankerungselemente (engl. grounding elements) bezeichnet. Im folgenden Abschnitt werden wir uns mit solchen Elementen zur Verankerung von Ereignissen in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers beschäftigen. Die konzeptuelle Verankerung eines Ereignisses durch Verankerungselemente lässt sich anhand eines Modells veranschaulichen: das Ereignis bildet den Kern, der von unterschiedlichen Schichten umhüllt ist. Bei unserer Betrachtung dieser einzelnen Schichten der Verankerung wollen wir mit der äußersten Schicht beginnen, um dann Schicht für Schicht zum Kern, d.h. dem Ereignis, vorzudringen. (siehe Abb. 3 gegen Ende dieses Abschnitts 4.4). 4.4.1 Kommunikative Funktion: Satzmodus Jeder Satz hat eine kommunikative Funktion. Der Sprecher führt mit seiner Äußerung einen Sprechakt aus, durch den er eine bestimmte kommunikative SYNTAX 101 Absicht ausdrückt. Der Sprecher will z.B. etwas aussagen, Informationen bekommen oder jemanden dazu bewegen, etwas zu tun: (13) a. Susanne hat jetzt endlich den Müll runtergebracht. b. Hat Susanne jetzt endlich den Müll runtergebracht? c. Bring jetzt endlich den Müll runter! Diese drei Sätze beziehen sich in gewisser Weise alle auf dasselbe Ereignis. Sie stehen jeweils in einem anderen Satzmodus und drücken unterschiedliche kommunikative Absichten des Sprechers aus: mit (13a) äußert der Sprecher aus seiner Perspektive eine Mitteilung, mit (13b) eine Frage und mit (13c) eine Aufforderung. Diese unterschiedlichen kommunikativen Funktionen werden oft durch Unterschiede in der Wortstellung angezeigt, und zwar insbesondere durch die Stellung des Subjekts und des Hilfsverbs, d.h. die wichtigste Funktion wird auf der höchsten Ebene der hierarchischen Satzstruktur signalisiert (siehe Abbildung 2). Die „normale“, am häufigsten auftretende Wortstellung ist die des Aussagesatzes oder auch deklarativen Satzes, nämlich SOV, bzw. mit Hilfsverb SHvOV (13a). Mit der Satzstellung des deklarativen Satzes werden Tatsachenaussagen ausgedrückt. Informationsfragen kommen durch interrogative Satzstellung zum Ausdruck – gegenüber der deklarativen Satzstellung wechseln Subjekt und Verb bzw. Hilfsverb ihre Position innerhalb des Satzes (13b). Zum Ausdruck von Aufforderungen kann der Imperativ verwendet werden: das Subjekt wird dann nicht genannt (13c). In Kapitel 7 werden wir noch sehen, dass Satzmodus und kommunikative Funktion nicht eindeutig aufeinander bezogen sein müssen, d.h. im alltäglichen Sprachgebrauch finden sich vielfältige andere Kombinationen. Eine Aufforderung kann nicht nur durch die prototypische Verwendung des Imperativs, sondern auch durch deklarative oder interrogative Sätze ausgedrückt werden: (13) d. Der Müll muss auch mal wieder runtergebracht werden. e. Kannst du bitte den Müll runterbringen? Sie werden beispielsweise gewählt, um Höflichkeitsaspekten in der Kommunikation (siehe Kapitel 7) Rechnung zu tragen (13d-e). So wird in (13d) die direkte Äußerung einer Bitte vermieden, indem die Notwendigkeit (also der Grund für die Bitte) hervorgehoben wird. In (13e) wird die Angesprochene gefragt, ob sie die gewünschte Handlung ausführen kann – was ja bei einer expliziten Bitte vorausgesetzt wird. Beide Äußerungen dienen dazu, der Angesprochenen mit der Bitte nicht zu nahe zu treten. 4.4.2 Die Einstellung des Sprechers: Modalität Die nächste Schicht unserer Satzzwiebel steht für die Einstellung des Sprechers zu dem von ihm beschriebenen Ereignis. Er kann signalisieren, dass er ein Ereignis für tatsächlich wahr oder für möglich hält. Die Einstellung des Sprechers zu dem Status eines Ereignisses (tatsächlich/möglich) wird grammatikalisch durch 102 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT die Modalität eines Satzes ausgedrückt. Im Deutschen kann die Modalität sowohl durch den Verbmodus (Indikativ und Konjunktiv) als auch durch Modalverben (müssen, , können, mögen, sollen, wollen, dürfen) sowie durch Modalwörter (vielleicht, angeblich, anscheinend, eventuell, sicherlich, wohl etc.) ausgedrückt werden. Wenn wir über Ereignisse reden, die tatsächlich stattfinden oder stattgefunden haben, so verwenden wir die Wirklichkeitsform, die man auch als Indikativ bezeichnet (14a). Sie ist der grammatikalisch unmarkierte Normalfall. Der Sprecher kann aber auch explizit signalisieren, dass er das Eintreffen eines Ereignisses nicht für wahr, sondern für möglich hält, oder – rein hypothetisch – für möglich gehalten hätte. Dies sind die speziellen oder markierten Fälle: (14) a. Petra hat im Lotto gewonnen und geht nicht mehr zur Arbeit. b. Jutta sagte, Petra habe im Lotto gewonnen und gehe nun nicht mehr zur Arbeit. c. Wenn ich doch nur einmal im Lotto gewänne/gewinnen würde! d. Wenn ich im Lotto gewonnen hätte, säße ich jetzt bestimmt nicht hier. Die Möglichkeit eines Ereignisses kann im Deutschen – wie auch in vielen anderen Sprachen – zudem durch eine Reihe von Modalverben ausgedrückt werden: werden, können, sollen, müssen. Jedes dieser Verben kann jeweils eine oder mehrere leicht unterschiedliche Haltungen des Sprechers gegenüber der Möglichkeit des Auftretens eines Ereignisses (14a,b) bzw. einer gerade stattfindende Situation ausdrücken (14c,d). Modalverben wie können und müssen können mehrere verschiedene Einstellungsarten des Sprechers darstellen. Mit (15a) und (15b) drückt der Sprecher aus, welches Ereignis seiner Meinung nach geschehen soll – können drückt (u.a.) einen schwächeren, müssen einen stärkeren Wunsch aus. Beide bezeichnen deontische Modalität. (15) a. b. c. d. e. Chris, du kannst jetzt gehen. Chris, du musst jetzt gehen. Chris kann bei einem Freund sein. Chris muss bei einem Freund sein. Chris soll bei einem Freund sein. (Erlaubnis) (Verpflichtung) (Vermutung) (Schlussfolgerung) (Aussage eines Dritten) Mit (15c) und (15d) drückt der Sprecher den Grad aus, zu dem er sich des möglichen Eintreffens eines Ereignisses sicher sein kann – hier drückt kann eine Vermutung und damit einen schwächeren, muss hingegen einen stärkeren Grad der Sicherheit über das tatsächliche Geschehen eines Ereignisses aus. Beide bezeichnen epistemische Modalität. In (15e) signalisiert der Sprecher, dass er von Dritten eine Information bekommen hat, deren Wahrheitsgehalt er selbst nicht überprüfen kann. SYNTAX 103 4.4.3 Sprechzeit, Ereigniszeit und Betrachtzeit: Tempus Durch die grammatische Kategorie des Tempus werden Ereignisse konzeptuell zu einem Zeitpunkt in Bezug gebracht, der sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer eindeutig zu erkennen ist. Dieser Zeitpunkt ist die Sprechzeit, die von der Ichhier-jetzt-Situation der Kommunikation abhängig ist. Sie bildet das deiktische Zentrum, relativ zu dem Ereignisse zeitlich verankert werden. Ein Ereignis nimmt ein bestimmtes Zeitintervall ein, das man als Ereigniszeit bezeichnet. Ereignisse können in der Sprechzeit selbst (in der Gegenwart), vor ihr (also in der Vergangenheit) sowie möglicherweise auch nach ihr (d.h. in der Zukunft) stattfinden. Die zeitlichen Funktionen des Tempus lassen sich sehr gut anhand eines Zeitstrahls verdeutlichen (16a-f). Wenn ein Ereignis zum Zeitpunkt des Sprechens stattfindet und zeitlich nach rechts auf dem Strahl nicht begrenzt ist, wird dies durch das Präsens ausgedrückt (16a). Liegt die Ereigniszeit vor der Sprechzeit und ist das Ereignis zur Sprechzeit abgeschlossen oder reicht gegebenenfalls bis an die Sprechzeit heran, so wird das Perfekt verwendet (16b). Die Unterscheidung zwischen Sprechzeit und Ereigniszeit reicht zur zeitlichen Kategorisierung allerdings noch nicht aus, denn wir wollen ein Ereignis evtl. in Bezug auf einen weiteren Zeitpunkt bzw. eine weitere Zeitspanne darstellen. Dies geschieht typischerweise, indem wir einen Zeitpunkt bzw. ein Ereignis als Betrachtzeit annehmen, von der wir dann in der Zeit voraus- bzw. zurückblicken. So bezeichnen wir vom heutigen Tag aus gesehen den Tag vor gestern als vorgestern. Dabei ist gestern die konzeptuell prominente Betrachtzeit, über die wir den Tag davor zur Sprechzeit in Beziehung setzen. Auch auf grammatischer Ebene werden Ereignisse über eine Betrachtzeit in Relation zur Sprechzeit gesetzt und so zeitlich verankert. (16) Prototypische Bedeutungen der deutschen Tempora (vgl. Eisenberg 1994:115ff) a. Präsens Es regnet. S,B,E b. Perfekt Es hat geregnet. E B,S d. Futur I Es wird regnen (wenn wir ankommen). S d. Präteritum Es regnete. e. Plusquamperfekt Es hatte (gerade) geregnet (als wir ankamen). f. Futur II Es wird geregnet haben, wenn wir ankommen. (S = Sprechzeit, B = Betrachtzeit, E = Ereigniszeit) E E,B S B S S B,E E B 104 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Die unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhänge sind also durch unterschiedliche Verhältnisse zwischen Sprechzeit, Betrachtzeit und Ereigniszeit gekennzeichnet und werden grammatisch teilweise durch unterschiedliche Tempora ausgedrückt. Bei der prototypischen Verwendung des Präsens fallen Sprechzeit, Betrachtzeit und Ereigniszeit zusammen. Beim Perfekt liegt die Ereigniszeit vor der Sprechzeit. Die Sprechzeit ist mit der Betrachtzeit identisch. Ebenso wie das Perfekt (16b), drückt auch das Präteritum (16d) aus, dass die Ereigniszeit vor der Sprechzeit liegt. Worin besteht also der Unterschied? Beim Präteritum (16d) wird das vergangene Ereignis mit Bezug auf ein weiteres Ereignis verstanden, das innerhalb der Ereigniszeit liegt (als wir am Urlaubsort ankamen). Das Präteritum drückt hier also aus, dass die Ereigniszeit von einem Zeitpunkt aus verstanden wirdder innerhalb der Ereigniszeit liegt. Wenn die Ereigniszeit vor der Betrachtzeit und beide vor der Sprechzeit liegen, wird dies durch das Plusquamperfekt (16e) ausgedrückt. Liegt die Ereigniszeit vor der Betrachtzeit und liegen beide nach der Sprechzeit, so verwenden wir das Futur II (16f). Die Betrachtzeit wird oft durch zusätzliche lexikalische Mittel wie Adverbien (heute, gestern, morgen) bestimmt, wodurch die Relation der Betrachtzeit zu Sprechund Ereigniszeit abweichend vom unmarkierten Normalfall relativiert werden kann und so weitere Bedeutungsfacetten entstehen wie in Es wird regnen, heute wird es regnen, morgen regnet es etc. Wir können jedoch an dieser Stelle nicht auf diese vielfältigen Facetten eingehen, sondern nur die prototypischen Bedeutungen der einzelnen Tempuskategorien darstellen. Abschließend lässt sich noch sagen, dass Ereignissen der Gegenwart und der Vergangenheit ein hoher Realitätsstatus zugemessen wird, während (viele) zukünftige Ereignisse nur als wahrscheinlich oder möglich eingestuft werden. 4.4.4 Ereignisse aus der Außen- und Binnenperspektive betrachtet: perfektiver, imperfektiver und progressiver Aspekt Das Tempus setzt nicht nur Ereignisse zeitlich über die Beziehung von Ereigniszeit über Betrachtzeit zur Sprechzeit in Beziehung. Bei einer Reihe von so genannten durativen Verben wie regnen, reden, arbeiten oder schlafen ergibt sich noch ein weiterer Bedeutungsaspekt. Bei den Tempora Präsens, Präteritum und Futur I liegt die Betrachtzeit jeweils innerhalb der Ereigniszeit: Das Ereignis selbst wird aus einer Binnenperspektive betrachtet und als auf dem Zeitstrahl beidseitig offen / nicht geschlossen konstruiert – es wird nicht bestimmt, wann das Ereignis angefangen hat und wann es endet. Bei den Tempora Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II dagegen liegt die Betrachtzeit jeweils außerhalb der Ereigniszeit und begrenzt das Ereignis nach rechts auf dem Zeitstrahl. Diese beiden Bedeutungsaspekte von durativen Verben wie regnen oder schlafen bezeichnet man als perfektiven bzw. imperfektiven Aspekt. Der perfektive Aspekt entsteht durch eine Außenperspektive auf eine Kette von Ereignissen, der imperfektive Aspekt durch eine Binnenperspektive: einmal werden Ereignisse als abgeschlossen, einmal als nicht-abgeschlossen betrachtet. Aus einer Binnenperspektive heraus kann auch der interne Verlauf eines Ereignisses durch die Verwendung lexikalischer Ausdrücke wie gerade oder dabei sein zu + Infinitiv konstruiert werden. Dieser so genannte progressive Aspekt ist SYNTAX 105 im Deutschen nicht so stark grammatikalisiert wie im Englischen, wo eine besondere Verlaufsform, die progressive form (wie in Sheila is answering the phone), einer simple form (Sheila answers the phone) gegenübersteht. Satz (17b) würde nur als Bühnenanweisung oder zum Ausdruck von gewohnheitsmäßigen oder sich wiederholenden Ereignissen gebraucht werden, nicht aber zur Beschreibung eines Ereignisses, das zur Sprechzeit stattfindet. Auch im Deutschen kann der progressive Aspekt aber durchaus grammatisch konstruiert werden, indem standardsprachlich beim, im bzw. umgangssprachlich am mit einem substantivierten Infinitiv verknüpft werden: (17) a. Sheila is answering the phone. b. Sheila answers the phone. (18) a. b. c. d. Sie ist beim Telefonieren/Arbeiten. Sie ist am Telefonieren/Arbeiten. Schlaghosen sind wieder im Kommen. Sie hat telefoniert. Mit dem progressiven Aspekt in (18a, b, c) richtet der Sprecher seinen Blick auf den Verlauf des Ereignisses, den Anfangs- und Endpunkt des Ereignisses hat er dabei nicht im Blick. Das Ereignis wird ohne zeitliche Begrenzung aus einer Binnenperspektive heraus konstruiert. In (18d) verwendet der Sprecher hingegen einen nichtprogressiven Aspekt und konstruiert damit das Ereignis aus einer Außenperspektive: er nimmt das Telefonieren als klar abgegrenztes Gesamtereignis mit Anfangs- und Endpunkt in den Blick. Die einzelnen Aspekte der Verankerung eines Ereignisses in der Vorstellungund Erfahrungswelt des Sprechers sind wie die Kreise unseres Modells um einen Kern angeordnet: je enger sie konzeptuell mit dem Ereignis verbunden sind, desto näher sind sie zum Kern des Ereignisses hin angeordnet. 4.4.5 Die Verankerung von Ereignissen Ein Ereignis wird durch bestimmte grammatische Elemente auf die Erfahrung des Sprechers bezogen, d.h. in seiner Vorstellungs- und Erfahrungswelt verankert. Ein Ereignis umfasst verschiedene Kategorien der Verankerung, die sich, wie gesagt, in Analogie zum Aufbau einer Zwiebel erläutern lassen. In der Mitte steht das Kernereignis. Es wird von mehreren Schichten verankernder Elemente umgeben; jede Schicht wird von einer weiteren umfasst. Ein Satz wird durch Satzart, Modalität, Tempus und Aspekt in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers verankert. Die äußere Schale der Satzzwiebel bildet der Sprechakt, d.h. die kommunikative Funktion, in der ein Satz von einem Sprecher verwendet wird. In der Satzstruktur wird diese Intention als Satzmodus realisiert. Die nächste Schicht steht für die Einstellung des Sprechers zum beschriebenen Ereignis: entweder der Sprecher legt sich auf die Wahrheit des Gesagten fest (diese Normalsituation bleibt im Deutschen unmarkiert), oder er betrachtet das Eintreffen des Ereignisses als Möglichkeit und drückt dies im Satz durch die Modalität aus – was der 106 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT markierte Fall ist. Die nächste, tieferliegende Schicht betrifft die zeitliche Verankerung des Ereignisses mit Bezug auf den Moment des Sprechens. Die Sprechzeit bestimmt, welches Tempus im Satz gebraucht wird. Die innerste Schale bezieht sich auf den Verlauf des Ereignisses und wird durch den progressiven Aspekt ausgedrückt. Abbildung 3. Die Satzzwiebel: Verankerung von Ereignissen Sprechakt Sprechereinstellung Sprechzeit Betrachtperspektive Kernereignis perfektiver, imperfektiver, progressiver Aspekt Tempus Modalität Satzmodus Unser Satzzwiebelmodell zeigt also einen harten Kern (das eigentliche Ereignis) und die vielen Schichten mit grammatischen Elementen, die dieses Ereignis in der Erfahrung des Sprechers verankern. In unserem Modell sind die einzelnen Schichten nach dem Prinzip der Nähe angeordnet: je näher eine Schicht am Kern, desto enger stehen die betreffenden Verankerungselemente mit dem Kernereignis in Verbindung. 4.5 Zusammenfassung Die Syntax beschäftigt sich mit Sätzen, d.h. mit denjenigen sprachlichen Einheiten, in denen unsere Beschreibungen von Ereignissen mit unseren kommunikativen Absichten verknüpft sind. Diese beiden Aspekte werden in unserer allgemeinen Erfahrungswelt mit unserer konkreten Erfahrung der Realität des Hier und Jetzt verankert. Dieses Ganze wird in der linearen Struktur oder der Wortstellung des Satzes abgebildet. Die zu beschreibenden Ereignisse werden auf eine relativ kleine Menge von Ereignistypen reduziert und zusammen mit den Teilnehmern des Ereignisses in Form SYNTAX 107 von bestimmten Ereignisschemata ausgedrückt. Diese gründen auf der Anwesenheit oder der Abwesenheit einer Energieübertragung von einem Teilnehmer zum anderen. Die Energieübertragung geht typischerweise von einem Agens, d.h. einem aus eigenem Willen handelnden Teilnehmer, auf ein Patiens über, das die Energie empfängt. Dieser Energiefluss findet sich ebenso typischerweise sowohl im Handlungsschema als auch im Bewegungsschema und im Übertragungsschema. Das Vorgangsschema kann zwar ebenfalls einen gewissen Transfer von Energie von einem Teilnehmer zum anderen umfassen, doch wird dieser Energiefluss in der Regel nicht durch einen autonom handelnden Teilnehmer verursacht. Die völlige Abwesenheit von Energie ist charakteristisch für einen Zustand, der mit einem Essivschema, einem Besitzschema oder einem Erfahrungsschema ausgedrückt werden kann. Die semantischen Teilnehmerrollen treten in den einzelnen Schemata wie folgt auf: in einem Essivschema wird das Patiens in der Subjektposition mit einer Essivrolle verknüpft. Im Besitzschema wird ein Patiens einem Besitzer zugeordnet, und in einem Erfahrungsschema wird ein Patiens mit einem (menschlichen) Erfahrungszentrum (einem so genannten Experiens) assoziiert. Mit einem Übertragungsschema werden ein Agens, ein Empfänger und ein Patiens zueinander in Beziehung gesetzt. Ein Bewegungsschema ist eine Kombination aus einem Vorgangsschema und einem Handlungsschema mit einem Ursprung, einem Weg und/oder einem Ziel. In diesem Ursprung–Weg–ZielSchema gilt oft das Ziel–vor–Weg-Prinzip. Diese konzeptuellen Ereignisschemata und deren Teilnehmer werden in einen sprachlichen Rahmen gestellt, nämlich in die syntaktische Struktur eines Satzes mit einer hierarchischen und linearen Struktur. Im Zentrum dieser syntaktischen Einheit steht das Verb, das – oft in Verbindung mit einem (direkten) Objekt oder mit Ergänzungen – eine Verbalphrase bildet. Diese untere Ebene bildet zusammen mit Hilfsverbelementen eine Prädikatsphrase, die sich zusammen mit dem Subjekt (einer Nominalphrase) zu einem Satz verbindet. Diese hierarchische Struktur ist im Deutschen wie auch in vielen anderen Sprachen die Grundlage für eine kleine Anzahl von Satzmustern, die in unterschiedlicher Weise ein Subjekt über ein Verb mit einem direkten bzw. einem indirekten Objekt, oder mit einer Ergänzung verbinden. Diese fünf Konstituenten und der Typus des Verbs führen zu den Hauptsatzmustern. So ergeben sich das kopulative Muster mit dem Verb sein und einem Subjekt plus einer Subjektergänzung, das intransitive Muster mit einem Subjekt ohne direktes Objekt, das transitive Muster mit einem Subjekt und einem direkten Objekt, das ditransitive Muster mit einem Subjekt, einem direkten und einem indirekten Objekt, das Ergänzungsmuster mit einem Subjekt, einem direkten Objekt und einer Ergänzung sowie das transitive Ergänzungsmuster mit einem Subjekt, direkten und indirekten Objekt sowie einer Ergänzung. Diese syntaktischen Positionen berücksichtigen alle auf der konzeptuellen Ebene der Ereignisschemata möglichen Teilnehmer. Ereignisse sind in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers verankert. Diese Verankerung der Elemente eines Ereignisses geschieht ebenfalls über das Verb bzw. Hilfsverb. Sie konstituieren die drei Satzmodi, nämlich den deklarativen, den interrogativen sowie den imperativischen Modus, die wiederum kommunikative Funktionen des Aussagens, Fragens und Anweisens 108 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT signalisieren. Im unmarkierten Normalfall schätzt der Sprecher ein Ereignis als wahr ein, im markierten Fall sieht er das Ereignis als möglich an und drückt dies durch Mittel der Modalität aus. Mit einem Modalverb wie mögen bzw. müssen kann der Sprecher deontische Modalität (wie stark er will, dass ein Ereignis eintritt) oder epistemische Modalität (wie sicher er sich darüber ist, das ein Ereignis eingetreten ist bzw. eintritt) anzeigen. Schließlich sind Äußerungen auf die Position des Sprechers in Raum und Zeit zur Zeit des Sprechens bezogen, die so genannte Sprechzeit. Durch die Wahl eines Tempus (Präsens, Imperfekt, Futur) bezieht der Sprecher die Ereigniszeit auf die Sprechzeit (Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit). Dieser Bezug geschieht bei allen Tempora über eine Betrachtzeit. Ereignisse können durch Angabe einer Betrachtzeit (d.h. über den zeitlichen Bezug auf weitere Ereignisse) auf die Sprechzeit bezogen werden. Die Betrachtzeit dient dabei sozusagen als mentale Brücke zwischen Sprechzeit und zu beschreibender Ereigniszeit. Wenn Ereignisse durch so genannte durative Verben dargestellt werden, kann die Betrachtzeit auf dem Zeitstrahl nach rechts zur Sprechzeit hin begrenzt sein. In diesem Fall kann der Sprecher die Ereignisse aus einer Außenperspektive betrachten. Bei Tempora, durch die ein Ereignis als beidseitig offen konstruiert wird, kann er bei durativen Verben die Ausdehnung des Ereignisses in den Blick nehmen und damit in der Darstellung des Ereignisses eine Binnenperspektive einnehmen. Durative Verben können also sowohl einen perfektiven Aspekt haben, durch den das Ereignis als abgeschlossen konstruiert wird, als auch einen imperfektiven Aspekt der Nicht-Abgeschlossenheit. Schließlich kann ein Ereignis auch noch als im Verlauf befindlich konstruiert werden, was im Deutschen überwiegend durch lexikalische Ausdrücke wie gerade oder dabei sein (+ Infinitivform des Verbs) usw., aber auch grammatisch durch am + substantivierter Infinitiv möglich ist. 4.6 Leseempfehlungen Eine Einführung in die kognitive Grammatik der englischen Sprache geben Dirven & Radden (1999). Weitere Einführungen in die englische Grammatik mit kognitivfunktionaler Orientierung sind Givón (1993) sowie Haiman (ed.1985). Die Darstellung im vorliegenden Kapitel stützt sich auf Langacker (1987), (1991) und (1993). Newman (1996) analysiert exemplarisch ein Ereignisschema im Zusammenhang mit dem englischen Verb give. Janda (1993) analysiert grammatische Morpheme, z.B. Dativ und Instrumental. Das Ziel-vor-Weg-Schema beschreibt Ikegami (1987). Eine semantische Interpretation der Grammatik des Englischen und auch einzelner Aspekte einiger anderer Sprachen unternimmt Wierzbicka (1988). Von Polenz (1985) gibt eine Einführung in die deutsche Satzsemantik. Mit der Bedeutung des Kasus beschäftigen sich Willems (1997), mit temporalen Bedeutungen und Relationen Quintin et al. (1997). Eine umfangreiche Grammatik der deutschen Sprache aus funktional-semantischer/pragmatischer Perspektive ist Zifonun et al. (1997). Eine gut lesbare funktionale Betrachtung der deutschen Syntax ist Welke (2002). Weitere Grammatiken SYNTAX 109 der deutschen Sprache sind Duden (1998), Eisenberg (1998,1999) und Helbig & Buscha (2001). 4.7 Aufgaben 1. Welche Ereignisschemata und Teilnehmerrollen können Sie in den folgenden Sätzen ausmachen? (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) (i) (j) (k) (l) (m) Jürgen muss das Telefon reparieren. Es ist gestern runtergefallen. Mein Bruder ist Arzt. Er wandert nach Kanada aus. Er hat mir alle seine Bücher geschenkt. Er wird kein einziges Buch mitnehmen. Er glaubt, dass er sie dort bestimmt nicht braucht. Die Suppe kocht. Hier kocht der Chef. Der alte Wachhund gähnte und döste weiter. Die Zuhörer gähnten ganz demonstrativ. Die Zeugin hörte ein lautes Geschrei, aber sie hörte gar nicht hin. Sie sah schemenhaft, wie sich eine Gestalt näherte, schaute aber stur geradeaus und ging schnell weiter. (n) Er übertrug den Roman ins Deutsche. 2. Welche Unterart der Teilnehmerrolle Essiv wird jeweils in den folgenden Sätzen sprachlich repräsentiert? (a) (b) (c) (d) (e) (f) 3. Welche Schemata finden sich in den folgenden Beispielen? (a) (b) (c) (d) (e) (f) 4. Sie ist fünf Jahre älter als ihr Bruder. Sie ist meine Cousine. Ein Maultier ist weder ein Pferd noch ein Esel. Das ist immer noch mein Lieblingsbuch. Mein Kollege ist heute nicht im Büro. Es gibt immer noch sehr viele Probleme. Er beobachtete seine neuen Nachbarn sehr genau. Seine Nachbarn haben ihn dabei gesehen. Der Mathematiklehrer zeichnete ein Diagramm an die Tafel. Dann wischte er es aus. Er machte die Tafel nass. Dann trocknete er sie mit einem Lappen. Charakterisieren Sie die Besitzschemata in den folgenden Beispielen: (a) Haben Sie noch etwas von der Torte? 110 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (b) (c) (d) (e) (e) Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Sein neues Auto hat etwas sehr Elegantes. Möchten Sie noch ein Glas Whisky haben? Nein, danke, ich habe schon schreckliche Kopfschmerzen. Ich habe vielleicht auch noch einige Kopfschmerztabletten. 5. Welches hierarchische Prinzip lässt sich in den Beispielen in (8) erkennen (Ziel vor Ursprung, Ursprung vor Ziel oder Weg vor Ziel)? 6. Gibt es Ihrer Meinung nach zwischen den folgenden Beispielpaaren Bedeutungsunterschiede? Worauf würden Sie diese zurückführen? (a) Der Pfarrer las aus der Bibel. (a’) Der Pfarrer las die Bibel. (b) Ein berühmter Dichter hat früher in diesem Haus gewohnt. (b’) Ein berühmter Dichter hat früher dieses Haus bewohnt. (c) Er füllte den Kanister mit Wasser. (c’) Er füllte Wasser in den Kanister. 7. Beschreiben Sie den Tempusgebrauch in den folgenden Sätzen. Zeichnen Sie jeweils einen Zeitstrahl mit Angabe von Sprechzeit, Betrachtzeit und Ereigniszeit. (a) Drei mal drei ist neun. (b) In drei Wochen fahre ich endlich in Urlaub. (c) Da sagt mir doch mein Vermieter, dass er ab nächstem Monat die Nebenkosten erhöhen will! (d) Ich fahre zur Love Parade nach Berlin. (e) Bevor er zu seiner Tante fuhr, wollte er noch eben tanken. (f) Er hatte sich so darauf gefreut, die Jahrtausendwende noch erleben zu dürfen, doch dann starb er wenige Tage nach seinem 80. Geburtstag. (g) (Kellner:) Wer bekam das Schnitzel? (h) Ach, jetzt ist die Sprechstunde schon vorbei! Ich wollte doch heute noch mit Prof. Müller über die Stelle als Hilfskraft gesprochen haben, bevor er mich nach seinem Urlaub bestimmt schon wieder vergessen hat. 8. Führen Sie eine kleine Untersuchung durch. Suchen Sie ein Bild aus einem Buch, einer Zeitschrift o.ä., auf dem eine oder mehrere Personen an einer Handlung beteiligt sind. Bitten Sie nun etwa zehn Personen, die Szene mit ein bis drei einfachen Sätzen zu beschreiben (schriftlich!). Analysieren Sie die jeweiligen Sätze unter folgenden Aspekten: (i) drücken sie überwiegend anthropozentrische Perspektiven aus? (ii) Welche semantischen Rollen nehmen die Teilnehmer ein? (iii) Wird eine bestimmte Rolle öfter verwendet als andere? Wenn dem so ist, gibt es dafür eine Erklärung? (iv) Welche Satzmuster werden verwendet? (v) Welche Verankerungselemente treten auf? (vi) Werden bestimmte Satzmuster bzw. Verankerungselemente häufiger gebraucht als andere? Wenn dem so ist, gibt es dafür eine mögliche Erklärung? KAPITEL 5 Sprachliche Laute: Phonetik und Phonologie 5.0 Überblick In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns auf verschiedenen Beschreibungsebenen der Sprache mit bedeutungstragenden Einheiten beschäftigt: syntaktische Gruppen bestehen aus Wörtern, die wiederum aus Morphemen bestehen. In diesem Kapitel betrachten wir nun die Bausteine, aus denen Morpheme zusammengesetzt sind – die Laute einer Sprache. Ein einzelner sprachlicher Laut hat für sich betrachtet nicht notwendigerweise eine Bedeutung, doch wenn er mit anderen Lauten kombiniert wird, kann dieser lautliche Unterschied bereits zur Bedeutungsdifferenzierung führen. Sprachliche Laute können in zweierlei Hinsicht beschrieben werden, und zwar sowohl in ihren allgemeinen, physikalisch-artikulatorischen Charakteristika als auch in ihrer bedeutungsdifferenzierenden Funktion in einer bestimmten Sprache (in unserem Fall Deutsch). Mit den physikalischen Eigenschaften möglicher sprachlicher Laute beschäftigt sich die Phonetik, mit den in einer bestimmten Sprache zur Bedeutungsdifferenzierung verwendeten Lauten die sprachwissenschaftliche Disziplin der Phonologie. In diesem Kapitel sollen zunächst die Sprechorgane und die Haupttypen sprachlicher Laute betrachtet werden. Bei der Darstellung von Lauten trifft man auf das Problem, dass zwischen der Schreibung und der Aussprache in einer Sprache nicht selten deutliche Unterschiede bestehen. Aus diesem Grunde wurde ein besonderes phonetisches Alphabet eingeführt, mit dem sich Laute exakter darstellen lassen, als dies mit dem Alphabet möglich ist. Man unterscheidet drei Hauptkategorien sprachlicher Laute: Konsonanten, Vokale und Diphthonge. Jede Sprache hat ein besonderes Lautsystem, das in mehrerlei Hinsicht anders strukturiert sein kann als das Lautsystem einer anderen Sprache. Laute, die in einer Sprache als voneinander verschieden kategorisiert werden, können in einer anderen auch als Varianten ein und derselben Einheit wahrgenommen werden. Deshalb wird zwischen Lauten und Lautkategorien (Phonemen) deutlich unterschieden – ebenso wie zwischen phonetischer und phonologischer Beschreibung. Mehrere Laute bilden zusammen eine Silbe. Während Morpheme, wie wir sahen, bedeutungstragende Einheiten im sprachlichen System sind (z.B. Nase wird in {NASE} +{-n} zerlegt), sind Silben artikulatorische Einheiten der Sprechsprache (z.B. Nasen) Solche Gruppierungen unterliegen wiederum in hohem Maße sprachspezifischen Kombinationsmustern. Aus Silben werden Wörter gebildet, die sich durch besondere Betonungsmuster auszeichnen. Wörter werden 112 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT zu Sätzen kombiniert, die wiederum bestimmte, in einer Sprache mögliche Intonationsmuster haben. Durch die Kombination zu größeren Einheiten wie Wortgruppen oder Sätzen werden die Laute einzelner Wörter stark verändert. Lautangleichungsprozesse wie Elision und Assimilation ermöglichen eine schnelle und effiziente Sprachproduktion und Übermittlung. 5.1 Einführung: Phonetik und Phonologie Menschen können eine nahezu unendliche Anzahl von sprachlichen Lauten produzieren. Wenn man ein und dasselbe Wort mehrmals hintereinander ausspricht, oder andere bittet, dieses Wort auszusprechen, werden zwischen den einzelnen Aussprachen deutliche Unterschiede bestehen. Trotz dieser Unterschiede können sie auf einer abstrakteren Ebene als Aussprachevarianten ein und desselben Wortes angesehen werden. Dies gilt auch für die geschriebene Form der Sprache. Obwohl die folgenden graphischen Symbole voneinander abweichen, nehmen wir diese Formen als Beispiele für dieselbe abstrakte graphische Einheit wahr, nämlich den ersten Buchstaben des Alphabets. A a A a a A a Diese Wahrnehmung ist das Ergebnis eines sehr grundlegenden kognitiven Prozesses, den wir bereits im ersten Kapitel kennen gelernt haben und den man als Kategorisierung bezeichnet. Darunter versteht man die Fähigkeit, verschiedene Formen als Realisationen derselben abstrakten Einheit, d.h. als Mitglieder ein und derselben Kategorie zu erkennen. Unser Sprachvermögen umfasst auch die Fähigkeit, die große Variationsbreite an sprachlichen Lauten, die wir in einer Sprache hören, in bestimmte Lautkategorien einzuordnen. Die Lautkategorien, die ein Sprecher einer Sprache A erkennt, müssen nicht notwendigerweise mit denen zusammenfallen, die ein Sprecher einer anderen Sprache B als bedeutungsdifferenzierend versteht. So hören Sprecher des Deutschen zwischen den „p“-Lauten in Panne und Spanne zwar prinzipiell den Unterschied heraus, kategorisieren diese Wahrnehmungen aber nicht als sprachliche Laute, die zwei verschiedenen Kategorien angehören. Sprecher der thailändischen Sprache kategorisieren diese Laute in ihrer Sprache hingegen als zwei unterschiedliche „p“-Laute, d.h. sie haben zwei verschiedenen Kategorien für „p“. Für Sprecher des Japanischen gehören „s“- und „sch“- Laute wie in sushi sprachlich gesehen ein und derselben Lautkategorie an, während im Deutschen hier zwischen zwei Lautkategorien unterschieden wird. Diese unterschiedlichen Kategorisierungen von Lauten bilden den Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischen den zwei sprachwissenschaftlichen Bereichen Phonetik und Phonologie. Die Phonetik beschreibt und klassifiziert die artikulatorischen, akustischen und auditiven Eigenschaften sprachlicher Laute, und zwar unabhängig davon, welche Funktionen sie in einer bestimmten PHONETIK UND PHONOLOGIE 113 Sprache erfüllen. Die Phonologie beschäftigt sich mit sprachlichen Lauten, wie sie von den Sprechern einer bestimmten Sprache kategorisiert werden. Im Hochdeutschen gibt es ca. 40 verschiedene Kategorien sprachlicher Laute. Solche Kategorien nennt man Phoneme. Einige Sprachen haben weniger Phoneme (Japanisch hat ungefähr 20), andere hingegen mehr. So gibt es in einer der KhoisanSprachen, die im südlichen Afrika gesprochen werden, mehr als hundert Phoneme, darunter auch eine ganze Reihe von Klicklauten, die in anderen Sprachen unbekannt sind. 5.1.1 Schreibung und Aussprache Die Schriftsysteme einiger Sprachen (wie beispielsweise des Spanischen) sind nahezu phonologisch, d.h. jeder Buchstabe repräsentiert ein bestimmtes Phonem und umgekehrt. Doch in vielen Sprachen beruht die Beziehung zwischen Aussprache und Schreibung nicht allein auf dem phonologischen Prinzip. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass es in diesen Sprachen deutlich mehr Phoneme gibt, als Buchstaben des Alphabets zur Darstellung der Phoneme zur Verfügung stehen (26). So repräsentiert beispielsweise im Deutschen mit seinen etwa 40 Phonemen der Buchstabe <e> mehrere unterschiedliche Phoneme, wie an den Beispielen beten, Bett, Alte deutlich wird. Umgekehrt können ein und dasselbe Phonem bzw. eine Gruppe mehrerer Phoneme auch durch unterschiedliche Buchstaben dargestellt werden: Echse, Hexe, Kleckse, Kekse. Durch das Missverhältnis zwischen Laut- und Schriftsystem entstehen eine ganze Reihe von Homographen, d.h. Wörter, die gleich geschrieben, aber unterschiedlich ausgesprochen werden (der Dachs, des Dachs). Umgekehrt finden sich auch viele Homophone, die gleich lauten, aber unterschiedliche Schreibweisen haben (z. B. Leib, Laib; Rat, Rad; Seite, Saite). Dann gibt es auch noch den Einfluß anderer Sprachen: Fremdwörter folgen in der Schreibung oft den Regeln der Sprache, aus der sie stammen, und bringen damit zusätzlich eine gewisse Anzahl von Irregularitäten in die Laut-Buchstaben-Zuordnung der deutschen Schreibung. Einige Beispiele sind Rouge, Quiche, Jazz, Sauce, Photo. Die Schreibung kann auch noch aus einem anderen Grund nicht vollständig die Lautung repräsentieren: neben dem phonologischen Prinzip gibt es noch weitere Aspekte, die in der Orthographie berücksichtigt werden müssen. So kann durch eine morphophonologische Schreibung die semantische Zugehörigkeit von Wörtern dargestellt werden. Betrachten wir als Beispiele die Wörter Tag und lag. Im Mittelhochdeutschen war die Schreibung noch überwiegend phonologisch, so wurden etwa tac und lac mit <c> als graphischem Repräsentanten für das Phonem [k] geschrieben. Im Neuhochdeutschen werden Tag und lag zwar immer noch mit stimmlosem Auslaut [tak] bzw. [lak] gesprochen, durch die Schreibung mit <g> wird aber vielmehr die Zugehörigkeit zu Wörtern und flektierten Formen innerhalb einer Wortfamilie angezeigt: Tag, Tage, täglich bzw. lag, lagen, Lage (etymologische Schreibung). Solche etymologischen Beziehungen können von den Schreibern einer Sprache auch selbst aufgestellt werden und sich dann in der Schreibung dauerhaft niederschlagen, auch wenn sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht immer 114 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT korrekt sind. Die Rechtschreibreform erkennt einige dieser zuvor als „falsch“ vermerkten Schreibweisen als nunmehr korrekt an. (1) 5.1.2 Schreibung vor der Reform etymologische Schreibung schneuzen behende Stengel schnäuzen behände Stängel (motiviert durch Schnauze) (motiviert durch Hände) (motiviert durch Stange) Phonetische Symbole Da es in vielen Sprachen mehr Laute als Buchstaben gibt, durch die diese repräsentiert werden können, und die Orthographie einer Sprache neben dem phonologischen auch anderen Prinzipien folgen muß, kann das Schriftsystem die Lautung einer Sprache nicht exakt repräsentieren. Zur genauen phonologischen Beschreibung hat man deshalb die phonetischen Symbole des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) eingeführt. Diese Symbole bilden die Grundlage für die Beschreibung sprachlicher Laute. Sie werden beispielsweise in Aussprachewörterbüchern verwendet. 5.2 Wie produzieren wir sprachliche Laute? Die Laute einer Sprache lassen sich nach danach unterscheiden, wie sie hervorgebracht werden, d.h. ob sie stimmhaft oder stimmlos sind (Phonation), sowie nach Art bzw. Stelle ihrer Artikulation. Bei der Hervorbringung von Lauten strömt Luft aus der Lunge und passiert dann die Stimmritze, die im Kehlkopf liegt. Die Stimmritze oder Glottis ist eine Öffnung, die durch zwei Muskelfalten, die Stimmlippen oder auch Stimmbänder, gebildet wird und unterschiedlich weit geöffnet bzw. geschlossen werden kann. Die Modulation des Luftstroms in der Glottis bezeichnet man als Phonation. Werden die Stimmlippen zusammengebracht, dann vibrieren sie durch den Luftstrom und produzieren so stimmhafte Laute. Wenn die Luft die Glottis passiert und die Stimmlippen weit geöffnet sind, schwingen sie nicht, und es entstehen stimmlose Laute. Nachdem die Luft die Glottis passiert hat, strömt sie dann in den Rachen-, Mundund auch in den Nasenraum, die zusammen einen Resonanzkörper bilden. Dieser wird für jeden Laut einer Sprache durch unterschiedliche Stellung der Zunge, des Unterkiefers, des weichen Gaumens (Velum), der Lippen (Labia) usw. auf bestimmte Weise in seiner Form verändert. Auf die Aspekte der Phonation und Artikulation wollen wir im Folgenden genauer eingehen. PHONETIK UND PHONOLOGIE 115 Abbildung 1 Der Luftstrom im Artikulationsapparat Nasenhöhle Mundhöhle Zäpfchen (Uvula) Zunge Kehlkopf (Larynx) Rachenraum (Pharynx) Stimmlippen, bilden die Stimmritze (Glottis) Speiseröhre Luftröhre Lunge 5.2.1 Phonation Wenn man eine Hand fest auf den Kehlkopf legt und dann das Wort so ausspricht, kann man spüren, wie die Stimmbänder vibrieren. Diese Vibration bezeichnet man in der Phonetik als Stimme. Sowohl das „s“ [z] als auch das „o“ [o] werden unter Beteiligung der Stimme ausgesprochen, d.h. es handelt sich um stimmhafte Laute. Wiederholt man nun diesen Versuch, lässt aber diesmal die Luft entweichen, ohne die Stimmlippen zu schließen (wie in Bus), so ist bei der Aussprache von <s> keine Vibration im Kehlkopf zu spüren: [s] ist ein stimmloser Laut. Stimmhafte Laute entstehen also, wenn die Stimmlippen zusammengepresst werden. Wenn dann Luft aus den Lungen durch den Artikulationsapparat strömt, bilden die geschlossenen Stimmlippen ein Hindernis, unter dem ein gewisser Luftdruck entsteht, bis dieser Verschluss schließlich durch den Druck gesprengt wird, so dass die Luft entweichen kann und die Stimmlippen zum Schwingen bringt. Die Stimmlippen fallen dann wieder in ihre geschlossene Position zurück, der Luftdruck unter dem Verschluss, der durch sie gebildet wird, steigt wieder an, bis dieser erneut gesprengt wird. Dieser Zyklus wiederholt sich in sehr kurzen Abständen. Die Anzahl der Zyklen pro Sekunde wird in der Einheit Hertz (abgekürzt als Hz) gemessen und reicht bei Männern von 80 bis 150 Hz, bei Frauen von 120 bis 300 Hz. Bei Kindern kann sogar noch eine höhere Wiederholungsra- 116 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT te oder Frequenz erreicht werden. Die Frequenz, mit der die Stimmlippen geöffnet und geschlossen werden, bestimmt die Tonhöhe – je höher die Frequenz, desto höher die wahrgenommene Tonhöhe. Die Tonhöhe wird also durch die regelmäßigen Abfolgen bestimmt, in denen immer wieder Luft durch die Glottis entweicht. Bei stimmlosen Lauten sind die Stimmlippen vollständig zurückgezogen, und die Luft strömt ungehindert durch die weit geöffnete Stimmritze. Es ist folglich unmöglich, einen stimmlosen Laut mit einer Tonhöhe oder Tonhöhenvariation hervorzubringen. Laute, bei denen die durch den Mundraum strömende Luft zu einem gewissen Grad eingeengt wird, fasst man unter der Bezeichnung Obstruenten (lat. obstruere ‚versperren‘) zusammen. Solche Laute treten in vielen Sprachen paarweise als stimmlose und stimmhafte Laute auf. Bei ihnen wird die Übersicht 1 führt die Obstruenten der deutschen Sprache anhand von Beispielwörtern paarweise als stimmhafte und stimmlose Laute auf. Übersicht 1: stimmhafte und stimmlose Obstruenten des Deutschen STIMMHAFT STIMMLOS [b] Bass [d] Dorf [g] Garten [v] Wein [z] Hasen [Z] Rage [p] Pass [t] Torf [k] Karten [f] fein [s] hassen [S] Rasch Eine zweite Hauptgruppe umfaßt typischerweise stimmhafte Konsonanten. Sie werden als Sonoranten (lat. sonorus ‚klangvoll‘) bezeichnet. In diese Gruppe fallen die Nasale [m], [n] und [], die Liquide [l] und [r] sowie der Halbvokal [j]: Übersicht 2: Die Sonoranten des Deutschen [m] Mast [l] Last [n] Nase 5.2.2 [“]/[] Rast [] lang [j] Boje Artikulation Bei der Produktion sprachlicher Laute wird der Resonanzkörper in seiner Form verändert, während Luft hindurchströmt. Diese Veränderung macht die zweite Hauptkomponente der Lautproduktion aus und wird als Artikulation bezeichnet. Wesentliche Aspekte der Artikulation werden in den nächsten Abschnitten behandelt, in denen es um die Eigenschaften von Konsonanten und Vokalen geht. PHONETIK UND PHONOLOGIE 117 5.3 Konsonanten Konsonanten und Vokale unterscheiden sich im Wesentlichen darin, wie stark bei ihrer Produktion der Artikulationsapparat verengt wird. Konsonanten entstehen durch einige wesentliche Verengungen, die den Luftstrom an bestimmten Stellen im Artikulationsapparat behindern. Bei Vokalen wird hingegen der Mundraum durch Öffnung, Lippenrundung und Zungenstellung auf jeweils bestimmte Art und Weise geformt, wobei die Behinderung des Luftstroms relativ gering ist. Konsonanten können anhand von drei Faktoren beschrieben werden: der Artikulationsstelle (wo im Artikulationsapparat die Verengung auftritt), der Artikulationsart (wie diese Verengung gebildet wird) und der Stimmhaftigkeit. 5.3.1 Artikulationsstellen Bei der Artikulation von Konsonanten wird jeweils ein beweglicher Artikulator (ein Teil des Sprechkanals) auf eine feststehende Artikulatonsstelle (die oberen Vorderzähne oder einen bestimmten Teil des Gaumens) zubewegt. Abbildung 2. Artikulationsstellen im Artikulationsapparat Velum (weicher Gaumen): Velare Nasenraum: Nasale Palatum (Vordergau- men): Palatale Alveolen (Zahndamm): Nasenhöhle Zähne: Dentale Zungenspitze Zungenblatt Uvula (Zäpfchen): Uvulare Pharynx (Rachen): Pharyngale Lippen: Bilabiale Unterkiefer Larynx (Kehlkopf): Laryngale Stimmritze: Glottis Speiseröhre Man kann sich die einzelnen Artikulationsstellen und Artikulationsarten von Lauten sehr gut vergegenwärtigen, wenn man zunächst Wörter ausspricht, in denen diese Laute vorkommen, und dann den entsprechenden Laut nochmals isoliert artikuliert. Aus diesem Grunde wird hier für jeden Laut ein Beispielwort angegeben. Die Konsonanten des Deutschen werden nach ihrer Artikulationsstelle wie folgt bezeichnet: 118 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT • Bilabiale (Lippenlaute). Diese Laute werden durch Unterlippe und Oberlippe gebildet: [b] Bass, [p] Paß, [m] Mund. • Labiodentale (Lippenzahnlaute). Unterlippe und obere Schneidezähne bilden den Laut: [f] fein, [v] Wein, [pf] Pfund. • Alveolare. Die Zungenspitze trifft gegen die Alveolen bzw. den Zahndamm: [t] Tor, [d] Dose , [s] Ross, [z] Sand, [n] Nase, [l] Lob, [r] Rose, [ts] Zahn. • Palato-alveolare. Der vordere Teil der Zunge (nicht die Spitze) artikuliert zusammen mit dem hinteren Teil des Zahndamms: [S] Schaf, [Z] Gage, [tS] Rutsche. • Palatale (Vordergaumenlaute). Das Zungenblatt artikuliert mit dem vorderen Teil des Gaumens: [C] ich, [j] Boje. • Velare (Hintergaumenlaute). Der hintere Teil der Zunge artikuliert mit dem weichen Gaumen (Velum): [k] Kuß, [g] Guß, [x] Dach, [N] lang. • Uvulare (Zäpfchenlaute). Der hintere Teil des Zungenrückens artikuliert gegen den Hintergaumen: [{, “] • Laryngale (Stimmritzenlaute). Sie werden in der Stimmritze gebildet: [/] wie bei alle [/al´], [h] wie in Halle [hal´] 5.3.2 Artikulationsarten Mit der Artikulationsart wird die Art der Verengung des Sprechkanals beschrieben, die zur Produktion eines Konsonanten gebildet wird. Die Hauptartikulationsarten führen zu folgenden Lauten: • Plosive (Verschlusslaute) [p], [b], [t], [d], [k], [g], [/]. Der Luftstrom wird an der entsprechenden Artikulationsstelle im Mundraum vollständig blockiert. • Frikative (Reibelaute) [f], [v], [s], [z], [], [], [], [j], [x], [], [h], von denen die Laute [s], [z], [], [] auch als Zischlaute bezeichnet werden. Reibelaute entstehen durch einen sehr geringen Abstand zwischen den Artikulatoren. Der Luftstrom tritt mit großem Druck durch diese Lücke hindurch und verursacht den Laut durch Reibung (Friktion). • Affrikata [pf, ts, tS] sind komplexe Laute, bei denen auf einen Verschlußlaut unmittelbar ein Reibelaut an derselben Artikulationsstelle folgt. Der Verschluss wird allmählich gelöst, es entsteht eine enge Öffnung zwischen den Artikulatoren, durch die dann die Luft mit hohem Druck hindurchströmt und so den am Affrikaten beteiligten Reibelaut entstehen lässt. • Nasale (Nasenlaute). Bei den Nasalen [m, n, ] wird der Luftstrom bei geschlossenem Mund im Mundraum blockiert und entweicht dann durch den Nasenraum. • Ein schwer zu kategorisierender Laut ist [h]: Er wird nicht im Mundraum gebildet, sondern durch Luft, die durch die geöffnete Stimmritze (Glottis) strömt. Der Luftstrom wird dabei nicht entscheidend beeinflusst. Es handelt sich um einen glottalen Frikativ, der auch als Hauchlaut bezeichnet wird. Jeder Konsonant kann also aufgrund der Kriterien Stimmhaftigkeit, Artikulationsstelle und Artikulationsart genau bestimmt werden. Bei der Beschreibung von PHONETIK UND PHONOLOGIE 119 Konsonanten bezeichnet ein Adjektiv die Phonation, ein weiteres die Artikulationsstelle und ein Substantiv die Artikulationsart: /b/ ist also ein stimmhafter bilabialer Plosivlaut. Tabelle 1 gibt hier zunächst einen ersten Überblick über die 23 Konsonanten des Deutschen, die als eigenständige Phonemkategorien gelten können. Tabelle 1. Konsonantenphoneme des Deutschen ARTIKUALTIONSSTELLE ARTIKULATIONSART Plosive bilabial sl sh p b sl f Frikative Nasale labiodental s h alveolar sl sh t d v s z m sl l Vibrant r pf ts sh palatal sl velar laryngal sh sl sh sl sh k n Lateral Affrikata palatoalveolar j x h t Im deutschen Lautsystem gibt es drei Arten von Verschlusslauten, die jeweils stimmhaft und stimmlos vorkommen: bilabiale [p], [b], alveolare [t], [d] sowie velare [g], [k]. Es gibt sechs Arten von Frikativen: labiodentale [f], [v], alveolare [s], [z], palatoalveolare [S], [Z], palatale [C], [j], den uvularen „r“-Laut [“] sowie den stimmlosen Stimmritzenlaut [h], bei dem die durch den Luftstrom an den Stimmlippen erzeugte Reibung kaum wahrnehmbar ist und der deswegen auch als Hauchlaut bezeichnet wird. Ebenso wie [] kommt auch [h] nur am Morphem- bzw. Wortanlaut mit nachfolgendem Vokal vor: vgl. Haus [haUs] und aus [aUs], wobei [h] als gehauchter, [] als fester Einsatz bezeichnet wird. Der Stimmritzenlaut [], stellt kein Konsonantenphonem im eigentlichen Sinne dar, sondern vielmehr ein Grenzsignal, das automatisch vor betonten Silben, die mit einem Vokal beginnen eintritt, z.B. bei beachten [baxt`n`] und Seeente [ze˘/Ent´]. Wenn bei geschlossenem Mund das Velum (d.h. der weiche Teil des Gaumens) gesenkt wird, trägt der Nasenraum zur Artikulation bei. Auf diese Weise können drei Nasale artikuliert werden: bilabiales [m], alveolares [n] und das velare [N], die allesamt stimmhaft sind. Darüber hinaus gibt es noch den alveolaren Seitenlaut oder Lateral [l], bei dem die Zungenspitze mit den oberen Vorderzähnen einen Verschluss bildet und die Luft an den Seiten zwischen Zungenrän- 120 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT dern und Zahnfleisch entweicht, sowie zwei Vibranten [r] und [R]. Diese drei Laute sind stimmhaft. Das Deutsche hat drei Affrikata [pf], [ts] und [tS], bei denen sich ein Verschlusslaut unmittelbar in derselben Silbe in einen an gleicher oder fast gleicher Artikulationsstelle folgenden Reibelaut öffnet. Alle drei Affrikata sind ebenso wie ihre einzelnen Bestandteile stimmlos. Nicht alle der hier vorgestellten konsonantischen Laute bilden auch eigene Phonemkategorien. Der palatale Frikativlaut [] wird als Variante des Phonems /x/ betrachtet, das Phonem /r/ hat eine ganze Reihe verschiedener Varianten, nämlich [r] , [“], [], []. Mit den Varianten von Phonemen, den so genannten Allophonen, werden wir uns in Abschnitt 5.5 näher befassen. 5.4 Vokale Bei Konsonanten wird der Luftstrom durch bestimmte Arten der Verengung an bestimmten Stellen innerhalb des Artikulationsapparates moduliert. Bei Vokalen und Diphthongen strömt die Luft hingegen relativ ungehindert durch den Artikulationsapparat. Sie werden durch unterschiedliche Formung der Mundhöhle gebildet. Vokale sind aus einer Reihe von Gründen viel schwieriger zu beschreiben als Konsonanten. Zunächst einmal wird der Artikulationsapparat ja nicht verengt. Dadurch wird es oft schwierig, genau zu beschreiben, wie die Mundhöhle bei der Artikulation von Vokalen geformt ist bzw. an welcher Stelle der jeweilige Vokal artikuliert wird. Des Weiteren neigen Vokalkategorien in viel stärkerem Maße als Konsonanten dazu, sich zu überlappen und ineinander überzugehen. Schließlich können Vokale in der Aussprache stark variieren. Die verschiedenen sozialen und regionalen Varietäten des Deutschen hören sich hauptsächlich wegen der Variation in der Aussprache der Vokale sehr unterschiedlich an. Die Form der Mundhöhle lässt sich am besten anhand der Position ihres beweglichsten Teiles, der Zunge, festmachen. Aus diesem Grunde werden Vokale in erster Linie anhand der Zungenposition bestimmt. Hier sind zwei Parameter besonders wichtig: (a) (b) der höchste Zungenpunkt bei der Aussprache eines Vokals. Dieser kann mehr im vorderen, im mittleren oder hinteren Teil des Mundes liegen. die Zungenhöhe bei der Artikulation des Vokals. Sie wird in ihrer Entfernung vom Gaumen als geschlossen, halbgeschlossen, fast offen und offen bestimmt. Davon unabhängig gibt es noch drei weitere Bestimmungsaspekte: (c) (d) (e) die Lippenstellung: die Lippen sind entweder gerundet oder ungerundet die Dauer: ein Vokal ist lang oder kurz die Gespanntheit: bei der Artikulation eines Vokals sind die Muskeln mehr oder weniger stark gespannt. Bei der Artikulation langer Vokale sind die Muskeln stärker gespannt, und die Mundöffnung ist geringer. Lange Vokale sind betont. PHONETIK UND PHONOLOGIE 121 In den folgenden Abschnitten werden wir zunächst „ideale“ Vokale und dann die deutschen Monophthonge und Diphthonge (die direkte Abfolge von zwei Vokalen in einer Silbe) betrachten. 5.4.1 Kardinalvokale Die Bestimmung der unterschiedlichsten Positionen der Zunge bei der Artikulation von Vokalen ist – wie erwähnt – sehr schwierig. Aus diesem Grunde faßt man alle möglichen Positionen der Zunge in einem abstrakten Schema zusammen, das man als Vokalviereck bezeichnet. Das Vokalviereck ist eine Art Koordinatensystem, in dem sich Phonetiker bei der Bestimmung der Vokale einer Sprache auf festgelegte Referenzvokale beziehen, die man als Kardinalvokale bezeichnet. Jeder beliebige Vokal kann dann in Bezug auf diese Referenzpunkte lokalisiert werden. Im unteren Bereich ist das Vokalviereck schmaler, denn bei weit geöffnetem Mund hat die Zunge nach vorne oder hinten weniger Bewegungsfreiheit als im oberen. Für die Kardinalvokale wurden zunächst die anatomisch möglichen Extrempunkte bei der Vokalartikulation anhand der Dimensionen Zungenstellung (vorne/hinten) und Zungenhöhe (hoch/tief, sowie zwei weiteren Zwischenstufen) bestimmt: [i]: [u]: [a]: [A]: höchster und vorderster Punkt hoch und hinten tief und vorne tiefster und hinterster Punkt Abbildung 3. Primäre Kardinalvokale i u e o ç E a Å Der vordere Vokalraum wird aufgeteilt, indem [e] und [E] in gleichen Abständen zwischen [i] und [a] angeordnet werden. Der hintere Vokalraum wird in gleicher Weise durch [o] und [ç] aufgeteilt. Die acht primären Kardinalvokale werden dann wie in Abbildung 3 auf der vorigen Seite dargestellt. Von diesen acht Kardinalvokalen werden die vier hinteren Vokale mit gerundeten Lippen ausgesprochen. Man bezeichnet sie deshalb als gerundete Vokale. Die vier vorderen Vokale sind hingegen ungerundet. Dies ist der normale oder unmarkierte Fall, denn in den Sprachen dieser Welt sind die vorderen Voka- 122 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT le überwiegend ungerundet und die hinteren Vokale gerundet. Wir können aber auch bei der Artikulation der vorderen Vokale die Lippen runden bzw. sie bei der Aussprache der hinteren Vokale ungerundet lassen, so dass aus ungerundeten Kardinalvokalen gerundete und aus den gerundeten Kardinalvokalen ungerundete Vokale werden. Diese werden zusammengenommen als sekundäre Kardinalvokale bezeichnet. Abbildung 4. Sekundäre Kardinalvokale y μ ƒ O √ ø Q 5.4.2 A Die Vokale des Deutschen Die Kardinalvokale bilden, wie gesagt, die Referenzpunkte zur Beschreibung der Vokale in allen Sprachen. Wenn wir also die Vokale des Deutschen beschreiben wollen, setzen wir sie innerhalb des Vokalvierecks zu den Kardinalvokalen in Beziehung. Die dazu verwendeten Symbole des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) beruhen auf Konvention und geben nur annähernd genau die Aussprache in einer bestimmten Sprache wieder. So stimmt zum Beispiel der Vokal in die nicht exakt mit dem Kardinalvokal [i] überein. Dennoch verwenden wir zu dessen Beschreibung das IPA-Symbol [i], dürfen dabei allerdings nicht vergessen, dass wir damit das deutsche [i] in bezug auf den Kardinalvokal [i] charakterisieren. Da diese Konvention auch in anderen Sprachen verwendet wird, erhalten wir unterschiedliche Realisationen von [i], d.h. in Deutsch, Englisch oder Französisch wird das [i] unterschiedlich ausgesprochen. Dennoch verwenden wir konventionell dasselbe Symbol, um diese Laute zu beschreiben. Die Anzahl der Vokale im Deutschen macht es notwendig, neben den Symbolen für die Kardinalvokale weitere Symbole für Vokale einzuführen. Anhand der Minimalpaare in Übersicht 3 wird deutlich, dass sich zudem Langvon Kurzvokalen unterscheiden lassen. Außerdem gibt es noch den abgeschwächten Vokal „Schwa“ [´] (nach der hebräischen Bezeichnung für diesen Laut) wie in eine [ain´] und den Reduktionsvokal [å] wie in Bier [bå] und einer [aInå], die beide in unbetonten Silben verwendet werden. PHONETIK UND PHONOLOGIE 123 Übersicht 3. Die Vokale des Deutschen [i] ihn [y˘] Fühler [e˘] Beet [I] in [Y] Füller [E] Bett [O˘] Öfen [ø] öffnen [u] [o] [A] [´] Ruhm Ofen Kahn eine [U] [ç] [a] Rum offen kann [å] einer Der Status von [å] als Vokalphonem ist allerdings umstritten: einerseits tritt [å] zwar durchaus in Minimalpaaren wie in eine [an] - einer [anå], Bitte [bt] - bitter [bt] auf, andererseits lässt es sich als Stellvertreter für das Phonem /r/ und die Phonemfolge /er/ im Auslaut einordnen. Wir können hier nicht ausführlich auf dieses Problem eingehen; anhand dieses Beispiels wird aber deutlich, dass die Einordnung eines Lautes als Phonem durchaus nicht immer eindeutig ist (vgl. Hakkarainen 1995: 86f.). Die deutschen Vokale lassen sich mit Bezug auf die Kardinalvokale wie folgt im Vokalviereck darstellen: Abbildung 5. Die Positionen der deutschen Vokale im Vokalviereck (auf der Grundlage von Kohler19952:174, modifiziert: mit Längezeichen [˘], = ungerundete, = gerundete Vokale) i˘ vo rne m itte l hinten y˘ e˘ U I Y O˘ E˘ gesc hlo sse n u˘ o˘ ha lb gesc hlo sse n ´ E ç ø fast o ffe n å o ffe n a, a˘ 5.4.3 Die Diphthonge des Deutschen Wenn innerhalb einer einzigen Silbe zwei Vokallaute ineinander übergehen, so dass die Zunge zu Ende der Aussprache eine andere Stellung eingenommen hat als zu Beginn, bezeichnet man diese Doppellaute als Diphthonge. Eine Komponente eines Diphthongs tritt dabei stärker hervor als die andere. Im Deutschen ist dies für gewöhnlich die erste Komponente, doch mag das in anderen Sprachen, wie etwa Französisch, durchaus umgekehrt sein. 124 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Wenn die Zunge sich während der Artikulation des Diphthongs bewegt, umfasst dieser ganz offensichtlich eine ganze Reihe von Vokaleigenschaften. Diese vorübergehenden Eigenschaften spielen aber für die Wahrnehmung des Diphthongs keine Rolle: nur Ausgangs- und Endpunkt der Zunge sind wichtig. Auch die präzise Lautqualität der weniger prominenten Komponente ist oft unwesentlich. In neu ist beispielsweise nur wichtig, dass der Diphthong ungefähr in der Gegend von hoch, vorne, ungerundet, in Tau als hoch, hinten, gerundet endet. In beiden Fällen ist es dennoch durchaus angemessen, das Symbol [I] bzw. [U] für den ungefähren Bereich zu verwenden. neu wird also als [nçI] und Tau als [tAU] transkribiert. Im Deutschen gibt es die drei Diphthonge: [çI] neu, [aI] Brei, [AU] Tau. Abbildung. 6. Die Diphthonge des Deutschen im Vokalviereck çI aI aU 5.5 Phoneme und Allophone Wie wir in Kapitel 2 über Lexikologie gesehen haben, kann ein Wort viele verschiedene Bedeutungsaspekte umfassen. Erst in einem bestimmten Kontext wird dann klar, welcher dieser Aspekte relevant ist. In ähnlicher Weise können auch Laute viele Varianten haben, je nachdem, von welchen anderen Lauten sie umgeben werden. In den folgenden Abschnitten werden wir die Bezeichnungen für die Mitglieder in einer solchen Lautkategorie kennen lernen und uns näher ansehen, in welcher Lautumgebung einzelne Mitglieder solcher Kategorien auftreten. 5.5.1 Definitionen Der „p“-Laut in Paß unterscheidet sich deutlich vom „p“-Laut in Spaß: der erste ist behaucht [pH], der zweite unbehaucht [p]. Trotz dieses phonetischen Unterschiedes fassen wir diese beiden „p“-Laute als Varianten desselben Lautes auf. Die Laute [pH] und [p] sind Beispiele für die abstrakte Einheit /p/, die man als Phonem bezeichnet. Man sagt, [pH] und [p] sind Allophone des Phonems /p/. PHONETIK UND PHONOLOGIE 125 Phoneme werden zwischen zwei Schrägstrichen /.../, Allophone (und generell alle Laute, die in ihren phonetischen Aspekten betrachtet werden), in eckigen Klammern [ ] geschrieben. Das Verhältnis zwischen dem Phonem /p/ und seinen beiden Allophonen [p] und [pH] lässt sich wie in Abbildung 7 darstellen: Abbildung 7. Phonem mit Allophonen Phonem Allophone /p/ [p] [pH] Ähnliche Laute können in zwei Sprachen auf unterschiedliche Weise klassifiziert werden. Sowohl im Englischen als auch im Spanischen gibt es die Laute [d] und [D]. Für Sprecher des Englischen handelt es sich um zwei verschiedene Laute, die als unterschiedliche Phoneme kategorisiert werden, weil sie bedeutungsunterscheidend wirken können. Für Sprecher des Spanischen handelt es sich hingegen um Varianten ein und desselben Phonems, die in unterschiedlichen Umgebungen anderer Laute auftreten: [d] am Wortanfang, wie in donde ‚wo‘ [donde], und [D] zwischen Vokalen, wie in lado ‚Seite‘ [laDo]. Wenn man lado mit [d] anstatt mit [D] ausspricht, ist das zwar eine lautliche Variante in der Aussprache, aber kein anderes Wort mit einer anderen Bedeutung. Für deutsche Sprecher stellen behauchte und unbehauchte stimmlose Verschlusslaute jeweils Varianten desselben Verschlusslautes dar. ThaiSprecher kategorisieren hier zwei Phoneme: [pHaa] ‚teilen‘ und [paa] ‚Wald‘. Anhand solcher Minimalpaare, d.h. zweier Wörter, die sich in ihrer Lautform lediglich in einer einzigen Lautkategorie unterscheiden, ansonsten aber lautlich identisch sind, lässt sich sehr leicht feststellen, ob zwei Laute in einer Sprache Allophone ein und desselben Phonems sind, oder ob es sich um zwei unterschiedliche Phoneme handelt. Anhand des Minimalpaars Paar und Bar etwa wird deutlich, dass /p/ und /b/ unterschiedliche Phoneme des Deutschen sind, denn sie dienen zur Bedeutungsdifferenzierung. Andererseits zeigt sich auch, dass es unmöglich ist, einen Kontrast zwischen Spaß [spas] und [sphas] bzw. [pas] und [phas] herzustellen. Deshalb können [ph] und [p] nicht als unterschiedliche Phonemkategorien des Deutschen eingestuft werden, d.h. eine Unterscheidung in der Behauchung der Verschlusslaute führt im Deutschen (anders als in Thai) nicht zu einer Bedeutungsdifferenzierung. Bei den behauchten Verschlusslauten handelt es sich im Deutschen also nicht um unterschiedliche Phoneme, sondern lediglich um zwei Allophone, d.h. Phonemvarianten. 5.5.2 Freie Variation und komplementäre Verteilung Bei deutschen Verschlusslauten ist linguistisch irrelevant, in wie starkem Maß sie behaucht werden (wie in Panne, Kanne, Tanne). Verschlusslaute mit unterschiedlich starker Behauchung treten in freier Variation auf, d.h. für die Unterscheidung zwischen zwei Wörtern macht es keinen grundlegenden 126 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Unterschied, welche behauchte Variante eines dieser Verschlusslaute an einer bestimmten Position gewählt wird. Eine andere Situation liegt vor, wenn ein Allophon nur in einer ganz bestimmten Lautumgebung, ein anderes Allophon desselben Phonems dagegen nur in einer anderen Lautumgebung auftritt. Diese Varianten eines Lautes sind dann komplementär verteilt. Einige Beispiele im Deutschen sind: (a) (b) (c) Stimmlose Verschlusslaute [p,t,k] treten vor einem betonten Vokal behaucht auf: pur, Tour, nach [S] im Silbenanlaut aber unbehaucht: Spur, Stur. Im Deutschen gibt es abhängig von der Lautumgebung zwei verschiedene „ch“Laute. Der so genannte „Ich“-Laut [C] wird nach den vorderen Vokalen (ich, echt, schüchtern), nach Konsonanten (Milch, Morchel, manche) sowie am Anfang von Wörtern und Morphemen Chemie, {-chen} gesprochen. Der „Ach“Laut [x] steht nach hinteren Vokalen (doch, Dach). Diese Laute treten alle in unterschiedlichen lautlichen Umgebungen auf – sie stehen also nicht in freier Variation, sondern sind komplementär verteilt. Infolgedessen können sie auch nicht zur Bedeutungsdifferenzierung zwischen Wörtern dienen. Am Beispiel dieser Laute sieht man darüber hinaus, dass das orthographische System einer Sprache oft durch unsere Kategorisierung sprachlicher Laute motiviert ist. Die unterschiedlichen, von der jeweiligen Lautumgebung abhängigen Realisationen [C] und [x] werden als Beispiele für ein und dieselbe Phonemkategorie /x/ kategorisiert – beide werden auch durch ein und dasselbe Graphem <ch> repräsentiert. Die „h“-Laute am Beginn eines Wortes sind phonetisch gesehen sehr unterschiedlich. Die Wahl einer Variante ist durch den folgenden Vokal bestimmt, die verschiedenen Varianten sind also komplementär verteilt: hat, Hut, hinter, Hof. Muttersprachler sind sich der allophonischen Variation in ihrer Sprache häufig nicht bewusst. Sprecher des Deutschen nehmen das /p/ in Pass und das /p/ in Spaß trotz unterschiedlich starker Behauchung als „denselben“ Laut wahr. Die Intuition der Sprecher spiegelt also nicht die phonetisch-artikulatorischen Eigenschaften der Laute wider, sondern das Wissen um die phonologische Struktur der Sprache. Die exakte phonetische Realität dieser Laute kann von Phonetikern beschrieben werden. 5.5.3 Transkriptionsprinzipien Bei der „phonetischen Umschrift“ in Aussprachewörterbüchern (oder Wörterbüchern für Lerner von Deutsch als Fremdsprache) handelt es sich eigentlich um phonologische Transkriptionen. Während eine phonetische Transkription darauf abzielt, detailliert auch noch die kleinste Lautvariation darzustellen, beschreibt eine phonematische Transkription jede Lauteinheit durch das Phonem, dem diese Variante zuzurechnen ist. Die Anzahl der Phoneme einer Sprache ist eng begrenzt. In den meisten Sprachen gibt es zwischen 30 und 50 Phoneme. Eine phonematische Transkription kann um eine Reihe zusätzlicher Aussagen PHONETIK UND PHONOLOGIE 127 ergänzt werden, wie eventuelle Details zur Realisation eines Phonems in den verschiedenen Lautumgebungen. Der „p“-Laut in Wörtern wie Pech [pEC] und Specht [SpECt] wird also phonematisch gleich transkribiert, obwohl /p/ am Silbenanfang vor betonten Vokalen mit Behauchung [pH] realisiert wird. Eine phonetische Transkription kann man sich als für die Repräsentation der Aussprache ideales alphabetisches Schriftsystem vorstellen. Die deutsche Orthografie stellt die Behauchung von Verschlusslauten nicht dar, denn diese spielt für die Bedeutungsdifferenzierung zwischen Wörtern keine Rolle. Die spanische Orthografie repräsentiert keinen Unterschied zwischen [d] und [D], denn dieser Unterschied ist nicht phonematisch – im Gegensatz zum Englischen, wo er auch in der Transkription repräsentiert wird. 5.6 Größere phonologische Einheiten Das Lautsystem einer Sprache ist mit einer Auflistung aller Phoneme und deren Allophone noch nicht ausreichend beschrieben – es müssen auch Aussagen über die Kombinationsmöglichkeiten der Laute getroffen werden. Hierzu ist es notwendig, Einheiten in die Betrachtung mit einzubeziehen, die größer sind als einzelne Laute. Solche phonologische Einheiten sind Silben, Wortbetonung, Tonhöhe und Satzintonation. 5.6.1 Silben Zwischen Einzellauten und Wortformen liegen sprachliche Einheiten, die man als Silben bezeichnet. Wortformen bestehen aus einer Abfolge von Silben, die nicht gleichbedeutend mit den Morphemen einer Wortform sind. Hier können deutliche Unterschiede bestehen. Silbengrenzen können in der Transkription durch das Zeichen [.] markiert werden; die phonologische Silbentrennung von kaufen ist also [kaU.fn`], während die Morphemgrenzen als {kauf-}+{-en} eingeteilt werden. Man kann sich Silben als Einheiten vorstellen, die durch Gipfel der Schallfülle oder Sonorität, d.h. Schallfüllegipfel, bestimmt und von Elementen mit weniger Sonorität umgeben sind (Konsonanten). Der Lautstrom besteht also aus abwechselnd sonoren und weniger sonoren Elementen. Eine Silbe hat einen Silbengipfel, der meist aus einem Vokal besteht, sowie einen Anfangs- und Endrand. Die Lautabfolge in Silben ist streng geregelt. Sprachen unterscheiden sich in erheblichem Maße darin, welche Lautabfolgen innerhalb von Silben möglich sind. Einerseits gibt es Sprachen wie Maaori, in denen nur Silben der Form (K)V vorkommen, d.h. sie besteht immer aus einem Vokal, dem optional ein Konsonant vorangehen kann. Der Name Maaori besteht selbst aus drei Silben, von denen die zweite aus einem Vokal /V/ (nämlich /o/), die erste und die letzte Silbe jeweils aus einem Konsonanten /K/ plus einem Vokal bestehen. Der Vokal in der ersten Silbe ist lang. Je nach Interpretation werden lange Vokale entweder als eine oder auch als zwei Silben betrachtet, d.h. Maaori kann sogar als aus vier Silben bestehend beschrieben werden (nämlich Ma-a-o-ri). Die grundlegende 128 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Silbenstruktur dieser Sprache ist also (K)V, d.h. dass eine Silbe aus einem langen oder kurzen Vokal besteht und diesem nur ein Konsonant vorangehen kann. In solchen Sprachen können nicht zwei Konsonanten direkt aufeinander folgen, und jede Silbe (und damit auch jedes Wort und jede Äußerung) muß auf einen Vokal enden. Andererseits gibt es die germanischen Sprachen wie Deutsch, Niederländisch und Englisch, in denen Silben sehr komplex sein können. Im Deutschen können sowohl am Anfang als auch am Ende einer Silbe so genannte Konsonantenhäufungen vorkommen, z.Β. streng [StrEN] bzw. (des) Herbsts [hEpsts]. Dennoch kann nicht jede denkbare Kombination von Konsonanten auftreten. Der Silbenbau gründet sich auf eine so genannte Sonoritätshierarchie: der Silbengipfel (auch Silbenkern genannt) wird von Lauten mit mehr Schallfülle gebildet und ist zum Silbenrand hin von Lauten mit abnehmender Schallfülle umgeben. Abbildung 8 zeigt den möglichen Silbenbau im Deutschen. Der Silbenkern kann aus Vokalen, aber auch aus Konsonanten mit hoher Sonorität, nämlich Gleitlauten, Liquiden und Nasalen, gebildet werden. In diesen Fällen spricht man von silbischen Konsonanten, z.B. in Segel, haben. Laute mit wenig Schallfülle können nur den Anfangs- und Endrand bilden. Abbildung 8 zeigt, welche Laute potentiell im Silbenkern sowie im Anfangs- und Endrand auftreten können. Die Kombinationsmöglichkeiten sind begrenzt. So kann beispielsweise der Anfangsrand maximal aus drei Konsonanten bestehen: /s/ + stimmlosem Obstruenten + Lateral oder Trill /l,r,j,w/ wie in Sprache, schreiben, streng. Im Anfangsrand kommen so gut wie nie stimmloser und stimmhafter Obstruent in Kombination vor (einzige Ausnahmen sind [kv] wie in Qual [kva˘l] und [Sv] wie in schwach [Svax]). Wenn stimmhafter oder stimmloser Obstruent am Anfang stehen, können nicht Sonoranten und Gleitlaute zusammen folgen, sondern nur alternativ. Abbildung 8. Sonoritätshierarchie für deutsche Silben (nach Zifonun et. al. 1997:180) Nasal sth. Obstruent stl. Obstruent Sonorität Liquid Nasal sth. Obstruent stl. Obstruent - Liquid + Vokal Gleitlaut Gleitlaut potenzieller Silbenkern pot. Anfangsrand pot. Endrand In einigen Sprachen trifft man auf Konsonantenhäufungen, die dem Deutschen sehr fremd sind. So lässt das Russische zwei stimmhafte Verschlusslaute am Silbenanfang zu, wie in gd’e ‚wo‘, zwei stimmlose Verschlusslaute wie in ptit’a ‚Vogel‘ oder zwei Nasale wie in mn’e ‚zu mir‘. In der Umschrift dieser russischen Wörter steht der Apostroph für Palatalisierung, d.h. die Artikulation eines Konsonanten mit einer hohen, vorderen Zungenstellung wie in mn’e. PHONETIK UND PHONOLOGIE 129 Phoneme können an einigen Stellen einer Silbe und in der Nachbarschaft zu bestimmten Phonemen auftreten, zu anderen aber wiederum nicht. Die möglichen Positionen, die ein Phonem in Silben einnehmen kann, bezeichnet man als die Verteilung oder Distribution eines Phonems. Es folgen einige Beispiele. • Der velare Nasal /N/ tritt nur am Silbenendrand auf und auch nur nach kurzen Vokalen: kein deutsches Wort beginnt mit /N/. Das Auftreten oder die Verteilung von Phonemen lässt sich nur mit Bezug auf Silben darstellen: es würde beispielsweise nicht ausreichen, die Verteilung von /N/ mit „tritt nicht vor Vokalen auf“ zu beschreiben, denn in Finger ist das ja zum Beispiel der Fall. • Wenn wir die Verteilung von /h/ bzw. /r/ beschreiben wollen, geht dies nur mit Bezug auf deren Position in Silben. /h/ kann nur im Anfangsrand auftreten. Es würde nicht ausreichen zu sagen, /h/ könne nicht nach einem Vokal auftreten – in behalten und dahinter ist das ja beispielsweise der Fall. • Lange und kurze Vokale: im deutschen Wort findet sich mindestens ein Vokal als Silbenkern (abgesehen von silbischen Konsonanten) und umgebende Konsonanten. Es gibt nur sehr wenige Wörter, die aus einem einzigen Vokal als notwendigem Kern bestehen wie Ei, oh, Au. Einige einsilbige Wörter haben nach dem Vokal keinen Konsonanten; z.B. die, sie, da, so. In diesem Fall spricht man von offenen Silben In der deutschen Standardlautung gibt es aber keine Wörter mit kurzem Vokal am Ende *[d], *[dU], *[dç]. Auf kurzen Vokal muss stets ein Konsonant folgen: bis, bin, dann etc. • Das Phonem /r/ hat im Deutschen mehrere Varianten: gerolltes [r], frikatives [“] (so genanntes „Reibe-r“), uvulares [], [“] („Zäpfchen-r“) und alveolares, geschlagenes [R]. Diese Varianten sind in allen Positionen austauschbar und haben daher keine bedeutungsdifferenzierende Funktion, d.h. die Varianten sind frei verteilt (vgl. Hakkarainen 1985:86f). Wenn [r] in Opposition zu [R] stünde, dann würde es sich nicht um Allophone des Phonems /r/, sondern um zwei unterschiedliche Phoneme /r/ und /R/ handeln. In anderen Sprachen kann das durchaus der Fall sein, wie ein Beispiel aus dem Portugiesischen zeigt: /káru/ caro ‚lieb, teuer‘ versus /káRu/ carro ‚Karren‘ (Ternes 1987:83). Im deutschen Phonemsystem existiert eine solche Distinktion jedoch nicht. Neben den deutschen konsonantischen „r-Varianten“ gibt es noch ein vokalisiertes „r“, das als [å] dargestellt wird. Diese Variante tritt nach den langen Vokalen am Wortende oder vor Konsonanten auf: Bier, Uhr, Tür etc. d.h. sie ist gegenüber [r] komplementär verteilt. In einigen Lautumgebungen kann es aber auch frei mit [r] variieren. Auch wenn der Gebrauch der verschiedenen r-Varianten sich nicht auf die Wortbedeutung auswirkt, so lassen sich an ihrer Verwendung evtl. Hinweise auf regionale Herkunft, Alter und soziale Position des Sprechers ablesen. Abbildung 9 fasst die verschiedenen Allophone des Phonems /r/ nochmals zusammen: 130 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Abbildung 9: Allophone des Phonems /r/ (vgl. Hakkarainen 1995:88) /r/ konsonantisch alveolar [r], [R] uvular Vibrant [{] 5.6.2 vokalisch [å] Frikativ sth [ “] stl [X] Silbenbetonung, Tonhöhe und Intonation Silben tragen eine Silbenbetonung, die man auch Akzent nennt. Silben sind entweder betont oder unbetont. Zur Aussprache einer betonten Silbe wird mehr Energie aufgewendet als für eine unbetonte Silbe. Betonte Silben sind prominenter als unbetonte, typischerweise länger und lauter und werden deutlicher artikuliert. Unbetonte Silben sind in der Regel kurz und werden weniger deutlich ausgesprochen. Wörter haben bestimmte Betonungsmuster; einige Wörter sind nur durch die Betonung zu unterscheiden. Das phonetische Symbol für die Wortbetonung ['] wird vor die betonte Silbe gesetzt: z.B. Au'gust [aU'gUst] vs. 'August ['aUgUst], per'fekt vs. 'Perfekt, mo'dern vs. 'modern. Trennbare Präfixverben werden von untrennbaren durch die Wortbetonung unterschieden: 'übersetzen ['y˘båzEtsn`] (Er setzt ans andere Ufer über) , über'setzen [y˘bå'zEtsn`] (Er übersetzt ein Buch). Die Betonung liegt im Deutschen auf Silben mit einem Vokal als Silbenkern, nicht aber mit dem Schwa-Laut [´] bzw. silbischen Konsonanten. Bei einfachen Wörtern ist dies in der Regel die letzte bzw. vorletzte betonbare Silbe: 'Dackel, 'Torte, Ka'pelle. Präfixe in nichttrennbaren Präfixverben tragen ebenso wenig eine Betonung wie Flexionssuffixe und auch deutsche Ableitungssuffixe. Bei Zusammensetzungen aus zwei Kernmorphemen wird bei Determinativkomposita der erste Bestandteil betont, bei Kopulativkomposita beide Bestandteile. In einer Äußerung können die wichtigen Wörter durch Betonung hervorgehoben werden und auf diese Weise einen Kontrast anzeigen: (2) a. Der Gärtner hat den Grafen erstochen. (Normalfall der Satzbetonung) b. Der GÄRTNER hat den Grafen erstochen. (Kontrast: und nicht der Butler) c. Der Gärtner hat den GRAFEN erstochen. (Kontrast: und nicht die Gräfin) d. Der Gärtner hat den Grafen ERSTOCHEN. (Kontrast: und nicht erschlagen) PHONETIK UND PHONOLOGIE 131 Eine weitere Eigenschaft von Silben ist der Ton. In einer Tonsprache wie Chinesisch werden die meisten Bedeutungen mit einem bestimmten Tonhöhenverlauf assoziiert. Die Tonhöhe einer Silbe hat in solchen Sprachen einen ebenso großen Anteil an der Bedeutungsdifferenzierung wie die phonologische Struktur der Silbe. Dies wird anhand der chinesischen Beispiele in Übersicht 4 deutlich. Übersicht 4. Tonhöhe als Mittel der Bedeutungsdifferenzierung im Chinesischen 1. Ton: flach 2. Ton: steigend / 3. Ton: fallend-steigend Ü 4. Ton: fallend \ (nach Ternes 1987:133) [ma#] [má] [ma‡] [mà] ‚Mutter‘ ‚Hanf‘ ‚Pferd‘ ‚schimpfen‘ Unter Satzbetonung oder Intonation versteht man die „Melodie“ einer Äußerung. Durch die Intonation werden beispielsweise die Funktion einer Äußerung (Aussage oder Frage) und die Einstellung des Sprechers (siehe Kapitel 4.4.1. und 4.4.2.) angezeigt. 5.7 Laute in der Nachbarschaft anderer Laute Es reicht nicht aus, einzelne Laute isoliert zu betrachten, denn wenn sie zu Wörtern zusammengesetzt werden, können sie durch die Nachbarschaft zu anderen Lauten beeinflusst und verändert werden. Die Aussprache eines Wortes kann sich wiederum deutlich verändern, wenn es zusammen mit anderen Wörtern in einer syntaktischen Gruppe oder einem Satz gesprochen wird. 5.7.1 Elision oder Tilgung Insbesondere bei informellem, schnellerem Sprechen werden einige Laute im Lautstrom ausgelassen. Diese Auslassungen bezeichnet man als Elision oder Tilgung. Lautauslassungen sind aber keineswegs die Folge einer „schludrigem“ Aussprache, sondern Teil der Umgangslautung. Würde man sie nicht machen, so fiele man sicherlich als pedantisch auf. Es folgen einige Beispiele für Elisionen: • Wenn /t/ als mittlerer Konsonant in einer Gruppe aus drei Konsonanten steht, kann es in bestimmten Lautumgebungen ausfallen: und zwar nach /n/ und /l/ und vor /s/ wie in Glanz [lants] > [lans] oder erhältst [EåhEltst] > [EåhElst] sowie vor /l/ nach Reibelauten: schriftlich [SIftlIC] > [SIflIC]. • Wenn zwei gleiche Konsonanten an Morphemgrenzen unmittelbar aufeinander treffen, wird der zweite in der Regel getilgt: Bettuch [bEttUx] > [bEtUx], annehmen [anne˘m´n] > [ane˘mn``], enttarnen [Entta{n´n] > [Enta{n`]. Es entsteht ein so genanntes Silbengelenk. • In unbetonten Silben steht oft der Schwa-Laut [´]. Vor Nasalen, die unmittelbar auf einen betonten Vokal folgen, kann dieser Reduktionsvokal völlig getilgt werden: z.B. unten [unt´n] > [untn], eben [eb´n] > [ebn], oder sogar 132 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (die) ungebetenen (Gäste) ['Ung´be˘t´n´n] > [Ung´be˘tn`n`]. Der Schwa-Laut fällt auch häufig im Wortauslaut oder vor Sonorant + [k] vor einer Wortgrenze oder bei Sonorant + Vokal aus: [iCmax´] > [iCmax], [grO˘s´r´] > [grO˘sr´] • Nach velarem Nasal und vor Schwa, vor dem unsilbischen Vokal [å], der aus Schwa abgeleitet ist, sowie vor Konsonanten und im Wortauslaut kann [g] elidiert werden: Finger, dagegen, eng, Hunger, Zunge, länglich. 5.7.2 Assimilation Beim Sprechen können Laute durch andere Laute so beeinflusst werden, dass sie sich diesen in der Phonation bzw. der Artikulation angleichen. Diesen Angleichungsprozess bezeichnet man als Assimilation. Wenn ein Laut einen folgenden Laut derart beeinflußt, handelt es sich um progressive Assimilation, beeinflusst ein folgender Laut einen vorhergehenden, so spricht man von regressiver Assimilation. Meist wird der betreffende Laut einem Laut in einem Merkmal angeglichen, und zwar entweder in der Stimmhaftigkeit, der Artikulationsstelle oder der Artikulationsart. Von Nasalassimilation spricht man, wenn ein Nasallaut [n] an der Artikulationsstelle eines unmittelbar vorangehenden oder folgenden Obstruenten angeglichen wird. Bei Haken [hakn], legen [le˘gn`], Suppen [zpn`] ist durch die Elision des Schwa-Lautes [] der Nasallaut in unmittelbare Nachbarschaft zum Plosiv getreten. Der stimmhafte dentale Nasal [n] wird nach velarem Plosiv [k,g] zum stimmhaften velaren Nasal [N] bzw. nach stimmlosem bilabialen Plosiv [p] zum stimmhaften bilabialen Nasal [m], z.B. Puppen [pUpn`] > [pUpm`]. Wenn [g] aufgrund von morphologischen Bedingungen im Silbenendrand auftritt, so kann es nach hinteren, offenen (velaren) Vokalen zu velarem [x], ansonsten zu [C] entstimmt und assimiliert werden: (du) sagst [zast] > [zaxst] bzw. legst [le˘gst] > [le˘Cst]. In den bisher beschriebenen Fällen beeinflusst jeweils ein Laut einen unmittelbar folgenden so, dass der folgende Laut nun an selber Stelle artikuliert wird. Man spricht deshalb von progressiver Assimilation der Artikulationsstelle. Die Merkmale Stimmhaftigkeit und Artikulationsart bleiben bei dem betreffenden Laut von der Assimilation unberührt. Ein Beispiel für eine regressive Assimilation der Artikulationsstelle ist, wenn auf den stimmhaften dentalen Nasal [n] unmittelbar ein stimmloser bilabialer Reibelaut [f] folgt. [n] wird dann zum stimmhaften bilabialen Nasal [m] assimiliert: sanft [zanft] > [zamft]. Wenn der Nasal [n] vor einem velaren Obstruenten [k], [g] auftritt, so wird er an die velare Artikulationsstelle von [k], [g] angeglichen, d.h. zu [N] velarisiert, z.B. ungenau [Ung´naU] > [UNg´naU], Henkel [hENkl`]. Ein Beispiel für Assimilation im Merkmal Stimmhaftigkeit ist, wenn auf stimmlose Plosive oder Frikative [b], [d], [g] oder [z] folgen. In diesem Fall werden sie völlig entstimmt: dasselbe [sz] > [ss], frisch sein [Sz] > [Ss]. Assimilationen treten auch über Morphem- und Wortgrenzen hinweg auf. Ein Beispiel für progressive Assimilation der Artikulationsart über eine Wortgrenze hinweg ist zum Beispiel [tsUmbaISpi˘l] > [tsUmmaISpi˘l], wo der stimm- PHONETIK UND PHONOLOGIE 133 hafte bilabiale Plosivlaut [b] vollständig zum bilabialen Nasal [m] assimiliert wurde. Regressiv assimiliert wird in ähnlicher Weise an beide [anbaId´] > [mb]. Nach den Plosivlauten [t], [p] können [l] + [“] stark entstimmt und frikativisiert werden, so dass sich diese Lautkombination an [X], ein Allophon des „Ach“-Lautes [x] annähern kann: traten [tXa˘tn`] und Preis [pXaIs]. Regressive Assimilation der Artikulationsart tritt beispielsweise auch auf, wenn am Wortende der stimmlose alveolare Frikativ [s] im Anfang des nächsten Wortes auf den stimmlosen palatoalveolaren Frikativ [S] trifft. Dann wird nämlich assimiliert wie in das Schaf [sS] bzw. Eisscholle [SS]. Im letzten Fall sind als Ergebnis der Anpassung die betreffenden Laute völlig gleich – es handelt sich um vollständige Assimilation. 5.7.3 Vokalreduktion Unbetonte Vokale können im Deutschen ihre distinktive Qualität verlieren und nehmen die Qualität des Vokals Schwa [´] an. Für das Phonem /r/ sowie die Phonemfolgen /´r/ oder das Morphem {-er} kann in bestimmten Positionen der Reduktionsvokal [å] eintreten. Dabei kann man die verschiedenen Stufen der Vokalreduktion anhand von Reduktionsreihen wie in Übersicht 5 verfolgen. Auf Stufe 0 befindet sich die Starkform. Auf der ersten Reduktionsstufe werden lange, gespannte Vokale gekürzt. Dann werden kurze, gespannte Vokale näher zum Zentrum des Vokalraumes hin artikuliert und mit weniger Muskelspannung artikuliert. Auf der nächsten Stufe treten dann die Reduktionsvokale [´] und [å] ein. Schließlich kann der Schwa-Laut noch getilgt und durch silbisches [n`] ersetzt werden. Übersicht 5. Reduktionsreihe für den und mir (nach Hakkarainen 1995:65f) den mir 5.7.4 0 [de˘n] [mi˘å] Reduktionsstufen 1 2 3 [den] [dEn] [d´n] [miå] [mIå] [må] 4 [dn`] Schwachformen Eine Reihe von Funktionswörtern haben starke und schwache Aussprachevarianten, je nachdem, ob sie betont oder unbetont sind. Vor oder nach einer betonten Wortsilbe ordnen sie sich dieser unter und sind dann ohne Akzent. Es stehen dann die so genannten Schwachformen. Die starke Form ist jeweils die Aussprache in betonter Stellung. In Der war es! [dEå va˘ Es] werden die Starkformen von der und es verwendet. In Ist es in der Scheune? [Iz´sInåSçIn´] die entsprechenden Schwachformen. Bei einigen Funktionswörtern hat sich diese Entwicklung auch in der Schreibung niedergeschlagen: zu dem > zum, von dem > vom, während andere in der Schriftsprache nicht akzeptiert sind: *aufm *übern. Wie wir des Öfteren bei der Beschreibung der Assimilation schon gesehen haben, können mehrere dieser Prozesse zusammenwirken. Durch Elision können Laute in Nachbarschaft geraten und sich dann einander angleichen. 134 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 5.8 Zusammenfassung Die Phonetik untersucht die physikalischen Eigenschaften und artikulatorischen wie auditiven Aspekt aller Laute, die überhaupt in Sprachen auftreten können. Die Phonologie beschäftigt sich mit dem Lautsystem einer bestimmten Sprache und der bedeutungsdifferenzierenden Funktion einzelner Phoneme. Zwischen Aussprache und Schreibung können in einer Sprache große Differenzen bestehen, denn die Orthographie kann sich nicht immer allein nach phonologischen Kriterien richten. Sie muss auch Aspekte der Morphologie in einer morphophonologischen Schreibung berücksichtigen. Gelegentlich stellen die Sprecher durch etymologische Schreibung auch selbst solche Beziehungen her. Da die Schreibung die Laute einer Sprache nicht exakt repräsentieren kann, hat man in der Phonetik das Internationale Phonetische Alphabet mit genau bestimmbaren phonetischen Symbolen eingeführt. Aus phonetischer Sicht werden sprachliche Laute anhand der Kriterien Phonation und Artikulation beschrieben. Durch die Phonation entsteht der Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten. Unter dem Aspekt der Artikulation beschreibt man Form und Veränderung des Sprechkanals, durch die der Resonanzraum für die Erzeugung eines jeden Lautes geschaffen wird. Konsonanten werden anhand ihrer Artikulationsstelle und der Artikulationsart, wie vollständiger Verschluss, starke bis keine Einengung des Luftstroms, beschrieben. Bei der Artikulation von Vokalen wird der Luftstrom nicht eingeschränkt. Sie sind daher artikulatorisch viel schwieriger festzumachen. Aus diesem Grunde hat man im Mundraum einige Referenzpunkte festgelegt, die man als Kardinalvokale bezeichnet. Anhand der vier Parameter hoch/tief und vorne/hinten lassen sich nun alle Vokale im Vokalviereck positionieren. Die Kombination zweier Vokale in einer Silbe bezeichnet man als Diphthong. Verschiedene Laute können Varianten ein und desselben Phonems sein. Ein Phonem ist daher eher psychologischer als physikalischer Natur, d.h. es handelt sich um Lautkategorien, die bedeutungsdiskriminierend sind. Zwei Laute sind zwei unterschiedliche Phoneme, wenn sie einen Bedeutungsunterschied konstituieren, wie z. B. im Minimalpaar Bass [bas] und Pass [pas]. Sind Laute zwar verschieden, aber tragen nicht zur Bedeutungsdiskrimination bei, wie das behauchte [th] in Tier und das unbehauchte [t] in Stier, so bezeichnet man sie als Allophone eines Phonems. Allophone können in komplementärer Verteilung auftreten, d.h. eine jede Variante ist an eine bestimmte Lautumgebung gebunden: [th] tritt nur am Anfang von Silben auf, [t] an anderen Stellen. Wenn die Lautumgebung für das Auftreten der Varianten eines Phonems keine Rolle spielt, wie bei den konsonantischen Allophonen des Phonems /r/, dann stehen die Allophone in freier Variation. Entsprechend der Unterscheidung in Phonetik und Phonologie muss also zwischen zwei Transkriptionsarten unterschieden werden: eine phonetische Transkription erfasst alle Allophone eines Phonems, während eine phonematische Transkription nur die Phoneme berücksichtigt. Neben den einzelnen Lauten sind auch größere Einheiten wie Silben, Wortakzent, Tonhöhe und Satzintonation von Bedeutung. Eine phonologische Silbe besteht aus einem vokal(ähnlichen) Sonorantenkern, d.h. einem Vokal oder einem Diphthong V, mit einem Anfangs- und einem Endrand aus Konsonanten PHONETIK UND PHONOLOGIE 135 (K). In Hinblick auf die Silbenstruktur gibt es zwischen den einzelnen Sprachen sehr starke Unterschiede. Die Position, die ein Phonem in einer Silbe einnehmen kann, bezeichnet man als die Verteilung dieses Phonems. Im Deutschen können beispielsweise mehrere Konsonanten miteinander verbunden werden, was man dann als Konsonantenhäufung bezeichnet. Treffen zu viele Konsonanten aufeinander, so findet Konsonantenreduktion statt. Silben bilden Wörter. Die Hauptsilbe wird dann durch die Wortbetonung markiert. Bei der Verbindung zu Morphemen, Lauten, Wörtern und Sätzen können Laute elidiert werden bzw. benachbarte Laute sich gegenseitig in ihrer Artikulation beeinflussen. In diesen Fällen spricht man von Assimilation und unterscheidet progressive Assimilation, wenn ein Laut einen folgenden beeinflusst, von regressiver Assimilation, wenn ein folgender Laut einen vorangehenden in seinen Artikulationsmerkmalen beeinflusst. Es gibt Assimilation der Stimmhaftigkeit, der Artikulationsstelle sowie der Assimilationsart. In der Umgangssprache führt schnelleres Sprechen zur Vokalreduktion und zum Gebrauch unbetonter Schwachformen. Ein Satz als Ganzes hat eine Hauptsilbe, welche die Satzbetonung trägt. Er weist zudem ein eigenes Melodiemuster auf, das als Satzintonation bezeichnet wird und unter anderem die kommunikativen Absichten und Einstellungen des Sprechers mitteilt. 5.9 Leseempfehlungen Eine universal ausgerichtete Einführung geben Ladefoged & Madieson (1996). Einführungen in die Phonetik des Deutschen sind Kohler (1995) und Hakkarainen (1995). Sehr gut lesbare Einführungen in die Phonologie mit Übungsaufgaben sind Ramers und Vater (1995), Ramers (1998) und Grassegger (2001). Ternes (1987) stellt phonologische Aspekte am Beispiel mehrerer Sprachen dar. Einen guten Überblick vermitteln auch die Duden Grammatik (1998) und Eisenberg (1998). Anders als die meisten Aussprachewörterbücher geht Muthmann (1996) in seinem phonologischen Wörterbuch von der Lautung der Wörter aus. Eine praktische Einführung in die Aussprache des Deutschen mit Audio-CDs – insbesondere für den Bereich Deutsch als Fremdsprache – ist Kaunzner (1997). 136 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 5.10 Aufgaben 1. Transkribieren Sie die folgenden Wörter zunächst in IPA. Nehmen Sie dazu die Übersichten zu IPA Symbolen zuhilfe. In welchen Merkmalen unterscheiden sich die unterstrichenen Phoneme? Fluch, Rache, Charme, Chaos, Quiche, Licht, Kirche Pfirsich, König, Teppich, traurig, Trick 2. Transkribieren Sie die folgenden Wortpaare und beschreiben Sie die phonetischen Unterschiede. Iren, irren; lose, Rose; hart, Art; Wahl, Wal; Beeren, Bären; Tier, dir; Rast, Rost; Ungar, ungar; Klang, krank; Socke, Locke; leiten, läuten, lauten; Betten, beten; rascheln, rasseln; Rad, Rat; verreist, vereist; Sex, sechs; Mund, wund; Lage, Gage. 3. „Schreibe, wie du sprichst!“ Diskutieren Sie die Frage, ob die deutsche Orthographie völlig dem phonologischen Prinzip folgen sollte. Welche Vor- und Nachteile hätte dies? 4. Stimmhaftigkeit a. Wenn man flüstert, kann man keine stimmhaften Laute hervorbringen. Wieso nicht? Das Wort Hund (wir) lässt sich dann kaum noch von dem geflüsterten Wort und (vier) unterscheiden. Welche Gründe gibt es dafür? b. Lassen sich die Wörter dir und Tier, doll und toll, Rose und Rosse beim Flüstern unterscheiden? (Hinweis [d] und [t], [z] und [s] unterscheiden sich nicht nur durch Stimmhaftigkeit, sondern auch durch andere Merkmale!) 5. a. b. Der erste Laut in ja ist phonetisch dem letzten Laut in Mai sehr ähnlich. Man kategorisiert aber j als Konsonant und den letzten Laut in Mai als Vokal. Welche Gründe lassen sich dafür finden? Wenn Sie den „k“-Laut in Kind und in Kunst aussprechen – welche Unterschiede nehmen Sie bei der Aussprache wahr? Sprechen Sie die Laute einmal unabhängig von den beiden Wörtern aus. 6. a. Wenn Sie die Umgebungen berücksichtigen, in denen „h“-Laute bzw. der velare Nasal /N/ auftreten, werden Sie feststellen, dass /h/ und /N/ komplementär verteilt sind. Beschreiben Sie für jeden dieser Laute möglichst genau die Lautumgebung, in der sie auftreten. Handelt es sich bei „h“-Lauten und den velaren Nasal um Allophone ein und desselben Phonems? Welche zusätzlichen Kriterien müssen über das Kriterium der komplementären Verteilung hinaus erfüllt sein, um die Phoneme in einer Sprache bestimmen zu können? PHONETIK UND PHONOLOGIE 137 b. 7. Kategorisieren Sie die Laute [å] (wie in [b]) bzw. [n`]`, [l`] (wie in [habn`], [ze˘gl`]). Welche Gründe sprechen dafür, sie jeweils a) als Konsonanten, b) als Vokale einzuordnen? Vokale a. Sprechen Sie einen reinen (nicht variierenden) „i“-Laut wie in Vieh. Sprechen Sie dann einen „u“-Laut wie in du und versuchen Sie, ihn so weit hinten wie möglich auszusprechen. Wechseln Sie nun zwischen den beiden Vokalen [i - u - i - u ]. Spüren Sie, wie sich in Ihrem Mund Ihre Zunge von vorne nach hinten bewegt? Zugleich runden sich Ihre Lippen bei [u] und entrunden sich bei [i]. b. Versuchen Sie nun dasselbe mit [i - a - i - a] wie in ihn und Aal. Den „i“-Laut müssen Sie dabei so geschlossen, den „a“-Laut so offen wie möglich bilden. Beim Wechsel können Sie spüren, wie die Zunge sich auf und nieder bewegt. Dasselbe geht auch für [u] und [u - a - u - a] Nun fühlen Sie, wie sich die Zunge hinten im Mund auf- und abbewegt. c. Beschreiben Sie die Vokale in den folgenden Beispielwörtern anhand der Merkmale Zungenhöhe, Zungenposition, Länge und Lippenrundung. Artikulieren Sie dazu zunächst das jeweilige Beispielwort und anschließend den betreffenden Vokal isoliert. Nehmen Sie zur Einordnung das Vokalviereck in Abb. 5 zuhilfe. Können Sie zwischen Ihrer Artikulation und der Einordnung in Abb. 5 Unterschiede ausmachen? Woran mag das liegen? Bügel, Glück, Biene, Fuß, kann, eine, Dose, doch, Bett, Beet, rät, fahl, auch, euch, Höhle, Hölle, muss, Bier, Sonne. 8. Silben a. 9. Beschreiben Sie die Phonemverteilung von /s/ (wie in hassen) und /z/ (wie in Hasen) für das Deutsche anhand eines kleinen Korpus. Assimilation und Elision a. Erläutern Sie, wie es in der Umgangslautung zu folgenden Aussprachen kommen kann: Morgen! [mçåg´n, mçågN, mçåN]; Haken [hakN`]; Reisschnaps [{aISnaps] einfach [aImfax] anmachen [ammax´n] das schnellere Auto [daSSnElr´] Lappen [lapm`] Kreis [kXaIs] einmal [AImå] Segel [ze˘gl`] deutschem [dçItSm`] bessere [bEsr´] 138 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT b. Transkribieren Sie die folgenden Sätze so, wie Sie diese bei schnellem Sprechen artikulieren würden. Erklären Sie, wie die Abweichungen gegenüber der Transkription der Einzelwörter zustande kommen. Bei so einem warmen Wetter wollen wir nicht in den Wald gehen. Hast du das gesehen? Ach ne! Wen haben wir denn da? Wo kommst denn du jetzt noch her? Kannst du mir das mal sagen? Ach ne, doch nicht – ich hab ihn nicht richtig verstanden. KAPITEL 6 Sprache, Kultur und Bedeutung: Kulturvergleichende Semantik 6.0 Überblick In den vorangegangenen Kapiteln haben wir bereits wiederholt Beispiele dafür gesehen, dass sprachliche Konzepte von einer Sprache zur anderen mehr oder weniger stark variieren können. Dies kann selbst auf eng miteinander verwandte Sprachen zutreffen. Im Sprachvergleich lassen sich in allen Bereichen der Sprache unterschiedliche sprachliche Konzeptualisierungen finden. Unterschiede wie Gemeinsamkeiten werden in der kulturvergleichenden Semantik untersucht. Sie können die Lexikologie, die Morphologie, die Syntax und selbst so grundlegende phonologische Aspekte wie Satzmelodie und Betonung betreffen. In diesem Kapitel wollen wir einige zwischen Sprachen und Kulturen variierende sprachliche Konzepte betrachten. Anhand dieser Beispiele werden wir eine Vorgehensweise vorstellen, mit deren Hilfe solche semantischen und kulturellen Unterschiede sehr genau beschrieben werden können. Eine der grundlegendsten und viel diskutierten Fragen in der Sprachwissenschaft betrifft den Zusammenhang von Sprache, Denken und Kultur. Spielen Unterschiede in der sprachlichen Konzeptualisierung eine wesentliche Rolle für die Sprache und das Denken, oder sind sie eher als interessante, aber nicht eben sehr grundlegende Randerscheinungen einzustufen? In der Sprachwissenschaft haben sich im Laufe der Diskussion dieser Fragen zwei gegensätzliche Hypothesen über den Zusammenhang von Sprache, Kultur und Denken herauskristallisiert. Auf der einen Seite steht die Hypothese von der linguistischen Relativität. Nach dieser Hypothese werden die menschliche Wahrnehmung und die Erfahrung der Welt durch sprachspezifische Konzeptualisierung beeinflusst und geleitet. In häufig verwendeten Mustern einer Sprache – insbesondere in deren grammatischen Strukturen – hat sich, so die These, eine bestimmte Sichtweise der Welt niedergeschlagen. Nach dieser Theorie kategorisieren wir die Welt anhand von Mustern, die uns durch unsere jeweilige Sprache vorgegeben sind – wir sehen die Welt durch unsere Sprache. Dieser Relativitätshypothese steht die Hypothese vom sprachlichen Universalismus entgegen. Ihr zufolge ist das menschliche Denken universell, d.h. es folgt über alle Kulturen hinweg denselben Grundprinzipien. Wenn Sprache das menschliche Denken widerspiegelt, müssen folglich auch alle Sprachen in den ihnen zugrunde liegenden konzeptuellen Kategorien im Grunde gleich sein. 140 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Der Relativitätshypothese zufolge beeinflussen und leiten die in häufig verwendeten Sprachmustern (insbesondere in der Grammatik) zum Ausdruck kommenden Konzeptualisierungen unsere Erfahrungen mit unserer Umwelt. Wir erfahren Dinge, Emotionen und Wahrnehmungen nach bestimmten Schemata, die uns durch unsere Sprache vorgegeben sind. Die Extremposition der Sprachrelativität nimmt einen ganz engen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken an und wird deshalb als Sprachdeterminismus bezeichnet. In diesem Kapitel wird ein Mittelweg zwischen diesen extremen Standpunkten beschritten: die meisten sprachlichen Konzepte sind in der Tat spezifisch für die jeweilige Sprache, doch gibt es darüber hinaus auch eine kleine Anzahl von universalen sprachlichen Konzepten, die sich in allen Sprachen der Welt finden lassen. Diese universalen Konzepte lassen sich zu einer annähernd „kulturneutralen“ Beschreibung von allen möglichen sprach- und kulturspezifischen Konzepten einsetzen. Sprachspezifische Erscheinungen könnten dann in einer semantischen Metasprache aus universal verständlichen Konzepten paraphrasiert und so universell zugänglich gemacht werden. Im Folgenden wollen wir diese Vorgehensweise zunächst für lexikalische, dann für grammatikalische Erscheinungen demonstrieren. Schließlich werden wir den Versuch unternehmen, kulturelle Normen, die dem sprachlichen Verhalten von Angehörigen verschiedener Kulturen zugrunde liegen, in Form von so genannten kulturellen Skripten zu beschreiben. 6.1 Sprachliche Relativität vs. Universalismus 6.1.1 Sprachliche und kulturelle Relativität In welchem Maße wird unser Denken durch unsere jeweilige Sprache beeinflusst? Wie eng ist der Zusammenhang zwischen Sprache, Kultur und Denken? Wie stark beeinflussen diese drei Faktoren einander? Nur wenige Fragen zur Sprache haben Gelehrte und Philosophen im Laufe der Geschichte so fasziniert und beschäftigt wie die Frage nach diesen Zusammenhängen. Im Jahre 1690 machte der englische Philosoph John Locke die Beobachtung, dass es in jeder Sprache „einen großen Vorrat an Wörtern [gibt], [...] denen in einer anderen kein einziges entspricht“. Solche sprachspezifischen Wörter repräsentierten nach Locke „komplexe Ideen“, die aus den „Gebräuchen und Lebensweisen“ der Menschen hervorgegangen sind (1976:226). Eine ähnliche Ansicht findet sich auch in der Tradition der deutschen Romantik, insbesondere in den Schriften von Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt. Beide sahen Sprache als eine Art Prisma oder auch Raster an, durch das wir Menschen die Erscheinungen der Welt wahrnehmen. Jede Sprache enthält nach dieser Annahme eine andere Perspektive und spiegelt eine bestimmte Weltsicht wider. Mit den Worten von Wilhelm von Humboldt (1903-36, Bd. 7:60): [...] so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht. Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äusserlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 141 Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten. Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschliesslich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern herauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt. Diese Hypothese wurde schließlich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Franz Boas, dem Gründer der amerikanischen Kultur- und Sprachanthropologie, nach Amerika getragen. In Amerika trafen Boas und seine Studenten auf Sprachen und Kulturen, die sich so grundlegend von den europäischen unterschieden, dass Edward Sapir (1949:27) allein für den Bereich des Wortschatzes zu folgender Aussage kam: „Unterscheidungen, die uns unabdinglich erscheinen, mögen in anderen Sprachen, die einen völlig anderen Kulturtyp widerspiegeln, keinerlei Rolle spielen. Umgekehrt bestehen diese auf Unterscheidungen, die für uns nichts anderes als unverständlich sind.“ Ähnliche Beobachtungen machten auch die russischen Wissenschaftler Luria & Vygotsky (1992), die bei nicht oder kaum alphabetisierten Gesellschaften in Lappland einen extrem umfangreichen Wortschatz feststellten. In diesen Sprachen fehlten dann aber allem Anschein nach oftmals die abstrakteren und allgemeineren Kategorien: „Eines dieser primitiven nordischen Völker besitzt beispielsweise eine ganze Reihe von Bezeichnungen für die verschiedensten Rentierarten. Dort finden sich besondere Wörter für 1,2,3,4,5,6 und 7 Jahre alte Rentiere, es gibt 20 verschiedene Wörter für Eis, 11 für kalt, 41 für Schnee in den unterschiedlichsten Zuständen sowie 26 Wörter für frieren und tauen. Aus diesem Grunde widerstreben sie [diese Völker] auch allen Bemühungen, sie von ihrer eigenen Sprache weg zum Gebrauch des Norwegischen zu bewegen, das ihnen in dieser Hinsicht als viel zu arm erscheint.“ (1992:63, deutsche Übersetzung R.P.) Auch die grammatischen Systeme der Sprachen aus der Neuen Welt waren für europäische Sprachforscher so etwas wie ein Schock. Dort gab es Sprachen, denen so vertraute grammatische Kategorien wie „zählbar/nicht-zählbar“, „Substantiv/Verb“, oder „Tempus“ und „Kasus“ gänzlich fehlten. Dafür fanden sie in diesen Sprachen exotisch anmutende Unterscheidungen, wie etwa ob ein Ereignis oder eine Handlung sich in Raum oder Zeit wiederholt hat, ob es nördlich, südlich, östlich oder westlich des Sprechers stattgefunden hat, ob es dem Sprecher aufgrund von persönlicher Erfahrung, von Hörensagen oder durch eigene Schlussfolgerung bekannt wurde, oder auch ob eine Sache sichtbar war oder nicht. Sapir (in Mandelbaum 1958:157-159) nennt als Beispiel eine Erfahrung, die in seiner Muttersprache Englisch durch ein Prozessschema ausgedrückt wird: the stone falls ‚der Stein fällt‘. In der indianischen Sprache Kwakiutl, die in BritischKolumbien gesprochen wurde, wird genau unterschieden, ob etwa ein Stein für den Sprecher zum Zeitpunkt des Sprechens sichtbar oder nicht sichtbar ist, sowie ob er dem Sprecher, dem Hörer oder einer dritten Person am nächsten ist. Dafür wird in Kwakiutl weder unterschieden, ob es sich um einen oder um mehrere 142 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Steine handelt, noch wird der Zeitpunkt des Fallens näher bestimmt. In einer weiteren Indianersprache, der Sprache der Nootka, gibt es keine Substantiv-, sondern nur Verbformen. Sie bestehen aus zwei Elementen: ein Element gibt die Bewegung oder Position eines Objektes an – in diesem Fall also eines Steines oder steinähnlichen Objektes. Das zweite Element bezeichnet die Bewegungsrichtung – in diesem Fall also „abwärts“. Ein herabfallender Stein würde also mit einem Ausdruck bezeichnet, der im Deutschen am ehesten durch „es steint herab“ wiedergegeben würde. Sapir berichtet, dass – anders als im Englischen (und auch im Deutschen) – „Stein“ nicht für sich genommen als eine zeitlich stabile Entität gesehen wird. Der „Dingstatus“ von „Stein“ wird lediglich durch das Verbelement impliziert, das die Art der Bewegung bezeichnet. Es ist nicht verwunderlich, dass aufgrund solcher Beispiele sich eine Theorie der sprachlichen Relativität nahezu aufdrängte. Bis heute ist strittig, ob unterschiedliche Sprachen mit ihren unterschiedlichen grammatischen Kategorien, die sich in ihnen entwickelt haben, den Sprechern dieser Sprachen auch unterschiedliche Weltansichten nahe legen. Sollten wir durch die grammatischen Kategorien in unserer Sprache tatsächlich mehr oder weniger stark gezwungen sein, einzelnen Aspekten einer Situation stärkere Aufmerksamkeit zu widmen als anderen? Benjamin Lee Whorf prägte den Begriff der sprachlichen Relativität und formulierte seine Hypothese über den Zusammenhang von Sprache und Kultur wie folgt: Wir zergliedern die Natur entlang von Linien, die uns von unseren Muttersprachen vorgezeichnet sind... Wie wir die Natur zerteilen, sie in Konzepten organisieren und ihnen auf eine bestimmte Art und Weise Bedeutung zuschreiben, geht im Großen und Ganzen darauf zurück, dass wir Partner in einer Übereinkunft sind, sie eben auf diese bestimmte Art und Weise zu organisieren – eine Übereinkunft, die für unsere Sprachgemeinschaft gilt und als Code in den Mustern unserer Sprache niedergelegt ist. Diese Übereinkunft ist natürlich unausgesprochen und implizit, ihre Bedingungen sind aber ABSOLUT VERBINDLICH; wir könnten überhaupt nicht sprechen, würden wir nicht die Organisation und Klassifikation von Daten so übernehmen, wie sie diese Übereinkunft uns vorschreibt (Whorf 1956:213, Übersetzung R.P.). Sicherlich übertreibt Whorf in seiner Darstellung den Grad, zu dem die in einer Sprachgemeinschaft getroffene Übereinkunft „absolut verbindlich“ sein soll. Es lassen sich immer sprachliche Mittel und Wege finden, um diese vorgegebene Übereinkunft zu umgehen: etwa durch Paraphrasen und Umschreibungen. Doch ist damit auch zusätzlicher Zeit- und Interpretationsaufwand verbunden – wir müssen dann längere, komplexere und umständlichere Ausdrücke verwenden, als wenn wir auf eines der konventionellen sprachlichen Muster zurückgreifen, die uns in unserer Sprache zur Verfügung stehen. Darüber hinaus können wir nur sprachliche Konventionen vermeiden oder umgehen, wenn wir uns ihrer auch bewusst sind. Nicht selten ist der Einfluss unserer Sprache auf die gewohnheitsmäßige Wahrnehmung und das damit verbundene Denken allerdings so stark, dass sich die Sprecher beim alltäglichen Gebrauch ihrer Sprache dieser sprachlichen Konventionen ebenso wenig bewusst sind und sie für beinahe so selbstverständlich halten wie die Luft zum Atmen. Whorf ist wie kein zweiter Sprachwissenschaftler vor oder nach ihm für diese Ansichten kritisiert und angegriffen worden. Doch nur wenige seiner Kritiker KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 143 haben seine Thesen sehr genau gelesen und den ernsthaften Versuch unternommen zu verstehen, was Whorf eigentlich zu sagen versuchte (siehe hierzu Lucy 1992a, Gumperz und Levinson 1996, Lee 1996). Einer der vielen Kritikpunkte an der SapirWhorf-Hypothese bezieht sich auf die mangelnde empirische Beweislage. Es sei bisher niemals der Versuch unternommen worden, die These durch empirische Untersuchungen zu belegen. Es gebe also keine wirklichen Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Wahrnehmung von Sprechern unterschiedlicher Sprachen tatsächlich durch ihre jeweilige Sprache beeinflusst wird und dazu führt, dass sie Aspekte ihrer Umwelt unterschiedlich wahrnehmen und kategorisieren. Gipper (1972) beleuchtete kritisch die internationale Auseinandersetzung um Whorfs Thesen und setzte sich als Konsequenz sehr genau mit den Untersuchungen Whorfs auseinander, die diesen zur Formulierung eben jener Thesen veranlasst hatten. Whorf hatte die Struktur des Hopi untersucht, eine Sprache aus der Familie der utoaztekischen Sprachen (siehe Kapitel 10), die von einem in der Wüstenlandschaft in Nordarizona lebenden Indianerstamm gesprochen wurde. Ende der sechziger Jahre unternahm Gipper zwei Feldstudien zur Überprüfung der Datengrundlage und gelangte zu einer Reihe von „notwendigen Korrekturen“. Vor dem Hintergrund seiner Ergebnisse kommt Gipper (1972:239) zu folgendem Schluss: „Wenn man das, was Whorf hier ‚Grammatik‘ nennt, auf die Ganzheit einer Sprache einschließlich der semantischen Strukturen bezieht, dann ist Whorf insofern recht zu geben, als die jeweils verschiedenen semantischen Gliederungen und die unterschiedliche lexikalische Ausdifferenzierung in einzelnen lebenswichtigen Sinnbereichen die Aufmerksamkeit und häufig das beobachtbare Verhalten der Sprachangehörigen lenkend und steuernd beeinflussen. Jedoch muß sofort einschränkend hinzugefügt werden, daß es wichtige regulative Prinzipien menschlicher Erfahrung gibt, die ein völliges Auseinanderklaffen der verschiedenen Auffassungen verhindern. Diese Regulative sind einmal in den gemeinsamen biologischen Voraussetzungen der Menschen, zum anderen in der Struktur der außermenschlichen Natur und Gegenstandswelt zu suchen.“ In jüngster Zeit sind durch empirische Forschungen weitere Schritte der empirischen Überprüfung unternommen worden. Die Spracherwerbsforscherinnen Choi & Bowerman (1991, auch Bowerman 1996) haben inzwischen Untersuchungsergebnisse vorgelegt, die offenbar belegen, dass englische und koreanische Kinder im Alter von 20 Monaten sich aufgrund der unterschiedlichen Sprachsysteme ihrer Muttersprache in Experimenten unterschiedlich verhalten. In diesen Experimenten sollten die Kinder (a) Puzzleteile in ein Puzzle einfügen, (b) Spielsachen in einen Beutel oder eine Kiste packen, (c) die Kappe auf einen Stift stecken und (d) einer Puppe einen Hut aufsetzen. Die Ergebnisse der Experimente werden in Übersicht 1 dargestellt. Die englischsprachigen Kinder ordneten (a) und (b) in eine Gruppe sowie (c) und (d) in eine andere Gruppe ein. Diese Kategorisierungen entsprechen dem Bedeutungsunterschied, der durch die englischen Präpositionen in und on sprachlich repräsentiert wird. Bei den koreanischsprachigen Kindern wurde eine andere Vorgehensweise beobachtet: sie fassten (a) und (c) bzw. (b) und (d) in jeweils einer Kategorie zusammen. 144 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT koreanischsprachige Kinder Übersicht 1. Klassifikation von „Trennen“ and „Verbinden“ durch englisch- und koreanischsprachige Kinder kkita („feste Verbindung und Kontakt“) ppayta („aus fester Verbindung lösen“] englischsprachige Kinder („enthält“) („Oberflächenkontakt Stützfunktion“) in on c) a) Kappe/Stift Teile/Puzzle Deckel/Glas Foto/Brieftasche Handschuh/Hand Hand/Handschuh Buch/Regal Magnet/Oberfläche Klebestreifen/Oberfläche Legoteile zusammen/ auseinander b) Spielzeuge/Kiste Klötze/Pfanne weitere Verben („lose in die/aus der BadeVerbindung“) wanne steigen d) Kleidung an/aus (Hut, Schuh, Mantel, usw.) auf den Stuhl setzen/vom Stuhl aufstehen in ein Haus,einen Raum/aus einem Haus einem Raum gehen Diese Gruppierung entspricht einem sprachlichen Aspekt des Koreanischen: das Verb kkita bezeichnet, dass etwas mit etwas anderem eine feste Beziehung eingeht. Darüber hinaus gibt es auch das Verb ppayta, mit dem angezeigt wird, dass etwas aus einer fest gefügten Beziehung entfernt wird. Zur Bezeichnung von losen Verbindungen oder lediglich Oberflächenkontakt (also b) und d)) werden ebenfalls unterschiedliche Verben verwendet. Für die koreanischsprachigen Kinder ist bei dieser Kategorisierungsaufgabe offenbar entscheidend, welche Dinge fest zusammengefügt werden können, wie (a) die Teile in ein Puzzle oder (c) die Kappe auf einen Stift, oder aber, ob die Verbindung der Sachen lose ist, wie bei den Spielzeugen im Beutel (b) oder dem Hut auf der Puppe (d). In weiteren Studien zu diesem Thema untersuchte John Lucy (1992b), wie erwachsene Sprecher des Englischen und Sprecher des Yucatec Maya Informationen über konkrete Objekte verarbeiten. Auch hier ließen sich signifikante Unterschiede feststellen. Die englischsprachigen Probanden widmen der Anzahl der Objekte größere Aufmerksamkeit als die Sprecher des Yucatec. Sie klassifizieren tendenziell nach der Form. Yucatec-Sprecher konzentrieren sich bei der Klassifizierung hingegen eher auf die materielle Beschaffenheit der Objekte. Diese unterschiedlichen Kategorisierungsweisen finden sich auch in der sprachlichen KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 145 Konzeptualisierung der Sprecher wieder: Englisch markiert den Numerus, während in Yucatec der Unterschied mit klassifizierenden Adjektiven bezeichnet wird. 6.1.2 Semantische Primitiva als Schlüssel zum Kulturvergleich Die Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen zwei Sprachen ist eine Sache, diese Unterschiede auf möglichst neutrale Art zu beschreiben, ohne zu sehr die eigene Sprache ins Spiel zu bringen, eine andere. In der Vergangenheit ist die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sprache, Kultur und Denken auch wesentlich dadurch in ihrem Fortgang behindert worden, dass zur Untersuchung von Gemeinsamkeiten bzw. Unterschieden zwischen den Bedeutungssystemen verschiedener Sprachen keine strikte Methode zur Verfügung stand. Gibt es eine Methode, mit der sich diese Beschreibungsprobleme annähernd lösen lassen? Die notwendige methodologische Rigidität könnte erreicht werden, wenn wir unsere semantischen Beschreibungen auf universelle Konzepte gründen. Viele Denker und Gelehrte nahmen an, dass es so etwas wie universelle Konzepte geben müsse. Philosophen wie Pascal, Descartes, Arnauld und Leibniz bezeichneten sie als „einfache Ideen“ oder auch als das „Alphabet des menschlichen Denkens“. Sprachwissenschaftler der Gegenwart bezeichnen solche universalen Konzepte allgemein als semantische Primitiva. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden etwa 60 dieser semantischen Primitiva durch empirische Verfahren identifiziert – vor allem durch Vergleiche von Wörtern und Wortbedeutungen in vielen Sprachen – und in ihrem Status überprüft und bestätigt (siehe hierzu Wierzbicka 1996). Man kann sich diese Primitiva als kleinste semantische „Bedeutungsatome“ vorstellen, aus denen sich die Tausende und Abertausende von komplexen Bedeutungen zusammensetzen. Mithilfe der Primitiva lässt sich nun ein Ansatz für die sprach- und kulturvergleichende Semantik vorstellen. In Kapitel 2 wurde bereits eine Möglichkeit zur Bedeutungsbeschreibung von Wörtern vorgestellt: die Paraphrase. Wenn man die Bedeutung eines Wortes paraphrasiert, so beschreibt man diese durch eine Abfolge anderer Wörter – die Umschreibung soll annähernd dieselbe Bedeutung haben wie das zu umschreibende Wort. Damit eine Paraphrase ihre Funktion auch erfüllen kann, muss sie stets einer einfachen Regel folgen: zur Umschreibung eines Wortes werden nur einfache Wörter verwendet, d.h. zur Erklärung eines Wortes greift man auf einfachere, unmittelbar verständliche Wörter zurück. Leider halten sich Wörterbücher aber oft nicht an diese Grundregel und tappen damit in eine Falle. Nicht selten sind undeutliche Beschreibungen das Ergebnis. So paraphrasiert das Duden Deutsche Universalwörterbuch (2001:483,2) beispielsweise die Bedeutung des Wortes erinnern als „im Gedächtnis bewahrt haben u. sich dessen wieder bewusst werden“. Wenn nun aber ein Kind oder ein Fremdsprachenlerner aufgrund seiner Sprachkenntnisse nicht auf die Bedeutung der Wörter Gedächtnis, bewahren oder auch sich bewusst werden zurückgreifen kann, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er das Wort erinnern versteht. Undeutliche Umschreibungen können die Bedeutung eines Wortes nicht auf unmittelbar verständliche Weise wiedergeben. Mit ihnen wird versucht, die Schwierigkeit beim Verstehen eines Wortes dadurch zu 146 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT beheben, dass man andere, nicht eben leichter zu verstehende Wörter, zur Erklärung anführt. Undeutliche Umschreibungen sind oftmals auch zirkulär: ein Wort A wird durch ein Wort B bestimmt. Dann wird Wort B durch Wort A bestimmt, wie in folgendem Beispiel aus einem Wörterbuch. Schicksal wird als „alles, was dem Menschen widerfährt, Geschick, Los; Fügung, Lebensbestimmung, das menschl. Leben lenkende Kraft“ (Wahrig Deutsches Wörterbuch 2000: 1097,2) paraphrasiert, Geschick als „Schicksal, Fügung“ (545,3), Los als „Schicksal, Geschick“ (832,1), Fügung als „das Sichfügen; Walten des Schicksals“ (506,2), Bestimmung als „Schicksal, Los“ (264,2). Nicht immer sind zirkuläre Definitionen so einfach auszumachen wie in diesem Fall, oftmals schließt sich der Zirkel erst nach mehreren Stufen der Definition: So wird nicht selten A durch B definiert, B durch C und C dann wieder durch A. Eines wird jedoch sehr deutlich: zirkuläre Definitionen können eine komplexe Bedeutung nicht durch einfache Umschreibung verständlich machen. Wenn wir den Versuch unternehmen, Wortbedeutungen aus einer anderen Sprache als unserer eigenen zu bestimmen, so ergibt sich noch ein weiteres Problem: für die meisten Wörter gibt es in der anderen Sprache keine direkte Entsprechung. Dies ist selbst bei scheinbar ganz einfachen und konkreten Wörtern wie Hand und brechen der Fall. In der russischen Sprache gibt es kein genaues Gegenstück zum Deutschen Hand: das russische Wort, mit dem unter anderem die Hand einer Person bezeichnet wird (ruka), kann sich auch auf den gesamten Arm beziehen. In der malaisischen Sprache gibt es kein genaues Äquivalent zu Bruch, denn man unterscheidet mit zwei verschiedenen Wörtern, putus und patah, danach, ob etwas völlig oder nur teilweise durchgebrochen ist. Eine solche Bedeutungsvariation über die Sprachen hinweg birgt für die linguistische Semantik die Gefahr des Ethnozentrismus, d.h. der kulturellen Voreingenommenheit. Wenn wir zur Beschreibung einer anderen Sprache Konzepte verwenden, die für unsere eigene Sprache spezifisch sind, so wird unsere Beschreibung unweigerlich durch diese Konzepte geprägt sein, denn wir wenden unsere – für die andere Sprache fremden – konzeptuellen Kategorien auf eben jene Sprache an. Wenn wir also die Bedeutung des russischen Wortes ruka als „Hand oder Arm“ erklären würden, so wäre diese Beschreibung ethnozentrisch, denn mit ihr wird angenommen, dass ruka = Hand oder Arm ist. Diese Unterscheidung wird aber mit dem russischen Wort gerade nicht getroffen und ist für dessen Bedeutung auch nicht relevant. Kann es aber überhaupt eine Möglichkeit geben, diese Probleme bei der Beschreibung von Bedeutungen annähernd zu überwinden? Wenn wir undeutliche und zirkuläre Beschreibungen vermeiden wollen, dann müssen wir bei der Beschreibung eines Wortes auf Bedeutungselemente zurückgreifen, die einfacher sind, als das Wort, das wir beschreiben wollen. Eine Beschreibung, die diesem Prinzip folgt, bezeichnet man als reduktionistische Paraphrase. Die komplexe Bedeutung wird in eine Kombination aus einfacheren Bedeutungen aufgeschlüsselt (d.h. auf eine Paraphrase aus einfachen Bedeutungselementen reduziert). Eine vollständige reduktionistische Paraphrase erreicht man, wenn die Bedeutung in ihrer ganzen Komplexität durch die kleinstmöglichen Bedeutungsatome, d.h. durch universelle semantische Primitiva ausgedrückt wird. Das Prinzip der reduktionistischen Paraphrase setzt also voraus, dass es eine Reihe von nicht weiter bestimmbaren, einfachsten sprachlichen Konzepten gibt. Nach Durchführung einer vollständigen semantischen Analyse des gesamten Wortschatzes einer Sprache müssten diese nicht weiter KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 147 bestimmbaren sprachlichen Konzepte als grundlegende Bedeutungsatome (semantische Primitiva) übrig bleiben. Alle übrigen Abertausenden komplexen Bedeutungen sind aus diesen Atomen zusammengesetzt und mit deren Hilfe deswegen auch paraphrasierbar. Übersicht 2. Universale sprachliche Konzepte: semantische Primitiva Substantiva Determinative Elemente ICH, DU, JEMAND, LEUTE, ETWAS, KÖRPER DIES, DASSELBE, ANDERE, EINS, ZWEI, EINIGE, VIEL, ALLE Erfahrungsverben Handlungs- und Vorgangsverben Existentiale und Possessiva Leben und Tod Evaluation und Beschreibung Räumliche Konzepte Zeitliche Konzepte WISSEN, DENKEN, WOLLEN, FÜHLEN, SEHEN, HÖREN SAGEN, TUN, GESCHEHEN, BEWEGEN ES GIBT, HABEN LEBEN, STERBEN GUT, SCHLECHT, GROß, KLEIN WO, HIER, ÜBER, UNTER, NAH, FERN, IN, SEITLICH WENN, NACH, VOR, JETZT, EINE LANGE ZEIT, EINE KURZE ZEIT, EINIGE ZEIT Relationale Elemente Logische Elemente EINE ART..., TEIL VON, SEHR, MEHR, WIE WENN, WEIL, NICHT, VIELLEICHT, KÖNNEN Wenn wir solche Bedeutungsatome oder semantischen Primitiva zur Beschreibung verwenden, so lassen sich undeutliche und zirkuläre Beschreibungen vermeiden. Was aber ist mit dem dritten Problem, der Gefahr der ethnozentrischen Beschreibung? Belege aus Studien der kulturvergleichenden Semantik legen den Schluss nahe, dass die semantischen Primitiva nicht auf eine einzelne Sprache beschränkt, sondern in jeder menschlichen Sprache zu finden sind (siehe Goddard & Wierzbicka 1994). Aus diesem Grunde lässt sich durchaus die These vertreten, dass mithilfe von Paraphrasen aus semantischen Primitiva der ethnozentrische Einschlag der Beschreibungen vermieden werden kann. Die in Übersicht 2 aufgeführten Primitiva könnten ebenso gut in Russisch, Japanisch, Yankunytjara wie auch in jeder beliebigen anderen Sprache dargestellt werden. Natürlich birgt auch dieses Verfahren einige Komplikationen, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Zum einen kann ein semantisches Primitivum manchmal in verschiedenen Kontexten durch unterschiedliche Wortformen ausgedrückt werden. Man spricht von Allolexis. Beispiele für Allolexe im Deutschen sind etwa du/Sie, niemand/keiner, jemand/Person etc. Nehmen wir das Beispiel du/Sie: beide Wörter drücken die Anrede eines Gegenübers (2. Person Singular) aus. Natürlich unterscheiden sie sich darüber hinaus in der Höflichkeit der Anrede. Diese weitere Bedeutungsunterscheidung ist jedoch für die Identifikation des semantischen Primitivums DU als Anrede eines Gegenübers im Deutschen nicht relevant. Ein weiteres Problem ist, dass die Äquivalente der semantischen Primitiva in einigen Sprachen statt in einzelnen Wortformen in Form von Affixen oder feststehenden Wendungen Ausdruck finden. Und schließlich sind Wörter in der 148 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Regel polysem, d.h. sie haben mehr als nur eine Bedeutung, wodurch die Sache zusätzlich verkompliziert wird. So hat das Wort bewegen im Deutschen mehrere Bedeutungen, darunter: Ich konnte mich nicht bewegen bzw. Ich bewegte den Wagen oder Das Theaterstück hat mich sehr bewegt. Nur die erste, prototypische Bedeutung wird in diesem Fall als semantisches Primitivum vorgeschlagen. Die semantischen Primitiva stellen das Vokabular für so eine Art von „Minimalsprache“, die ein ausgezeichnetes Hilfsmittel zur semantischen und sprachlichkonzeptuellen Analyse darstellt (siehe Goddard 1998). Die aus semantischen Primitiva zusammengesetzten Paraphrasen können dann von einer Sprache in die andere umgesetzt werden, ohne dass sich die Bedeutung der Paraphrase wesentlich verändert. Dies wird weiter unten am Beispiel von happy, joy etc. deutlich: es spielt keine Rolle, ob die Bedeutungen in der englischen oder deutschen Form der Primitiva paraphrasiert werden, sie sind im Wesentlichen identisch. Im Gegensatz zu fachterminologischen Beschreibungen sind sie auch für Laien verständlich. 6.2 Kulturspezifische Wörter Die relativ geringe Anzahl der semantischen Primitiva, die den universellen Kern dieser Minimalsprache ausmachen (es wird vermutet, dass es sich um eine relativ kleine Anzahl, wahrscheinlich weniger als 100 Konzepte, handelt), macht deutlich, wie groß die konzeptuellen Unterschiede zwischen den Sprachen sind. Die überwiegende Mehrzahl der Wörter einer Sprache haben komplexe und stark sprachspezifische Bedeutungen. Nicht selten wird diese Tatsache als ein Spiegelbild und Ausdruck der einzigartigen historischen und kulturellen Erfahrungen einer Sprachgemeinschaft verstanden. In solchen Fällen spricht man auch von kulturspezifischen Wörtern. Einige alltägliche Beispiele finden sich in der Domäne „Essen“. Im Polnischen gibt es besondere Wörter zur Bezeichnung von besonderen Arten von „Kohleintopf“ (bigos), „Rote-Beete-Suppe“ (barszcz) oder für „Pflaumenmus“ (powida), die es im Deutschen nicht gibt. Im Japanischen gibt es ein besonderes Wort für „Reisschnaps“ (sake), das in der deutschen Sprache nicht existiert. Bestimmte Bräuche und soziale Institutionen führen ebenfalls zu einer Vielzahl von Beispielen für kulturspezifische Wörter. So ist es auch kein Zufall, dass es in der deutschen Sprache keine wörtliche Entsprechung für das japanische Wort miai gibt, das ein formelles Ereignis bezeichnet, bei dem die zukünftige Braut und ihre Familie sich zum ersten Mal mit dem zukünftigen Bräutigam und seiner Familie trifft. Außer im Vorrat an kulturspezifischen Wörtern unterscheiden sich Sprachen oftmals auch in der Anzahl der Wörter, die in einer bestimmten Bedeutungsdomäne zur Verfügung stehen. Weist eine Sprache eine vergleichsweise große Anzahl an Wörtern für ein- und denselben Bedeutungsbereich auf, so bezeichnet man diese Tatsache als lexikalische Elaboration. Diese Ausdifferenzierung spiegelt in vielen Fällen kulturelle Aspekte wider. So lässt sich durchaus plausibel deuten, warum viele asiatische Sprachen mehrere Wörter für „Reis“ haben – im Malaiischen gibt es padie für „ungeschälten Reis“, beras für „ungekochten KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 149 ungeschälten Reis“, nasi für „gekochten Reis“. Im Vergleich mit den Sprachen vieler anderer Kulturen verfügen europäische Sprachen über mehr Bezeichnungen im Zusammenhang mit dem Messen und Schätzen der Zeit (Uhr, Kalender, Datum, Sekunde, Minute, Stunde, Woche, Montag, Dienstag, Januar, Februar usw.). In einigen Fällen lassen sich bestimmte, in einer Sprache besonders prominente und in besonderem Maße kulturgeprägte Wörter als kulturelle Schlüsselwörter dieser Sprache bezeichnen (vgl. Williams 1976, Wierzbicka 1997). So kann man durch die Analyse von Texten durchaus darauf schließen, dass work, love und freedom zu den Schlüsselwörtern der anglo-amerikanischen Kultur, Arbeit, Heimat, Ordnung und Umwelt zu denen der deutschen Kultur gehören. Kulturelle Schlüsselwörter treten mit besonderer Häufigkeit auf – zumindest innerhalb der Bedeutungsdomänen, denen sie angehören. Oft stehen sie im Zentrum eines großen Netzwerkes von idiomatischen Wendungen, Redewendungen, finden sich häufig in Sprichwörtern, in populären Liedern, Titeln von Büchern usw. Im Folgenden wollen wir anhand einer Analyse von Emotionswörtern in verschiedenen europäischen Sprachen beispielhaft aufzeigen, wie sich verschiedene Sprachen in semantischer Hinsicht auf sehr subtile, kulturabhängige Art und Weise unterscheiden können. Allgemein betrachtet lassen sich die Bedeutungen von Emotionsbezeichnungen auf die Zuordnung eines Gefühls (gut, schlecht, neutral) zu einem prototypischen Szenario unter Einbezug von Handlungsschemata (tun) bzw. Erfahrungsschemata (denken, wollen) zurückführen. Beispielsweise bezeichnet das deutsche traurig ein ungutes Gefühl, das mit dem Gedanken „etwas Schlechtes ist geschehen“ in Zusammenhang steht. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass jedes Mal, wenn man sich „traurig“ fühlt, man auch notwendigerweise diesen Gedanken hat. Es bedeutet lediglich, dass ein Gefühl als „traurig“ kategorisiert werden kann, wenn ein Gefühlszustand zusammen mit der Situation, auf die dieser zurückgeführt wird, dem prototypischen Szenario für „traurig“ mit der Komponente „etwas Schlechtes ist geschehen“ als ausreichend ähnlich empfunden wird. Wir wollen diesen Ansatz jetzt einmal an einem sehr subtilen Bedeutungsunterschied in der englischen Sprache demonstrieren. Schlägt man die englischen Wörter happy und joyful (oder joy) in einem englisch-deutschen Wörterbuch nach, so erhält man in beiden Fällen die Übersetzung glücklich. Doch diese Wörter haben unterschiedliche Bedeutung: sie unterscheiden sich darin, dass joy ein unmittelbares und stärkeres Gefühl bezeichnet, während happy stärker persönlichen und selbstbezogenen Charakter hat. (1) a. Are you thinking of applying for a transfer? b. No, I am quite happy where I am. Darüber hinaus hat happy (anders als joy) eine Bedeutungskomponente, die an „Zufriedenheit, Erfülltheit“ heranreicht. Auf die Frage (1a) lässt sich mit (1b) antworten (In einem solchen Kontext kann happy nicht durch joyful ersetzt werden). Die folgenden kontrastiven Sätze (2a+b) stützen diesen Bedeutungsaspekt: 150 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (2) a. The children were playing happily b. The children were playing joyfully Satz 2a) impliziert, dass die Kinder nicht nur Spaß am Spiel haben, sondern auch, dass diese Tätigkeit sie erfüllt und sie zufrieden sind. Satz (2b) bedeutet viel mehr Aktivität auf Seiten der Kinder und impliziert, dass die Kinder in stärkerem Maße aktiv sein müssen, um eine solche Erfülltheit zu erfahren. Diese subtilen Unterschiede finden in den Explikationen für A und B ihren Niederschlag: (A) Explikation von X feels happy manchmal denkt eine Person: „etwas Gutes ist mir geschehen ich wollte es ich will nichts anderes als dies“ deswegen fühlt diese Person etwas Gutes X fühlt etwas Ähnliches wie dies (B) Explikation von X feels joy manchmal denkt eine Person: „etwas Gutes geschieht jetzt ich will es“ deswegen fühlt diese Person etwas sehr Gutes X fühlt etwas Ähnliches wie dies Der Unterschied zwischen den Komponenten etwas Gutes (happy) und etwas sehr Gutes (joy) trägt der größeren Intensität des Gefühls Rechnung, das durch joy bezeichnet wird. Der Unterschied zwischen etwas geschieht jetzt (joy) und etwas geschieht mir jetzt (happy) gibt den stärker persönlichen und selbstbezogenen Charakter von happy wieder. Der Unterschied zwischen den Komponenten ich will dies (in joy) und ich wollte dies (in happy) bezieht sich auf die größere Unmittelbarkeit von joy und trägt auch der größeren Intensität des Gefühls Rechnung. Die Unterschiede in den Paraphrasen spiegeln besondere Bedeutungsunterschiede wider, wie sie sich aus den sich teilweise überlappenden, aber unterschiedlichen Verwendungsweisen der beiden Wörter ergeben. Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist auch, dass happy ein in der englischen Alltagssprache sehr gebräuchliches Wort ist, das nach dem Longman Dictionary of Contemporary English zu den 1000 am häufigsten gebrauchten Wörtern zählt, während der Gebrauch von joy und seinen Derivationen eher einem literarischen und markierten Stil zuzurechnen ist. In vielen anderen europäischen Sprachen als Englisch sind Wörter, die in der Bedeutung näher zu joy tendieren, im Alltagswortschatz sehr viel häufiger anzutreffen. Im Deutschen finden das Verb sich freuen und das entsprechende Substantiv Freude (das joy in der Bedeutung nahe kommt) im alltäglichen Gebrauch viel häufigere Verwendung als die Adjektive glücklich (ungefähr happy) und das Substantiv Glück. Neben der Verwendungshäufigkeit ist allerdings viel wesentlicher, dass sich glücklich und happy (oder das französische heureux und happy) nur sehr grob in der Bedeutung entsprechen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass das KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 151 englische happy eine viel „schwächere“ und wenig intensivere Emotion bezeichnet als dies bei glücklich und heureux der Fall ist. Metaphorisch gesprochen füllen Emotionen wie Glück und bonheur eine Person bis zum Überfluss und lassen keinen Raum für irgendwelche anderen Wünsche und Verlangen. Der demgegenüber stärker begrenzte Bedeutungscharakter von happy zeigt sich sogar in einem syntaktischen Kontrast. So kann man im Englischen durchaus sagen I am happy with his answer (wobei das präpositionale Objekt with his answer die eingeschränkte Domäne oder den besonderen Fokus von happy in dieser spezifischen Situation anzeigt). Weder im Deutschen noch im Französischen würde man in diesem Zusammenhang das Wort glücklich bzw. heureux verwenden: stattdessen würde man auf ein semantisch schwächeres, weniger intensives Wort wie zufrieden bzw satisfait/content zurückgreifen. Im Deutschen ist glücklich in dieser Verwendung nur in Zusammenhang mit abschwächenden Partikeln möglich Ich bin ganz glücklich mit dieser Antwort. Die Bedeutung von glücklich und heureux lässt sich aufgrund dieser Überlegungen wie folgt explizieren: (C) Explikation von X ist glücklich (heureux) manchmal denkt eine Person: „etwas sehr Gutes ist mir geschehen ich wollte dies jetzt ist alles sehr gut mehr kann ich nicht wollen“ deswegen fühlt diese Person etwas sehr Gutes X fühlt etwas Ähnliches wie dies Diese Explikation enthält gegenüber B) die neue Komponente jetzt ist alles sehr gut (was eine erfüllte Erfahrung impliziert). Sie enthält den graduellen Verstärker sehr (wie auch die Explikation von joy, aber nicht die von happy). Diese Unterschiede implizieren insgesamt einen intensiven, generellen und nahezu euphorischen Gemütszustand. Wenn wir einmal vergleichend auf andere Sprachen Europas schauen, so finden wir in vielen europäischen Sprachen Wörter, die der Bedeutung von glücklich/heureux nahe kommen, ja manchmal auch entsprechen. So felice im Italienischen, shtshastliv im Russischen oder szczesliwy im Polnischen. Die englische Sprache scheint mit ihrem stärkeren Gebrauch des Wortes happy, das ein vergleichsweise weniger intensives Gefühl bezeichnet, eine Ausnahme zu sein. Sicherlich ist diese Tatsache nicht losgelöst von einer angelsächsischen Abneigung gegenüber der Darstellung extremer Gefühle zu sehen. Natürlich gibt es in der englischen Sprache auch Wörter, die stärkere Emotionen bezeichnen (wie joy, bliss und ecstasy) doch deutet ihr vergleichsweise geringes Auftreten darauf hin, dass der englische Diskurs über Emotionen eine Tendenz zur gedämpften/abschwächenden Darstellung hat – zumindest wenn man ihn mit dem anderer europäischer Sprachen vergleicht. Joy findet sich selbst in sarkastisch emotionalem Gebrauch wie etwa in (3): (3) A: It’s starting to rain. B: Oh joy! I’ve just hung out the washing. 152 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 6.3 Kulturspezifische Aspekte der Grammatik In einer jeden Sprache gibt es Aspekte der Grammatik, die in einem engen Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur stehen. Anhänger der sprachlichen Relativitätshypothese wie Sapir und Whorf konzentrierten sich auf grundlegende grammatikalische Muster, die in einer Sprache zu finden sind. Sie untersuchten, ob in einer Sprache zwischen Singular und Plural unterschieden wird, ob Ereignisse in Bezug auf die Sprechzeit dargestellt werden (Tempus), oder auch, wie Aussagen mit Belegen fundiert werden. Ihrer Relativitätshypothese zufolge sind durch jede Sprache solche oder auch ganz andere Unterscheidungen vorgegeben, die den Sprechern einer Sprache nahe legen, diese Unterscheidungen zu treffen. Es ist nahezu unvermeidlich, dass die Sprache ihren Sprechern eine bestimmte subjektive Erfahrung der Welt auferlegt. Whorf (1956:12) gibt ein vielzitiertes Beispiel, in dem er vergleicht, wie in Englisch und Hopi (einer Indianersprache, die im Nordwesten Arizonas gesprochen wurde) Zeit konzeptualisiert wird. Im Englischen wird – ebenso wie in anderen europäischen Sprachen – von Zeit so gesprochen wie von materiellen Objekten. Beide werden als zählbar konzeptualisiert. Ebenso wie wir von einem Stein oder fünf Steinen sprechen, so sprechen wir auch von einem Tag bzw. fünf Tagen. Wir erweitern die Verwendung des Systems der Kardinalzahlen und des Plurals von materiellen Objekten auf immaterielle gedankliche Einheiten. Wir konzeptualisieren auf metaphorische Weise die Domäne Zeit durch unsere Erfahrung mit materiellen Objekten – man könnte sagen, wir objektivieren die Zeit (ZEIT IST EIN OBJEKT). Nach Whorf verwenden die Hopi zum Ausdruck der Zeiteinteilung dagegen nur Ordinalzahlen („der Erste, der Zweite, der Dritte“ etc.) und sprechen von so etwas wie „der fünfte Tag“: sie konzeptualisieren die Zeit in erster Linie durch ihre Erfahrung mit der Abfolge von Sonne und Mond in einem Zyklus. Zeit wird als die Abfolge von Zyklen konzeptualisiert, die nicht in Analogie zur Erfahrung mit Objekten zu Einheiten zusammengefasst werden können. Doch wir brauchen uns nicht so weit von Europa zu entfernen, um auf Aussagen über den Zusammenhang von sprachlicher Kategorisierung und Kultur zu treffen: häufig finden sich Aussagen wie etwa, in der Grammatik der deutschen Sprache spiegele sich eine phänomenalistisch geprägtere Erfahrung wider als im Französischen, die Grammatik des Englischen weise eine besondere Sensitivität für Nuancen der interpersonalen Ursache und Manipulation auf, und im Russischen zeige sich eine Reihe grammatischer Konstruktionen, die in engem Zusammenhang mit dem traditionellen russischen Fatalismus stünden (ausführliche Analysen finden sich in Wierzbicka 1997). Wir können auf diese Thesen hier nicht eingehen. Stattdessen wollen wir einen Aspekt kulturspezifischer Grammatik aus einer weiteren europäischen Sprache, dem Italienischen, näher betrachten. Die hier analysierten Konstruktionen sind sicherlich nicht so spektakulär wie die eben erwähnten Behauptungen. Sie treten aber mit regelmäßiger Häufigkeit auf, sind in der italienischen Lebenswelt dominant und stellen einen wichtigen Aspekt der sprachlichen Kategorisierung dar. Wir konzentrieren uns hier auf zwei grammatische Konstruktionen, welche eine Ausdrucksfunktion erfüllen, die der allgemeinen Expressivität der italienischen Kultur entsprechen (zur detaillierten Diskussion siehe Wierzbicka 1991). KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 153 Als syntaktische Reduplikation bezeichnet man die Wiederholung von Adjektiven, Adverbien oder von Substantiven ohne eingeschobene Pause: bella bella, adagio adagio, subito subito, (bella ‚schön‘, adagio ‚langsam‘, subito ‚sofort‘). Dabei handelt es sich um eine spezifische grammatische Konstruktion des Italienischen, die sich von der Wiederholung ganzer Äußerungen im Deutschen, wie etwa Schnell, schnell! oder Komm, Komm, Komm! unterscheidet. Die eben erwähnten italienischen Konstruktionen werden oft als Ausdruck von Intensität beschrieben. Danach müsste man also etwa die Ausdrücke bella bella oder adagio adagio mit deutsch sehr schön bzw. sehr langsam gleichsetzen können. Dies ist in zweierlei Hinsicht nicht unproblematisch. Zum einen sind die Möglichkeiten, diese italienische Konstruktion zu verwenden, viel weiter als die des deutschen sehr – man könnte subito subito kaum als ‚*sehr sofort‘ übersetzen. Zum anderen ist die italienische Entsprechung zu sehr mit molto gegeben; und molto bella ‚sehr schön‘ macht gegenüber bella bella einen Unterschied aus. Die syntaktische Reduplikation im Italienischen betont zunächst einmal, dass das betreffende Wort wohlgewählt ist. Durch die Verwendung von bella bella hebt der Sprecher insbesondere heraus, dass er oder sie das Wort bewusst gewählt hat, es für die zu bezeichnende Sache für angemessen und durch dieses für genau bezeichnet hält (durch die Wiederholung wird die Aufmerksamkeit auf dieses Wort gelenkt). Folglich wäre bella bella viel angemessener mit ‚wahrhaftig schön‘ ( und caffè caffè als ‚wahrhaftiger Kaffee‘) übersetzt. Darüber hinaus gibt es aber noch eine zweite, emotive Bedeutungskomponente. So verlangt ein Satz wie Venga subito subito – ‚Komm sofort sofort‘ geradezu nach einem im hohen Maße ausdrucksvollen, emotionalen Betonung. Selbst wenn ein rein beschreibendes Adjektiv wie duro ‚hart‘ oder leggera ‚weich‘ redupliziert wird, so ist es für gewöhnlich nicht schwer, im Verwendungskontext Hinweise auf emotionale Untertöne zu finden. Nehmen wir nur folgendes Beispiel: in einem Roman durchlebt der Protagonist eine große seelische Krise. Als er sich nachts schlaflos hin und herwälzt, scheint es ihm, dass sein Bett duro duro ‚hart hart‘ geworden ist. An einer späteren Stelle in diesem Roman will unser Held unerkannt in einem Fischerboot einen Fluss überqueren, denn er ist auf der Flucht vor der Polizei. Er spricht den Fischer mit einer Stimme an, die leggera leggera ‚weich weich‘ ist. Die durch die grammatische Konstruktion der Reduplikation vermittelte Bedeutung lässt sich wie folgt paraphrasieren: (D) EXPLIKATION DER REDUPLIKATION VON ADJEKTIVEN/ADVERBIEN IM ITALIENISCHEN: wenn ich ein Wort (wie bella, duro, bianca) zweimal sage, dann will ich, dass du weißt, dass ich dieses Wort sagen will und kein anderes. Wenn ich daran denke, dann fühle ich etwas dabei. Die zweite für die italienische Sprache charakteristische grammatische Konstruktion, die wir hier betrachten wollen, ist der so genannte absolute Superlativ, der aus Adjektiven mithilfe des Affixes {-issimo} (im entsprechenden Numerus und Genus) gebildet wird: bellissimo ‚am allerschönsten‘, velocissimo ‚am allerschnellsten‘, bianchissimo ‚am allerweißesten‘. Diese Konstruktion steht Aus-‚ 154 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT drücken mit molto konzeptuell sehr nahe (molto bella ‚sehr schön‘ usw.). Beide sind auf Eigenschaften beschränkt – genauer gesagt auf abstufbare und zu vergleichende Eigenschaften. So kann man nicht von *subitissimo reden. Zudem gibt es Affinitäten zwischen dem absoluten Superlativ und dem einfachen Superlativ mit più (z.B. più bello ‚am schönsten‘). Zwischen dem absoluten Superlativ und der syntaktischen Reduplikation gibt es eine gewisse Ähnlichkeit – einige italienische Grammatiken beschreiben deshalb beide Konstruktionen als bedeutungsäquivalent. Anders als die syntaktische Reduplikation schließt die Bedeutung des absoluten Superlativ jedoch nicht den Aspekt der sprachlichen Angemessenheit ein. Ganz im Gegenteil: normalerweise enthält er eine ganz offensichtliche Übertreibung, die aber wiederum in ihrer Funktion der syntaktischen Reduplikation nicht unähnlich ist. Auch sie dient dazu, die emotionale Einstellung des Sprechers darzustellen. Unsere Überlegungen zum absoluten Superlativ lassen sich wiederum in einer Paraphrase explizieren: (E) EXPLIKATION DES ITALIENISCHEN ABSOLUTEN SUPERLATIVS ( es ist X-issimo) Es ist sehr x ich will mehr sagen als dies deswegen sage ich: es könnte nicht mehr X sein wenn ich daran denke, dann fühle ich etwas dabei Vergleichen wir nun die Explikationen. Die Ähnlichkeit zu Ausdrücken mit molto ‚sehr‘ wird durch die Präsenz von sehr in der ersten Zeile der Explikation angezeigt. Die Ähnlichkeit mit dem einfachen Superlativ liegt in der dritten Komponente: es wird gewissermaßen ein Vergleich impliziert und zwar mit der höchsten Abstufung des Adjektivs („es könnte nicht mehr X sein“). Die Ähnlichkeit mit der syntaktischen Reduplikation ist durch die letzte Komponente („wenn ich daran denke, fühle ich etwas dabei“) repräsentiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der absolute Superlativ es Sprechern des Italienischen ermöglicht, so eine Art von „expressivem Overstatement“ darzustellen. Konstruktionen wie die syntaktische Reduplikation und der absolute Superlativ sind sicherlich mit der „theatralischen Qualität“ des italienischen Lebens (Barzini 1964:73) in Zusammenhang zu sehen, mit der „großen Bedeutung des Spektakels“, „der außerordentlichen Animation, ausdrucksvoller Mimik, darstellendem, wildem Gestikulieren... die für jedermann eine der ersten Eindrücke in Italien ausmachen, überall in Italien“. Kulturelles Wissen über diese Animation, Liebe zur Lautstärke und Darstellung ist unabdingbar, wenn man die Relevanz solcher expressiver grammatischen Mittel wie syntaktischer Reduplikation und dem absoluten Superlativ in der italienischen Kultur begreifen will. 6.4 Kulturelle Skripte In unterschiedlichen Gesellschaften sprechen die Menschen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern unter dem Einfluss unterschiedlicher kultureller Normen verwenden sie diese auch auf unterschiedliche Art und Weise. Unter einem kulturellen Skript versteht man die Beschreibung solcher kultureller KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 155 Normen und Werte in Bezug auf den einen oder anderen Aspekt bzw. die Beschreibung eines Ausschnittes aus dem konventionellen Verhaltensrepertoire einer bestimmten Kultur. Kulturelle Kommunikationsnormen werden herkömmlicherweise unter Verwendung von eher vagen und ad hoc eingeführten Termini wie Direktheit, Formalität und Höflichkeit beschrieben. Bis zu einem gewissen Punkt sind diese Termini sicherlich auch ganz nützlich, doch wird nie eindeutig bestimmt, was sie wirklich bedeuten sollen – weswegen sie von den verschiedensten Autoren mit den verschiedensten Bedeutungen verwendet werden. Darüber hinaus bergen sie die Gefahr der ethnozentrischen Beschreibung, denn sie sind in der Regel nicht präzise in die Sprache der zu beschreibenden Kultur zu übersetzen. Diese Probleme können zum größten Teil vermieden werden, wenn wir zur Beschreibung kultureller Kommunikationsnormen auf die in allen Sprachen explizit verständlichen semantischen Primitiva zurückgreifen und diese in Form von kulturellen Skripts darstellen (siehe Wierzbicka 1991; Goddard und Wierzbicka 1996). Zur Demonstration wollen wir uns hier auf kulturelle Skripte konzentrieren, mit denen Sprecher zum Ausdruck bringen, „was sie wollen“. Betrachten wir zunächst eine von Europa weit entfernte Kultur. Die japanische Kultur ist bei Europäern und Amerikanern für ihre verbale Zurückhaltung wohl bekannt. Das betrifft insbesondere den Ausdruck persönlicher Wünsche – eine Tatsache, die mit dem japanischen Ideal des enryo (‚Zurückhaltung, Reserviertheit‘) in Zusammenhang steht. So fällt auf, dass japanische Sprecher nicht direkt sagen, was sie wollen. Auf die Frage, ob und wann ihnen bestimmte Arrangements zusagen oder passen, antworten sie oftmals nicht direkt, sondern verwenden Ausdrücke wie ‚jede Zeit ist recht‘ oder ‚jeder Ort ist für mich ok‘. Direkte Fragen nach den Wünschen einer Person sind alles andere als normal. Außer im Kreise der Familie oder unter Freunden gilt es im Japanischen als unhöflich, Fragen wie ‚Was wollen Sie essen?‘ oder ‚Was möchten Sie?‘ zu stellen. Auch wird in Japan ein Gast durch einen aufmerksamen Gastgeber nicht ständig vor die Wahl gestellt, was er denn essen oder trinken möchte. Vielmehr steht es in der Verantwortung des Gastgebers, die Wünsche des Gastes vorauszuahnen und lediglich entsprechende Speisen und Getränke anzubieten. Darüber hinaus hat er den Gast ständig dazu zu drängen, diese zu sich zu nehmen, und zwar (so die Standardformel) ‚ohne enryo‘. In der japanischen Kultur wird also streng vermieden, in europäisch direkter Weise „zu sagen, was man will“. Eine kulturell angemessene Strategie ist es, eine irgendwie geartete implizite Nachricht zu übermitteln in der Erwartung, dass der Angesprochene entsprechend darauf antworten wird. Diese kulturelle Einstellung lässt sich als folgendes kulturelles Skript darstellen: (F) JAPANISCHES SKRIPT, UM ZU „SAGEN, WAS MAN WILL“ wenn ich etwas will, ist es nicht gut, zu anderen Leuten zu sagen: ich will dies ich kann etwas anderes sagen wenn ich etwas anderes sage, dann können andere Leute wissen, was ich will 156 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Anglo-amerikanische Einstellungen sind in dieser Hinsicht ganz anders. Die angloamerikanischen Ideale von individueller Freiheit und persönlicher Autonomie führen zu einer positiven Bewertung, wenn Leute ihren Wünschen direkt Ausdruck verleihen: (G) ANGLO-AMERIKANISCHES SKRIPT, UM ZU „SAGEN, WAS MAN WILL“ jeder kann Dinge wie diese zu anderen Leuten sagen: ich will dies/ich will dies nicht Andererseits hält dasselbe Ideal der persönlichen Autonomie Sprecher des StandardEnglischen davon ab, unmittelbare Imperative wie Do this! zu verwenden. Stattdessen wird die Verwendung von elaborierteren und damit indirekteren Äußerungen (siehe Kapitel 7) wie Could you do this? oder Would you mind doing this? usw. bestärkt. Die Aussage „Ich will, dass du etwas tust“ ist in eine komplexere sprachliche Form eingebettet, mit der auf die Autonomie des Sprechers Rücksicht genommen wird. Man fragt ihn, ob er der Bitte nachkommen will oder nicht. Diese Normen lassen sich in den beiden folgenden Skripts darstellen: (H) ANGLO-AMERIKANISCHES SKRIPT, DURCH DAS DIREKTIVA IN IMPERATIVFORM VERMIEDEN WERDEN: wenn ich will, dass jemand etwas tut, dann kann ich dieser Person nicht etwas wie dies sagen: „Ich will, dass du dies tust; deswegen musst du es tun“ (I) ANGLO-AMERIKANISCHES SKRIPT FÜR INTERROGATIVDIREKTIVA: Wenn ich jemandem etwas sagen will wie: „ich will, dass du dies tust“ dann ist es gut zur selben Zeit etwas zu sagen wie: „ich weiß nicht, ob du es tun wirst“ Es wäre allerdings eine unzulässige Verallgemeinerung, diese angloamerikanischen Skripts für „typisch europäisch“ zu halten. Zwischen den europäischen Sprachen und Kulturen gibt es in dieser Hinsicht (wie noch in vielen anderen) eine bemerkenswerte Verschiedenheit. In den meisten europäischen Sprachen werden unvermittelte Imperative häufiger verwendet als im Englischen, und der Gebrauch von Fragestrukturen bei Direktiva ist stärker eingeschränkt. Nach Béal (1994) erwarten zum Beispiel Franzosen, dass routinemäßige Instruktionen am Arbeitsplatz viel direkter ausgedrückt werden, als dies im Englischen in der entsprechenden Situation angemessen wäre. Béal (1994:51) zitiert hierzu einen französischen Manager, nach dessen Worten seine englischsprachigen (australischen) Angestellten précaution oratoire ‚mündliche Vorsichtsmaßnahmen‘ verwendeten, die französische Angestellte normalerweise nicht verwenden würden: Wenn ein Franzose dann doch mit so viel Vorsicht spricht, so deswegen, weil er die angesprochene Person um einen Gefallen bittet, der nicht in deren eigentlichen Aufgabenbereich fällt. Sonst wird er schlicht und einfach sagen: Tu dies, nimm das, bitte – aber Would KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 157 you mind? Ganz bestimmt nicht! Es ist sogar so: wenn man in Frankreich so redet, ist das, als würde man seine eigene Autorität untergraben (Übersetzung R.P.). Auch zwischen Normen zur Äußerung von Bitten im Deutschen und im Englischen gibt es erhebliche Unterschiede. So beschreibt Phillips (1989) aus der Perspektive eines in Deutschland lebenden Engländers die diesbezüglichen Unterschiede zwischen der deutschen und englischen Kultur so: Deutsche Bankangestellte sagen beispielsweise „Sie müssen hier unterschreiben“, aber nicht „Würden Sie bitte hier unterschreiben?“ (Would you please sign here?). Allenfalls sagen sie „Unterschreiben Sie bitte“ (Sign here, please). Auch wenn sie hier den Imperativ gebrauchen, so ist das nicht etwa als Befehl zu verstehen. Das Wort müssen ist in der deutschen Sprache stark vertreten und taucht immer wieder in Situationen auf, in denen man es im Englischen nicht antreffen wird. (1989:88-89, Übersetzung R.P.) Natürlich sind diese Zitate nicht wissenschaftlicher Art. Es handelt sich um die Schilderungen von Eindrücken, die Sprecher im Alltag gewonnen haben. Sie lassen daher auch keine Verallgemeinerungen zu. Doch solche Eindrücke aus dem Alltag von Sprechern geben Hinweise darauf, wie Menschen in multikulturellen Gesellschaften kulturell unterschiedliche kommunikative Normen wahrnehmen und welche Probleme in interkultureller Kommunikation auftreten können. Aus diesem Grunde sollte man sie keinesfalls ignorieren, sondern in einem elaborierten und in sich begründeten Rahmen interpretieren. Ein solcher Rahmen steht mit kulturellen Skripts, die aus semantischen Primitiva bestehen, zur Verfügung. Mithilfe dieser Vorgehensweise können wir Hypothesen über kulturelle Normen formulieren, ohne dabei auf fachsprachliche oder sprachspezifische Ausdrücke zurückgreifen zu müssen. Dies kann auf eine klare und unmittelbar verständliche Art und Weise geschehen. Mit kulturellen Skripts können Unterschiede und Variationen kultureller Normen wie auch deren Kontinuität oder Wandel dargestellt werden. Kulturen sind ja nicht homogen und starr, sondern heterogen und wandeln sich im Laufe der Zeit. Auch zur Beschreibung dieser Aspekte stellt die semantische Metasprache eine rigide Vorgehensweise und einen klar nachvollziehbaren analytischen Rahmen dar. 6.5 Schlussfolgerung: Sprache, Kultur und Denken Whorf (1956:212) hat seine Ansicht von der Beziehung der Sprache zum Denken im Folgenden, berühmt gewordenen Zitat dargelegt: Das sprachliche Hintergrundsystem einer jeden Sprache (mit anderen Worten: deren Grammatik) ist nicht bloß ein Reproduktionsinstrument, um Ideen auszusprechen, sondern es formt selbst Ideen, ist das Programm und leitet die geistige Aktivität des Individuums sowie dessen Analysen seiner Eindrücke. (Übersetzung R.P.) Whorfs Ansichten zur sprachlichen Relativität sind nicht selten missverstanden worden. So hat er etwa keineswegs behauptet, jedwedes Denken hinge von Sprache ab. Er glaubte sogar, dass es verschiedene mentale Prozesse wie Aufmerksamkeit und visuelle Wahrnehmung gibt, die unabhängig von Sprache sind und 158 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT dem „formenden“ Einfluss der Sprache nicht unterliegen. Was allerdings das „sprachliche Denken“ angeht, so beharrte Whorf darauf, dass die Muster der Muttersprache unweigerlich bestimmte gewohnheitsmäßige Denkmuster mit sich brächten. Wie bereits erwähnt, deuten neuere Forschungsergebnisse durchaus darauf hin, dass die konzeptuellen Kategorien, die in der Muttersprache ihren sprachlichen Niederschlag gefunden haben, bereits in einem sehr jungen Alter die Kategorisierung leiten. Bereits im Alter von 20 Monaten verwenden koreanische und englische Kinder die sprachlich-konzeptuellen Muster ihrer jeweiligen Muttersprache. Die für eine Kultur spezifischen Wörter sowie die grammatischen Konstruktionen einer Sprache sind konzeptuelle Instrumente, die vergangene Erfahrungen damit widerspiegeln, wie gehandelt und wie mit Dingen umgegangen wurde. Im Laufe der Zeit wandelt sich eine Gesellschaft. Ebenso wandeln sich auch diese Instrumente, oder sie werden völlig aufgegeben. So gesehen kann das Bild einer Gesellschaft nie völlig durch ihren Vorrat an sprachlich-konzeptuellen Werkzeugen erfasst und festgelegt werden. Es lässt sich aber auch nicht leugnen, dass sie es in einem gewissen Maße beeinflussen. Ebenso ist auch das Denken eines Individuums nie vollständig durch seine Muttersprache bestimmt – es gibt jederzeit Alternativen zu den überlieferten sprachlichen Konzepten, um sich auszudrücken, doch ist auch die Perspektive des Individuums sicherlich zu einem Teil von seiner Muttersprache beeinflusst. Dies gilt auch für den Kommunikationsstil. Der Kommunikationsstil eines Individuums ist nicht streng durch diejenigen kulturellen Skripte determiniert, die es in seiner Sozialisation in einer bestimmten Kultur internalisiert hat. Da ist immer sehr viel Raum für individuelle und soziale Abweichungen und damit natürlich auch für Innovation. Andererseits können sich die Mitglieder einer Sprach- und Kulturgemeinschaft aber auch nicht den kommunikativen Konventionen völlig entziehen. Schließlich bedeutet die Existenz eines gemeinsamen Vorrats an semantischen Primitiva in allen Sprachen dieser Welt, dass die menschliche Kognition letzten Endes auf einer gemeinsamen konzeptuellen Grundlage ruht. Theoretisch gesehen kann jedes kulturspezifische Konzept Angehörigen anderer Kulturen zugänglich gemacht werden, indem es in eine Konfiguration aus universalen semantischen Primitiva aufgeschlüsselt wird. Diese Vorgehensweise könnte also eine wichtige praktische Hilfe in interkultureller Kommunikation sein. Wir sollten dabei allerdings nicht vergessen, dass jede Sprache nur als ein integriertes Ganzes von enormer Komplexität funktioniert. Deswegen wird es wohl kaum einen besseren Weg geben, andere Kulturen kennen zu lernen, als mit den Angehörigen dieser Kulturen zu sprechen und so an ihrem kulturellen Leben teilzuhaben. 6.6 Zusammenfassung Der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur hat Philosophen, Literaten und Sprachwissenschaftler seit Jahrhunderten fasziniert. In der deutschen Romantik wurde die Idee entwickelt, dass eine jede Sprache eine eigene Weltansicht trägt. KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 159 Diese Idee kam im 20. Jahrhundert nach Amerika, wo die Forscher sich mit radikal unterschiedlichen konzeptuellen Kategorien der Sprachen der amerikanischen Eingeborenenvölker konfrontiert sahen. Sie wurde zur Hypothese der sprachlichen Relativität ausgebaut (die nach ihren Gründern auch die Sapir-Whorf-Hypothese genannt wird). Dieser Hypothese der sprachlichen Relativität steht die philosophische Ansicht des Universalismus entgegen. Nach dieser Ansicht ist das menschliche Denken in allen Kulturen der Erde seinem Wesen nach gleich. Auf die Sprache bezogen gibt es bestimmte grundlegende Elemente sprachlicher Bedeutung, die allen Sprachen dieser Welt gemeinsam sind. In jüngerer Zeit sind an die 60 grundlegende Bedeutungselemente ausfindig gemacht worden, die man auch als semantische Primitiva bezeichnet. Man hat die Hypothese aufgestellt, dass diese Primitiva universale Konzepte darstellen, und versucht, diese These an den unterschiedlichsten Sprachen empirisch zu überprüfen. Semantische Primitiva lassen sich zur Beschreibung von Bedeutung verwenden und ermöglichen es uns, zwei Probleme des herkömmlichen Ansatzes zur Paraphrase und Definition zu umgehen: Undeutlichkeit und Zirkularität der Beschreibung. Die Vorgehensweise der reduktionistischen Paraphrase lässt sich so weit verfolgen, bis alle konzeptuellen Bausteine eines sprachlichen Ausdrucks durch semantische Primitiva analytisch dargestellt sind. So können ethnozentrische Beschreibungen vermieden werden. Die Gefahr des Ethnozentrismus in der Beschreibung droht immer dann, wenn man die Kategorien seiner eigenen Sprache zum Maßstab der Beschreibung einer anderen Sprache macht. Die Methode der reduktionistischen Paraphrase kann für die Beschreibung von kulturspezifischen Wörtern, kulturspezifischen grammatischen Konstruktionen und für kulturelle Skripts verwendet werden. Wörter spiegeln tendenziell die Erfahrungen einer Sprachgemeinschaft wider. In den wichtigsten Bedeutungsdomänen finden sich lexikalische Elaborationen, d.h. eine ganze Reihe von spezifischen Wörtern für ein bestimmtes Phänomen. Eine reduktionistische Paraphrase wird in vielen Fällen ein prototypisches Szenario enthalten. Es besteht dann aus mehreren Ereignisschemata, die zusammengenommen die vollständige Explikation eines Konzeptes ausmachen. Der konzeptuelle Inhalt einer grammatischen Kategorie und die kulturellen Normen für das Kommunikationsverhalten in einer Kultur (kulturelle Skripts) können ebenfalls durch die Paraphrase in Form von semantischen Primitiva dargestellt werden. Beispiele für diesen Vergleich von kulturellen Skripts sind die stillschweigende Übereinkunft in der japanischen Kultur, nicht explizit zu sagen, was man will, sondern stattdessen sich auf implizite Nachrichten zu verlassen. Im Kontrast dazu stehen die stillschweigenden amerikanischen Annahmen, dass man die Freiheit hat, zu sagen, was man will – dies aber ohne den anderen in seiner Autonomie einzuschränken. Daher rührt der häufige Gebrauch von indirekten Bitten im Englischen. Sowohl der japanische als auch der amerikanische Stil stehen im Kontrast zum „direkten Instruktionsstil“ der französischen Kultur. Die wesentlichen Normen und Werte einer Kultur lassen sich als eine Reihe von Schlüsselwörtern analytisch darstellen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nur wenige die extreme Position der sprachlichen Relativitätshypothese vertreten, derzufolge unsere Denkweise in starkem Maße durch sprachliche Kategorien bestimmt ist. Viele Forscher nehmen hingegen eine abgeschwächte und moderate Form der sprachlichen Relativitäts- 160 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT hypothese an. Sie vertreten die Ansicht, dass Sprache das Denken in gewisser Weise beeinflusst. Die semantische Umschreibung von Bedeutung mithilfe semantischer Primitiva ermöglicht es, kulturspezifische Kategorien zu explizieren, ohne dabei in die Falle des Ethnozentrismus zu tappen. 6.7 Leseempfehlungen Frühe Werke zur sprachlichen Relativität sind Sapir (1949), Luria und Vygotsky (1992) sowie die Schriften von Whorf (1956). Gipper (1972) überprüft die Feldstudien Whorfs, setzt sich mit dessen Thesen kritisch auseinander und gibt einen Überblick über die Diskussion um den Sprachrelativismus aus sprachphilosophischer Perspektive. Aktuellere Diskussionen der linguistischen Relativitätshypothese finden sich in Gumperz & Levinson (ed.1996), Lucy (1992a) und (1992b), Lee (1996), Choi & Bowerman (1991) sowie Bowerman (1996). Eine gut lesbare deutschsprachige Darstellung der Diskussion findet sich in Lehmann (1998). Eine ausführliche Einführung in die kulturvergleichende Semantik gibt Goddard (1998). In Goddard und Wierzbicka (ed.1994) finden sich eine Reihe von Feldstudien zu semantischen Primitiva in einer größeren Anzahl von Sprachen. Ältere, philosophische Ansätze zur Frage kulturspezifischer Konzepte und universaler Konzepte finden sich in Locke (1976[1690]) und Leibniz (1971[1765]); dazu auch Ishiguro (1972). Für eine Reihe von europäischen Kulturen gibt es Kulturanalysen, so Barzini (1964) für das Italienische und Béal (1994) für die französische Kultur. Der Aspekt der kulturellen Schlüsselwörter wurde erstmals von Williams (1976) aufgebracht und wird in Wierzbicka (1997) systematisch dargestellt. 6.8 Aufgaben 1. Wie würden Sie das folgende Zitat aus Whorf (1956:236) interpretieren? Handelt es sich um eine schwache oder starke Form der Relativitätshypothese? In der Sprache der Hopi können Verben ohne Subjekte stehen. Dadurch wird diese Sprache zu einem mächtigen logischen System zur Erkenntnis bestimmter Aspekte des Kosmos. Wissenschaftssprachen, die auf dem Westindoeuropäischen gründen und nicht auf Hopi, tendieren ebenfalls dazu, Aktionen und Kräfte zu erkennen, wo eigentlich nur Zustände vorhanden sind. (Übersetzung R.P.) a) Gibt es europäische Sprachen, die Verben, aber keine Subjekte aufweisen? b) Das englische It flashed (wie auch das deutsche Es blitzte) bzw. A light flashed (dt.: Ein Licht blitzte auf) werden in Hopi als rehpi ‚blitzt‘ bzw. ‚blitzte‘ ausgedrückt. Würden Sie Whorf zustimmen, dass die englische (bzw, deutsche) Konzeptualisierung eine vom Subjekt ausgehende Kraft mit einschließt? (Vgl. hierzu die verschiedenen Ereignisschemata in Kapitel 4). KULTURVERGLEICHENDE SEMANTIK 161 c) Aus kognitiv-linguistischer Sicht gibt es keine bedeutungsleeren Wörter. Welche Bedeutung könnte es in es blitzte haben? Stützen Sie Ihre Antwort mit weiteren Beispielen. d) Für wissenschaftliche Begriffe wie Elektrizität gibt es in Hopi nur Verben und keine Substantive. Stützt das Whorfs Analyse, dass im Englischen ein Zustand gesehen wird, wo es sich ja naturwissenschaftlich gesehen um eine Kraft handelt? 2. Überprüfen Sie, ob die in Übersicht 1 dargestellte sprachliche Kategorisierung, die mit den englischen Präpositionen in und on beschrieben wird, auch im Deutschen gilt, oder das Deutsche eher zum Koreanischen tendiert. Mit welchen Präpositionen (und Verben) würde man im Deutschen die in Übersicht 1 dargestellten Kategorien (c) und (d) beschreiben? Falls möglich, vergleichen Sie auch mit weiteren Sprachen. 3. Beurteilen Sie die folgenden Wörterbucheinträge aus dem Duden Deutsches Universalwörterbuch für die zentralen Bedeutungen von Ärger, Wut, Hass und Zorn in Hinblick auf ihre Verständlichkeit und Aussagekraft. Versuchen Sie, die Bedeutungen mithilfe semantischer Paraphrasen wiederzugeben. Diskutieren Sie Ihre Entwürfe untereinander und versuchen Sie, das Ergebnis der Diskussion in Form einer Paraphrase festzuhalten: Ärger 1. bewußtes, von starker Unlust. u. [aggressiver] innerer Auflehnung geprägtes [erregtes] Erleben [vermeintlicher] persönlicher Beeinträchtigung, bes. dadurch, dass etw. nicht ungeschehen zu machen, zu ändern ist; Aufgebrachtsein, heftige Unzufriedenheit, [heftiger] Unmut, Unwille, [heftige] Verstimmung, Missstimmung.(2001:164,1f) Wut 1.heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o. Ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt. (1835,2) Hass 1.heftige Abneigung; starkes Gefühl der Ablehnung u. Feindschaft gegenüber einer Person, Gruppe od. Einrichtung. (719,3) Zorn 1.heftiger, leidenschaftlicher Unwille über etw., was jmd. als Unrecht empfindet od. was seinen Wünschen zuwiderläuft. (1862,3) 4. Wie lässt sich die zentrale Bedeutung des Wortes Liebe (wie in Ich liebe dich) in einer semantischen Paraphrase umschreiben? Vergleichen Sie mit Ihrem Ergebnis für Hass aus Aufgabe 3. 5. Im Folgenden finden Sie die semantische Paraphrase eines deutschen Schlüsselwortes (Wierzbicka 1997:158). Setzen Sie sich kritisch mit dieser Paraphrase auseinander, diskutieren Sie gemeinsam, ob auch Ihr Verständnis bzw. Ihre Verwen- 162 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT dungsweise dieses Schlüsselwortes adäquat wiedergegeben wird. Ändern Sie die Paraphrase ggf. entsprechend ab oder verfassen Sie eine eigene. Stützen Sie Ihre kritische Einschätzung mit Beispielsätzen bzw. Verwendungskontexten. Vergleichen Sie mit Einträgen in Wörterbüchern zu diesem Schlüsselwort. Wie würden Sie einem Angehörigen einer anderen Kultur die Bedeutung dieses Wortes erklären? (a) ein Ort (b) Ich wurde an diesem Ort geboren. (c) An diesem Ort gibt es viele Orte. (d) Als ich Kind war, lebte ich an diesen Orten. (e) Ich fühlte etwas Gutes, als ich an diesen Orten lebte. (f) Ich fühlte: nichts Schlechtes kann mir geschehen. (g) Ich kann mich an keinen anderen Orten so fühlen. (h) Deshalb fühle ich etwas Gutes, wenn ich an diese Orte denke. (i) Wenn ich an diese Orte denke, denke ich etwas wie dies: (j) Keine anderen Orte sind wie diese Orte; (k) als ich Kind war, war ich wie ein Teil dieser Orte; (l) ich kann nicht wie ein Teil irgendeines anderen Ortes sein. (m) (Ich weiß: einige Leute denken dasselbe, wenn sie an diese Orte denken.) (n) (Ich denke: diese Leute fühlen dasselbe, wenn sie an diese Orte denken.) (o) (Wenn ich an diese Leute denke, fühle ich etwas Gutes.) KAPITEL 7 Sprechen als Handeln: Pragmatik 7.0 Überblick Bisher haben wir uns insbesondere auf die Frage konzentriert, wie wir mit Sprache Gedanken formen und ausdrücken, d.h. wir haben uns mit der Ausdrucksfunktion der Sprache beschäftigt. Sprache erfüllt aber noch eine weitere, nicht minder wichtige Aufgabe. Wir verwenden sie, um mit anderen Sprechern in Kontakt zu treten und mit ihnen zu interagieren. Diese interpersonelle Funktion der Sprache soll Gegenstand dieses Kapitels über Pragmatik und des achten Kapitels über Textlinguistik sein. Nicht selten reden wir miteinander, um unseren Mitmenschen zu signalisieren, dass wir von ihrer Gegenwart Notiz nehmen. Dann zählt nicht so sehr, was wir sagen, sondern das Miteinanderreden an sich. In den meisten Fällen geben wir aber durch unsere Äußerungen darüber hinaus bestimmten Absichten Ausdruck, die wir unserem Gesprächspartner in der Interaktion vermitteln wollen. In all diesen Fällen ist unser Sprechen zugleich ein Handeln. Mit unseren Äußerungen führen wir verschiedene Typen von Sprechakten aus. Mit Sprechakten realisieren wir kommunikative Absichten, die sich im Wesentlichen auf die kognitiven Bereiche des Wissens und des Wollens beziehen. Mit informativen Sprechakten geben (Die Sitzung dauerte drei Stunden) bzw. erfragen (Wie lange hat die Sitzung gedauert?) wir die verschiedensten Informationen. Mit obligativen Sprechakten geben wir Wünschen, Anweisungen, Bitten, Versprechen oder Angeboten Ausdruck, d.h. wir beabsichtigen, den Hörer bzw. uns selbst auf eine zukünftige Handlung zu verpflichten (Lasst uns für heute Schluss machen). Mit konstitutiven Sprechakten stiften wir durch das Äußern ganz bestimmter Worte unter ganz bestimmten Umständen soziale Wirklichkeit. So etwa wenn der Vorsitzende einer Sitzung durch die Äußerung der Worte Die Sitzung ist geschlossen eine Sitzung offiziell beendet: sie ist dann auch tatsächlich beendet. Im Folgenden werden wir uns insbesondere darauf konzentrieren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Sprechakt als „geglückt“ gelten kann. Wir werden auch betrachten, welche Strategien von den Teilnehmern verwendet werden, um eine reibungsfreie, kooperative Interaktion zu gewährleisten. 164 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 7.1 Einleitung: was ist Pragmatik? 7.1.1 Interaktion, Intention und Sprechakte Die Pragmatik beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie Menschen Sprache gebrauchen, um mit anderen in Kontakt zu treten und sozial zu handeln. Sie betrachtet den Gebrauch von Sprache als einen Teil menschlicher Interaktion: Menschen leben, arbeiten, handeln und kommunizieren miteinander in sozialen Netzwerken, z.B. Zuhause, in der Nachbarschaft, im Dorf, der Stadt oder Großstadt, am Arbeitsplatz oder in der Schule, in Vereinen, der Kirche usw. Sie treten miteinander in sprachliche Interaktion. Manchmal dient das Miteinandersprechen lediglich dazu, uns gegenseitig zu versichern, dass wir von der Gegenwart des jeweils anderen Notiz nehmen. Die Hauptintention bei solchem Small Talk ist nicht vorrangig die Übermittlung von Informationen, Einstellungen oder Wünschen, sondern das soziale Zusammensein wie in Beispiel (1). In diesem Zusammenhang spricht man auch von phatischer Kommunikation (griech. phatis ‚Rede‘). (1) Gespräch zwischen zwei Nachbarn im Flur. A: Brrr – schrecklich kalt heute. B: Ja, geht’n eisiger Wind. A: Muss man sich richtig dick einpacken. B: (Öffnet die Haustür, es zieht kalt herein): Brrr! Ich mach’ schnell wieder zu. Wenn wir mit anderen kommunizieren, wollen wir aber in einer solchen Interaktion meist noch etwas anderes erreichen: wir wollen jemandem mitteilen, was uns gerade im Kopf herumgeht, was wir sehen, wissen, denken, glauben, wollen, beabsichtigen oder fühlen. Wir wollen anderen etwas über unseren mentalen Zustand mitteilen, sie auf unsere Einstellung aufmerksam machen. Mit unseren Äußerungen verfolgen wir jeweils bestimmte kommunikative Absichten. Wir wollen zum Beispiel informieren, bitten, anweisen, überreden, ermutigen. Wenn z.B. jemand zu einem kranken Bekannten sagt Heute siehst du ja schon viel besser aus!, dann versucht er, ihn mit diesen Worten zu trösten. Anders gesagt: er will damit seiner Absicht Ausdruck geben, seinen Bekannten zu trösten. Ein Sprecher äußert also Worte, um einer kommunikativen Absicht Ausdruck zu geben, und vollzieht damit einen Sprechakt. Je nach kommunikativer Absicht lassen sich nun verschiedene Sprechakttypen unterscheiden. Lange galt das Interesse der Sprachphilosophen hauptsächlich der Klärung einer einzigen Frage: wie können wir wahre Aussagen machen, und wie ist es uns dabei möglich, die Wahrheitsbedingungen zu erkennen, die dem Gesagten zugrunde liegen? Im Jahre 1962 richtete der Sprachphilosoph John Austin mit seinem Buch How to do things with words den Blick erstmals auch darauf, dass sprachliche Kommunikation mehr ist als das Aussprechen von Sätzen, die sich entweder als wahr oder falsch beurteilen lassen. Wir machen vielmehr Äußerungen, mit denen wir jedes Mal auch eine Handlung ausführen. Dabei geben wir PRAGMATIK 165 nicht nur Informationen weiter (2a), sondern vollziehen auch eine ganze Reihe von weiteren Handlungen (2b-e): (2) a. b. c. d. e. Mein Computer ist kaputt. Könntest du mir nicht deinen für ein paar Tage leihen? Klar, bring ich dir morgen vorbei. Danke, das wär’ wirklich sehr nett von dir. Hiermit taufe ich dieses Schiff auf den Namen Gorch Fock. Mit Äußerung (2a) informiert der Sprecher den Hörer darüber, was er wahrnimmt bzw. was seiner Ansicht nach geschieht. Wir bezeichnen (2a) deshalb als informativen Sprechakt. Auch wenn wir in der Regel erwarten, dass die Aussagen eines Sprechers wahr sind, können sie natürlich tatsächlich auch falsch sein. In (2b) ist die Frage nach der Wahrheit der Aussage nicht von Bedeutung – mit diesem Sprechakt bittet der Sprecher den Hörer, etwas zu tun. Mit (2c) stellt er eine eigene Handlung in Aussicht. Bei solchen Sprechakten spielt nicht so sehr das Wissen des Sprechers, sondern vielmehr sein Wille die wesentliche Rolle: Er verpflichtet seinen Hörer (2b) bzw. sich selbst (2c) zu einer zukünftigen Handlung. Wir bezeichnen diese Sprechakte deshalb als verpflichtende oder auch obligative Sprechakte. Mit (2d) bedankt sich der erste Sprecher bei seinem Freund für dessen Hilfe. Der Sprecher in (2e) stellt keine bereits existierende Tatsache dar – er schafft vielmehr neue Tatsachen, indem er die Worte als Teil eines Taufrituals für Schiffe äußert: nachdem er die Worte geäußert hat, lautet der Name des Schiffes „Gorch Fock“. Um mit dieser Äußerung soziale Realität konstituieren zu können, müssen bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein: es muss sich um einen offiziellen Anlass handeln, Zeugen (z.B. Vertreter der Öffentlichkeit) müssen anwesend sein, der Sprecher ist in der Regel eine Person des öffentlichen Lebens und muss eine Champagnerflasche gegen den Bug des Schiffes schleudern, nachdem er kurz zuvor die in diesem Zusammenhang angemessenen Worte (2e) gesprochen hat. Austin bezeichnete Sprechakte wie (2e) zunächst als performative Akte. Performative Akte sind all diejenigen Akte, bei denen der Sprecher explizit benennt, welchen Sprechakt er gerade ausführt. Wir finden solche performativen Akte aber auch in der Kategorie der obligativen Sprechakte, z.B. in Ich bitte dich, hilf mir oder in informativen Akten wie Ich sage es gern noch einmal: Sie ist momentan nicht zu sprechen. Später kam Austin daher zu dem Schluss, dass wir nicht nur mit dem Äußern von Worten wie in (2e) handeln, sondern mit jeder unserer sprachlichen Äußerungen auch zugleich einen bestimmten Sprechakt ausführen. Zwischen den Akten (2a-d) und (2e) besteht dennoch ein Unterschied. Die Frage, wie sich Sprechakte in unterschiedliche Kategorien einordnen lassen, wurde von dem Philosophen John Searle, einem Schüler Austins, aufgegriffen. Searle schlug eine Taxonomie mit fünf Sprechakttypen vor: 166 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (3) a. b. c. d. e. Assertiva: Direktiva: Kommissiva: Expressiva: Deklarativa: Stefan raucht eine Zigarette nach der anderen. Raus hier – verschwinde endlich. Das mache ich bestimmt nie wieder. Herzlichen Glückwunsch zum 20. Geburtstag! Die Sitzung ist geschlossen. Doch diese Sprechakttaxonomie ist nicht ganz unproblematisch. Sie gibt insbesondere keine ausreichenden Kriterien an, nach denen sich direktive von kommissiven bzw. expressive von deklarativen Sprechakten unterscheiden ließen. Unter allen bisher vorgeschlagenen Taxonomien ist es aber die überzeugendste. Aus kognitiver Sicht lassen sich Zusammenhänge zwischen Direktiva und Kommissiva auf der einen und Expressiva und Deklarativa auf der anderen Seite erkennen. Sowohl mit (2b) als auch mit (2c) gibt der Sprecher seinem Willen Ausdruck, sich selbst bzw. den Hörer auf eine zukünftige Handlung festzulegen – beide Akte haben eine verpflichtende Funktion. Wir fassen sie unter der Kategorie obligative Sprechakte zusammen. Werden hingegen (2d) und (2e) geäußert, so soll weder der Sprecher, noch der Hörer auf eine Handlung verpflichtet werden. Mit der Äußerung dieser Sprechakte wird vielmehr zugleich soziale Realität konstituiert. Wir fassen deshalb die beiden Sprechakttypen Expressiva und Deklarativa unter der Oberkategorie konstitutive Sprechakte zusammen. Betrachten wir nun noch die Kategorie der Assertiva (2a). Mit dieser Art von Sprechakten beabsichtigt der Sprecher, dem Hörer eine Information mitzuteilen. Hier gibt es natürlich auch den umgekehrten Fall, wenn nämlich der Sprecher den Hörer um Information ersucht: Raucht Stefan eigentlich? Wir ergänzen daher die Searlesche Kategorie der Assertiva um eine gesonderte Kategorie der Informationsgesuche. Abbildung 1. Übergeordnete und untergeordnete Sprechaktkategorien Sprechakte Konstitutive Akte Informative Akte Expressiva Deklarativa Assertiva danken loben entschuldigen grüßen gratulieren darstellen behaupten beschreiben annehmen taufen trauen ernennen verurteilen Obligative Akte Informations- Direktiva Kommissiva gesuche fragen bitten versprechen anweisen anbieten vorschlagen raten Da diese beiden Sprechakttypen auf Information ausgerichtet sind, fassen wir sie unter der Oberkategorie der informativen Sprechakte zusammen. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über übergeordnete und untergeordnete Sprechaktkategorien. PRAGMATIK 167 Insgesamt gesehen gibt es also drei Oberkategorien: informative, obligative und konstitutive Sprechakte, auf die wir im folgenden Abschnitt näher eingehen wollen. 7.1.2 Eine „kognitiv orientierte“ Typologie der Sprechakte Beginnen wir mit den informativen Sprechakten. In diese Kategorie fallen alle Akte, mit denen ein Sprecher beabsichtigt, seinem Hörer Informationen darüber zu vermitteln, was er weiß, denkt, glaubt oder fühlt, bzw. mit denen der Sprecher diese Informationen vom Hörer erfragen will. (4) a. Ich bin hier völlig fremd und kenne mich überhaupt nicht aus. b. Können Sie mir sagen, wie ich zum Bahnhof komme? c. Gehen Sie die erste Straße links, bis zur nächsten Ampel, dann wieder rechts. Informative Sprechakte können in vielfältiger Form auftreten: nicht nur als Aussagesatz (4a), sondern in Interrogativsätzen (4b) oder selbst im Imperativ (4c) Bei ihnen spielen eine Reihe von Hintergrundannahmen eine Rolle, zum Beispiel darüber, dass der Sprecher die gewünschte Information evtl. gar nicht geben kann. Ein Sprecher wird typischerweise nicht unvermittelt fragen Wo ist der Bahnhof?, sondern gleichzeitig mit seiner Bitte um Information überprüfen, ob der Adressat überhaupt über die gewünschte Information verfügt. Deshalb wird er viel eher eine Äußerung wie Können Sie mir sagen, wo der Bahnhof ist? machen. Der Hörer beantwortet diese Entscheidungsfrage typischerweise nicht mit ja, sondern interpretiert sie als Informationsgesuch. Wenn er über die gewünschte Information verfügt, gibt er sie – wenn er das für angemessen hält – an den Sprecher weiter. In unserem Beispiel gibt er dem Hörer die gewünschte Information in Form einer Art Anleitung. Obwohl er Imperative verwendet, beabsichtigt er keineswegs, den Hörer zu irgendetwas zu verpflichten. Zwischen der grammatischen Form einer Äußerung und der Absicht, die der Sprecher mit ihr verfolgt, besteht nicht notwendigerweise ein unmittelbarer Zusammenhang. Trotz der imperativischen Form handelt es sich bei Beispiel (4c) also um einen informativen, nicht um einen obligativen Sprechakt. Obligative Sprechakte unterscheiden sich von informativen Akten sowohl in der Motivation des Sprechers als auch in den Konsequenzen, die sich der Sprecher als Konsequenz seiner Äußerung erhofft. Nehmen wir etwa die folgende Situation: Mark und Peter wollen von einer Party nach Hause fahren. Mark hat nicht so viel getrunken wie Peter und sagt: (5) a. Mark: Hey, gib mir die Schlüssel! Ich fahre. b. Peter: (gibt ihm die Schlüssel): Okay, aber das nächste Mal fahre ich dann wieder – versprochen! Marks Äußerung besteht aus zwei obligativen Sprechakten, nämlich a) einem direktiven und b) einem kommissiven Akt. Er will a) dass Peter ihm die Schlüssel gibt, und b) das Auto selbst fahren. Mit dem ersten Sprechakt beabsichtigt er, 168 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Peter dazu zu bewegen, seiner Bitte nachzukommen. Diese Absicht begründet er auch, nämlich indem er Peter das Angebot macht, das Fahren zu übernehmen. Mit diesem Angebot verpflichtet sich Mark zu fahren, vorausgesetzt, dass Peter ihm die Autoschlüssel gibt. Ähnliches gilt für Peters Äußerungen: zunächst kommt er Peters Bitte um die Schlüssel nach, um dann zu versprechen, dass er das nächste Mal selber fahren wird. Wir können also festhalten, dass allen obligativen Sprechakten, wie z.B. Anbieten, Versprechen, und Bitten, eines gemein ist: mit ihnen legt der Sprecher sich selbst bzw. seinen Hörer auf eine zukünftige Handlung fest. Konstitutive Sprechakte schaffen soziale Realität. Sie können aber nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen ausgeführt werden, nämlich indem eine bestimmte Person in einer für den Sprechakt angemessenen Situation zur rechten Zeit die rechten Worte äußert. Diese Kriterien treffen sowohl auf (2e) Hiermit taufe ich dieses Schiff auf den Namen Gorch Fock als auch auf (3e) Die Sitzung ist geschlossen zu. Nur eine Person des öffentlichen Lebens kann ein Schiff taufen, und nur der Vorsitzende einer Sitzung kann am Ende der Sitzung, wenn nichts mehr auf der Tagesordnung steht, den Sprechakt in (3e) vollziehen und damit die Sitzung offiziell schließen. Bei beiden Äußerungen handelt es sich um deklarative Sprechakte, die wir als eine Untergruppe konstitutiver Sprechakte definiert hatten. Eine offiziell anerkannte Person „erklärt, dass etwas der Fall ist“: nach der Äußerung der Worte hat das Schiff den Namen Gorch Fock bzw. ist die Sitzung geschlossen. Die Kriterien für die Oberkategorie der konstitutiven Sprechakte treffen aber in gleichem Maße auf die expressiven Akte in (2d) Danke, das ist wirklich sehr nett von dir und (3d) Herzlichen Glückwunsch zum 20. Geburtstag zu. Man kann jemandem nämlich nur wirklich danken, wenn dieser etwas für einen selbst getan hat bzw. kurz zuvor versprochen hat, dies zu tun. Man kann auch jemandem nur dann zum Geburtstag gratulieren, wenn er tatsächlich Geburtstag hat. Obwohl Searles Unterscheidung zwischen expressiven (2d, 3d) und deklarativen Akten (2e, 3e) natürlich berechtigt ist, haben auch diese Sprechakte einen Aspekt, der es zulässt, sie in eine gemeinsame Oberkategorie einzuordnen. Insbesondere bei diesen Sprechakttypen müssen sehr genaue Bedingungen erfüllt sein, damit sie als geglückt gelten können. Diese Geglücktheitsbedingungen sind: die Sprechakte müssen erstens unter den für sie angemessenen Umständen vollzogen werden. Zweitens muss die für den jeweiligen Akt angemessene sprachliche Form verwendet werden. Konstitutive Sprechakte werden in der Regel durch ritualisierte, formelhafte Äußerungen realisiert, so etwa wenn ein Richter die Worte Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil... äußert und damit einen juristischen Akt vollzieht. Der Richter muss exakt die ritualisierte Form zum angemessenen Zeitpunkt des Verfahrens verwenden, damit das Urteil als verkündet gilt und dann auch rechtskräftig werden kann. In den folgenden Abschnitten wollen wir uns die drei Hauptsprechakttypen Konstitutiva, Informativa und Obligativa genauer ansehen. Wir werden insbesondere darauf eingehen, wie sie mit so genannten Geglücktheitsbedingungen, Kooperationsprinzipien und Imagestrategien zusammenhängen. PRAGMATIK 169 7.2 Konstitutive Sprechakte und Geglücktheitsbedingungen 7.2.1 Unterkategorien Expressiva und Deklarativa konstitutiver Sprechakte: Von den drei Hauptsprechaktkategorien umfasst die Gruppe der konstitutiven Sprechakte wahrscheinlich die meisten Einzelsprechakte. In allen Kulturen gibt es eine große Zahl von ritualisierten Handlungen. Eine ritualisierte Handlung wie Begrüßen können wir entweder allein mit einer Äußerung vollziehen (6a) Ich begrüße Sie herzlich... oder auch als sprachliche Begleitung non-verbaler Handlungen wie einem Händedruck (6b). Die Äußerungen können je nach Ereignis vertraut, wenig formell bis in hohem Grade formell sein. (6) a. Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich... b. [A und B geben sich die Hand] Tag! (7) a. Guten Tag, Hallo, Hi b. Auf Wiedersehen, Tschüß, Tschö, Mach’s gut, Bis dann c. Schlaf gut, Danke, Prost, Gut gemacht In die Kategorie der Expressiva lassen sich die routinemäßig ausgeführten Akte Begrüßen, Verabschieden, Bedanken, Trösten, Komplimente machen, Gratulieren, Entschuldigen usw. einordnen. Auch einfache routinemäßige Äußerungen (7) wie Hi, Guten Tag, Hallo, Auf Wiedersehen, Tschüß, Mach’s gut, Bis dann, Schlaf gut, Danke, Prost!, Gut gemacht!, Glückwunsch, Tut mir Leid, O.k. usw. sind expressive Sprechakte. Sie konstituieren eine soziale Beziehung bzw. einen Kontakt. Dies fällt umso mehr auf, wenn man jemanden nicht grüßt – die soziale Beziehung wird dann verweigert und kommt erst gar nicht zustande. Diese informellen ritualisierten Akte treten oft in abgekürzter Form auf, wie in Tschö!, Dank dir, Wiedersehen, Hi, Toi, toi, toi etc. auf. Am anderen Ende auf dem Kontinuum zwischen formellen und informellen Sprechaktsituationen stehen solche konstitutiven Sprechakte, die in hohem Maße formell sind und einen institutionellen Kontext sowie eine Person erfordern, der offiziell die Ausführung dieser Akte übertragen wurde: z.B. einen sportlichen Wettkampf leiten, eine Taufe oder Eheschließung vollziehen, einer Gerichtsverhandlung vorsitzen, eine Zeugenaussage machen, einen Urteilsspruch verkünden, offizielle Entscheidungen bekannt geben, jemanden vereidigen, Beamte ernennen, Krieg erklären usw. Institutionalisierte konstitutive Akte zeichnen sich durch einen sehr formellen Stil aus. Oft wird ein besonderes, performatives Verb verwendet, das die Art des Sprechaktes explizit bezeichnet, so wie erklären, verkünden, bekannt geben. Das Verb kann nur in der 1. Person Singular Indikativ Aktiv Präsens stehen, denn das gegenwärtige Aussprechen und das Handeln fallen bei konstitutiven Akten ja zusammen. Zudem müssen konstitutive Akte zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb eines besonderen Rituals ausgeführt werden. Bei einer standesamtlichen Trauung muss der Standesbeamte sowohl an die Braut als auch an den Bräutigam eine Frage wie in (8a) richten. Nur wenn beide mit Ja antwor- 170 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT ten, wird anschließend das Ritual mit einem konstitutiven Sprechakt als vollzogen bestätigt (8b): (8) a. Standesbeamter: Ich frage Sie, Herr X, wollen Sie mit der hier anwesenden Frau Y die Ehe eingehen, so antworten Sie mit ‚ja‘. Herr X: Ja. Standesbeamter: Ich frage Sie, Frau Y, wollen Sie mit dem hier anwesenden Herrn X die Ehe eingehen, so antworten Sie mit ‚ja‘. Frau Y: Ja. b. Standesbeamter: Nachdem Sie sich nun beide vor den hier anwesenden Zeugen das Jawort gegeben haben, erkläre ich Sie kraft Gesetzes für rechtmäßig verbundene Eheleute. (9) Richter: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: der Angeklagte ist schuldig. Er wird zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu 25 Euro verurteilt. (10) a. Pfarrer: Ich taufe dich auf den Namen Maria. b. Der Pfarrer taufte das Kind auf den Namen Maria. In (9) besteht das Urteil des Richters aus zwei deklarativen Akten: zunächst wird die Schuld des Angeklagten festgestellt. Dann folgt die Strafzumessung. Bei Beispiel (10b) handelt es sich nicht um einen deklarativen, sondern um einen assertiven Sprechakt, mit dem jemand über die Taufe berichtet. Performative Verben wie taufen können also auf unterschiedliche Art und Weise verwendet werden. In Satz (10a) wird das Verb taufen verwendet, um die konstitutive Absicht explizit wirksam werden zu lassen. In (10b) dient taufen hingegen zur Beschreibung eines Ereignisses; in diesem Fall wird mit der Verwendung des Verbs taufen keine soziale Realität gestiftet. 7.2.2 Geglücktheitsbedingungen Wir haben in diesem Kapitel bereits mehrfach gesehen, dass die Ausführung eines Sprechaktes durch einen Sprecher an bestimmte Bedingungen und Umstände geknüpft ist, unter denen ein Akt als geglückt gelten kann. Für alle drei Hauptsprechakttypen gelten bestimmte Geglücktheitsbedingungen. Bei einem informativen Sprechakt muss der Sprecher selbst über die notwendigen Informationen verfügen. Bei einem obligativen Sprechakt, beispielsweise Anweisungen geben, muss der Sprecher auch in einer sozialen Position sein, diese Anweisungen geben zu können. Wer sich im Vergleich zum Sprecher in einer niederen sozialen Position befindet, wie etwa ein Angestellter gegenüber seinem Arbeitgeber, kann seinem Gegenüber kaum Anweisungen geben. Geglücktheitsbedingungen kommen am stärksten bei deklarativen und expressiven Akten zum Tragen. (8a) zeigt, dass für einen institutionalisierten Akt wie ein Brautpaar trauen exakt festgelegte Bedingungen vollständig erfüllt sein müssen, damit er als geglückt gelten kann. Wenn nur eine einzige Bedingung PRAGMATIK 171 nicht erfüllt wurde, kann zum Beispiel der Akt ein Urteil verkünden juristisch angefochten und schließlich für nichtig erklärt werden, da er nicht korrekt ausgeführt wurde. Wenn eine Ehe nicht von einer offiziell mit dieser Aufgabe betrauten Person, d.h. einem Standesbeamten, einem Botschafter oder Attaché geschlossen wird, hat diese Heirat keinen offiziellen Status. Dies ist auch der Fall, wenn Braut und Bräutigam den durch die Gesellschaft für diesen Akt festgelegten Bedingungen nicht entsprechen: Eheschließungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern entsprechen nicht den gesetzlich festgeschriebenen Konventionen für dieses Ritual und werden aus diesem Grunde auch nicht gesellschaftlich anerkannt. Oder nehmen wir das Beispiel Gratulieren: wir können nur dann jemandem zum Geburtstag, zur Hochzeit, zur Beförderung gratulieren, wenn wir a) den Sprechakt Gratulieren an ihn/sie und an keine andere Person richten, b) den Akt zum rechten Zeitpunkt ausführen, und c) wenn das Ereignis, zu dem wir gratulieren wollen, auch tatsächlich stattgefunden hat bzw. stattfindet (so etwa bei einem Geburtstag). Ist eine dieser notwendigen Bedingungen nicht erfüllt, so ist der Versuch, den Sprechakt Gratulieren auszuführen, als nicht geglückt anzusehen: (11) A: Mann: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! B: Frau: Ist doch erst nächsten Monat, du Trottel. Trotz seiner guten kommunikativen Absichten hat der Mann seiner Frau mit dieser Äußerung nicht gratuliert, denn die Geglücktheitsbedingungen für den expressiven Akt Gratulieren waren nicht erfüllt. Obwohl die dazu notwendigen Worte geäußert wurden, können wir nicht von einer geglückten Gratulation sprechen. Fassen wir diesen Abschnitt noch einmal zusammen. Für alle konstitutiven Sprechakttypen gilt eine einfache Regel: der Sprechakt muss zur rechten Zeit und am rechten Ort an die richtige Person gerichtet werden. Sowohl das Äußern der Worte als auch das Handeln durch diese Worte sind nur dann im Sinne der Absicht des Sprechers gelungen, wenn die für diesen Sprechakt geltenden Geglücktheitsbedingungen erfüllt sind. Ist dies nicht der Fall, so wurden zwar die für das Ritual angemessenen Worte geäußert, mit diesen Worten wurde allerdings nicht gehandelt, und der Sprechakt ist als nicht geglückt anzusehen. Bei informativen und obligativen Akten werden neben den Geglücktheitsbedingungen noch weitere Aspekte bedeutsam, auf die in den nächsten Abschnitten näher eingegangen wird. 172 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 7.3 Informative Sprechakte und kooperative Interaktion 7.3.1 Konversationelle und konventionelle Präsuppositionen Einem uns wildfremden Menschen würden wir nie eine Frage wie (12a) stellen, denn eine solche Frage setzt bereits voraus, dass die Interagierenden eine Menge übereinander wissen. (12) a. Susanne: Hallo. Wo geht’s denn heute mit den Kindern hin? b. Peter: Mal sehen – vielleicht in den Park. Dort spielen sie ja am liebsten! Bei einer solchen Interaktion kennen sich die Interaktionspartner, sie haben sich schon einmal getroffen und miteinander gesprochen. Beide teilen deswegen einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund. In einem Gespräch können sie also voraussetzen, dass ihr Partner ihre Äußerungen vor diesem gemeinsamen Hintergrund interpretieren wird. Susanne weiß, dass Peter mit den Kindern zwar regelmäßig nach draußen, aber nicht immer an den gleichen Ort geht. Wenn solches Wissen als gegeben vorausgesetzt wird, so spricht man von einer konversationellen Präsupposition. Es handelt sich um eine Präsupposition (d.h. eine stillschweigende Voraussetzung), die nur in der gerade stattfindenden Konversation möglich ist. Peter hat sich noch nicht genau entschieden, wohin er mit den Kindern gehen wird, aber überlegt, in den Park zu gehen. Susanne und Peter setzen außerdem voraus, dass der jeweils andere über ein bestimmtes Weltwissen verfügt: etwa dass es in ihrem Wohnviertel einen Park gibt, in den man mit seinen Kindern zum Spielen gehen kann. Dieses geteilte Wissen wird z.B. durch die Verwendung von bestimmten Artikeln angezeigt; es ist teilweise aus der Satzbedeutung ablesbar und wird als konventionelle Präsupposition bezeichnet. In alltäglichen Interaktionen sind viele solcher konventioneller Präsuppositionen enthalten, die nicht an eine bestimmte Konversation gebunden, sondern aufgrund des auf Konvention beruhenden Bedeutungsanteils der sprachlichen Äußerung deutlich sind und deswegen vorausgesetzt werden können. Menschen, die sich zwar nicht persönlich kennen, aber derselben nationalen oder kulturellen Gemeinschaft angehören, teilen viele kulturelle Präsuppositionen, die einen Teilbereich der konventionellen Präsuppositionen ausmachen. So machen wir zum Beispiel Präsuppositionen über bestimmte Orte, geschichtliche Ereignisse, nationale Institutionen, Wahlen, wichtige Personen der Öffentlichkeit, usw. Wenn zum Beispiel deutsche Fernsehzuschauer folgende Äußerung über eine Bundestagswahl hören, so verfügen sie bereits über genügend Informationen, um einen Sinn sehen zu können: (13) Stahlarbeiter: In unserem Stadtteil wählen alle SPD. Diese Äußerung wird vor einem kulturellen Hintergrund interpretiert, in dem z.B. folgende Informationen bekannt sind: es handelt sich um eine Gesellschaft mit Mehrparteiensystem, in der regelmäßig Wahlen stattfinden und in der man das PRAGMATIK 173 mögliche Wahlverhalten seiner Nachbarn einschätzen kann, wenn man weiß, welcher gesellschaftlichen Gruppe sie zugeordnet werden können. Dieselbe Äußerung würde in einem anderen Kontext sicher zu einer ganzen Reihe von Missverständnissen führen. Wenn unser Stahlarbeiter Satz (13) als deutscher Tourist in China gegenüber einem Chinesen äußert, den er auf seiner Reise getroffen hat, kann er sicherlich nicht annehmen, dass dieser sie verstehen wird. Eventuell wird der Chinese ja nicht wissen, dass mit alle nicht wirklich „alle“ im wörtlichen Sinne, sondern „alle Wahlberechtigte, die sich entscheiden, zur Wahl zu gehen“ gemeint ist – und dass keiner wählen muss und einige Wahlberechtigte aus dieser Straße auch eventuell gar nicht zur Wahl gehen. Beispiel (13) zeigt deutlich, dass wir in Interaktionen eine ganze Reihe von Präsuppositionen machen, die wir auf kulturelles Hintergrundwissen gründen, das wir mit unseren Interaktionspartnern in derselben oder einer ähnlichen kulturellen Gemeinschaft teilen. 7.3.2 Das Kooperationsprinzip und die Konversationsmaximen Wenn man bedenkt, dass mit der kurzen Äußerung in (13) so viele Informationen impliziert, so viel als dem Hörer bekannt vorausgesetzt und so vieles nicht ganz wörtlich genommen wird, so ist schon recht erstaunlich, dass überhaupt jemand diese Äußerung angemessen interpretieren und verstehen kann. Doch die Verständigung kann in diesem wie in noch vielen anderen Fällen dennoch gelingen – denn wir setzen voraus, dass die Teilnehmer an sprachlichen Interaktionen sich an einer Reihe von „stummen“ Regeln oder auch Prinzipien orientieren, die man als Konversationsmaximen bezeichnet. Der Sprachphilosoph Grice (1979:248-50) formulierte für menschliche Kommunikation das folgende übergeordnete Kooperationsprinzip: (14) Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird. Die Maximen in (14) sind imperativisch formuliert – dies soll allerdings nicht bedeuten, dass die Sprecher sich stets so verhalten müssen. Es bedeutet vielmehr, dass es sich um von den Interagierenden verinnerlichte Annahmen über kooperative sprachliche Interaktion handelt. Die übergeordnete Kooperationsmaxime umfasst vier Teilmaximen (auch Konversationsmaximen genannt) die nach Grice einer jeden rationalen sprachlichen Interaktion zugrunde liegen : a. QUANTITÄT: 1. Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächs zwecke) nötig. 2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig. b. QUALITÄT: Versuche, deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist. 1. Sage nichts, was du für falsch hältst. 2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen. 174 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT c. RELEVANZ: Sei relevant. d. MODALITÄT: Sei klar. 1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks. 2. Vermeide Mehrdeutigkeit. 3. Sei kurz (Vermeide unnötige Weitschweifigkeit). 4. Der Reihe nach! Die Maxime der Quantität betrifft den Umfang der Information: ein Teilnehmer soll seinen Beitrag so gestalten, dass er mit ihm zum gegenwärtigen Zweck die notwendige Menge an Informationen gibt – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Betrachten wir ein Beispiel: es ist Sonntag, einem Autofahrer ist das Benzin ausgegangen, und er fragt einen Passanten nach der nächsten Tankstelle. Dieser antwortet mit einer der folgenden Äußerungen: (15) a. Gleich um die Ecke ist eine Tankstelle. b. Gleich um die Ecke ist eine Tankstelle, aber die ist an Sonntagen zu. Bis zur nächsten sind es fünf Kilometer. Wenn der Passant weiß, dass die Tankstelle sonntags geschlossen ist, und mit (15a) antwortet, dann gibt er zu wenig Informationen und verletzt damit die Maxime der Quantität. Mit Antwort (15b) wird die Maxime hingegen vollständig beachtet. Die Maxime der Qualität kommt in folgendem Beispiel zum Tragen: Weißt du, wer das Fußballspiel gewonnen hat? Nehmen wir an, unser Kommunikationspartner weiß das Ergebnis des Spiels nicht und antwortet mit einer der folgenden Äußerungen: (16) a Keine Ahnung. b. Bestimmt die Bayern. c. Bayern München. Mit der ersten Äußerung ist unser Partner „wahrhaftig“: er sagt, dass er nicht über die gewünschte Information verfügt. Bei der zweiten Antwort ist unser Partner ebenfalls wahrhaftig, denn er deutet ja indirekt an, dass er die Antwort nicht kennt, aber dass es gute Gründe dafür gibt anzunehmen, dass Bayern München gewonnen hat. Im Falle von (16c) ist er nicht wahrhaftig, denn er stellt es so dar, als würde er über die gewünschte Information verfügen, obwohl dies ja nicht der Fall ist. Allerdings kann man auch nicht sagen, dass er lügt – er behauptet lediglich, dass etwas der Fall ist (was ja durchaus zutreffen mag), für das er überhaupt keine Anhaltspunkte hat. Die Maxime der Relevanz lässt sich am besten an einem Beispiel zeigen, bei dem sie nicht beachtet wird. Wenn wir nach einer bestimmten Information gefragt werden, antworten wir oft nicht direkt, weil wir die Antwort vielleicht nicht kennen oder annehmen, dass der Fragende sie selbst erschließen kann. Nur auf den ersten Blick scheint daher (17b) als Antwort auf die Frage in (17a) nicht sonderlich relevant zu sein: PRAGMATIK 175 (17) a. Anne: Hat Schröder die Wahl gewonnen? b. Christian: Die Zeitung liegt auf dem Küchentisch. Zwischen Annes Frage und Christians Antwort scheint es keinen Zusammenhang zu geben. Doch wenn man mit Grice annimmt, dass Sprecher in der Regel kooperativ handeln – auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer offensichtlich ist – so ergibt sich folgende Situation. Anne interpretiert Christians Äußerung unter der Annahme, dass Christian kooperativ handelt und seine Antwort sich in relevanter Weise auf ihre Frage bezieht. Sie weiß außerdem, dass Zeitungen z.B. die neuesten Nachrichten über Wahlergebnisse enthalten. Christian meint also mit seiner Äußerung, dass die Zeitung auf dem Tisch wahrscheinlich die Antwort auf ihre Frage enthalten wird. Auch die Maxime der Modalität lässt sich am besten an einem Beispiel demonstrieren, bei dem sie nicht in allen Teilen beachtet wird. Der folgende Ausschnitt aus Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln könnte oberflächlich betrachtet ein Beispiel für Konversation sein, bei der die Partner nicht kooperativ handeln: die Unterhaltung ist weder klar und deutlich (d1), noch ist sie eindeutig (d2). Sie ist zwar kurz (d3) und geordnet (d4), aber im Grunde überflüssig, weil Alice sich nicht auf metaphorische Bedeutungen verlassen möchte. (18) a. „Ruhm und Ehre für dich,“ (sagte Humpty Dumpty.) b. „Ich weiß nicht, was du damit meinst,“ sagte Alice. c. Humpty Dumpty lächelte verschmitzt: „Natürlich weißt du es nicht – nicht bis ich es dir sage. d. Ich meinte, ‚Wieder ein schlagkräftiges Argument von dir!‘“ e. „Aber ‚Ruhm und Ehre‘ bedeutet doch nicht ‚ein schlagkräftiges Argument‘“, wandte Alice ein. f. „Wenn ich ein Wort gebrauche,“ sagte Humpty Dumpty in einem ziemlich höhnischen Tonfall, „dann bedeutet es genau das, was ich will, dass es bedeuten soll – nicht mehr, aber auch nicht weniger!“ Dieses Gespräch ist allerdings nur dann undurchsichtig, wenn man sich wie Alice nur auf die enge wörtliche Bedeutung beschränkt. Alice schließt konzeptuelle Metaphern als Bestandteil kooperativer Strategien aus. Humpty Dumpty meint, dass Alice sich durch ein sehr gutes Argument Ruhm und Ehre verdient hat. Vor dem Hintergrund der konzeptuellen Metapher ARGUMENTIEREN IST KRIEG kann ein gutes Argument für den Gegner in einer Argumentation einen schweren Schlag bedeuten, und ebenso wie eine siegreiche Schlacht in einem Krieg dem Gewinner Ruhm und Ehre bringen kann, so kann ein gut geführtes Argument dem Gewinner des Wortgefechtes Ruhm und Ehre einbringen. Alice nimmt Humpty Dumptys Äußerung nur wörtlich. Sie erkennt zwar, dass er mit dieser Äußerung die Maximen d1-d4 missachtet, deutet dies aber nicht kooperativ und schließt damit den metaphorischen Gebrauch von Sprache als Interpretationsstrategie aus. So gesehen ist ihr Einwand ja nicht völlig unberechtigt: Ruhm und Ehre bedeutet streng wörtlich genommen tatsächlich nicht „ein schlagkräftiges Argument“. Würde sie diese Missachtung aber kooperativ deuten, so käme sie in umgekehrter Interpretationsrichtung zu einem sinnvollen Ergebnis: ein schlag- 176 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT kräftiges Argument mag ihr tatsächlich Ruhm und Ehre einbringen, indem sie die Argumentation für sich entscheidet. Es handelt sich um eine Verschmelzung von zwei konzeptuellen Metaphern: ARGUMENTIEREN IST KRIEG und EINEN KRIEG, EINE ARGUMENTATION GEWINNEN IST EHRE. In diesem Sinne verwenden wir tagtäglich ganze Netzwerke von konzeptuellen Metaphern. Stellt man die Gricesche Maxime der Modalität in einen Zusammenhang mit kognitiven Prinzipien wie der Tatsache, dass wir ständig Sprache im übertragenen Sinne, d.h. mit Metaphern und Metonymien verwenden, so zeigt sich, wie wir Äußerungen interpretieren und verstehen können, die auf den ersten Blick undurchsichtig, unklar oder doppeldeutig erscheinen. Wenn eine Äußerung wörtlich genommen für den Hörer keinen Sinn ergibt, er aber annehmen kann, dass der Sprecher grundsätzlich kooperativ handelt, so kann die Missachtung der Modalitätsmaxime auf den Gebrauch von Sprache im übertragenen Sinn hinweisen. Durch Metaphern und Metonymien werden auf diese Weise Bedeutungsebenen erreicht, die allein mit rein wörtlichen Bedeutungen nicht zugänglich wären. Dies soll aber nicht heißen, dass die übrigen drei Griceschen Maximen weniger wichtig wären. Das Gegenteil ist der Fall: sie zählen höchstwahrscheinlich zu den wenigen Strategien, die auf alle Sprachen und Kulturen zutreffen und damit universellen Charakter haben. Das allgemeine Kooperationsprinzip wird dabei als universales Prinzip um viele kulturspezifische Maximen ergänzt. In ihren konkreten Ausprägungen ist beispielsweise die Modalitätsmaxime in hohem Maße kulturspezifisch – in jeder Kultur bestehen unterschiedliche Normen und Interpretationen dieser Maxime. Zu den in Kapitel 6 vorgestellten semantischen Primitiva kommen also mit den Griceschen Maximen auch einige grundlegende Aspekte von Kommunikation hinzu, die als interaktionale Universalien gelten können. 7.3.3 Konversationelle und konventionelle Implikaturen Nach der zweiten Griceschen Konversationsmaxime der Qualität wird von kooperativen Sprechern erwartet, dass sie wahre Äußerungen machen. Ohne diese Annahme würde Konversation nicht funktionieren: würden die Sprecher nach dem Zufallsprinzip wahre oder falsche Aussagen über die Wirklichkeit machen, ohne den Hörern Hinweise darauf zu liefern, wann es sich im wörtlichen Sinne um wahre Aussagen und bei welchen es sich um Aussagen handelt, die nicht allzu wörtlich genommen werden sollen, so würde der Kommunikationsprozess zusammenbrechen. Doch wird von Sprechern auch immer erwartet, dass sie die ganze Wahrheit sagen? Oder dass sie immer genau so viel sagen, wie sie auch wissen (wie es die Maxime der Quantität nahe legt)? Diese Fragen lassen sich klar verneinen – und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wenn die Sprecher ihre kommunikativen Absichten immer klar und deutlich formulieren würden, so würden sie damit vielleicht beim Hörer ein besseres Verständnis dieser Absichten erreichen, allerdings könnte das für diesen auch ein Zuviel an Informationen bedeuten, das er gar nicht benötigt und wodurch er sich auf die eine oder andere Weise sogar beleidigt fühlen könnte. PRAGMATIK 177 Die Interagierenden vermeiden es deshalb, ein Zuviel an Informationen zu liefern und evtl. den jeweiligen Hörer zu langweilen oder in seiner Kompetenz zu unterschätzen etc. Dieser muss für sich selbst erschließen, in welchem Maße die Informationen und kommunikativen Absichten in einem Gespräch impliziter Natur sind. Ein klassisches Beispiel für implizite kommunikative Absichten sind Beschwerden in Familienkommunikation (19): (19) (Mutter zu ihrem Kind): a. Du hast den Kühlschrank aufgelassen! b. Mach den Kühlschrank zu. c. (Du weißt doch:) Der Kühlschrank muss immer zu sein. Der Hörer interpretiert eine solche Äußerung wieder unter der Annahme, dass eine Missachtung der Griceschen Maximen (Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität) in kooperativer Weise bedeutsam ist. So versteht er in (19a) mehr, als mit dieser Äußerung ausdrücklich gesagt wird. Obwohl (19a) in Form eines Aussagesatzes geäußert wird, handelt es sich nicht um die bloße Beschreibung eines Zustandes, sondern um die implizite Bitte, diesen zu ändern und die Tür zu schließen. Diese Beschreibung eines Teilaspektes (offener Kühlschrank) ist in metonymischer Weise mit einer Gesamtsituation verknüpft, die Sprecher wie Hörer bekannt ist. Damit Kühlschränke die Temperatur halten können, müssen sie normalerweise immer geschlossen sein. Da dies hier offenbar nicht der Fall ist, soll der Hörer „mitverstehen“, dass er diesen Zustand durch die Handlung des Schließens herbeiführen soll. Dies trifft auch auf (19c) zu. Nur (19b) ist eine explizite Aufforderung. Gelegentlich scheinen Äußerungen ohne jede Relevanz zu sein. Nach Grice werden insbesondere diese Äußerungen, mit denen ganz offensichtlich alle Maximen missachtet werden, unter Bezug auf das Kooperationsprinzip im Gespräch als sinnvoll interpretiert: (20) a. Mathilda: Gefällt Dir meine neue Frisur? b. Frank: Komm schon, wir kommen sonst zu spät. Frank wechselt abrupt das Thema und missachtet damit eindeutig die Maxime der Relevanz. Eine Antwort auf Mathildas Frage, mit der diese Maximen eingehalten würde, müsste eigentlich Ja oder Nein lauten. Franks Missachtung der Maxime ist aber nicht etwa Ausdruck eines einfachen Missverständnisses, sondern führt Mathilda unter der Annahme, dass Frank kooperativ handelt, zu einer entsprechenden Interpretation. Frank vermeidet eine relevante Antwort auf ihre Frage und könnte damit z.B. implizieren, dass diese für Mathilda verletzend sein könnte. Werden vor dem Hintergrund der Maximen bestimmte Bedeutungen impliziert, so haben wir es mit Implikaturen zu tun. Es gibt verschiedene Arten von Implikaturen, von denen zwei besonders wichtig sind: konversationelle und konventionelle Implikaturen. Eine konversationelle Implikatur ist an die aktuelle Konversation und Sprechsituation gebunden und muss aus dem Kontext der Konversation geschlossen werden (Beispiele 17 –19). Sie kann aber immer außer 178 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Kraft gesetzt werden. Die in Beispiel (17) erwähnte Zeitung muss nicht unbedingt das Wahlergebnis enthalten, aus dem hervorginge, ob Schröder gewonnen hat – die Ausgabe kann ja durchaus vor Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses erschienen sein, weshalb die Implikatur, dass das Ergebnis in der Zeitung steht, widerrufbar ist. Eine konventionelle Implikatur ist an die verwendeten sprachlichen Ausdrücke gebunden. Sie beruht bereits auf der konventionellen Bedeutung und ist deshalb nicht widerrufbar. Für die Nichtwiderrufbarkeit einer konventionellen Implikatur nennt Grice unter Anderem die kontrastierenden Konjunktion aber bzw. sondern als Beispiel. In (21) liegt eine konversationelle Implikatur vor (nämlich dass die Flagge ganz rot ist), und diese Implikatur wird durch einen mit aber eingeleiteten Satz widerrufen. Laut Grice ist durch die Verwendung der kontrastierenden Konjunktion aber bzw. sondern in Äußerungen immer die Möglichkeit gegeben, eine Implikatur zu widerrufen. Die unterschiedliche Kontextabhängigkeit wird aus den folgenden Beispielen deutlich: (21) Die chinesische Flagge ist rot, aber nicht ganz rot. (22) ?Peter ist Makler, aber ehrlich – und damit meine ich nicht, dass es irgendeinen Widerspruch dazwischen gäbe, gleichzeitig Makler und ehrlich zu sein. In Beispiel (21) kann mit aber die Implikatur des Hauptsatzes widerrufen werden (dass die Flagge völlig rot ist) – die Aussage des Hauptsatzes wird modifiziert. In Beispiel (22) kann die Implikatur nicht widerrufen werden, denn nach der stereotypen Vorstellung besteht ein Widerspruch dazwischen, dass jemand Makler von Beruf und gleichzeitig ehrlich sein kann: die auf den Gedankenstrich folgende Widerrufung steht im Widerspruch zu der vorangegangenen Aussage. Als Resultat erscheinen die Aussagen in dieser Kombination als ziemlich fragwürdig (angedeutet durch das vorangestellte Fragezeichen). Nun zu einem Beispiel, bei dem die mit aber eng verwandte Konjunktion sondern für eine konversationelle Implikatur eine Rolle spielt. Angenommen, Peter und Karl spielen Tennis. Mitten im Spiel sagt Peter zu Karl: (23) Mensch! Das ist kein Teelöffel, sondern ein Tennisschläger! Peter gebraucht die kontrastive Konstruktion nicht–A–sondern–B, mit der eine Korrektur ausgedrückt wird. Nun weiß Peter sehr wohl, dass niemand annimmt, dass Karl einen Teelöffel in der Hand hält. Es besteht also eigentlich kein Anlass für diese Korrektur: Karl erkennt, dass Peter mit dieser Äußerung die Qualitätsmaxime missachtet. Unter der Annahme, dass Peter sich prinzipiell kooperativ verhält, wird Karl versuchen, mit Bezug auf die Gesprächssituation herauszufinden, was Peter gemeint haben könnte. Die nächstliegende Interpretation ist, dass Karl mit dem Tennisschläger so gespielt hat, als ob er einen Teelöffel in seiner Hand gehalten hätte, d.h. als ob er das falsche Instrument zur Verfügung hätte (was ja nicht der Fall ist). Die Annahme, dass Karl gedacht haben könnte, er PRAGMATIK 179 halte zum Tennisspiel einen Teelöffel in der Hand, ist so absurd, dass die mit dieser Äußerung beabsichtigte Implikatur deutlich wird: Peter beschwert sich bei Karl in ironischer Weise über dessen schlechtes Spiel. In (20) und (23) wurde aus dem Gesagten je eine Implikatur abgeleitet, und zwar eben nicht, weil die Maximen eingehalten worden wären, sondern weil sie missachtet wurden. Die Missachtung der Maximen hat nichts damit zu tun, dass etwa der Sprecher den Hörer hinters Licht führen wollte. Die Maximen werden ganz offen und damit für den Hörer offensichtlich missachtet, und zwar in der Absicht, dass der Hörer dies entsprechend deutet. Von Täuschung könnte man nur dann sprechen, wenn der Sprecher die Maximen in einer Weise missachtet, die für den Hörer nicht ersichtlich sind, so dass der Sprecher ihn glauben machen kann, dass seine Äußerungen wahr sind, obwohl dies nicht der Fall ist. In allen anderen Fällen von metaphorischem Sprachgebrauch, bei konversationellen Implikaturen bzw. der Missachtung der Maximen handelt es sich um kooperative Interaktion, solange die Äußerungen des Sprechers als für den Hörer relevant angenommen werden können. Aus diesem Grunde kann die Relevanzmaxime als wichtigste Maxime angesehen werden. 7.4 Obligative Sprechakte und Imagestrategien Aus den Ausführungen im vorigen Abschnitt lässt sich also schließen, dass Kooperation in informativen Sprechakten hauptsächlich auf das Prinzip der Relevanz (Sei relevant) gestützt ist. Daneben spielt in interpersoneller Interaktion noch ein weiterer Aspekt eine wesentliche Rolle, dessen Beachtung oftmals gerade zur Missachtung von Konversationsmaximen führt. Das Prinzip der Höflichkeit hat prototypischerweise bei der Ausführung obligativer Sprechakte eine besondere Bedeutung, obwohl es auch bei konstitutiven und informativen Sprechakten gilt. Die Aufforderungen in (24) können in den meisten Situationen nicht als höflich bezeichnet werden: (24) a. Tür zu! b. Wie oft soll ich’s noch sagen: mach endlich die Tür zu. Die Anweisung in (24a) wäre nur dann akzeptabel, wenn jemand vergessen hat, die Tür zu schließen und es deswegen zieht. (24b) könnte nur an einen Interaktionspartner gerichtet sein, zu dem eine geringe soziale Distanz besteht, etwa an ein kleines Kind oder auch an einen erwachsenen Lebenspartner, der immer wieder die Tür auflässt. Auch wenn das interpersonelle Prinzip der Höflichkeit sowohl auf den Bereich der informativen als auch den Bereich der obligativen Sprechakte zutrifft, so steht es insbesondere in einem engen Zusammenhang mit obligativen Akten, d.h. mit Akten, durch die man versucht, den Hörer zu einer zukünftigen Handlung zu verpflichten (direktive Sprechakte), oder bei denen man anderen Menschen verspricht, etwas für sie zu tun (kommissive Sprechakte). Im Folgenden werden wir uns im Wesentlichen auf die erste Untergruppe konzentrieren. 180 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 7.4.1 Informationsgesuche im Vergleich zu direktiven Sprechakten Der wesentliche Unterschied zwischen Informationsgesuchen (Wie spät ist es?) und direktiven Sprechakten (Kann ich mal das Salz haben?) besteht in ihrer Motivation und den erwünschten Konsequenzen, die sich aufgrund des Sprechaktes ergeben sollen. Wenn ein Sprecher nach Information fragt, so kann er sich nicht sicher sein, dass der Hörer auch über das notwendige Wissen verfügt, um dieser Bitte nachkommen zu können. Aus diesem Grunde wird mit Informationsgesuchen sehr häufig gefragt, ob der Hörer in der Lage ist, der Bitte um Information nachzukommen (25a). Antwortet der Hörer, dass er oder sie nicht über das entsprechende Wissen verfügt (25b), so ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass man ihm irgendeine Schuld dafür gibt. Für den ersten Sprecher gibt es dann keinen Grund anzunehmen, dass der zweite Sprecher nicht die Wahrheit sagt: (25) a. A: Können Sie mir sagen, wann der nächste Bus kommt? b. B: Tut mir Leid, das weiß ich wirklich nicht. Da B antwortet, dass sie nicht über die gewünschte Information verfügt, wird A annehmen, dass sie seine Frage gar nicht beantworten kann. Er würde in diesem Fall (25) wohl kaum annehmen, dass sie die Information aus irgendeinem Grund zurückhält. Solche Gründe mag es in anderen Situationen aber durchaus geben: wenn es um ein Geheimnis, um sehr private Aspekte wie das Liebesleben des Sprechers oder um seine Finanzen geht. In diesen Fällen würden wir kaum direkt fragen oder die Frage ganz vermeiden, um dem Interaktionspartner nicht zu nahe zu treten. Doch in allen übrigen Alltagssituationen haben wir das Gefühl, alle möglichen Fragen stellen zu können. Sollte der Hörer sagen, er wisse die Antwort nicht, so können wir nicht wirklich in Zweifel stellen, dass er diese Antwort auch wirklich nicht weiß. Informationsgesuche sind daher nicht so aufdringlich wie direktive Sprechakte. (26) a. Sarah: Michael, hilf mir doch ’mal eben, das Regal aufzubauen. b. Michael: ?Nö, will ich nicht. c. Michael: Kann ich jetzt nicht machen. d. Sarah: Warum denn nicht? e. Michael: Ich komm’ sonst zu spät. Sowohl Sarah als auch Michael verfügen über einen Hintergrund an Wissen darüber, was Leute in ihrer Gesellschaft in der Regel für andere zu tun bereit sind bzw. welche Erwartungen man an andere stellen kann. Aufgrund ihrer Wahrnehmung der Situation nimmt Sarah nun vor diesem Hintergrund an, dass Michael kooperativ sein wird. Sie kann also erwarten, dass er ihr hilft. Kommt er ihrer Bitte nicht nach, so wird sie eine gewisse Erklärung verlangen können, wie in (26e). Selbst wenn Michael Sarahs Anweisung nicht folgen will, so wird er kaum mit (26b) Nö, will ich nicht antworten. Er wird sicherlich nicht als wenig hilfsbereit und unkooperativ erscheinen und vor ihr sein Gesicht verlieren wollen. Es gibt eine ganze Reihe von sprachlichen Strategien, um solche Situationen insbesondere bei direktiven Akten zu vermeiden bzw. abzumildern. PRAGMATIK 181 Eine solche mögliche Strategie besteht darin, Satzarten zu verwenden, die typischerweise weniger stark zur Handlung auffordern, als dies beim Imperativ, der prototypischsten Äußerungsform für Aufforderungen und Bitten, der Fall ist. Direktive Sprechakte können sowohl durch affirmative als auch durch interrogative Sätze ausgedrückt werden, so dass der Hörer die Äußerung als weniger drängend und direkt wahrnimmt. 7.4.2 Höflichkeit und Imagearbeit Wieso erscheint es aber so wichtig, Satzarten zu verwenden, die für den Hörer nicht so stark verpflichtend erscheinen, wie das in (26a) der Fall ist? Betrachten wir hierzu ein weiteres Beispiel: (27) a. Susanne: Am Samstag hab’ ich Geburtstag – Ich mach’ ’ne Riesenfete. Kommst du auch? b. Monika: Oh, sorry, tut mir echt Leid – ich würde ja gern’ kommen, aber ich bin leider schon total verplant. Beide Sprecher in diesem Beispiel sind bemüht, ihr Gesicht zu wahren. Susanne versucht, nicht aufdringlich zu sein, indem sei etwa den Imperativ: Komm zu meiner Party, sondern eine Frageform verwendet, um Monika einzuladen. Monika ihrerseits ist bedacht, nicht abweisend zu wirken und so ihr Gesicht zu wahren – sie spricht ihre Ablehnung deshalb nicht direkt aus. Mit einem klaren Nein könnte sie Susanne beleidigen und zugleich ihr eigenes Gesicht gefährden (Sie könnte in Susannes Augen als schroff und unhöflich gelten). Eines steht allerdings fest: Monika möchte nicht zu Susannes Party gehen. Sie versucht deshalb, ihre Situation so darzustellen, dass für Susanne deutlich wird, dass sie überhaupt nicht ja sagen kann, sondern durch einen wichtigen Umstand geradezu dazu gezwungen ist, ihre Einladung abzulehnen. Wie dieses Beispiel zeigt, handeln Leute, wenn sie miteinander sprechen und interagieren, neben der Bedeutung des Gesagten auch zugleich ihre Beziehung in dieser Interaktion aus. Es ist nicht nur wichtig, dem Anderen zu sagen, was man denkt, will oder fühlt – mindestens ebenso wichtig ist es einzubeziehen, was der andere zu dem Gesagten denken, wollen oder fühlen könnte. Wird der andere sich bedrängt fühlen, wenn ich wirklich sage, was ich sagen will? Wird er mich vielleicht nicht mehr mögen und die Interaktion abbrechen wollen? Wie kann ich sagen, was ich will, so dass wir die interaktionale Beziehung aufrechterhalten können? Solche und ähnliche Fragen haben einen großen Einfluss auf unsere Äußerungen in Interaktionen. In einer kommunikativen Interaktion wollen die Teilnehmer vom jeweils anderen mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen anerkannt werden. Sie beanspruchen eine bestimmte Identität in der Situation – möchten vom anderen auf eine positive Art und Weise (z.B. als kooperativ) gesehen werden und projizieren deswegen ein bestimmtes öffentliches Selbstbild. Diese interaktionale Identität wird in der englischsprachigen Literatur auch als Face (also ‚Gesicht‘) bezeichnet (der sichtbarste Teil einer Person steht hierbei in metonymischer Weise für die ganze Person und ihre Identität). Auch im Deutschen verwenden wir Wendungen wie sein Gesicht wahren/verlieren etc. Um den 182 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT sozialen Aspekt des Selbstbildes zu betonen, wollen hier auch die Bezeichnung Image verwenden und bei Bemühungen, das eigene oder das Gesicht des anderen zu wahren, von Imagearbeit sprechen. In kommunikativen Interaktionen sind wir bemüht, unser Gesicht zu wahren und ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Wir hoffen, dass unsere Bedürfnisse nach einem positiven Bild unseres Selbst und unsere Gefühle von unserem jeweiligen Gegenüber berücksichtigt und geachtet werden. Wir wollen, dass die anderen uns mögen und wir uns in der Interaktionssituation selbst gut fühlen. In der Mehrheit der Fälle hoffen wir dabei, unserem Partner anzeigen zu können, dass wir auch ihm ein positives Image zusprechen wollen und auch er sich in der Interaktionssituation gut fühlen soll. Die Interaktionsteilnehmer sind also in ihrer situativen Identität voneinander abhängig. Wenn ein Teilnehmer das Gesicht des anderen nicht wahrt, so ist auch sein eigenes Gesicht bedroht. Dieses Selbstbild hat zwei Seiten: einerseits wollen wir Interesse am anderen zeigen, uns mit seinen Wünschen solidarisch zeigen. Andererseits wollen wir auch Autonomie wahren, wenn unsere Wünsche etwa nicht mit denen des anderen identisch sind. Um diesen Beziehungsaspekt zu signalisieren, setzen wir zwei unterschiedliche Arten von sprachlichen Strategien ein. Mit der einen Strategieart wollen wir soziale Nähe erreichen oder aufrechterhalten; wir bezeichnen sie deshalb als solidarisierende Imagestrategien (auch positive Höflichkeitsstrategien). Wenn wir hingegen unserem Anspruch auf Autonomie Ausdruck geben und eine gewisse Distanz zum anderen und dessen Interessen wahren wollen, verwenden wir distanzierende Imagestrategien (negative Höflichkeitsstrategien). Zu Beginn eines Gespräches verwenden wir oft Formeln wie Wie geht’s dir? oder Hallo, schön dich zu sehen, um unser Interesse am anderen zu bekunden und auf diese Weise eine gemeinsame Basis für die gegenwärtige Interaktion zu schaffen. Wir signalisieren damit unsere Bereitschaft, miteinander zu kommunizieren. Während der Interaktion reden wir immer mal wieder über scheinbar belanglose Dinge, wie das Wetter, Sport, vielleicht auch Politik, d.h. wir betreiben Small Talk und reden über Themen, die hinsichtlich unserer Bedürfnisse und Gefühle in dieser Interaktion vergleichsweise neutralen Charakter haben. Diese sicheren Themen mögen in Hinblick auf das Thema der gegenwärtigen Interaktion und die Interessen der Partner nicht so bedeutsam erscheinen – in Bezug auf eine gemeinsame Interaktionsbasis sind sie jedoch umso wichtiger. Doch die meisten Interaktionen drehen sich ja nicht bloß um solche sicheren Themen. Eine Grundmotivation für die Teilnahme an Interaktionen besteht darin, dem Anderen mitzuteilen, was wir denken und tun wollen (oder was wir wollen, dass der andere tut). Mit Sprechakten verfolgen die Teilnehmer bestimmte Absichten. Nun kann ja unser Interaktionspartner etwas anderes denken, wollen und fühlen als wir selbst. Jeder Sprechakt, der in Bezug auf die interpersonelle Basis des Gesprächs nicht so neutral ist wie beim Small Talk, kann daher potentiell das Image des anderen bedrohen – und zwar unabhängig davon, ob wir informative oder obligative Sprechakte verwenden. Wenn wir einen obligativen Sprechakt verwenden, so wollen wir damit uns oder den Sprecher auf eine zukünftige Handlung festlegen. Wir können dem anderen unsere kommunikative Intention auf direkte und offene Weise mitteilen, indem wir wie in (28a) einen Imperativ PRAGMATIK 183 und damit einen direkten Sprechakt verwenden. Allerdings kann dies vom anderen als Eingriff in dessen Autonomie und als eine Einschränkung seines Rechtes auf Selbstbestimmung in der Interaktion erlebt werden. Wenn wir aufgrund unserer Vorerfahrung und der gegenwärtigen Situation das Gefühl haben, dass der Hörer einen direkten Sprechakt als imagebedrohend empfinden könnte, so gibt es eine ganze Reihe konventioneller indirekter Sprechakte (28b-e), unter denen wir eine der Situation angemessene Äußerungsform auswählen können, um den Anspruch des anderen auf sein positives Selbstbild (in diesem Fall auf Autonomie) nicht in Frage zu stellen. (28) a. b. c. d. e. f. [Mach die] Tür zu! Mach mal die Tür zu, ja? Könnten Sie ’mal bitte die Tür schließen? Vielleicht sollten wir ’mal die Tür zumachen. Kann eventuell ’mal jemand die Tür zumachen? Hier zieht’s aber ganz schrecklich! Unter Freunden mag es völlig angemessen sein, den Imperativ (28a) zu verwenden. Wenn sich allerdings Sprecher und Hörer nicht so gut kennen und nahe stehen, oder wenn der Hörer einen höheren sozialen Status hat oder gegenüber dem Sprecher in einer Machtposition steht, so erscheint (28a) als unangemessen und unfreundlich. Tür zu! hat sicherlich den stärksten Appell an den Hörer. Doch muss die Verwendung des reinen Imperativs nicht per se einen imagebedrohenden Akt darstellen. Es gibt Sprechakte und Situationen, die eine direkte Verwendung geradezu notwendig machen. Wenn beispielsweise jemand die Tür eines Büros öffnet, dadurch im Büro ein so starker Durchzug entsteht, dass einige Blätter umherfliegen, so kann das durchaus als Notsituation gelten, in der die Sekretärin auf jegliche Imagestrategien verzichtet und ganz direkt Tür zu! ruft. Eine direkte Verwendung von Imperativen würden wir auch in Anweisungen wie Kochrezepten, Bauanleitungen, etc. erwarten: Den Fisch beidseitig anbraten und im Ofen warm stellen. Es würde uns sehr merkwürdig erscheinen, hier Imagestrategien wie Bitte braten Sie... oder Vielleicht könnten Sie den Fisch anbraten zu verwenden. Dasselbe gilt für Arbeitsanweisungen und aufgabenorientierte Sprechakte am Arbeitsplatz: Gib mir mal die Nägel oder einfach Skalpell! Tupfer! oder Startdiskette einlegen, 'Setup' eingeben und mit 'Return' bestätigen. Wenn zwischen Sprecher und Hörer ein sozialer Unterschied besteht, wenn also beispielsweise der Sprecher Student, der Hörer aber Professor ist, so wird die Aufforderung, die Tür zu schließen, eher so wie in (28c) formuliert werden. Mit eine solchen höflichen Bitte sagt der Sprecher mehr als eigentlich notwendig – und missachtet damit die Quantitätsmaxime. Grundlegend lassen sich wie bereits erwähnt zwei übergeordnete Strategiearten unterscheiden. Solidarisierende Imagestrategien signalisieren dem Hörer, dass der Sprecher die Bedürfnisse des Hörers mit einbezieht. Dies kann beispielsweise durch die Verwendung des einschließenden wir (28d) Vielleicht sollten wir mal die Tür zumachen geschehen oder durch Komplimente, die dem imagebedrohenden Akt vorausgehen: Mmmh, das riecht ja richtig gut – darf ich mal probieren? oder auch durch besondere 184 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Anredeformen, die den Hörer als vertraut markieren: Nee, mein Lieber, so geht das nicht. Distanzierende Imagestrategien sollen dem Hörer signalisieren, dass der Sprecher das Bedürfnis des Hörers nach Autonomie und Entscheidungsfreiheit respektiert und mit seinem Sprechakt nicht aufdringlich sein will: (28c) Könnten Sie mal bitte die Tür schließen? Anstatt dem Hörer eine Anweisung zu geben, fragt der Sprecher ihn, ob er in der Lage ist, etwas für ihn zu tun. Eine höflichere Variante wäre die Verwendung des Konjunktivs Würden Sie, könnten Sie, mit welcher der Sprecher ausdrückt, dass er sich nicht sicher sein kann, ob der Hörer willens und in der Lage ist, etwas für ihn zu tun. Der Hörer soll sich zu nichts verpflichtet fühlen. Bei beiden Strategiearten wird jeweils etwas mehr gesagt als nach den Maximen eigentlich nötig und so ein möglicherweise imagebedrohender Akt abgeschwächt. In beiden Fällen bleibt aber aus der Äußerung ersichtlich, um welchen Akt es sich handelt. Sollte die mögliche Imagebedrohung als sehr groß erscheinen, kann der Sprecher auch nur implizite Hinweise auf seine Absicht geben wie in (28f) Hier zieht’s aber ganz schrecklich!. Hier wird der Grund für den Sprechakt hervorgehoben. Anhand der Beispiele in (19) und (20) hatten wir bereits gesehen, dass der Hörer konversationelle Implikaturen interpretieren muss. Solche Implikaturen gründen auf dem kognitiven Prinzip der Metonymie – es wird nur ein Aspekt der interaktionalen Situation ausdrücklich genannt (etwa der Grund für den Akt) – dieser Aspekt steht aber für die gesamte Situation (das Ausführen als Konsequenz aus der impliziten Bitte). Der imagebedrohende Akt wird auch hier noch ausgeführt – allerdings auf indirekte Art und Weise. Es kann aber auch sein, dass der Sprecher die Ausführung einer Bitte für eine so große Imagebedrohung für den Hörer hält (und aufgrund des evtl. unangemessenen Verhaltens, das er mit einer Äußerung des Aktes an den Tag legen würde, auch für eine Bedrohung seines eigenen Images), dass er diesen überhaupt nicht ausführen kann. Wenn beispielsweise eine sozial bedeutende Persönlichkeit zwar am nächsten zur Tür steht, aber gerade eine Rede hält, so würde man diese wahrscheinlich nicht bitten, die Tür zu schließen, sondern den Sprechakt vermeiden und selbst die Tür schließen. Die Beispiele (28a-f) zeigen darüber hinaus, dass sowohl solidarisierende als auch distanzierende Imagestrategien dem ikonischen Prinzip der Quantität folgen, das in Kapitel 1 eingeführt wurde. Tendenziell gilt nämlich: je mehr sprachliches Material zur Äußerung eines Aktes gebraucht wird, desto höflicher wird die Äußerung. 7.5 Beziehungen zwischen Sprechakten und Satzmodus In Kapitel 4 (Abschnitt 4.4.1) wurden drei grundlegende Satzmuster mit dem Satzmodus in Zusammenhang gestellt, nämlich der deklarative Modus mit der Anordnung SV für Aussagesätze, der interrogative Modus mit der Anordnung VS für Fragesätze und der subjektlose Imperativ für Anweisungen: PRAGMATIK 185 (29) a. Maria macht die Tür zu. b. Macht Maria die Tür zu? c. Maria, mach die Tür zu! In diesem Kapitel haben wir jedoch an einigen Beispielen gesehen, dass die kommunikative Absicht, die ein Sprecher mit einer Äußerung verfolgt, nicht notwendigerweise auch durch einen bestimmten Satzmodus realisiert wird. So kann zum Beispiel ein Satz im deklarativen Modus wie Du hast die Tür schon wieder auf gelassen als implizite Aufforderung gemeint sein, die Tür zu schließen. Insbesondere bei obligativen Sprechakten weichen Satzart und kommunikative Absicht oft voneinander ab: um weniger direkt zu sein, verwenden wir deklarative und interrogative Satzarten. In Übersicht 2 sind einige mögliche Kombinationen von Satzart und Sprechakttyp dargestellt. Die prototypischsten Kombinationen sind durch einfache Linien verbunden – sie müssen aber nicht die am häufigsten verwendeten sein. Weniger prototypische Verwendungen werden durch gestrichelte Linien repräsentiert. Konstitutive Sprechakte (Deklarativa und Expressiva) können nur durch deklarative, informative Akte hingegen sowohl durch deklarative als auch durch interrogative Sätze ausgedrückt werden. Obligative Sprechakte können durch alle drei Arten realisiert werden. Übersicht 2: Beziehungen zwischen Satzart und Sprechakttyp. deklarativer Modus konstitutive Sprechakte interrogativer Modus informative Sprechakte imperativischer Modus obligative Sprechakte Diese verschiedenen Möglichkeiten werden in den folgenden Beispielen für Sprechakte veranschaulicht: (29) a. deklarativer Satzmodus konstitutiv: Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Gorch Fock. informativ: Mein Laptop ist abgestürzt. obligativ: Du hast schon wieder die Tür auf gelassen! b. interrogativer Satzmodus informativ Wissen Sie, wann der nächste Bus fährt? obligativ: Könntest du bitte die Tür zumachen? c. imperativischer Satzmodus obligativ: Mach doch bitte die Tür zu konstitutiv: Mach’s gut! Schlaf gut! 186 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 7.6 Zusammenfassung Während die Kapitel 1 bis 6 sich im Wesentlichen auf die Ausdrucksfunktion von Sprache konzentrierten, behandelt dieses Kapitel 7 wie auch das folgende Kapitel 8 die interpersonelle Funktion. Mit Ausnahme so genannter phatischer Kommunikation geht es beim Sprachgebrauch um den Ausdruck spezifischer kommunikativer Absichten durch Sprechakte. Diese Aspekte von Sprache fallen in den Gegenstandsbereich der Pragmatik. Dieser Teilbereich der Sprachwissenschaft untersucht, wie wir durch die Verwendung von Sprechakten durch Sprechen handeln. Nach der kommunikativen Absicht werden sechs Sprechakttypen unterschieden: Expressiva, Deklarativa, Konstativa, Informationsgesuche, Direktiva und Kommissiva. Diese lassen sich unter den drei übergeordneten Hauptsprechakttypen zusammenfassen: konstitutive Sprechakte, informative Sprechakte und obligative Sprechakte. In die Oberkategorie konstitutive Sprechakte fallen sowohl alltägliche expressive Sprechakte wie Gratulieren, Entschuldigen, Trösten als auch formelle, deklarative Sprechakte wie etwa eine Sitzung eröffnen usw. Alle konstitutiven Sprechakte haben eine Gemeinsamkeit: die rechten Worte müssen zur rechten Zeit von der richtigen Person geäußert werden, damit der Sprechakt geglückt ist – sie hängen von bestimmten Geglücktheitsbedingungen ab, die an den jeweiligen Sprechakt gebunden sind. In vielen Fällen deutet das im konstitutiven Sprechakt verwendete Verb den Sprechakt an. Wenn zum Ausdruck des Sprechaktes ein besonderes Verb notwendig ist, das zugleich auch den Sprechakt benennt, so handelt es sich um ein performatives Verb (z.B. erklären, verkünden, bekannt geben). In die Oberkategorie informative Sprechakte fallen konstative Sprechakte, mit denen ein Sprecher Informationen an den Hörer weitergibt, sowie Informationsgesuche, mit denen der Sprecher den Hörer um Informationen ersucht. Die Interaktionsteilnehmer beziehen sich dabei auf Hintergrundinformationen, die bestimmen, auf welche konversationelle Präsuppositionen sich Sprecher und Hörer stützen können. Sie können sich aber auch auf konventionelle Präsuppositionen stützen, die etwa durch den Artikel in der Park, die Kinder, den Spielplatz etc. erzeugt werden, oder auf grammatische Mittel, die zur Interpretation von konventionellen Implikaturen, die jedem Sprecher einer Sprachgemeinschaft aufgrund seines Weltwissens und kulturellen Wissens zugänglich sind. Bei informativen Äußerungen kann es eine große Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem damit Gemeinten geben. Die Beziehung zwischen beiden wird durch die Gricesche Maxime der Kooperation beschrieben. Mit dieser Maxime wird angenommen, dass Partner in einer sprachlichen Interaktion grundlegend kooperativ handeln, indem bei der Formulierung und Interpretation ihrer jeweiligen Äußerungen angenommen wird, dass vier Konversationsmaximen eingehalten werden, nämlich Qualität, Quantität, Relevanz und Modalität. Neben der Anwendung dieser Maximen werden eine Reihe von Äußerungen auch auf der Grundlage der Implikaturen interpretiert, die sie enthalten. Implikaturen, die von der Sprechaktsituation selbst abhängen, heißen konversationelle Implikaturen. Bestehen sie aufgrund von grammatischen Formen, so handelt es sich um konventionelle Implikaturen. PRAGMATIK 187 In die Oberkategorie der obligativen Sprechakte schließlich fallen einerseits Direktiva, mit denen der Sprecher versucht, dem Hörer eine Verpflichtung aufzuerlegen, und andererseits Kommissiva, mit denen sich der Sprecher selbst zu einer Handlung verpflichtet. Aufgrund ihres verpflichtenden Charakters können sie in besonderem Maße das Image (oder Gesicht) von Sprecher wie Hörer in dieser Situation bedrohen. Sie machen den Einsatz besonderer Imagestrategien notwendig. Ein direkter Sprechakt kann in seiner prototypischen grammatischen Form (dem Imperativ) stark imagebedrohend sein. Um das Gesicht des Hörers zu wahren, werden häufig indirekte Sprechakte verwendet. Distanzierende Imagestrategien fragen z.B. nach der Fähigkeit oder dem Willen des Hörers, bestimmte Handlungen auszuführen, sie wahren soziale Distanz. Solidarisierende Imagestrategien (z.B. das Vorschlagen gemeinsamen Handelns durch einschließendes wir) sollen soziale Nähe vermitteln. 7.7 Leseempfehlungen Eine leicht verständliche Einführung in die Pragmatik gibt Grundy (1997), eine umfassendere Darstellung Levinson (1990). Die Klassiker auf dem Gebiet sind relativ zugänglich geschrieben: Austin (1962) und Searle (1969). Der grundlegende Text zu den Konversationsmaximen ist Grice (1993). Rolf (1994) bietet eine gute Darstellung und Diskussion der Griceschen Maximen. Das grundlegende Werk zur Höflichkeit ist Brown & Levinson (1987), zu Imagestrategien siehe auch Holly (1979). Sperber & Wilson (1995) führen die Griceschen Konversationsmaximen auf eine einzige Maxime der Relevanz zurück und begründen damit die Relevanztheorie. Eine leicht verständliche allgemeine Einführung in die Pragmatik mit relevanztheoretischer Ausrichtung gibt Blakemore (1992). Ein umfangreicher Reader mit grundlegenden Texten der Pragmatik ist Davis (ed.1991). Eine knappe deutschsprachige Einführung liefert z.B. Ernst (2002). 7.8 Aufgaben 1. Welche der drei Sprechakttypen liegt bei folgenden Beispielen vor? Falls möglich, geben Sie auch an, um welchen Typ es sich nach der Klassifikation nach Searle (dargestellt in (3)) handelt. (a) Soll ich dir noch einen Kaffee holen? (b) (Die Ministerpräsidentin von Schleswig Holstein:) Die Kieler Woche 1998 ist eröffnet! (c) (In einer Buchhandlung): Entschuldigen Sie, wo haben Sie denn Bücher zum Thema Sprachwissenschaft? (d) (Gastgeber:) Kaffee oder Tee? (e) (Schild an einer Ladentür:) Geschlossen: 12-14 Uhr. (f) Ach nein, nicht schon wieder! (g) Was hast du in meinem Zimmer zu suchen? (h) Wäre es eventuell möglich, das Radio etwas leiser zu stellen? 188 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 2. Analysieren Sie den jeweiligen Gebrauch von informellen Danksagungen in den folgenden Äußerungen. Welche Gründe mag es für diesen Gebrauch geben? (a) Danke für das tolle Geschenk! (b) (Paula gibt Dirk auf mehrmaliges Bitten hin die Butter) Dirk: Ich danke dir, vielen, vielen Dank. (c) Kann ich Sie mitnehmen? – Danke, das wäre sehr nett. (d) Wie war eigentlich dein Wochenendtrip nach Paris – Danke der Nachfrage. (e) Fernsehmoderator zum Talkgast: Herr Professor, ich bedanke mich für dieses aufschlussreiche Gespräch. Talkgast: Bitte sehr. Moderator: Kommen Sie gut zurück nach Aachen. Talkgast: Danke sehr. 3. Im Deutschen gibt es mehrere Möglichkeiten, den konstitutiven Akt Entschuldigen auszuführen. Man kann Es tut mir Leid, Sorry! oder das performative Verb entschuldigen verwenden. Sehen Sie irgendwelche Unterschiede in der Funktion? Nehmen Sie die folgenden Aussagen zu Hilfe. (a) (b) (c) (d) (e) (f) Geh und entschuldige dich bei deiner Schwester dafür. Ich muss mich doch tatsächlich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin zu spät. Tut mir Leid/Entschuldigung. Dein Verhalten ist einfach unglaublich. Ich erwarte eine Entschuldigung. A: Mein Hund ist gestern gestorben – B: Oh, das tut mir sehr Leid. A: Geh’n wir noch’n Kaffee trinken? B: Sorry, aber ich muss jetzt in die Vorlesung. 4. Analysieren Sie den Ausschnitt aus Alice hinter den Spiegeln in Beispiel (18) anhand folgender Fragen. a. b. Warum ist Humpty Dumptys Information in (a) für Alice „unklar“? Wie hätte Alice ihre kommunikative Absicht hinter (18b) höflicher ausdrücken können? Wie würden Sie ihre Äußerung Ich weiß nicht, was du damit meinst als Sprechakt klassifizieren? Wie beurteilen Sie Humpty Dumptys Aussage in (c), ein Hörer könne nicht wissen, was ein Sprecher mit einer Äußerung meint, bis dieser es ihm ausdrücklich sagt? Welche sprachliche Strategie wendet Humpty Dumpty mit seiner Erklärung ein schlagkräftiges Argument an? Folgt Alice seiner Strategie, oder hält sie seine Ausdrucksweise für idiosynkratisch? Ist Humpty Dumpty mit (f) derselben Ansicht wie Alice? c. d. e. f. PRAGMATIK 189 5. Welche der Griceschen Maximen werden im Folgenden missachtet? Lassen sich aufgrund dessen Implikaturen ableiten? (a) A: B: (b) A: B: Was gab’s denn heute Mittag in der Mensa? Fisch. Tag, Maria. Lange nicht gesehen. Wie geht’s? Ach, weißt du, am letzten Wochenende hatte ich so starke Kopfschmerzen. Es war so ein stechender Schmerz, ich wäre fast durchgedreht! Montag bin ich gleich zum Arzt. Der weiß auch nicht, was es ist und hat mir starke Tabletten verschrieben und mich gleich an einen Neurologen über wiesen. Ich rechne schon mit dem Schlimmsten. (c) A: Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie spät es ist? B: Ja. (B': Sorry, hab’ selber keine Uhr.) 6. Welche Arten von Imagestrategien finden in den folgenden Äußerungen Verwendung? (a) (b) (c) (d) (e) (f) 7. Sieh mal, wer da schon wieder ankommt. Ich bin heute für niemanden mehr zu sprechen. Seien Sie doch so nett und wimmeln Sie ihn ab, ja? Tut mir Leid, aber ich muss sofort zum Chef rein. Sagen wir ihm doch, wir hätten eine wichtige Besprechung. Warum sagen wir nicht einfach, heute wäre kein Termin mehr frei? Betrachten Sie die Imagestrategien, die eine Mutter gegenüber ihrer dreijährigen Tochter verwendet. Die Akte werden innerhalb von dreißig Sekunden geäußert. (a) (b) (c) (d) Julia, Könntest du bitte damit aufhören? Hör doch bitte damit auf. Hör endlich auf! Hör auf! Schluss jetzt! 8. Analysieren Sie den folgenden Briefwechsel zwischen einem Mieter und seinem Vermieter. a. b. Werden Konversationsmaximen missachtet? Lassen sich Implikaturen ableiten? Welche Sprechakttypen werden verwendet? Welche kommunikativen Absichten sind damit verbunden? Welche Imagestrategien werden verwendet? Welche Funktionen erfüllen Sie? c. Mieter an seinen Vermieter: Sehr geehrter Herr Meier, [...] Nachdem nun die Firma B. den neuen Teppichboden verlegt hat, lässt sich die Wohnungstüre nur noch sehr schwer öffnen und schließen, da sie zu tief steht und über den Teppichboden schleift. Der Teppichverleger wies mich darauf hin, dass dieses Problem möglichst schnell behoben werden müsse, da ansonsten der neue Teppichboden im 190 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Eingangsbereich sehr schnell abgeschlissen würde. Ich bitte Sie deshalb, das Problem möglichst schnell durch einen Handwerker beheben zu lassen [...] Mit freundlichen Grüßen, Müller. Antwortbrief des Vermieters: Lieber Herr Müller, herzlichen Dank für Ihren Brief. [...] Möglicherweise ließe sich der Tiefstand schon durch die Einfügung von ein, zwei Beilagscheiben „zwischen Tür und Angel“ beheben. Wo nicht, könnte vielleicht doch der Hausmeister mittels freundlicher Worte und der Zusicherung eines angemessenen Trinkgeldes dazu gebracht werden, wirksame Abhilfe evtl. durch Abhobeln der unteren Türkante o.Ä. zu schaffen. Unter Umständen verfügen Sie auch über einen technikbesessenen Kollegen/Bekannten, der sich der Sache annehmen würde, selbstverständlich (wie auch im Falle des Hausmeisters) auch gegen eine kleine Vergütung, die von uns natürlich rückvergütet werden würde. Einen speziellen Handwerker anzuheuern, erschiene mir in diesem Falle doch sehr, sehr aufwendig; ich hoffe, Sie können meinen Standpunkt akzeptieren. Vielleicht teilen Sie mir gelegentlich mit, ob das Problem gelöst werden konnte. [...] Mit freundlichen Grüßen, Justus Meier. 9. Bitten Sie eine Reihe von Personen, sich in die folgenden Situationen zu versetzen und sich der jeweiligen Situation entsprechend zu äußern. Nehmen Sie die Äußerungen auf Band auf, erstellen Sie eine Abschrift und analysieren Sie die Äußerungen anhand der in diesem Kapitel vorgestellten sprachwissenschaftlichen Kriterien. Befragen Sie auch Sprecher mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und vergleichen Sie. (a) Situation 1: Notizen Sie hatten die vorige Seminarsitzung versäumt und möchten sich die Notizen einer Kommilitonin ausleihen. Sie sagen: ................................ (b) Situation 2: Universität - Buch vergessen Sie hatten sich von Ihrem Professor ein Buch ausgeliehen, dass Sie ihm heute unbedingt zurückgeben sollten. Sie stellen aber fest, dass Sie es nicht dabei haben. Auf dem Flur laufen Sie ihm direkt in die Arme. Prof.: Ach, Frau/Herr X, Sie haben doch hoffentlich an mein Buch gedacht, oder? Sie sagen: .................................................. (c) Situation 3: Mitfahrgelegenheit Sie wollen vom Einkaufen nach Hause fahren, haben aber den Bus verpasst. Der nächste Bus kommt erst in einer Stunde. Da sehen Sie, wie eine Nachbar aus dem Supermarkt kommt und zu seinem Auto geht. Sie würden gerne bei ihm mitfahren. Sie sagen: .................................................. (d) Situation 4: WG - Aufräumen Sie wohnen in einer WG. Ihr Mitbewohner hat wieder einmal nicht die Küche sauber gemacht. Sie finden das unmöglich und sagen ihm, dass er den jetzigen Zustand sofort ändern soll. Sie sagen .................................................. KAPITEL 8 Texte strukturieren: Textlinguistik 8.0 Überblick Bisher haben wir uns in diesem Buch mit einzelnen sprachlichen Ausdrücken wie Wörtern, Morphemen und Sätzen beschäftigt. In Kapitel 7 haben wir betrachtet, wie Äußerungen in Kommunikation als Sprechakte interpretiert werden. In diesem Kapitel werden wir nun über die Betrachtung einzelner sprachlicher Äußerungen hinausgehen und uns mit der Frage beschäftigen, wie sprachliche Ausdrücke als Teile eines größeren Ganzen, nämlich eines Textes, interpretiert werden. Ein gesprochener oder geschriebener Text ruft in der Vorstellungswelt des Hörers ein Ereignis bzw. eine Reihe von Ereignissen hervor. Die Wörter eines Textes machen für sich genommen nur einen Teil des Textes aus. Deswegen beschäftigt sich die Textlinguistik auch nicht nur mit den Wörtern und Sätzen, die einen Text bilden. Sie betrachtet auch die mögliche Interpretation des Textes durch einen Leser oder Hörer sowie die Grundlage, auf der diese Interpretation zustande kommt. Kein Text kann alle Hinweise enthalten, die zum Verstehen seines Inhaltes durch einen Hörer bzw. Leser nötig sind. Wenn wir einen Text verstehen, dann beziehen wir die einzelnen Textelemente auf unseren Wissenshintergrund, d.h. wir fügen einiges zu dem vorgegebenen Text hinzu und gelangen so zu einer Vorstellung von der Bedeutung des Textes. Ein Text wird daher erst zu einem zusammenhängenden Ganzen, wenn wir ihn auf der Grundlage der einzelnen Textelemente und unserem Verständnis der Welt verstehen. Der Zusammenhang in einem Text ist also nicht in erster Linie auf linguistische Ausdrücke im Text selbst gegründet, sondern entsteht letztlich durch konzeptuelle Verknüpfungen zwischen einzelnen gedanklichen Einheiten, auf die der Text referiert, sowie durch Verknüpfungen zwischen den einzelnen Ereignissen, die beim Textverstehen hervorgerufen werden. Auf diese Aspekte eines zusammenhängenden Textes wollen wir in diesem Kapitel das Hauptaugenmerk lenken. 8.1 Kommunikation, Texte und Textlinguistik Beim Schreiben verwenden wir zur Kommunikation vorrangig Wörter. Schreiben ist eine Form verbaler Kommunikation. Beim Sprechen kommunizieren wir hingegen nicht nur mit Wörtern, sondern auch durch Lautstärke, Rhythmus und Sprechgeschwindigkeit. Diese Faktoren begleiten unsere gesprochenen Worte 192 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT und zählen zu den parasprachlichen Ausdrucksmitteln. Zudem setzen wir beim Sprechen mit anderen auch unseren ganzen Körper ein – etwa in Form von Gesten und Mimik. Diese Körpersprache bezeichnet man als nonverbale Kommunikation. Bei gesprochener Sprache ist der Text – die Wörter, die wir aussprechen – nur ein Aspekt der Kommunikation. Geschriebene Sprache ist dagegen weitgehend auf den Text beschränkt. In beiden Fällen stellt der produzierte Text lediglich einen Teilaspekt der Kommunikation dar – die anderen Aspekte bestehen aus dem, was der Hörer bzw. Leser des Textes hinzufügt, wenn er oder sie diesen Text zu verstehen versucht, d.h. interpretiert. Hier kommen unser gesamtes kulturelles Hintergrundwissen sowie unsere Gedanken, Ideen und Gefühle mit ins Spiel. Wir verstehen also unter einem Text die in einer Kommunikation von einem Sprecher bzw. Schreiber verwendeten Ausdrücke und die Interpretation, zu der Hörer bzw. Leser gelangen, wenn sie diese auf ihren Wissenshintergrund beziehen. Diese Definition schließt auch mündliche Kommunikation ein, allerdings mit der Einschränkung, dass der Text dann lediglich aus dem verbalen Anteil der Kommunikation besteht. Parasprachliche sowie nonverbale Aspekte werden hier ausgeklammert. Eine Textdefinition muss also die Verknüpfung mit dem kulturellen Hintergrundwissen oder dem Weltwissen des Hörers bzw. Lesers mit einschließen, denn diese Verknüpfung stellt die Grundlage für die Interpretation des Textes dar. Die hier eingeführte Textdefinition lässt sich wie folgt darstellen: Übersicht 1. Kommunikation, Text und kulturelles Wissen Kommunikation Ausdrucksmittel nonverbal parasprachlich Erfahrungswelt des Sprechers/Hörers verbal Gedanken und Gefühle gesprochen INTERPRETATIONSHINWEISE geschrieben TEXT kulturelles Weltwissen INTERPRETATIONSGRUNDLAGE Die Textlinguistik befasst sich mit der Frage, wie es Sprechern und Hörern gelingen kann, durch Texte zu kommunizieren. Sie untersucht, wie weit Sprecher/Schreiber beim Verfassen bzw. Hörer/Leser bei der Interpretation über die einzelnen Wörter und Sätze hinausgehen und konzeptuelle Beziehungen zwischen Sätzen, Abschnitten, Unterabschnitten etc. herstellen. Im vorliegenden Kapitel werden wir uns im Wesentlichen auf die Beziehungen zwischen Sätzen beschränken. Dieser Teilaspekt stellt ein so komplexes Netzwerk an Beziehungen (Relationen) dar, dass wir selbst auf diese hier nicht in aller Ausführlichkeit eingehen können. Übergeordnete Relationen innerhalb von Texten sowie TEXTLINGUISTIK 193 verschiedene Textsorten können wir hier deshalb nicht betrachten, obwohl sie sehr wohl zum Arbeitsbereich der Textlinguistik gehören. 8.2 Textrepräsentation Im dritten Teil von Jonathan Swifts Roman Gullivers Reisen („Eine Reise nach Laputa, Blanibari, Glubbdubdrib, Luggnagg und Japan“) beschreibt Gulliver eine Reihe von wissenschaftlichen Projekten an der Akademie zu Lagado. Im folgenden Ausschnitt wird das zweite Projekt beschrieben, dessen Ziel es sein sollte, Kommunikation durch Wörter abzuschaffen und nur noch direkt durch den Austausch von Dingen zu kommunizieren. Abbildung 1. Kommunikation durch den Austausch von Dingen anstatt von Worten Das zweite Projekt betraf einen Plan, jegliche Wörter ein für alle Mal abzuschaffen, was sowohl im Hinblick auf die Gesundheit als auch auf die Kürze dringend vonnöten war. Es ist nämlich ganz offensichtlich so, dass jedes von uns ausgesprochene Wort zu einem gewissen Grad einen Abrieb unserer Lungen nach sich zieht und damit verkürzend auf unser Leben wirkt. Hier wollte man Abhilfe schaffen. Da Wörter lediglich Namen für Dinge sind, wäre es doch viel bequemer für alle, stets all diejenigen Dinge mit sich herumzutragen, welche für das jeweilige zu besprechende Geschäft notwendig sind. Sicherlich hätte sich diese Erfindung auch durchgesetzt, hätten sich nicht die Frauen mit den einfachen Leuten und Analphabeten verschworen und mit einem Aufstand gedroht, wenn ihnen nicht weiterhin die Freiheit zugestanden würde, nach Art ihrer Vorfahren mit der Zunge zu sprechen. Solch unversöhnlicher Gegner der Wissenschaft ist das gemeine Volk! Viele der gebildetsten und weisesten Männer hielten aber dennoch an diesem neuen Entwurf fest, sich durch Dinge auszudrücken. Zwei dieser Gelehrten habe ich oft unter der schweren Last ihrer Säcke beinahe zusammensinken sehen, ganz so wie bei uns in England die Hausierer. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, legten sie ihre Last ab, öffneten ihre Säcke und unterhielten sich eine ganze Stunde miteinander. Dann packten sie wieder alle Dinge in die Säcke, halfen sich gegenseitig dabei, ihre Lasten wieder zu schultern, und gingen beide ihres Weges. (Swift, Jonathan [1726]. Gulliver’s Travels. New York: The New American Library, 1983, pp.203-204. Deutsche Übersetzung: R.P.) 194 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Die Vorstellung, dass wir uns doch lieber durch Dinge als durch Worte verständigen sollten, mag uns ziemlich merkwürdig vorkommen. Derartige Vorstellungen reichten aber durchaus über die Zeit Swifts hinaus bis in die moderne Zeit hinein. So stützen sich beispielsweise die logischen Analysen des britischen Philosophen Bertrand Russell auf die „Hypothese von der irreführenden Form“ (the Misleading Form Hypothesis). Nach dieser Hypothese sind natürliche Sprachen nicht sonderlich zur exakten Beschreibung der Welt geeignet, denn sie sind in der Regel nicht eindeutig und daher irreführend. Aus diesem Grunde sollte nach Meinung Russells zur Beschreibung eine Form gewählt werden, die eine exaktere Repräsentation der Welt gewährleistet – nämlich die logische Form von Sätzen. In diesem Kapitel werden wir eine ganze Reihe von Eigenschaften natürlicher Texte besprechen, die eine Kommunikation durch Texte erst ermöglichen und in dem lagadonischen „Plan zur Äußerung durch Dinge“ überhaupt nicht berücksichtigt werden. Deswegen protestierten „die Frauen, zusammen mit den einfachen Leuten und Analphabeten“ durchaus zu recht gegen diese unnatürliche Art und Weise der Kommunikation. Mit der lagadonischen Vorstellung von Kommunikation wird fälschlich angenommen, dass Sprache einzig und allein beschreibenden Charakter habe und lediglich bestimmte Gegebenheiten und Zustände repräsentiere. Diese Darstellungsfunktion der Sprache wurde bereits in Kapitel 7 angesprochen. Zweifelsohne handelt es sich um eine wesentliche Funktion der Sprache – noch bis vor kurzem konzentrierten sich semantische Studien vorrangig auf diese darstellende Funktion. Doch wenn Sprecher oder Schreiber Texte produzieren, so ist das deutlich mehr und oft auch ganz etwas anderes als bloß ein Darstellen von Tatsachen. Texte enthalten viele Hinweise auf die Rolle des Sprechers oder Schreibers, ebenso wie auf die kommunikative Funktion der einzelnen Sätze. Solche Hinweise wurden in Kapitel 7 der interpersonellen Funktion der Sprache zugeordnet. Texte enthalten u.a. auch Informationen über das Image von Sprecher und Hörer in der Interaktion. Die folgenden Äußerungen (1a,b,c) unterscheiden sich nicht im Inhalt, alle drei Sätze enthalten dieselben inhaltlichen Informationen, sondern in ihrer Situationsangemessenheit. (1) a. Könnten Sie mir bitte die Butter reichen? b. Bitte reich doch mal die Butter rüber. c. Butter! Texte können zudem Informationen über ihre Struktur enthalten. Die Sprache erfüllt dann eine textuelle Funktion. Satz (2) trägt nicht sonderlich zum Inhalt eines Textes bei, sondern er hat die wichtige Funktion, den Leser bei der Verarbeitung des Textes zu leiten. (2) Im folgenden Abschnitt werden wir kurz auf die Geschichte des Automobilbaus eingehen. Die lagadonische Vorstellung von Textinterpretation ist noch aus einem weiteren Grunde falsch: ihr liegt eine Definition von Bedeutung zugrunde, nach der „Wör- TEXTLINGUISTIK 195 ter lediglich Namen für Dinge“ sind. Jedes Wort stünde für ein bestimmtes Ding in der außersprachlichen Realität und könnte durch dieses ersetzt werden. Eine lagadonische Äußerung neuen Stils besteht deshalb aus einer Reihe von Objekten – mit anderen Worten, die Bedeutung einer Äußerung als Ganzes wird mit einer Abfolge von einzelnen Dingen gleichgesetzt, die von den Kommunikationsteilnehmern hervorgebracht werden. Tatsächlich bestehen aber sowohl geschriebene als auch gesprochene natürliche Texte aus Sätzen, die Gedanken zum Ausdruck bringen. Diese Aussage könnte nun dazu verleiten, die Interpretation eines Textes als die Summe der Interpretationen der Einzelsätze dieses Textes anzusehen. Das trifft aber aus mehrerlei Gründen gerade nicht zu. Zum einen fügen die Leser bzw. Hörer eines Textes während des Verstehensprozesses die verschiedensten Informationen zu der Bedeutung der Sätze eines Textes hinzu. Betrachten wir einmal ein einfaches Beispiel: (3) Auf dem Weg zum Empfang hatte ich einen Motorschaden. Ich bin über eine halbe Stunde zu spät gekommen. Die Hörer dieses Textes werden keinerlei Schwierigkeiten haben zu verstehen, dass der Motor Teil eines Wagens ist und dass dieser Wagen von dem Sprecher gefahren wurde. Doch der Wagen selbst wird im Text überhaupt nicht erwähnt. Auch werden sie annehmen, dass es eine kausale Beziehung zwischen dem Motorschaden und dem Zuspätkommen des Sprechers gibt. Diese impliziten Annahmen bezeichnet man als Inferenzen. Sie gründen im Allgemeinen auf der Vorerfahrung des Lesers bzw. Hörers. Wenn wir einen Text interpretieren, bilden wir jedes Mal eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen. Deshalb kann es sich bei einem Text nur um mehr als die Summe der Interpretationen der einzelnen Sätze handeln. Andererseits ist die Bedeutung eines Textes aber auch viel enger als die Summe der Interpretation seiner Einzelsätze. Texte werden in der Regel auf einen bestimmten Kontext bezogen interpretiert. Durch diesen Kontext lassen sich Mehrdeutigkeiten und vage Andeutungen in einzelnen Sätzen auflösen und klären. So bleiben beispielsweise die Personalpronomen ihm oder sie in isolierten Sätzen unspezifiziert. Im Zusammenhang eines Textes wird aber deutlich, auf wen sie sich beziehen. Fassen wir zusammen: Der Verfasser oder Sprecher (kurz: S) hat die Absicht, einem Leser oder Hörer (H) etwas zu vermitteln. Zu diesem Zweck formuliert S eine Aussage, die evtl. aus mehreren Sätzen besteht und die insgesamt als Text (entweder geschrieben oder gesprochen) bezeichnet wird. Die Funktionsweise eines Textes lässt sich allerdings nicht allein durch die Betrachtung des Wortlautes dieses Textes verstehen. Die Vorstellungen oder auch Repräsentationen, die S und H von einem Text haben, müssen mit in Betracht gezogen werden. Kommunikation in natürlicher Sprache hat also eine ganz wesentliche Eigenschaft: kommunikative Absichten werden nicht direkt durch sprachliche Ausdrücke an den Hörer weitergegeben. Sie werden vielmehr auf der konzeptuellen Ebene der Textrepräsentation vermittelt. Dies trifft insbesondere auf das entscheidende Charakteristikum von natürlichen, wohlgeformten Texten zu – sie 196 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT müssen für H in sich sinnvoll zusammenhängen, d.h. kohärent sein. Dies wirkt vielleicht am stärksten bei inkohärent erscheinenden Texten: hier ist der Hörer bzw. Leser besonders stark gefordert. Durch Kohärenz unterscheiden sich Texte von willkürlichen Satzsammlungen. Im Folgenden werden wir auf diesen Aspekt der Textkohärenz ausführlicher eingehen. 8.3 Kohärenz vs. Kohäsion Ein Text ist inhaltlich zusammenhängend oder kohärent, wenn es möglich ist, auf der Grundlage dieses Textes zu einer sinnvollen Textrepräsentation zu gelangen. Der folgende Text ist ein Beispiel für einen solchen kohärenten Text. (4) Luther durchlief rasch die üblichen Stufen der akademischen Grundausbildung, wobei er sich besonders eingehend mit Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Logik und Ethik beschäftigte. Im Herbst 1502 wurde er Baccalaureus artium, Anfang 1505 Magister artium. Das anschließende Jura-Studium gab Luther bereits im Sommer 1505 wieder auf, weil er nach einem in Lebensgefahr abgelegten Gelübde in den Konvent der Erfurter Augustiner-Eremiten eintrat. (Wolf, H. Martin Luther. Stuttgart, Metzler 1980: 11) Eine Reihe von Elementen in diesem Beispiel sind kursiv hervorgehoben. Diese grammatischen bzw. lexikalischen Elemente setzen den Satz, in dem sie auftreten, mit dem ihn umgebenden Kontext in Verbindung. Sie werden deshalb als Verbindungselemente oder kohäsive Elemente bezeichnet. Textkohäsion kommt durch diese Verbindungselemente zustande. Ein Text kann allerdings auch ohne die Anwesenheit solcher kohäsiver Elemente durchaus kohärent sein, wie Beispiel (5) zeigt: (5) (a) Zwölf Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord. (b) Köln, 10. April. (c) Das Kölner Amtsgericht verurteilte gestern einen Mann aus Mülheim zu einer zwölfjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord. (d) Das Opfer, ein 41-jähriger Gebrauchtwagenhändler aus Düsseldorf, war letztes Jahr in einer Wohnung in der Kölner Innenstadt erschossen aufgefunden worden. Obwohl dieser kurze Text sehr kohärent erscheint, gibt es keine kohäsiven Elemente, die erklären, was die in (c) und (d) beschriebenen Ereignisse miteinander zu tun haben. Zudem wird mit den in (d) verwendeten Begriffen kein sprachliches Material aus dem dritten Satz wiederholt. Mit anderen Worten: zwischen (c) und (d) gibt es keinerlei Verbindungen durch kohäsive Elemente, d.h. dem Text fehlt es anscheinend an Kohäsion. Dennoch wird kaum jemand Schwierigkeiten haben, den Text zu verstehen. Die fehlenden Verknüpfungen setzt der Leser unter Rückgriff auf sein kulturelles Wissen (oder Weltwissen) selbst hinzu. Im vorliegenden Beispiel greift der Leser auf ein „Mörder-Skript“ zurück (Skript hat in diesem Zusammenhang eine allgemeinere Bedeutung und bezieht sich auf unsere Vorstellung davon, was typischerweise zu einem Mord gehört. Der in TEXTLINGUISTIK 197 Kapitel 6 eingeführte Begriff kulturelles Skript hat eine eingeschränktere Bedeutung und bezieht sich lediglich auf Verhaltensnormen). Aufgrund seines kulturellen Wissens und seiner Erfahrung weiß er, dass zu einem Mord Mörder, Opfer, Tatwaffen, Motive, ein Tatort u.v.a.m. gehören, und er weiß auch, wie diese Aspekte zusammenhängen. Dieses Hintergrundwissen erlaubt es dem Leser, aus (5) eine kohärente Textrepräsentation zu konstruieren. Es ist also durchaus möglich, zu einer kohärenten Textrepräsentation zu gelangen, ohne dass der Text in expliziter Weise kohäsiv sein muss. Die Kohärenz eines Textes kann durch kohäsive Verknüpfungen wie durch die Wiederaufnahme bereits verwendeter Wörter oder übergeordneter bzw. untergeordneter Kategorien erreicht werden. Allerdings sind solche kohäsiven Beziehungen noch lange keine Garantie dafür, dass ein Text damit auch schon kohärent wird: (6) Ich hatte mir damals gerade einen Ford gekauft. Der Wagen, in dem Präsident Wilson die Champs Elysées hinunterfuhr, war pechschwarz. Schwarz war als Farbe für das Logo schon lange im Gespräch. Die Gespräche zwischen den Präsidenten der asiatischen Staaten endeten in der letzten Woche. Eine Woche hat sieben Tage. Jeden Tag muss ich meine Katze füttern. Ein solches Tier hat vier Pfoten. Die Katze liegt in ihrem Korb. Korb hat vier Buchstaben. Auch wenn in diesem Text mehrfach durch Wortwiederholungen kohäsive Verknüpfungen hergestellt werden, fällt es uns als Leser dennoch sehr schwer, zu einer kohärenten Interpretation dieses Textes zu gelangen. Kohärenz ist offenbar nicht so sehr eine Eigenschaft der verwendeten sprachlichen Ausdrücke in einem Text selbst, sondern vielmehr ein Ergebnis der Interpretationsanstrengungen des Lesers. Kohärenz wird auf zweierlei Art erreicht: erstens durch referentielle Kohärenz, d.h. die wiederholte Referenz auf dieselben Objekte innerhalb eines Textes, und zweitens durch die Verknüpfung von Textteilen durch so genannte Kohärenzrelationen wie „Ursache – Wirkung“ und „Kontrast“, d.h. durch relationale Kohärenz. In den folgenden beiden Abschnitten wollen wir diese beiden Mittel zur Herstellung von Kohärenz genauer betrachten. 8.4 Referentielle Kohärenz Die Kohärenz eines Textes beruht zu einem Teil darauf, dass wir mittels Texten in zusammenhängender Art und Weise über Konzepte und deren Referenten reden. Texte enthalten eine Menge referentieller Ausdrücke wie er, sie, es, der Mann, das Kind etc. Diese Referenzwörter beziehen sich nicht direkt auf Dinge in der Realität, sondern auf mentale Bilder und Vorstellungen, die Menschen von diesen Dingen haben. Deswegen ist es ja auch möglich, auf Dinge zu referieren, die gar nicht existent sind, die man sich aber durchaus vorstellen kann, wie etwa Einhörner, Außerirdische oder den Weihnachtsmann. 198 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Typische Ausdrücke, mit denen man auf bereits erwähnte Referenten verweisen kann, sind zum Beispiel Pronomen (sie, mein, ihr) oder auch ganze Nominalphrasen (die Frau von nebenan). Mit ihnen kann sowohl auf Konzepte im Text selbst als auch auf Referenten außerhalb des Textes verwiesen werden. Die Herstellung von Bezügen durch Referenzwörter innerhalb eines Textes bezeichnet man als endophorische Referenz. Wird auf Referenten außerhalb des Textes Bezug genommen, so handelt es sich um exophorische Referenz. In diesem Fall spricht man auch von Deixis. Ein eindeutiges Beispiel für exophorische Referenz ist Beispiel (7): (7) [Frau deutet an die Decke und sagt zu ihrem Mann:] Hast du jetzt endlich ’mal mit denen da oben geredet? Die Äußerung der Frau ist nur dann vollständig interpretierbar, wenn Informationen über den situativen Kontext zur Verfügung stehen. Für deiktische oder exophorische Ausdrücke ist dies typisch. Endophorische Referenzelemente hingegen werden allein aus dem im Text hergestellten Kontext interpretiert. Zur Interpretation wird entweder auf den vorangegangenen Kontext (wie in Beispiel (8)) Bezug genommen, d.h. durch anaphorische Referenz, oder auf den nachfolgenden Kontext (9), d.h. durch kataphorische Referenz. Die Referenzausdrücke und ihre Referenzpunkte, die auf dieselben Referenten verweisen, sind in den folgenden Beispielen jeweils durch Indizes ( i ) markiert. (8) Letztes Jahr waren wir in [den Alpen]i. Ich fand [sie]i einfach traumhaft. (9) a. [Das]i war mal wieder typisch – [erst hab’ ich ’ne Panne mit dem Wagen und dann ist auch noch die Brücke gesperrt]i b. Weißt du schon [das Neueste]i? [Meike hat geheiratet]i. Endophorische Referenzelemente werden aus dem unmittelbaren textinternen Kontext heraus interpretiert und tragen auf diese Weise zur Kohärenz eines Textes bei. Referentielle Kohärenz wird also vor allem durch endophorische Elemente hergestellt. Doch nicht alle Referenten in einem Text stehen für den Hörer in gleichem Maße im Vordergrund seiner Aufmerksamkeit. Über einige wird kontinuierlich geredet, andere werden neu in den Text eingeführt, wieder andere spielen eine nebengeordnete Rolle. Genauere Untersuchungen dieser identifizierenden Funktion referentieller Ausdrücke haben ergeben, dass die Art und Weise, wie auf Konzepte bezug genommen wird, davon abhängt, wie stark ein Konzept im Vordergrund steht, d.h. wie prominent es ist. Wenn ein Konzept in einem Text zum ersten Mal auftritt, so muss es zunächst einmal eingeführt werden. Die lagadonischen Gelehrten aus Gullivers Reisen würden es in ihre Unterhaltung einführen, indem sie ein neues Objekt aus dem Sack nehmen. In natürlichen Sprachen wird das sprachliche Konzept typischerweise durch die Verwendung eines indefiniten Ausdrucks, z.B. eines unbestimmten Artikels oder unbestimmten Pronomens, eingeführt (zumindest ist das bei allen westeuropäischen Sprachen der Fall). Nehmen wir etwa den typischen einführenden Satz bei Märchen: TEXTLINGUISTIK 199 (10) Es war einmal ein kleines Mädchen. Ist der Referent erst einmal eingeführt, so kann auf ihn auf verschiedene Weise Bezug genommen werden – je nachdem, wie stark das eingeführte Konzept im Vordergrund steht. Je mehr Prominenz ein Konzept in einem Text erhält, d.h. je stärker es im Vordergrund steht, desto weniger sprachliches Material ist zur Identifikation dieses Referenten nötig. Hat es bereits den ganzen vorangegangenen Text über im Mittelpunkt gestanden, so werden Bezüge zu diesem Konzept in der Regel durch definite Ausdrücke wie Pronomen oder Demonstrativpronomen hergestellt: (10) a. Das hieß Schneewittchen. Diese Referenzform ist gekürzt. Die vollständige Form wäre Das Mädchen hieß Schneewittchen. Ein deutsches Pronomen gibt semantische Informationen über Kasus, Numerus und Genus (Pronomen in anderen Sprachen enthalten unter Umständen sogar noch weniger Informationen). Mehr Information wird im Kontext von (10a) auch nicht benötigt, denn der Referent kann aus eben diesem Kontext unmittelbar abgeleitet werden. Manchmal werden die Mittel, mit denen referiert wird, sogar noch so weit gekürzt, dass sie elliptisch werden: (10) b. Es war einmal ein kleines Mädchen, Ø Schneewittchen, das lebte in einem Wald.... Wenn das Konzept „das Mädchen“ weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, etwa wenn es einige Zeit zuvor das letzte Mal erwähnt wurde und ein anderes Objekt in den Mittelpunkt gerückt ist, so wird mehr Inhaltsinformation (z.B. durch eine Nominalphrase statt eines Pronomens) benötigt, um den Verweis auf denselben Referenten, die so genannte Koreferenz herzustellen: (10) c. Es war einmal ein kleines Mädchen, genannt Schneewittchen, das lebte in dem Wald eines reichen und mächtigen Königs. Der hatte einen Sohn namens Jeremias, der nichts lieber tat, als den lieben langen Tag auf die Jagd zu gehen. Als er eines Tages der Fährte einer Hirschkuh folgte, da traf er auf {das kleine Mädchen / ??sie}. Es kann aber auch vorkommen, dass Objekte oder Personen nicht eingeführt wurden, aber aufgrund von Wissen über die Situation oder aufgrund von Hintergrundwissen auf ihre „Existenz“ geschlossen werden kann. Das hatten wir bereits in Beispiel (3) gesehen: der Motor wird uns so präsentiert, als hätte der Sprecher ihn bereits eingeführt. Auf eine gewisse Weise kann man auch sagen, dass er tatsächlich eingeführt wurde, denn aufgrund unserer Erfahrung wissen wir, dass man zu einem Empfang mit dem Wagen fahren kann, und auch, dass ein solcher Wagen einen Motor hat. Diese Beispiele veranschaulichen alle die identifizierende Funktion referentieller Ausdrücke. Nun besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Grad, zu dem ein Referent im Vordergrund steht, und der Form des zugehörigen Refe- 200 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT renzausdruckes. Referenzausdrücke signalisieren also dem Hörer oder Leser auch, wo er nach dem Referenten dieses Ausdrucks suchen muss. Anaphorische Ausdrücke können auch eine nicht-identifizierende Funktion haben. Gelegentlich hat die Anapher eine andere Form, als für ihre referentielle Funktion an einer Stelle des Textes notwendig wäre. Sie kann zum einen überbestimmt sein, was als referentielle Überspezifizierung bezeichnet wird. Zum anderen kann sie einen Referenten neu einführen, obwohl dieser bereits an einer früheren Stelle des Textes eingeführt wurde. Diese Form der Anapher bezeichnet man als spätes Indefinitum. Betrachten wir zu diesen beiden Aspekten Beispiel (11), einen Ausschnitt aus der Mitte eines Lexikoneintrages über Goethe: (11) Eri war von der Menschheit und ihrer Entwicklung fasziniert und brachte seinei Ideen, Fragen und Zweifel in Gedichten, Liedern, Dramen, Prosa, Maximen und Kurzgeschichten zum Ausdruck. Goethei war nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein bedeutender Naturwissenschaftler. Die Verwendung des Namens Goethe im letzten Satz ist eindeutig ein Fall von Überspezifizierung. Wieso wird hier der volle Name genannt? Um auf den Referenten „Goethe“ zu verweisen, hätte das Pronomen er an dieser Stelle doch völlig ausgereicht. Jeder Satz in diesem Ausschnitt handelt von Goethe, der Referent steht also bereits im Vordergrund. In diesem Fall wird der Name selbst anstatt des Pronomens verwendet. Dadurch entsteht ein besonderer textstrukturierender Effekt, den man als Textsegmentierung bezeichnet. Ein Text wird so in größere gedankliche Einheiten bzw. Absätze aufgegliedert. Ein weiteres Beispiel findet sich in dem Text über Luther (4). Hier wirkt die Überspezifizierung sehr dramatisch, durch sie wird der Wendepunkt in Luthers Leben eingeführt. Wie experimentelle Untersuchungen gezeigt haben, nehmen Leser unter anderem anhand von solchen überspezifizierten Referenzen Themenwechsel im Text wahr. Die Wiedereinführung des Namens Goethe zeigt also an, dass an dieser Stelle des Textes ein neues Thema eingeführt wird. Umgekehrt können aber auch unbestimmte Nominalphrasen oder Pronomen zu einem Zeitpunkt im Text verwendet werden, zu dem die Einheiten, auf die diese referieren, schon längst genau bestimmt wurden. Solche späten Indefinita erfüllen innerhalb des Textes eine bestimmte Funktion, die in Beispiel 12 deutlich wird: (12) Rut auf der Tenne des Boas 5) Rut antwortete ihr: Alles, was du sagst, will ich tun. 6) Sie ging zur Tenne und tat genauso, wie ihre Schwiegermutter ihr aufgetragen hatte. 7) Als Boas gegessen und getrunken hatte und es ihm wohl zumute wurde, ging er hin, um sich neben dem Getreidehaufen schlafen zu legen. Nun trat sie leise heran, deckte den Platz zu seinen Füßen auf und legte sich nieder. 8) Um Mitternacht schrak der Mann auf, beugte sich vor, und fand eine Frau zu seinen Füßen liegen. 9) Er fragte: Wer bist du? Sie antwortete: ich bin Rut, deine Magd. [...] (Aus dem Buch Rut 3,5-9, Die Bibel, Einheitsübersetzung) TEXTLINGUISTIK 201 Uns interessiert hier der Ausdruck eine Frau in (8). Eigentlich ist der mit diesem Ausdruck bezeichnete Referent doch im vorigen Absatz bereits eingeführt worden, zwischen eine Frau in (8) und sie in (6) sowie Rut in (1) besteht Koreferenz. Als identifizierendes Element erscheint die Verwendung des unbestimmten Artikels eine in (8) deshalb etwas eigenartig. Man würde doch viel eher das Pronomen sie oder den bestimmten Artikel die erwarten. Durch das späte Indefinitum eine Frau wird hier ein anderer Effekt erzielt. Der Text wechselt die Perspektive. In (5) und (6) wird Ruts Handeln beschrieben, in (8), wie Boas sich in der Scheune niederlegt. In (8) wird der Referent Rut erneut eingeführt, diesmal allerdings aus Boas’ Sicht, der verwundert ist, dass jemand zu seinen Füßen liegt und ja auch zunächst nicht weiß, wer es ist. Wir sehen das Ereignis mit der erneuten Einführung des Referenten diesmal sozusagen mit Boas’ Augen. Diese Verwendung später Indefinita bezeichnet man als Perspektivierung. Dabei wird eine Szene aus der Perspektive einer bestimmten Person betrachtet. Fassen wir diesen Abschnitt noch einmal zusammen. Referentielle Kohärenz kann durch endophorische Referenz hergestellt werden, d.h. indem auf Konzepte innerhalb des Textes verwiesen wird. Endophorische Referenznahme hat vorwiegend identifizierende Funktion, d.h. die Auswahl der Referenzen entspricht in der Regel den Bedürfnissen des Lesers/Hörers nach Information an dieser Stelle des Textes. Ist die Referenz nicht wie normal erwartet, sondern markiert, so können auf diesem Wege Effekte wie Textsegmentierung oder Perspektivierung erzielt werden. In lagadonischer Kommunikation stünden nur sehr wenige dieser verschiedenen Möglichkeiten zur Herstellung referentieller Kohärenz zur Verfügung. 8.5 Relationale Kohärenz Jeder Leser oder Hörer kann einen Text nicht wirklich verstehen, wenn er oder sie nicht die Kohärenzrelationen zwischen den einzelnen Sätzen oder Teilsätzen eines Textes (wie „Ursache – Wirkung“, „Kontrast“, „Beweis“) bei der Interpretation herstellt. Kohärenzrelationen sind diejenigen Aspekte bei der Interpretation eines Textes, die zur Interpretation der Einzelsätze hinzugefügt werden müssen. Kohärenzrelationen sind ein weiterer Grund dafür, warum die lagadonische Ausdrucksweise sich nicht sonderlich zur Kommunikation eignen würde. Eine lagadonische Äußerung besteht immer nur aus Gruppen von Objekten. Es gibt nun aber keine Objekte, die für ganze Situationen oder Ereignisse stehen könnten. In natürlicher Sprache werden diese durch Ereignisschemata in Teilsätzen ausgedrückt (siehe hierzu Kapitel 4.2.). Da es im Lagadonischen keine Entsprechung zu Teilsätzen gibt, kann es auch keinerlei Entsprechung für Bezüge zwischen Teilsätzen geben. Es folgen einige Beispiele für solche Kohärenzrelationen in natürlichen Texten. Einige werden explizit signalisiert (etwa durch weil oder obwohl in den Beispielen (13) und (15)), andere bleiben implizit (14). (13) Das Einhorn starb, weil es sehr einsam war. (Folge – Ursache) 202 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (14) Der neue Assistent ist so was von karrieregeil! Seit Wochen arbeitet er schon bis spät in die Nacht. (Unterstellung – Beweis) (15) Obwohl Greta Garbo das Schönheitsideal ihrer Zeit verkörperte, hat sie doch niemals geheiratet. (Erwartung – Zurückweisen) In Beispiel (13) liefert der zweite Teilsatz den Grund für den Tod des Einhorns (es war einsam). In (14) gibt der zweite Teilsatz nicht den Grund für eine bestimmte Tatsache an, sondern Anhaltspunkte, auf die der Sprecher sein Urteil über den neuen Assistenten stützt. In (15) weist der zweite Teilsatz eine Erwartung zurück, die durch den ersten Teilsatz geweckt wurde. Mit dem Satz wird die konversationelle Implikatur erzeugt, dass „schöne Frauen normalerweise heiraten“. Dieses Beispiel stammt aus einem Nachruf über Greta Garbo in der niederländischen Zeitung De Volkskrant. Weil der Autor mit dem Satz impliziert, dass „schöne Frauen normalerweise heiraten“, waren bei der Redaktion der Zeitung zahllose Briefe von erbosten Lesern eingegangen, die sich über die antiquierten Ansichten des Redakteurs beschwerten. Wie die Beispiele (13) und (15) zeigen, können Kohärenzrelationen explizit angezeigt werden. Dies geschieht durch Konnektoren, die sich in unterordnende Konjunktionen (denn, falls, obwohl), koordinierende Konjunktionen (und, aber), konjunkte Adverbien (also, deswegen) und konjunkte Adverbialphrasen (aus diesem Grund, im Gegensatz zu) unterteilen lassen. Neueren Theorien der Textlinguistik zufolge gelten dieselben Kohärenzrelationen, die zwischen Teilsätzen auftreten, auch für größere Textteile wie Absätze und sogar ganze Abschnitte. Kohärenzrelationen können beispielsweise auch durch ganze Sätze angezeigt werden (so kann z.B. zwischen der Darbietung einer Hypothese und deren genauerer Untersuchung eine Verbindung wie Diese Hypothese bedarf einer genaueren Überprüfung eingesetzt werden). Sie können auch auf subtilere Art angezeigt werden, etwa durch „relationale“ Inhaltswörter wie einige....andere, mit denen eine Kontrastbeziehung signalisiert wird, oder auch durch Betonung und Intonation. In Beispiel (16) wird das Ende des ersten Teilsatzes ansteigend intoniert, der zweite Teilsatz aber stark abfallend, wodurch die Kohärenzrelation Einräumung signalisiert wird. (16) Thomas mag ja durchaus gute Zeugnisse haben, er kann allerdings überhaupt nicht im Team arbeiten. Gelegentlich gebrauchen Sprecher auch Konnektoren, die nicht der gewünschten Kohärenzrelation zu entsprechen scheinen. Ein solches Beispiel ist (17): (17) (a) Seit dem ersten Juni dieses Jahres ist Jan Kaal Mitherausgeber der monatlichen Zeitschrift O. (b) Kaal wurde letztes Jahr von dem Verleger Maurice Keizer angesprochen, (c) nachdem er eine Besprechung der ersten Ausgabe der Zeitschrift im NRC Handelsblad geschrieben hatte. Aus dem Text wird klar, dass Kaal von dem Verleger angesprochen wurde und jetzt Mitherausgeber der Zeitschrift ist, weil dieser durch die Besprechung auf ihn TEXTLINGUISTIK 203 aufmerksam wurde. Der Autor des Textes verwendet allerdings nicht den Konnektor weil, mit dem eine solche kausale Beziehung normalerweise ausgedrückt würde, sondern nachdem, wodurch die temporale Relation zwischen beiden Ereignissen angegeben wird. Dieses Phänomen bezeichnet man als relationale Unterspezifizierung. Unterspezifizierungen können die Textinterpretation aber auch erheblich erschweren. Aus diesem Grunde verwenden Sprecher/Schreiber sie auch nur, wenn sie voraussetzen können, dass dem Hörer/Leser aus dem Kontext heraus genügend Informationen zur Verfügung stehen, um den Text angemessen interpretieren zu können. Die Interpretation eines Textes wird durch eine ganze Reihe von Aspekten des Kontextes erheblich eingegrenzt, unter anderem durch die Textsorte. In Erzählungen kann ein Hörer zum Beispiel erwarten, dass die Ereignisse in einem kausalen Zusammenhang stehen – aufgrund dieser Erwartung bleiben kausale Relationen in dieser Textsorte oft unterspezifiziert. Ganz anders bei Zeugenaussagen: hier erwarten sowohl Sprecher als auch Hörer, dass jeder sich sehr explizit ausdrückt. Folglich treten bei der Textsorte „Zeugenaussage“ nur selten Unterspezifizierungen auf. Unterspezifizierte Kohärenzrelationen lassen sich vor dem Hintergrund konversationeller Implikaturen erklären (siehe Kapitel 7). Die Interaktionsteilnehmer müssen nicht jede einzelne Information, die sie mitteilen wollen, explizit machen. Sie kommunizieren unter der Annahme, dass sich ihr Kommunikationspartner kooperativ verhält und relevante Inferenzen macht. Wenn also jemand auf die Aussage Mir ist das Benzin ausgegangen mit Die Tankstelle ist um die Ecke antwortet, so kann der Fragende unter der Annahme, dass diese Aussage der Griceschen Maxime der Qualität folgt, davon ausgehen, dass man an dieser Tankstelle Benzin kaufen kann – auch wenn er das nicht explizit zum Ausdruck bringt. Ist dies nicht der Fall, so ist die Antwort zwar nicht falsch, aber der Antwortende müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht kooperativ gehandelt zu haben. Die Unterspezifizierung von Kohärenzrelationen kann auch als konversationelle Implikatur angesehen werden, die sich auf die Relevanzmaxime stützt. Die bloße zeitliche Abfolge von Ereignissen zu erwähnen, ist nur selten von Belang. Das erklärt, weshalb zeitliche Konnektoren oft kausal interpretiert werden können, wenn sie explizit genannt werden (18,19): (18) Als der Polizeipsychologe das Zimmer betrat, sprang der Selbstmörder aus dem Fenster. (19) Als Astrid noch ständig auf der Geige übte, konnte ich einfach nicht vernünftig an meiner Hausarbeit arbeiten. Auch die Gleichzeitigkeit von Ereignissen ist kaum jemals relevant, es sei denn, die Ereignisse stünden der Erwartung entgegen. Aus diesem Grunde können additive Konnektoren auch konzessiv interpretiert werden: (20) Er ist zwölf Jahre alt und kann Beethovensonaten spielen. 204 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Dieser Satz geht auf das Prinzip der Metonymie zurück: Relationen sind Metonymien für kausale bzw. konzessive Relationen. Diese Bedeutungsverschiebung lässt sich auch durch eine sprachhistorische Betrachtung ehemals temporaler Konnektoren stützen, die jetzt auch kausale Relationen anzeigen. In einer ganzen Reihe von Sprachen lassen sich ganz ähnliche Bedeutungsverschiebungen aufzeigen. Offensichtlich sind hier pragmatische Implikaturen nach und nach in Sprache „enkodiert“ worden – ein Fall von Grammatikalisierung (siehe hierzu Kapitel 3.3.3). (21) a. Frz. cependant (bedeutete ursprünglich „währenddessen“ und jetzt aber „obgleich“; Kookkurrenz wird zu zurückgewiesener Erwartung) b. Nl. dientengevolge (bedeutete ursprünglich „dem folgt“ und jetzt „demzufolge“; räumliche Anordnung wird zu zeitlicher Abfolge wird zur kausalen Verknüpfung) c. Dtsch. weil (ursprünglich „so lange wie“, temporale Überschneidung wird zur Kausalität) d. Engl. still (bedeutete ursprünglich nur „nach wie vor“ z.B.: He is still here und nun auch „allerdings“ Still, it is true...; Gleichzeitigkeit wird zu zurückgewiesener Erwartung, ähnlich wie bei but ‚aber‘) Wie die Übersicht im noch folgenden Abschnitt 8.6 mit etwa zwanzig verschiedenen Arten von Kohärenzrelationen zeigt, ist in der jüngsten Literatur zur Textlinguistik die Anzahl der angeführten Kohärenzrelationsarten explosionsartig in die Höhe geschnellt. Inzwischen gibt es Kataloge, die über 300 verschiedene Arten auflisten! In einem Punkt stimmt man in der Regel allerdings überein: diese Auffächerung von Relationen muss in irgendeiner Weise eingegrenzt werden – immerhin ist im Rahmen einer kognitiven Theorie von Sprache kaum vorstellbar, wie S und H unter den normalen Bedingungen des alltäglichen Sprachgebrauchs in der Lage sein sollten, aus einer solchen, kaum eingrenzbaren Liste die jeweils benötigten Relationen auszuwählen. Eine Möglichkeit zur Einschränkung dieser Liste besteht darin, die verschiedenen Kohärenzrelationen nach unterschiedlichen Dimensionen in allgemeinere Kategorien einzuordnen und dabei zu berücksichtigen, dass jede dieser Kategorien zentralere, aber eben auch periphere Mitglieder hat. Relationen können etwa danach eingeordnet werden, ob sie positiv (13, 14) oder negativ (15) sind. In (13) wird implizit angenommen, dass „Einsamkeit für gewöhnlich zum Tod führen kann“. Dieser Zusammenhang wird in den Teilsätzen von (13) mehr oder weniger direkt ausgedrückt. In (15) wird der Zusammenhang „schöne Frauen heiraten für gewöhnlich“ impliziert (diese Implikation hatte ja zu den vielen Leserbeschwerden geführt). Der implizierte Zusammenhang wird allerdings erst durch einen Kontrast erzeugt, und zwar indem im zweiten Teilsatz eine Negation (aber nie) verwendet wird. Erst diese Negation weist den Leser daraufhin, dass offensichtlich eine Erwartung bestand, die inferiert werden muss. Relationen wie (13) nennt man deshalb positive Relationen, solche wie TEXTLINGUISTIK 205 (15) negative Relationen. Negative Relationen werden typischerweise durch kontrastierende Konnektoren wie aber oder obwohl signalisiert. Ein anderes Ordnungskriterium für Kohärenzrelationen könnte sich daran ausrichten, welchen syntaktischen Status die verbundenen Teilsätze haben. Bei einer nebenordnenden oder parataktischen Relation haben beide Teilsätze denselben Status. Ein typisches Beispiel für eine parataktische Relation ist eine Sequenzrelation (22), bei der ein Teilsatz ein Ereignis bezeichnet, das auf das Ereignis aus dem vorangegangenen Teilsatz folgt. Parataktische Relationen werden auch als „multinuklear“ bezeichnet – alle Teilsätze in (22a,b,c) sind gleichermaßen zentral für den Text. (22) a) Wasser mit Milch zum Kochen bringen, (b) unter Rühren Trockenhefe hinzugeben, (c) dann den Gries einstreuen. Im Gegensatz dazu wird bei einer überordnenden oder hypotaktischen Relation ein abhängiger Nebensatz mit einem Hauptsatz verknüpft. Eine typisch hypotaktische Relation ist (23a). Hier steht die Ursache (weil) im Vordergrund. Der Konnektor denn wird dagegen in Zusammenhang mit einer parataktischen Konstruktion gebraucht und drückt eine Beweisrelation aus. (23) a. Jörg hat mit dem Rauchen aufgehört, weil er ständig husten musste. a'. Jörg hat mit dem Rauchen aufgehört. Er musste ständig husten. b. Jörg muss mit dem Rauchen aufgehört haben, denn ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr mit Zigarette gesehen. b'. Jörg muss mit dem Rauchen aufgehört haben. Ich habe ihn seit einer Wo- che nicht mehr mit Zigarette gesehen. Bei parataktischen Relationen kann der Konnektor auch weggelassen werden (23b'). Die Relation bleibt implizit bestehen und die Wortstellung der Sätze unverändert. Bei dem hypotaktischen Satzverband in (23a) dreht sich der weil-Satz wie ein Satellit um den Nukleus des Hauptsatzes. Wenn wir weil weglassen, hängt der Nebensatz sozusagen in der Luft. Wenn wir die Wortstellung aber so anpassen, dass weil weggelassen werden kann, erhalten wir einen impliziten kausalen Verband (23a'). Hypotaktische Relationen sind Relationen zwischen einem Kern und einem Satelliten (Nukleus-Satelliten-Relation). Tilgt man alle Satelliten aus einem Text, so erhält man eine sehr gute Zusammenfassung dieses Textes. Hierbei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der Unterscheidung in Kerne und Satelliten um eine Unterscheidung auf der Ebene der Textrepräsentation handelt. Sie entspricht der Unterscheidung zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken. Auch wenn diese Unterscheidung sich oft direkt auf der Satzebene wieder findet – ein Kern wird in diesem Fall durch einen Hauptsatz, ein Satellit durch einen Nebensatz ausgedrückt –, ist diese Unterscheidung auf der Satzebene nicht immer zutreffend. So ist in Beispiel (24) der Hauptsatz als Satellit zu sehen, mit dem die Hintergrundinformationen geliefert werden, der beigeordnete Satz aber als Kern: 206 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (24) Der Chef war kaum zur Tür hereingekommen, da fing er an, wie wild herumzubrüllen. Eine dritte Möglichkeit, Kohärenzrelationen einzuordnen, besteht darin, sie danach zu unterscheiden, auf welcher Ebene die im Teilsatz beschriebenen Ereignisse anzusiedeln sind. Ideationale Relationen liegen dann vor, wenn der Inhalt des Teilsatzes sich auf dieselbe Realitätsebene bezieht wie in (13) Das Einhorn starb, weil es einsam war, während das zweite Ereignis („es starb“) als direkte Folge der ersten Situation („das Einhorn war krank vor Einsamkeit“) zu sehen ist. Relationen zwischen zwei Sätzen oder Teilsätzen bezeichnet man dann als interpersonelle Relationen, wenn ein Satz sich auf die Ebene „Weltereignisse“ bezieht und der andere Satz auf die Ebene der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, d.h. wenn dieser Satz Informationen darüber enthält, warum der Sprecher diese Meinung vertritt oder welche Anhaltspunkte er dafür hat, oder wenn er wie in (25) dem Hörer erklärt, warum er die Äußerung des zweiten Teilsatzes für angemessen hält. (25) Da wir gerade beim Thema sind – wie wär’s mit ’ner kleinen Gehaltserhöhung? Vieles deutet darauf hin, dass solche Gruppierungen von Kohärenzrelationen nicht nur bei der sprachwissenschaftlichen Beschreibung, sondern auch im tatsächlichen Sprachgebrauch von S und H vorgenommen werden. In Studien zum kindlichen Erstspracherwerb hat man beispielsweise herausgefunden, dass kleine Kinder sich konkretere Relationen vor abstrakteren, positive vor negativen sowie parataktische Kohärenzrelationen vor hypotaktischen Relationen aneignen. (26a) ist ein Bericht über einen Zoobesuch mit parataktischen Konstruktionen: (26) a. Wir sind in den Zoo gegangen, und dann haben wir Löwen gesehen. Und dann haben wir ein Picknick gemacht, und dann sind wir zu den Delphinen gegangen, und dann... Auf einer späteren Stufe des Spracherwerbs werden diese Ereignisse dann auch durch hypotaktische Kohärenzrelationen ausgedrückt: (26) b. Wir sind in den Zoo gegangen und haben die Löwen angeschaut. Bevor wir zu den Delphinen gegangen sind, haben wir ein Picknick gemacht. Dies sind Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Kategorien von Kohärenzrelationen nicht bloß um Hilfsmittel zu Analysezwecken in der Textlinguistik, sondern vielmehr um kognitiv relevante Faktoren handelt, die im tatsächlichen Sprachgebrauch eine Rolle spielen. Sprecher und Hörer sind offenbar in der Lage, mit einer enormen Vielzahl von Kohärenzrelationen umzugehen, weil sie diese in eine relative geringe Zahl an Oberkategorien einordnen. Fassen wir unsere Ausführungen in diesem Abschnitt noch einmal zusammen: die Interpretation eines Textes erfordert, dass der Hörer oder Leser zwischen den einzelnen Textelementen Kohärenzbeziehungen herstellt. Diese Rela- TEXTLINGUISTIK 207 tionen können auf vielerlei Art und Weise markiert werden; oftmals bleiben sie aber unterspezifiziert. In diesen Fällen interpretiert der Hörer oder Leser die Relationen unter Rückgriff auf pragmatische Implikaturen. Beziehungen von Kohärenzrelationen waren ebenfalls Gegenstand unserer Ausführungen. Kohärenzrelationen lassen sich nach verschiedenen Dimensionen gruppieren – es ist durchaus wahrscheinlich, dass solche Gruppierungen eine wichtige Rolle dabei spielen, wie der Sprecher/Verfasser und der Hörer/Leser mit der großen Anzahl von Kohärenzbeziehungen umgehen, die zwischen den einzelnen Sätzen in einem Text bestehen können. 8.6 Ein Überblick über Kohärenzrelationen Die nun folgende Liste gibt eine Übersicht über einige Kohärenzrelationen. Sie beruht auf der Arbeit von Mann & Thompson (1988). Dabei enthält der Kern jeweils die Hauptinformation und der Satellit die hinzukommende Hintergrundinformation. a. HINTERGRUND: Die Information im Satelliten hilft dem Leser, den Kern zu verstehen. (a) (b) Die Massenarmut muss bekämpft werden, damit in den unterentwickelten Ländern die Motivation zur Geburtenkontrolle wächst. [Satellit] Entsprechende Maßnahmen sollte auch von anderen Ländern unterstützt werden. [Kern] b. URSACHE: Mit dem Satelliten wird eine Situation dargestellt, die ursächlich für die im Kern dargestellte Situation ist. (a) (b) Die Vereinigten Staaten produzieren mehr Weizen als auf dem amerikanischen Binnenmarkt benötigt wird. [Satellit] Deswegen werden die Überschüsse exportiert. [Kern] c. UMSTAND: Der Satellit gibt den Rahmen vor, in dem der Hörer die im Kern dargestellte Situation interpretieren soll. (a) (b) Die bisher schlimmste Grippe meines Lebens hatte ich letzten Sommer [Kern], als ich meine Ferien am Nordpol verbrachte. [Satellit] 208 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT d. EINRÄUMUNG: Zwischen den Situationen im Nukleus und denen im Satelliten besteht eine potentielle oder offensichtliche Inkompatibilität; die Situation im Nukleus steht stärker im Zentrum der Absichten des Schreibers. (a) (b) Auch wenn dieser Stoff bei Ratten und Meerschweinchen toxisch wirkt, [Satellit] gibt es keinerlei Hinweise auf ernste Langzeitauswirkungen auf den Menschen. [Nukleus] e. BEDINGUNG: Im Nukleus wird eine Situation dargestellt, deren Realisierung von der Realisierung der Situation im Satelliten abhängt. (a) (b) Wenn sich Ihre persönlichen Lebensumstände ändern, [Satellit] sollten Sie sofort ihre Versicherungsagentur benachrichtigen. [Kern] f. KONTRAST: (parataktisch): Die in den Kernen beschriebenen Situationen sind in vielerlei Hinsicht gleich, unterscheiden sich aber in einigen Aspekten. Sie werden in Hinblick auf diese Unter- schiede miteinander verglichen (a) (b) Bergoss ist um zwölf Punkte gestiegen, ebenso Van Hattum, Holec und SmitTak. [Kern] Philips hingegen ist um zehn Punkte gefallen. [Kern] g. AUSFÜHRUNG: Der Satellit liefert zusätzliche Detailinformationen zu (einem Element) der im Kern beschriebenen Situation. (a) (b) Die nächste ICLA-Konferenz findet 1999 in Stockholm statt. [Kern] An der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz werden voraussichtlich an die 300 Sprachwissenschaftler aus 23 Ländern teilnehmen. [Satellit] h. ERMÖGLICHEN: Die Information im Satelliten ermöglicht es dem Hörer/Sprecher, eine im Kern beschriebenen Aktion auszuführen. (a) (b) Kannst du schon mal die Türe aufschließen? [Kern] Hier ist der Schlüssel. [Satellit] i. EINSCHÄTZUNG: Der Satellit stellt die Einschätzung der im Kern beschriebenen Situation durch den Schreiber/Sprecher dar. TEXTLINGUISTIK 209 (a) (b) Als Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern wurde heute in Jerusalem von beiden Parteien ein neues Abkommen unterzeichnet. [Kern] Dies ist das Ergebnis der jüngsten Friedensinitiative der USA im Nahen Osten. [Satellit] j. BEWEIS: Der Leser/Hörer versteht die Information im Satelliten und ist auf Grund dessen eher bereit, der im Kern gegebenen Information Glauben zu schenken. (a) (b) Der 20-jährige Bill Hamers hat seinen Vater ermordet. [Kern] Zeugen haben ihn zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesehen. [Satellit] k. RECHTFERTIGUNG: Der Leser/Hörer versteht die Information im Satelliten und ist deshalb eher bereit anzuerkennen, dass der Schreiber/Sprecher das Recht hat, die im Nukleus dargestellte Information zu geben. (a) (b) Derrick, Mordkommision. [Satellit] Sie sind vorläufig festgenommen! [Kern] l. MOTIVATION: Der Leser/Hörer versteht die Information im Satelliten und wird dadurch motiviert, im Kern beschriebene Aktion auszuführen. (a) (b) die Fahr’ doch mit ins Disneyland. [Kern] Das wird sicher ein Riesenspaß. [Satellit] m. ZWECK: Im Satelliten wird eine Situation präsentiert, die durch die Aktivität im Kern herbeigeführt werden soll. (a) (b) Um die neueste Version von Qedit zu bekommen, [Satellit] schicken Sie uns einfach die Registrierungskarte. [Kern] n. ERGEBNIS: Im Kern wird eine Situation dargestellt, welche die Ursache für die im Satelliten dargestellte Situation ist. (a) (b) Eine Gasexplosion zerstörte die gesamte Fabrik und einen Großteil der umliegenden Gebäude. [Kern] Es gab 23 Tote und über 200 Verletzte. [Satellit] o. NEUDARSTELLUNG: Im Satelliten wird erneut die Information des Kerns dargestellt. (a) Ein gepflegter Wagen verrät etwas über seinen Besitzer. [Kern] (b) Dein Wagen spricht Bände. [Satellit] 210 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT p. SEQUENZRELATION: (parataktisch) Die Kerne stellen eine Sequenz von Ereignissen dar. (a) (b) Bohnen über Nacht in kaltem Wasser einweichen lassen. [Kern] Dann ca. 1½ Stunden kochen. [Kern] q. LÖSUNGSMÖGLICHKEIT: Die im Kern gegebene Situation stellt eine Lösung für die im Satelliten beschriebene Situation dar. (a) (b) Wollen Sie alle Möglichkeiten von Ethernet voll ausschöpfen? [Satellit] Dann sollten Sie auf einen Computer mit PCI Bus umsteigen. [Kern] 8.7 Zusammenfassung Ein Text ist der verbale Anteil an einem Kommunikationsereignis ohne die parasprachlichen und nonverbalen Elemente. Ein Text bekommt für einen Hörer bzw. Leser Sinn, wenn er ihn vor dem Hintergrund seines Weltwissens interpretiert. Die Textlinguistik beschäftigt sich deshalb nicht mit den sprachlichen Elementen des Textes allein, sondern vor allem auch mit der Interpretation des Textes. Beide zusammen bilden die Textrepräsentation, zu der Hörer und Leser aufgrund des Textes gelangen. Damit der Leser/Hörer eine sinnvolle Repräsentation des Textes gewinnen kann, muss der Text kohärent, d.h. konzeptuell zusammenhängend sein. Kohärenz ist das Hauptkriterium dafür, ob sprachliche Zeichen Texte sind. Sie wird teils durch den Text vorgegeben und teils durch den Leser selbst hergestellt. Kohärenzrelationen werden im Text oft durch kohäsive Verknüpfungen hergestellt. Dies sind sprachliche Mittel wie etwa Pronomen, andere Funktionswörter oder die Wiederholung von Nominalphrasen. Doch kohäsive Verknüpfungen sind an sich noch keine Garantie dafür, dass ein Text Kohärenz bekommt. Kohärenz ist vielmehr ein Aspekt auf der konzeptuellen Ebene. Es gibt zwei Arten von Kohärenzrelationen: referentielle und relationale Kohärenz. Referentielle Kohärenz entsteht durch den wiederkehrenden Bezug auf dieselben Referenten. Sie wird entweder durch exophorische oder durch endophorische Referenz erreicht. Bei exophorischer Referenz oder Deixis wird auf bestimmte Entitäten in der Sprechsituation verwiesen. Endophorische Referenz nimmt auf hervorgehobene Entitäten innerhalb des Textes Bezug. Hier unterscheidet man weiter zwischen anaphorischer Referenz, d.h. dem Bezug auf bereits eingeführte Entitäten, und kataphorischer Referenz, d.h. dem Bezug auf später im Text zu erwartende Entitäten. Durch referentielle Kohärenz werden in erster Linie Einheiten eingeführt und identifiziert. Je stärker ein Referent an einem Punkt des Textes im Vordergrund steht, d.h. je mehr Prominenz er hat, desto stärker kann die Form gekürzt oder sogar elliptisch sein, mit der auf diese Einheit verwiesen wird. Die Textlinguistik interessiert sich in immer stärkerem Maße auch für die nicht-identifizierende Funktion anaphorischer Ausdrücke. Nicht selten wird eine TEXTLINGUISTIK 211 bestimmte Nominalphrase oder ein vollständiger Name verwendet, wo ein Pronomen durchaus ausgereicht hätte. In diesem Fall spricht man von referentieller Überspezifizierung, deren Funktion vor allem die Strukturierung und Textsegmentierung ist. Umgekehrt finden sich aber auch späte Indefinita für Referenten, die längst eingeführt worden sind; sie erfüllen die Funktion der Perspektivierung. Durch referentielle Kohärenz werden also die Entitäten innerhalb eines Textes miteinander verbunden. Relationale Kohärenz stellt dagegen Beziehungen zwischen Ereignissen her. Kohärenzrelationen können implizit bleiben oder durch Konnektoren wie Konjunktionen oder adverbiale Phrasen explizit gemacht werden. Einige Konnektoren können dabei von ihrer ursprünglichen temporalen Bedeutung abweichen, was als relationale Unterspezifizierung gilt. Diese Phänomene stehen in engem Zusammenhang mit der Textsorte. Im Laufe der Zeit können implizite Relationen, die ursprünglich auf konversationelle Implikaturen zurückgingen, als Ergebnis eines Prozesses der Grammatikalisierung zum Teil der konventionellen Bedeutung eines Ereignisses werden. Die große Zahl der Kohärenzrelationen lässt kaum annehmen, dass wir sie als eine Art Liste speichern. Man kann deshalb wohl davon ausgehen, dass diese Einzelrelationen unter bestimmte Oberkategorien fallen. Solche Kategorien sind etwa positive/negative Relation, parataktische/hypotaktische Relation, ideationale/interpersonelle Relation etc. Diese Annahme wird durch Untersuchungen des Spracherwerbs bei Kindern gestützt. Hypotaktische Relationen spiegeln die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Nukleus und Satellit wider: bei Nuklei handelt sich eher um die Hauptgedanken des Textes (den „roten Faden“) als bei Satelliten. 8.8 Leseempfehlungen Allgemeine Einführungen in die Textlinguistik sind Brinker (2001) sowie Heinemann & Viehweger (1991). Brown & Yule (1983) besprechen ausführlich Kohärenz als einen Aspekt der Textrepräsentation. Referentielle Kohärenz wird in unterschiedlichen Ansätzen behandelt – ein wesentlicher Ansatz wird in Grosz & Sidner (1986) dargestellt. Du Bois (1980) behandelt, wie Referenten unterschiedlich stark im Vordergrund stehen und deshalb in unterschiedlichem Maße zugänglich sind. Vonk, Hustinx & Simons (1992) stellen experimentelle Untersuchungen zur Segmentierungsfunktion überspezifizierter Nominalphrasen dar. Ushie (1986) untersucht späte Indefinita. Mann & Thompson (1988) ist eines der einflussreichsten Werke zur relationalen Kohärenz. Traugott & König (1991) analysieren unterspezifizierte Kohärenzrelationen. Sanders, Spooren & Noordman (1992) diskutieren, wie Kohärenzrelationen zu Kategorien zusammengefasst werden können. Van Dijk & Kintsch (1983) behandeln hierarchische Aspekte der Textstruktur im Rahmen der Textlinguistik und Psycholinguistik. Martin (1992) diskutiert Textsorten und weitere Aspekte der Textstruktur im Rahmen der funktionalen Linguistik. 212 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 8.9 Aufgaben 1. Für bekannte und stark im Vordergrund stehende Referenten werden häufig Pronomen verwendet. Für weniger bekannte und nicht so sehr im Vordergrund stehende Referenten werden eher Nomina verwendet. Welche Ausdrücke würden Sie aufgrund dieses Zusammenhangs in den folgenden Beispielen erwarten? Begründen Sie Ihre Wahl. (i) Ein neunzigjähriger Mann und eine achtzigjährige Frau saßen auf einer Parkbank. Sie/Das Paar liebten/liebte sich innig. Dr. Müller sagte, mehr Bewegung würde mir schon helfen. Wenn sie/die Frau Doktor das sagt, glaube ich ihr das auch. (ii) 2. Durch welche sprachlichen Mittel werden im folgenden Textauszug relationale Kohärenzbeziehungen angezeigt? Es wäre praktisch, ein narrensicheres Mittel zur Erkennung der Giftpilze zu haben, etwa einen Teststreifen, wie man ihn zur Erkennung von Zucker im Urin verwendet, der sich dann beim Eintauchen in ein giftiges Pilzgericht rötlich färben würde. Aber einen solchen Indikator gibt es nicht, und was man früher anwendete, um vermeintlich ein giftiges Pilzgericht als solches zu entlarven, ist längst als Aberglaube erkannt worden. Man glaubte z.B., das Schwarzwerden eines silbernen Löffels oder einer mitgekochten Zwiebel sei ein sicherer Hinweis darauf, daß das Pilzgericht giftig sei. Weder übertriebene Ängstlichkeit noch fahrlässiger Leichtsinn sind am Platz. In alten Kochbüchern liest man z.B. die Anweisung, daß sogar der (irdene) Topf, in dem das giftige Gericht zubereitet wurde, zerschlagen werden müsse, damit seine weitere Verwendung nicht zu Gesundheitsstörungen führe. Der wichtigste Grundsatz ist wohl der, daß man nur solche Pilze zu Speisezwecken sammelt, die man ganz sicher kennt. Arten, die nicht einwandfrei zu identifizieren sind, verwende man nur dann, wenn sie einer Pilzberatungsstelle vorgelegt und dort als eßbar bezeichnet wurden. Solche Beratungsstellen gibt es an vielen Orten in der Bundesrepublik Deutschland. Man kann sie am zuständigen Landratsamt erfragen. (Neuner, Andreas. 1976. BLV Naturführer Pilze. München: BLV) 3. Analyse zu referentieller Kohärenz: a. b. Analysieren Sie die folgenden Texte A und B im Hinblick auf referentielle Kohärenz. Unterstreichen Sie dazu jeweils alle referentiellen Ausdrücke des Textes (Pronomen und vollständige Nominalphrasen). Kennzeichnen Sie diese danach, ob sie neue Informationen einführen (N) oder Informationen geben, die bereits eingeführt (E) wurden. Welche dieser referentiellen Ausdrücke sind exophorisch (EX) , welche endophorisch (EN)? Welche sind Beispiele für kataphorische (K), welche für anaphorische (A) Referenz? c. d. e. TEXTLINGUISTIK 213 f. Welche endophorischen Elemente stehen im Vordergrund der Aufmerksamkeit, welche nicht? Gibt es referentielle Ausdrücke, die den Zusammenhang zwischen sprachlicher Form und Prominenz aufbrechen? Wie kann der Leser diese dann interpretieren? A. Goldbrasse in reduzierter Weißwein-Buttersauce (für 4 Personen) 4 1/8 l 2 EL 1 kleine Goldbrassen, ca. 350g bis 400g kräftigen, trockenen Weißwein Butter Schalotte, feingehackt Salz, Pfeffer Die Goldbrasse - französisch Dorade Royal, auf italienisch Orata - hat kräftige Schuppen, die im Fischgeschäft bereits entfernt werden sollten, auch muß man beim Fischhändler darauf bestehen, daß das Tier ausgenommen ist. Zu Hause den Fisch waschen und noch mal gründlich reinigen, trockentupfen, pfeffern, salzen und mit etwas Butter auf kleinem Feuer langsam braten, auf jeder Seite ca. sieben Minuten. Hat man zur Pfanne einen genügend hohen Deckel, so geht alles schneller und man benötigt jeweils fünf Minuten für jede Seite. Wenn der Fisch auf der einen Seite fertig ist, gibt man die kleingeschnittene Schalotte hinzu. Normalerweise ist es nicht so wichtig, ob man Schalotte oder Zwiebel verwendet, aber in diesem Fall schon. Die Goldbrasse ist einer der teuersten und besten Fische überhaupt. Es kommt auf Kleinigkeiten an. Es kommen auch keine überdeckenden Aromen oder Gewürze zum Einsatz. Beginnen die Schalotten braun zu werden, so wird mit dem Weißwein abgelöscht. Wenn die Garzeit erreicht ist, sollte in der Pfannen höchstens drei Eßlöffel Flüssigkeit sein. Den Fisch herausnehmen und warmhalten. Nun wird die Energie auf Maximal gestellt und in den heftig kochenden Fond werden einige Butterflocken gerührt, bis dieser sämig ist. Mehr braucht es zu diesem Rezept nicht, der wunderbare Fisch spricht für sich selbst. Am liebsten esse ich diesen raren Fisch mit Baguette-Brot. (Rezept von Vincent Klink, Restaurant Wielandshöhe Stuttgart zur Sendung „Südwestfunk: Service inclusive - Fisch im Sommer“ vom 18. Juni 1997. ) B. Enthüllt: Das Elch-Komplott Das Böse kommt aus dem hohen Norden. Im Zeichen des Elchs entzweit es Paare, zerstört Beziehungen, vernichtet Heiratspläne. Früher oder später führt jede Liebe ins Herz der Finsternis: in das freundliche Einrichtungshaus, in dem die Regale Billy heißen oder Suflör oder Jonglör und die Kinderbetten Gutvik. Und was gemeinsam ausgesucht und nach Hause transportiert wurde, will natürlich auch gemeinsam aufgebaut werden. Laut Ikea kein Problem: „Macht Spaß und spart: Selbermachen!“. Doch hinter Billys harmloser Holzfassade lauert die gebohrte Heimtücke. Im Labyrinth der Schraubenpläne keimen Streit, Haß und Verachtung. Das Mädchen sieht zu, wie der fluchende Junge die Grundelemente zusammenschraubt. Von Zeit zu Zeit reicht sie ihm das Nötige: Hammer, Muttern, Bauanleitung. Ihre Bewunderung kennt keine Grenzen. Dann aber zeigt der Regalboden 214 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT die falsche Seite, Sperrholz splittert, und auch die Liebe beginnt zu bröckeln wie Smörebröd vor Spitzbergen. Also alles wieder auseinanderbauen, kleine Schraubenhaufen aufschichten und noch mal von vorne anfangen. Spätestens jetzt liegen die Nerven blank. Der Junge schreit, das Mädchen weint, und Billy fällt auseinander. Kein Mädchen möchte einen Jungen, der zu blöd ist, ein Ikea-Regal aufzubauen. Kein Junge will eine Freundin, die nicht weiß, was ein Imbusschlüssel ist. Wo die Nut nicht paßt, paßt plötzlich gar nichts mehr. Das ist die Mission der Elche aus Stockholm. Sie reiben sich die Hufe und zählen ihr Geld: denn auch das neue Single-Leben beginnt immer wieder – bei Ikea. (Aus: Jetzt/SZ Nr. 46, 10.11.97, S.1) 4. Mündliche Erzählung einer Siebenjährigen: „Ein kleiner Junge hat schon mal meine Schwester gehauen. Der hat schon einmal eine Uhr kaputt gemacht, eine Spieluhr, ne. Dann hat de die angerotzt. Und dann hat die den ge~ ... verkloppt. Und dann hat die... hm ... Petra den Tornister festgehalten. Und dann ist die wieder zurückgekommen. Dann hat die hier... hm.. Lippe aufgehabt. Dann hat sie den Tornister aufge~ ... aufgetan. Und dann is sie nach Hause gegangen. Da hat ... Da kam mein Vater. Und da hat die... mei~ ... die Doris gesagt: Papa, der Junge hat mir meine Uhr kaputt gemacht.“ Und da hat die die Lippe aufgehabt. Und da ... Papa hat gesagt: Wer war dat? Da hat die gesagt: Das war ein Junge. Der hat die angerotzt. Und da hat die Doris den eine reingehauen. Da hat die Frau gesagt: Du sollst abhauen. Da ist die abgehauen. Da ist die zur Petra gegangen und hat den Tornister geholt. Und dann isse nach Hause gegangen.“ (Korpus Kindersprache, Universität Duisburg, 1989: Wie sich einmal zwei gezankt haben, Sylvia F. (A5) Versuchen Sie, das beschriebene Ereignis in einem eigenen Text wiederzugeben. Beschreiben Sie die textlinguistischen Unterschiede zum Text der siebenjährigen Sylvia. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? KAPITEL 9 Sprache im Wandel der Zeiten: Historische Sprachwissenschaft 9.0 Überblick Bisher haben wir uns in diesem Buch mit verschiedenen sprachlichen Formen und dem Sprachgebrauch in der Gegenwart beschäftigt. In diesem Kapitel über historische Sprachwissenschaft wollen wir nun genauer betrachten, wie sich Sprache mit der Zeit wandelt. Die Veränderungen in einer Sprache – wie zum Beispiel im Deutschen – lassen sich nur begreifen, wenn man zunächst einmal in Betracht zieht, dass es nicht eine homogene deutsche Sprache gibt, sondern viele verschiedene Arten Deutsch. Die deutsche Standardsprache ist – wie jede andere Sprache auch – durch altersspezifische, soziale, regionale und ethnische sprachliche Varianten beeinflusst. Jede dieser Sprachvarietäten kann neue Formen und Bedeutungen in die Standardsprache einbringen, und andererseits können althergebrachte mit der Zeit verloren gehen. Wenn solche Prozesse von vielen Sprechern über einen längeren Zeitraum angenommen werden, kann man bei diesen Veränderungen von Sprachwandel sprechen. Wenn wir uns einen Text aus einer früheren Epoche in der Geschichte der deutschen Sprache ansehen (z.B. einen mittelhochdeutschen Text), werden wir überrascht feststellen, dass wir immer noch sehr vieles verstehen können. Mithilfe von Übersetzungen und Erklärungen zu einzelnen Wörtern oder Phrasen werden wir sogar einen großen Teil der Bedeutung erschließen können. Bei älteren Texten, die in Althochdeutsch verfasst wurden, gelingt es uns nicht mehr so einfach, deren Bedeutung zu verstehen. Wir sind dann überwiegend auf eine vollständige Übersetzung des Textes ins Neuhochdeutsche angewiesen. Wenn wir aber so weit zurückgehen, dass keinerlei schriftlichen Zeugnisse überliefert sind, die Aufschluss über die Sprache zu der entsprechenden Zeitperiode geben könnten, versucht die historische Sprachwissenschaft, die ersten und frühesten Vorläufer einer Sprachgruppe zu rekonstruieren – so zum Beispiel den Urahn aller germanischen Sprachen, Urgermanisch, oder sogar den Vorläufer nahezu aller Sprachen, die von Indien bis Westeuropa gesprochen werden, nämlich Urindoeuropäisch. Solchen Rekonstruktionen legt man das so genannte Prinzip der regelmäßigen Lautentsprechung zugrunde, nach dem Sprachwandel in allen Fällen auftritt, in denen ganz bestimmte Bedingungen für diesen Wandel erfüllt sind. Da man sich alle sprachlichen Ausdrücke als Kategorien vorstellen kann und jede Kategorie, sei es nun ein Phonem, ein Wort, ein Morphem oder eine 216 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT syntaktische Konstruktion, als sternförmiges Netzwerk strukturiert ist, können wir Sprachwandel auch genauer bestimmen. Sprachwandel kann innerhalb solcher sternförmiger Netzwerke, zwischen Netzwerken oder in unseren abstraktesten Repräsentationen ganzer Kategorien, d.h. innerhalb von so genannten Schemata auftreten. Viele Veränderungen entstehen durch Analogiebildungen, wenn nämlich Lautungen, Formen und Bedeutungen assoziativ dem Vorbild vergleichbar strukturierter Wörter nachgebildet werden. Schließlich stellt sich noch die Frage nach der Ursache für sprachlichen Wandel. Eine Varietät kann in einem bestimmten Zeitabschnitt ein hohes Ansehen oder Prestige genießen, so dass Formen und Bedeutungen dieser Varietät sowohl in andere Varietäten als auch in die Standardsprache Einzug halten können. Doch auch wenn alle Voraussetzungen für einen Sprachwandel gegeben sind, muss er nicht notwendigerweise auch eintreten und kann deshalb nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. 9.1 Sprachwandel und Sprachvariation Sprachwandel hängt sehr eng mit sprachlicher Variation zusammen. Eine Sprache ist kein homogenes und einheitliches System, sondern umfasst viele, mehr oder weniger voneinander abweichende Teilsysteme, die man als Varietäten dieser Sprache bezeichnet. Unter einer Varietät versteht man die Gesamtmenge an phonologischen, morphologischen, lexikalischen und grammatischen Charakteristika einer gemeinsamen Kernsprache, wie sie von einer bestimmten Untergruppe von Sprechern verwendet wird. Hier lassen sich regionale Varietäten oder Dialekte unterscheiden. In der Sprachwissenschaft wird der Terminus Dialekt gelegentlich nicht nur auf regionale Varietäten bezogen verwendet, sondern auch als Synonym für Varietät überhaupt. Ein regionaler Dialekt wird auch als Regiolekt bezeichnet, bestimmte Gruppen der Gesellschaft sprechen ihre eigenen Soziolekte, Varietäten ethnischer Gruppen bezeichnet man als Ethnolekte. Weiterhin gibt es auch altersspezifische Varietäten. Die sprachlichen Besonderheiten eines einzelnen Sprechers bezeichnet man als Idiolekt. Die Standardvarietät einer Sprache wie Deutsch ist zumeist ein bestimmter Soziolekt und Regiolekt, der sozial hoch eingestuft wird. Eine standardsprachliche Varietät wie das Hochdeutsche wird meist in der Verwaltung, staatlichen Einrichtungen, bei Gericht und im Parlament gesprochen. Sie ist die Grundlage für die Schriftsprache und wirkt damit in gewisser Weise normativ für die Gebiete Syntax, Morphologie und Lexikologie teilweise auch benachbarter, sozial weniger hoch angesehener Varietäten. Sie umfasst auch die Standardlautung einer Sprache. Aus den Varietäten der verschiedenen Teilgruppen werden nicht selten sprachliche Elemente von anderen Gruppen übernommen. Wenn auf diese Weise eine bestimmte sprachliche Einheit (Phonem, Lexem, Morphem oder auch Konstruktion) von der größeren Sprachgemeinschaft übernommen wird, dann spricht man von Sprachwandel. Dies ist auch der Fall, wenn sprachliche Elemente mit der Zeit als veraltet angesehen und dann aufgegeben werden. Veränderungen kommen hauptsächlich durch den Einfluss der unterschiedlichen Varietäten zu- HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 217 stande; sie können allerdings auch andere Ursachen haben, auf die wir in diesem Kapitel ebenfalls genauer eingehen werden. Im Hinblick auf mögliche Sprachwandelerscheinungen sind altersspezifische Unterschiede in der Sprachverwendung sehr wichtig. Insbesondere an der Verwendung von Wörtern lassen sich Unterschiede zwischen den Generationen von Sprechern innerhalb einer Sprachgemeinschaft erkennen: ältere Sprecher verstehen natürlich auch die Sprache von Jugendlichen, verwenden aber bestimmte Ausdrücke selbst nicht. Jugendliche wollen sich nicht so alt und etabliert anhören wie ihre Eltern und verwenden oft neue Ausdrücke, die diese teilweise nicht kennen. Übersicht 1. Möglicher Sprachwandel bei lexikalischen Einheiten Formen (En)tschuldigung! Verzeihung! Sorry! sehr voll ungemein höchlichst aktiv + Jugendliche passiv unbekannt + aktiv + (+) + + + Ältere passiv unbekannt + (+) + + (+) + + + + + Übersicht 1 zeigt anhand von zwei Beispielen, wie es zu einem möglichen Wandel kommen könnte. Während sowohl jugendliche als auch ältere Sprecher in der gesprochen Sprache Entschuldigung aktiv verwenden, ist Verzeihung auch bei älteren Sprechern selten geworden und wird von Jugendlichen zwar verstanden, aber nicht selbst verwendet. Sie verwenden neuerdings die aus dem englischen entlehnte Form Sorry!, die vielen der älteren Generation noch unbekannt ist. Gerade in solchen Übergangssituationen besteht die Möglichkeit eines sprachlichen Wandels. Irgendwann wird vielleicht Verzeihung überhaupt nicht mehr auftreten und Sorry im Allgemeinwortschatz eingebürgert worden sein. Ähnliches trifft auf die Verwendung von ungemein bzw. voll zur Verstärkung von Adjektiven zu. Ungemein wird von Teenagern überhaupt nicht mehr verwendet, während voll von ihren Großvätern noch kaum verstanden wird. Die alte Form höchlichst wird von beiden Generationen weder aktiv verwendet noch verstanden, sie ist aus dem alltäglichen Sprachgebrauch verschwunden. Obwohl die Sprecher einer Sprache verschiedenen Generationen angehören, aus den unterschiedlichsten Regionen stammen und unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen angehören, können sie sich untereinander verständigen und gegenseitig verstehen, auch wenn es gelegentlich etwas Mühe erfordern mag. Die Muttersprachler einer Sprache beherrschen offenbar nicht nur ihre eigene Varietät sowie auch die Standardvarietät, die oft in der Schule erlernt wird, sondern passiv auch noch eine ganze Reihe weiterer Varietäten. Diese Fähigkeit bezeichnet man als pandialektale Kompetenz. Sie betrifft nicht nur regionale, 218 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT sondern auch historische Varietäten, wenn diese in nicht allzu weiter zeitlicher Ferne liegen. Die große Bedeutung von Sprachvarietäten beim Sprachwandel lässt sich beispielsweise an der Entwicklung der romanischen Sprachen (wie Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch) erkennen. Das späte Latein oder Frühromanisch, das vor der Aufspaltung in die verschiedenen romanischen Sprachen gesprochen wurde, hat sich aus einer sozialen Varietät des Lateins entwickelt, nämlich aus der Umgangssprache der römischen Soldaten. Diese wurde im Volk gesprochen und umfasste viele regionale Varietäten (siehe Kapitel 10, Übersicht 6). Die verschiedenen Regiolekte des Vulgärlateins sind teilweise auf den Kontakt römischer Soldaten und Beamten mit den Sprechern der verschiedenen keltischen Sprachen und Kulturen in den Gebieten Europas zurückzuführen, die Teil des Römischen Reiches wurden oder es zu diesem Zeitpunkt bereits waren. So lernten z. B. die Sprecher in Gallien (dem heutigen Frankreich, Belgien und der Schweiz) das Vulgärlatein, behielten aber viele der Aussprachegewohnheiten sowie Elemente der Netzwerke von Wörtern, Morphemen und grammatischen Konstruktionen so bei, wie sie diese aus ihren keltischen Muttersprachen kannten, und übernahmen diese mit in die neue Varietät des Lateins. Spätere Generationen lernten dann nicht mehr Keltisch als Muttersprache, sondern ausschließlich eine lateinischromanische Varietät, die durch das Keltische stark beeinflusst worden war. Wenn Aspekte einer Erstsprache (wie hier des Keltischen) auf die neue Sprache (das Latein der Besatzer) einen starken Einfluss ausüben, spricht man von einem Einfluss durch ein Substrat (in unserem Fall von einem Einfluss durch ein keltisches Substrat). Neben sozialen und regionalen Unterschieden spielt auch der zeitliche Faktor eine wesentliche Rolle. In Italien und Rumänien, wo ostromanische Sprachen gesprochen wurden, hatte die Entwicklung neuer Varietäten des Lateinischen viel früher begonnen als in der Gruppe der westromanischen Sprachen (insbesondere früher als im Spanischen, Portugiesischen und Französischen). Bis zu einem gewissen Grade kann man sagen, dass es sich bei diesen Sprachen um Ethnolekte des späten Vulgärlateins handelt. Später wurden die westromanischen Provinzen (das heutige Frankreich, Teile von Spanien, Belgien sowie Norditalien) von germanischen Stämmen besetzt, die schließlich dort siedelten. Die germanischen Sprachen der Besatzer beeinflussten in der Folge die dort gesprochenen westromanischen Sprachen. In einem solchen Fall spricht man von einem Einfluss durch ein Superstrat (nämlich durch die Sprachen der germanischen Besatzer). Diese Varietäten des Germanischen brachten neue Wörter, Phoneme und sogar grammatische Strukturen in das in den westromanischen Provinzen gesprochene Vulgärlatein ein, bevor sie dann mit der Zeit selbst untergingen. In diesem Zusammenhang stellt sich nun ein schwieriges Problem: die ersten Texte in diesen neuen romanischen Varietäten oder Sprachen sind erst mit dem 9. Jahrhundert n. Chr. belegt. Wie kann man jetzt feststellen, wann genau die verschiedenen gesprochenen Varietäten des Lateinischen zu gesprochenen Varietäten des Romanischen wurden? Jeder geschriebene Text, der spätes gesprochenes Latein als gesprochenes Frühromanisch wiedergibt, würde immer als „schlechtes Latein“ angesehen, denn diese ganze Zeit über galt die versteinerte Form des klassischen Lateins oder selbst das nicht-klassische Vulgärlatein der HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 219 Bibel als permanenter Standard, an dem man alle Varietäten des Lateins messen muss. So gesehen konnte für einige Jahrhunderte kaum ein romanischer Text entstehen, weswegen wir lediglich über einige wenige Schriftzeugnisse verfügen, die Erkenntnisse über das frühe Urromanisch überhaupt zulassen. Dennoch gibt es gesicherte Hinweise darauf, dass in einer Reihe von Fällen der „Slang“ der Soldaten sich gegenüber der klassisch-lateinischen Bezeichnung für einen bestimmten Referenten durchgesetzt und damit überlebt hat. Das französische Wort tête ‚Kopf‘ stammt vom Spätlateinischen testa ‚Krug‘, eine in der Sprache der Soldaten umgangssprachliche Bezeichnung für „Kopf“. Es handelt sich um eine Metapher in Kombination mit einer Metonymie: ein Krug ist ein prototypisches Gefäß, das für den Behälter für die geistigen Inhalte eines Menschen steht, d.h. für seine Erfahrung und sein Wissen. Diese testa-Metapher drängte im Französischen den Gebrauch des klassischen caput mit der Zeit in den Hintergrund. In anderen Regionen bestand das klassisch-lateinische caput fort und bildete die Vorstufe für das spanische capeza. 9.2 Methoden der historischen Sprachwissenschaft Wenn man Erkenntnisse über ältere Stufen einer Sprache bzw. über Veränderungen in dieser Sprache gewinnen will, kann man in der historischen Sprachwissenschaft auf zwei unterschiedliche Methodenansätze zurückgreifen – je nachdem, welche Art von Daten für eine Untersuchung zur Verfügung stehen. Sind Schriften überliefert, dann kann die philologische Methode angewandt werden. Sind hingegen keine schriftlichen Zeugnisse vorhanden, kann man ältere Sprachformen nur auf der Basis von Vergleichen durch die Methode der internen Rekonstruktion erschließen. In der Philologie beschäftigt man sich mit schriftlichen Zeugnissen wie Sachund Gesetzestexten, literarischen und auch religiösen Werken, persönlichen Briefen sowie vielfältigen anderen Textsorten. Es können auch sehr kurze Texte zugrunde gelegt werden, wie z.B. Inschriften auf Grabsteinen, an Häusern etc. Gleich um welche Textsorte oder welchen Inhalt es sich handelt, Philologen unternehmen den Versuch, die jeweiligen sprachlichen und kulturellen Informationen, die sich ihnen in diesen Texten darbieten, zu erschließen und zu interpretieren. Sprachen befinden sich zwar in einem steten Wandel, sprachgeschichtlich gesehen besteht aber zugleich eine große Kontinuität. Wir können nicht nur sehr viele Texte verstehen, die ca. 400 Jahre alt sind, wie etwa die Werke Luthers, sondern zu einem gewissen Grad auch noch Texte, die annähernd 800 Jahre alt sind, wie z.B. den Ausschnitt aus dem Nibelungenlied (um 1200 n. Chr.) in (3). Erinnern wir uns hier an eine der zentralen Thesen Whorfs, nämlich dass Sprachen ihren Sprechern gewohnheitsmäßige Muster nahe legen. Während viele Aspekte einer Kultur wie Sitten und Gebräuche, Lebenseinstellungen, Normen und Werte usw. einem sehr starken Wandel unterliegen, ist die Sprache nach Whorfs Relativitätshypothese (siehe Kapitel 6.1.1) so stark im Bewusstsein der Menschen verankert, dass sie sich mit der Zeit nur sehr langsam wandelt. Selbst einen mittelalterlichen Text wie das Nibelungenlied können wir inhaltlich auch in 220 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT seinen Einzelheiten noch nachvollziehen, auch wenn wir einige Wörter und grammatische Aspekte in historischen Wörterbüchern bzw. Grammatiken nachschlagen müssten. (1) Ein mittelhochdeutscher Text: Das Nibelungenlied (um 1200): 1. Âventiure In der ersten Âventiure des Nibelungenliedes werden die burgundische Königsfamilie und Kriemhilt vorgestellt. Kriemhilt erzählt ihrer Mutter, der Königin Ute, von ihrem Falkentraum, den Ute dann für Kriemhilt deutet. 1 2 3 4 5 6 7 13 14 15 Uns ist in alten mQren wunders vil geseit von helden lobebQren von grôzer arebeit von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen von küener recken strîten muget ír nu wunder hoeren sagen. viel Wunderbares ruhmwürdig; Mühe, Kampf Festen Ritter Es wuohs in Búrgónden ein vil édel magedîn, daz in allen landen niht schøners mohte sîn, Kríemhílt geheizen: si wart ein scøne wîp. dar umbe muosen degene vil verlíesén den lîp. so schön, dass Prät. werden: wurde später verlieren Der minneclîchen meide triuten wol gezam. ir muoten küene recken, niemen was ir gram. âne mâzen schøne sô was ir edel lîp. der juncvrouwen tugende zierten ándériu wip. geziemte; geliebt zu werden ihrer begehrten (mit Gen.) metonymisch: sie Konj. Prät.: hätten geziert Prät. zu pflegen: sorgen für Ir pflâgen drîe künege edel unde rîch, Gunther unde Gêrnôt, di recken lobelîch, und Gîselher der junge, ein ûz erwelter degen. diu frouwe was ir swester, di fürsten hetens in ir pflegen. in ihrer Obhut Die herren wâren milte, von arde hôh erborn. mit kraft unmâzen küene, di recken ûz erkorn. dâ zen Búrgónden sô was ir lant genannt. si frumten starkiu wunder sît in Étzélen lant. freigiebig; von hoher Art Ze Wormez bî dem Rîne si wonten mit ir kraft. in diente von ir landen vil stolziu ritterscaft mit lobelîchen êren unz an ir endes zît. si stúrben sît jQmerlîche von zweier edelen frouwen nît. Machtfülle Ein rîchiu küneginne, frou Uote ir muoter hiez. ir vater der hiez Dancrât, der in diu erbe liez sît nâch sîme lebene, ein ellens rîcher man, der ouch in sîner jugende grôzer êren vil gewan. ----------------------------------------------------------------In disen hôhen êren tróumte Kriemhildè, wie sie züge einen valken, starc scøn' und wildè den ir zwêne arn erkrummen. das si daz muoste sehen: ir enkunde in dirre werlde leider nímmér gescehen. Den troum si dô sagete ir muoter Úotèn. sine kúndes niht besceiden baz der gúotèn: «der valke den du ziuhest, daz ist ein edel man. in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân». Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn? âne recken mínne sô wil ich immer sîn. sus scøn´ ich wil belîben unz an mînen tôt, daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt.» vollbrachten; später bis später; Neid Länder und Schätze reich an Stärke, Tapferkeit höfischen Umgebung Adler; zerfleischten konnte kein größeres Leid erklären wenn nicht; bald bis HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 221 16 17 18 19 «Nu versprich ez niht ze sêre», sprach aber ir muoter dô. «soltu ímmer herzenlîche zer werlde werden vrô, daz gesciht von mannes minne. du wirst ein scøne wîp, ob dir noch got gefüeget eins rehte guoten ritters lîp.» «Die rede lât belîben», sprach si, «frouwe mîn. ez ist an manegen wîben vil dicke worden scîn wie liebé mit leide ze jungest lônen kan. ich sol si mîden beide, sone kán mir nimmer missegân.» Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac. sît lebte diu vil guote vil manegen lieben tac; daz sine wesse niemen, den minnen wolde ir lîp sît wart si mit êren eins vil küenen recken wîp. Der was der selbe valke, den sî in ir troume sach, den ir besciet ir muoter. wi sêre si daz rach an ir nQhsten mâgen, die in sluogen sint! durch sîn eines sterben starp vil maneger mouter kint. heftig widersprechen falls; zuteil werden lässt schließlich bezahlt wird Gemüt; verzichtete auf hier: seitdem deutete; rächte Verwandten; sît: später um ... willen (mit Gen.) (nach de Boor 1965) An diesem Ausschnitt aus dem Nibelungenlied (3) fallen uns bereits auf den ersten Blick einige Unterschiede zum Neuhochdeutschen auf, die der Klärung bedürfen. • Für ein und denselben Laut in gleicher Lautumgebung werden verschiedene Schreibweisen verwendet: für [S] steht sowohl <sc> wie in scøne (V.2,3) als auch <sch> in schøne (V.3,3). • In einigen Wörtern wurden Phonemfolgen zusammengezogen (kontrahiert), es können dann sowohl kontrahierte, als auch nicht kontrahierte Formen auftreten: z.B. geseit (V.1,1) < gesaget, sîme (V. 6,3) < sineme, vloren (V.14,4) < verloren. • Schwach betonte Funktionswörter können sich an unmittelbar benachbarte, betonte Formen anlehnen (Ergebnis sind sog. klitische Formen): zen (V.5,3) < ze den, sine kundes (V.14,2) < si ne kunde ez. • Wo heute Diphthonge vorkommen, finden sich gelegentlich Monophthonge, z.B. sîn (2,2) > sein, bî (V.6,1) > bei, nît (V.6,4) > Neid. Bereits die Orthographie in Texten einer früheren Sprachstufe gibt also einige Hinweise auf sprachliche Formen, die sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. Kontrahierte ebenso wie klitische Formen deuten darauf hin, dass die Schreibung im Mittelhochdeutschen in hohem Maße phonologisch ist. Die Zuordnung zwischen Schreibweise und Aussprache lässt sich also rekonstruieren, indem man beispielsweise frühere Dialektstufen mit in Betracht zieht. Obwohl es keine Tondokumente aus dem Mittelalter gibt, hat man eine recht genaue Vorstellung von der Phonologie des Mittelhochdeutschen gewinnen können. Man kann also mittelhochdeutsche Texte auch aussprechen und sich moderne Rezitationen auf Schallplatte anhören. Die historische Sprachwissenschaft versucht also, anhand von Texten Aufschluss über die verschiedenen Aspekte einer Sprache in einer bestimmten Zeitperiode zu bekommen, und leitet aus diesen Erkenntnissen eine Grammatik für diese geschichtliche Periode ab (z.B. eine mittelhochdeutsche Grammatik). In 222 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT einer solchen Grammatik werden unter anderem die unterschiedlichen Verbformen dargestellt. Im Ausschnitt aus dem Nibelungenlied (1) finden wir Beispiele für Verben, die auf unterschiedliche Weise ihre Vergangenheitsformen bilden. Einerseits gibt es Verben, deren Formen des Präteritums durch einen so genannten Vokalablaut gebildet werden. Dabei variiert der Vokal im Verbstamm über die vier Formstufen Präsens, 1. Person Präteritum Singular bzw. Plural und Partizip Präteritum. (2) Die Klasse der starken Verben im Mittelhochdeutschen Klasse Infinitiv (1. Pers. Präs. Sg) Ia schrîben (schribe) Ib lîhen (lihe) IIa liegen (liuge) IIb ziehen (ziuhe) V.13,2 IIIa singen (singe) IIIb sterben (sterbe) IV rechen (reihe) V pflegen VI wahsen VII heizen (heize) Präteritum Singular schreip lêch louc zôch Präteritum Plural schriben liehen lugen zugen Partizip Präteritum sang starp(V.2,3) rach (V.19,2) pflac wuohs (V.2,1) hiez (V.6,1) sungen sturben (V.6,4) râchen pflâgen (V.4,1) wuohsen hiezen gesungen (ge-)storben gerochen gepflegen gewahsen geheizen (2,3) geschriben geliehen gelogen gezogen Man bezeichnet diese Verben nach Jakob Grimm als starke Verben. Je nach Art des Vokalablautes und der Lautumgebung im Verbstamm lassen sich starke Verben in so genannte Ablautklassen (auch Ablautreihen genannt) einteilen. Die Übersicht in (2) enthält auch einige kursiv hervorgehobene Beispiele für starke Verben aus unserem Textabschnitt. Für jede einzelne Ablautreihe lassen sich dann genau die phonologischen Bedingungen bestimmen: (3) Phonologische Bedingungen des Ablauts bei starken Verben: Klasse Ib Ia IIb IIa IIIa IIIb IV V VI VII Vokalablaut phonologische Umgebung (Singer 1996) /î/ - /ê/ - /î/ - /i/ /-i + germ *h, r, w -/ /î/ - /ei/ - /i/ - /i/ /-î + SONST-/ /ie/, /iu/ - /ô/ - /u/ - /o/ /-ie + germ *h, t, d, s, z, n, l, r -/ /ie/, /iu/ - /ou/ - /u/ - /o/ /ie + SONST-/ /i/ - /a/ - /u/ - /u/ /-i + m/n +Kons.-/ /ë/, /i/ - /a/ -/u/ - /o/ /-e + l/r +Kons./ /ë/, /i/ - /a/ -/â/ - /o/ /-e +m, n, l, r -/ /ë/, /i/ - /a/ -/â/ - /ë/ / ë +Kons.(außer m, n, l, r)-/ /a/ - /uo/ - /uo/ - /a/ /a/ /a,â,ei,ô,uo/- /ie/ - /ie/ - /a,â,ei,ô,uo/ /a,â,ei,ô,uo/ HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 223 Alle übrigen Verben ohne vokalische Variation im Verbstamm bezeichnet man als schwache Verben. Im Mittelhochdeutschen wie auch im Neuhochdeutschen werden das Präteritum und das Partizip I schwacher Verben durch Zusatz eines Dentallautes t bzw. -et gebildet. Im Germanischen gab es noch drei Klassen schwacher Verben, die aber bereits im Althochdeutschen und später im Übergang zum Mittelhochdeutschen durch lautliche Veränderungen in einer einzigen Klasse zusammengefallen sind: (4) Schwache Verben im Mittelhochdeutschen Infinitiv (Präs. Sg) Prät. Singular Prät. Plural Partizip Prät. leben lebeten gelebet lebete Die historische Sprachwissenschaft versucht nun beispielsweise, Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wie der Gebrauch starker Verben im Nibelungenlied mit dem gegenwärtigen System der starken deutschen Verben in Zusammenhang steht. Wie viele der ehemals starken Verben wie pflegen (pflac, gepflogen) sind im heutigen Deutsch zu schwachen, d.h. regelmäßigen Verben (pflegen, pflegte, gepflegt) geworden? Wo finden sich veränderte Formen, die in Analogie zu anderen bestehenden Formen gebildet wurden (siehe weiter unten)? Inwieweit unterscheidet sich der Gebrauch des Mittelhochdeutschen im Nibelungenlied von anderen Varietäten, die zur selben Zeit gesprochen und geschrieben wurden? Bereits unsere kurze Betrachtung des Ausschnitts aus dem Nibelungenlied hat gezeigt, dass die historische Sprachwissenschaft anhand alter Texte eine ganze Reihe von Erkenntnissen über Schreibung, Aussprache und Grammatik der betreffenden Sprachstufe gewinnen kann. Sind jedoch keine schriftlichen Zeugnisse überliefert, so versucht man in der historischen Sprachwissenschaft, durch die Untersuchung der frühesten dokumentierten Stadien verwandter Sprachen und durch Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden auf eine frühere Sprachstufe rückzuschließen und so eine gemeinsame Ursprache zu rekonstruieren. Man wendet die Rekonstruktionsmethode an. Bei der Rekonstruktion einer früheren Sprachstufe folgt man einer Reihe von Grundprinzipien, die mit der Struktur von Sprachen in Zusammenhang stehen. Eine wesentliche Grundannahme ist, dass Gruppen von Sprachen miteinander genetisch verwandt sind (siehe Kapitel 10), d.h. sie haben sich mit der Zeit aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt. Solche Gruppierungen bezeichnet man als Sprachfamilien, die ihrerseits aus Sprachgruppen bestehen. Räumlich am weitesten verbreitet ist die indoeuropäische Sprachfamilie. Sie umfasst indische und iranische wie auch europäische Sprachen wie Latein, Griechisch, die romanischen, slawischen und germanischen Sprachen u.a. Durch einen Vergleich von Wortformen hat man sowohl Formen des Germanischen als auch des Indoeuropäischen rekonstruieren können. Die Übersicht in (5) zeigt zum einen die enge Verwandtschaft von Wortformen und zum anderen lautliche Veränderungen in der Entwicklung vom Indoeuropäischen zum Germanischen (rekonstruierte Formen werden durch ein *Sternchen markiert). Der Lautwandel 224 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT lässt sich nach den Veränderungen in drei Gruppen a), b) und c) zusammenfassen, die in (5) dargestellt werden. (5) a. b. c. Lautwandel vom Indoeuropäischen zum Germanischen Indoeuropäisch *lab*dekm *gneu *bhero *medhios *ghostis *pter *edont*kerd- Altindisch Latein Griech. labium decem dasa genu (janu) bharami fero medius madhyah --hostis pitar pater dantas dentis altiranisch: cordis cride Germ. *lipjo * deka gonu *knewa phero *beran (mesos) *medja--*gastis pater *fader odontos *tanÞ kardia *hertan Altenglisch Gotisch lippa ten(e) cneo beran midde giest foeder toÞ heorte taihun kniu bairan midjis gastis fader tunÞus haírto Nach einem weiteren Grundprinzip der Rekonstruktion nimmt man an, dass sich Laute in derselben lautlichen Umgebung, im selben linguistischen Kontext in jedem Wort auf dieselbe Weise verändern. Diese Annahme wird oft als Prinzip der regelmäßigen Lautentsprechung bezeichnet. Dieser Annahme folgend lässt sich beispielsweise ein wichtiger Wandel im Gemeingermanischen erkennen, der mit dem Grimmschen Gesetz beschrieben ist. Der dänische Gelehrte Rask und später dann Grimm im frühen 19. Jahrhundert erkannten, dass sich bei einem geschichtlichen Vergleich von Wortformen mit demselben Konsonanten am Anfang oder in der Mitte über die Sprachen Altindisch, Latein, Griechisch und Germanisch hinweg reguläre Veränderungen von Lauten finden lassen, nämlich a) stimmhafte, unbehauchte Plosive werden stimmlos, b) stimmhafte, behauchte Plosive bleiben im Germanischen stimmhaft, c) stimmlose Plosive werden allesamt zu Frikativen. (6) Grimmsches Gesetz – Erste Germanische Lautverschiebung Indoeuropäisch a. stimmhafte Plosive unbehaucht Labiale /b/ Dentale /d/ Velare /g/ b. stimmhafte Plosive behaucht /bh/ /dh/ /gh/ Germanisch stimmlose Plosive stimmhafte Plosive Labiale Dentale Velare /p/ /t/ /k/ /b/ /d/ /g/ c. stimmlose Plosive unbehaucht behaucht /p/ /ph/ /t/ /th/ /k/ /kh/ stimmlose Reibelaute /f/ /T/ /X/ HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 225 Bei dieser Ersten Germanischen Lautverschiebung verändert sich jeweils die Artikulationsart bzw. die Stimmenergie der betreffenden Laute, die Artikulationsstelle bleibt hingegen konstant. Als Ergebnis sind im Germanischen die neuen stimmlosen Reibelaute /f/, /T/, /X/ sowie die stimmhaften Plosivlaute /b/, /d/, /g/ entstanden. Durch einen solchen Vergleich ist es nun möglich, das Lautsystem des gemeinsamen Vorgängers dieser vier Sprachfamilien, nämlich Urindoeuropäisch, zu rekonstruieren. Die Rekonstruktionsmethode lässt sich auch innerhalb einer Sprache oder derselben Gruppe von Sprachen (z.B. der romanischen Sprachen) anwenden. Man spricht dann von sprachinterner Rekonstruktion. Obwohl der Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen (5. bis 8. Jahrhundert) um einiges jünger ist als die Erste Germanische Lautverschiebung, die man zeitlich vom 2. Jahrtausend bis um 600 v. Chr. ansetzt, gibt es dennoch nahezu keine Schriftzeugnisse aus der frühen Phase der romanischen Sprachen. Aus diesem Grunde kann man sich bei der Erforschung dieser Phase nur auf sprachinterne Rekonstruktion stützen. Am häufigsten wird diese Methode innerhalb von verbalen oder nominalen Paradigmen angewandt, denen die zu vergleichenden Formen angehören. Man nimmt dabei an, dass dort, wo spätere Formen variieren, frühere Stufen des Paradigmas einheitliche Formen zeigen. Betrachten wir als Beispiel einmal das französische Verb devoir ‚müssen‘. In allen belegbaren früheren Stufen des Französischen alternierte der Stammvokal einerseits zwischen einem Diphthong in den Singularformen und der dritten Person Plural sowie andererseits einem einfachen, stark reduzierten Vokal in der ersten und zweiten Person Plural. Der Einfachheit halber stellen wir die Formen hier in modernem Französisch dar: (7) a. je dois tu dois il doit nous devons vous devez ils doivent Auch bei der internen Rekonstruktion folgen wir dem Regelmäßigkeitsprinzip, d.h. wir nehmen an, dass zu einem gewissen Zeitpunkt in der Geschichte des Verbs devoir das gesamte Paradigma von einem einzigen Verbstamm abgedeckt wurde, dass es also keinen Stammwechsel innerhalb des Paradigmas gab. Auch wenn uns keinerlei schriftliche Zeugnisse überliefert sind, die in frühem Französisch oder in Urromanisch verfasst sind, können wir dennoch unsere These erhärten, wenn wir einmal die entsprechenden lateinischen Formen betrachten. Dem französischen Verb devoir entspricht das lateinische Verb debere. Es weist über das gesamte Paradigma tatsächlich nur einen einzigen Stammvokal auf: (7) b. 'debeo 'debes 'debet de'bemus de'betis 'debent Eine genauere Untersuchung des Lateinischen und insbesondere des lateinischen Systems der Betonung gibt weitere Aufschlüsse über die Entwicklung des Verbparadigmas. Zu einem bestimmten, nicht dokumentierten Zeitpunkt in der Ge- 226 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT schichte des sehr frühen Romanischen (Französisch ist nur ein Einzelbeispiel) wurden Vokale in betonter Position diphthongisiert. Dies trifft auf all diejenigen Formen im Singular und in der dritten Person Plural zu, in denen die Betonung auf der ersten Silbe, d.h. hier dem Stamm, lag. In der ersten und zweiten Person Plural wurde der Vokal /e/ vor der Endung betont und war ein Bindeglied zwischen Stamm und Tempus- und Personendungen. In diesen Fällen wurde der Stammvokal nicht diphthongisiert, was in der Folge bei allen belegbaren Formen des Französischen ab dem 9. Jahrhundert zu einem unregelmäßigen Muster führte. Dasselbe Muster (hier in der ersten Person Plural wiedergegeben) mit Betonung auf dem Stammvokal und folglich Diphthongisierung und der ersten Person Plural mit Betonung auf der ersten Silbe und damit keinem Diphthong im Stamm finden wir auch bei weiteren Verben: je reçois/nous recevons ‚erhalten‘, je bois/nous buvons von boire ‚trinken‘, je peux/nous pouvons von pouvoir ‚fähig sein, können‘. 9.3 Typologie des Sprachwandels Sprachwandel tritt bei allen Arten sprachlicher Einheiten auf, die wir bisher in diesem Buch kennen gelernt haben: der Gebrauch von Lauten kann sich ebenso ändern wie die Bedeutung von Morphemen und Wörtern oder Aspekte der Syntax (z.B. die Wortstellung in Phrasen und Sätzen). Diese Veränderungen können in vier verschiedenen Kategorien sprachlichen Wandels eingeteilt werden. Wandel kann innerhalb sternförmiger Netzwerke stattfinden, wenn zum Beispiel ein prototypischeres (zentraleres) Mitglied einer sprachlichen Kategorie zu einem peripheren Mitglied und ein peripheres Mitglied zu einem zentraleren wird. Wandel kann zweitens zwischen zwei sternförmigen Netzwerken auftreten: Mitglieder einer Kategorie werden zu Mitgliedern einer anderen Kategorie. Drittens kann man auch Wandel innerhalb von Schemata beobachten, und schließlich gibt es auch eine Reihe von Veränderungen, die darauf zurückgehen, dass Formen in Analogie zu anderen Formen gebildet werden. 9.3.1 Wandel innerhalb eines sternförmigen Netzwerkes Wandel innerhalb eines Netzwerkes kann im lautlichen wie auch im semantischen System einer Sprache auftreten. Ein Lautwandel kann dabei rein phonetischer Art sein und keinerlei Auswirkung auf das phonemische System der Sprache haben. Ein Beispiel für einen solchen rein phonetischen Wandel sind Prozesse der Assimilation, bei denen benachbarte Laute in der Aussprache einander angeglichen werden. In der Sprachgeschichte des Italienischen wird beispielsweise die lateinische Konsonantenkombination /kt/ durch regressive Assimilation des Artikulationsortes zu /tt/: das lateinische Partizip Perfekt factum wird im Italienischen zu fatto. Allerdings ist dies kein Wechsel, der sich durch das gesamte Lautsystem zieht; hier hat sich lediglich eine einzelne Lautkombination geändert. Phonetischer Wandel kann auch Dissimilation bedeuten, d.h. zwei Laute werden im Kontakt unterschiedlicher. Ein komplexes Beispiel ist die Entwicklung des Wortes Pilger: lat. peregrinus > vorahd. *piligrîn > mhd. pilgrim. HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 227 Vom Lateinischen zum Althochdeutschen wird e durch i in der Folgesilbe regressiv zu i assimiliert und das erste r durch Dissimilation (bedingt durch r in der Folgesilbe) zu l. Zum Mittelhochdeutschen hin wird das n im Auslaut durch progressive Assimilation der Assimilationsart (bedingt durch p) zu m. Ein weiteres häufig auftretendes Phänomen des phonetischen Lautwandels ist ein Stellungswechsel von Konsonanten, den man als Metathese bezeichnet. So wird die Reihenfolge der Laute /r/ und /l/ im Lateinischen miraculum zum spanischen milagro. Ein typisches deutsches Beispiel für eine r-Metathese ist das althochdeutsche Substantiv born, in dem das /r/ im Laufe der Zeit vor den Vokal trat, zunächst zu Bronnen und schließlich zu Brunnen wurde. Ebenso wurde ahd. ors (vgl. engl. horse) durch Metathese zu nhd. Ross. Nicht selten finden wir die alte Konsonantenfolge noch in alten Ortsnamen wie beispielsweise Orsoy ‚Rossaue‘. Auf der Bedeutungsseite kann ein Wandel in der Kategorisierung sowohl innerhalb von Kategorien (d.h. von sternförmigen Netzwerken) oder über Kategorien hinweg stattfinden. Mentale Kategorien oder Netzwerke entwickeln sich in der Vorstellung der Sprecher einer Sprache als Repräsentation nicht nur von lexikalischen Einheiten, sondern auch von Morphemen, Komposita, Phrasen oder ganzen grammatischen Konstruktionen. Innerhalb von Netzwerken können die einzelnen Mitglieder umgeordnet werden, indem prototypische oder zentralere Mitglieder zu weniger prototypischen, d.h. periphereren Mitgliedern der Kategorie werden können bzw. umgekehrt. Betrachten wir einmal ein Beispiel aus dem Ausschnitt aus dem Nibelungenlied. Das mittelhochdeutsche Wort lîp kommt hier in den drei Bedeutungen (8a-c) vor: (8) Bedeutungsaspekte von mhd. lîp a. „Leben“: dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp. (V.2,4) b. „Gestalt, Aussehen“: âne mazen schoene sô was ir edel lîp. (3,4) c. „gesamte Person“: daz sine wesse niemen, den minnen wolde ir lîp. (V.18,3). d. „Magen“ Der vierte Bedeutungsaspekt (8d) „Magen“ kommt in unserem Abschnitt nicht vor. Diese Bedeutungsaspekte lassen sich wie in (9) in einem sternförmigen Netzwerk für mittelhochdeutsch lîp darstellen. Die prototypische Bedeutung ist „Leben“ (9a). (9) Sternförmiges Netzwerk für mittelhochdeutsch lîp d. „Magen“ a. „Leben“ c. „Person“ b. „Körpergestalt, Aussehen“ 228 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Wenn wir nun die mittelhochdeutschen Bedeutungsaspekte von lîp mit denen des neuhochdeutschen Wortes Leib vergleichen, stellen wir fest, dass innerhalb des Netzwerkes eine Umordnung stattgefunden hat. Zum Neuhochdeutschen hin hat sich „Körper“ als prototypische Bedeutung durchgesetzt. Der Bedeutungsaspekt „Leben“ (vgl. engl. life) ist nahezu völlig verschwunden, und tritt nur noch verstärkend in idiomatischen Ausdrücken wie Gefahr für Leib und Leben, Leib und Gut für etwas wagen etc. auf. Aus einem einst zentralen Mitglied ist also ein marginales geworden. Auch die anderen Bedeutungsaspekte kommen nur in gehobenem Stil vor und klingen ebenfalls schon leicht veraltet: (10) Sternförmiges Netzwerk für neuhochdeutsch Leib (d. „Person“) a. „Körper“ b. „Bauch“ z. B. Leibschmerzen c. „Rumpf von Menschen oder Tieren“ Verschiebungen können auch in der hierarchischen Struktur von Wortfeldern auftreten: In Vers 2 wird Kriemhilt sowohl als edel magedîn als auch als scoene wîp und in V.3,4 als juncfrouwe vorgestellt. Ihre Mutter Uote wird in V.7,1 als frou Uote, zuvor in V.6,4 als eine zweier edelen frouwen eingeführt. Kriemhilt selbst redet sie in V.17,1 als frouwe mîn an. Auf weibliche Personen, mit denen Kriemhilt verglichen wird, wird im Allgemeinen mit wîp Bezug genommen. So wird sie wiederholt als scoene wîp 2,3;16,2 bezeichnet, andere Frauen als anderiu wîp (3,4). Ganz offensichtlich ist die Bezeichnung für weibliche Personen auf der übergeordneten Ebene der Kategorisierung wîp. Frouwe wird hingegen zur Bezeichnung adeliger weiblicher Personen wie der Königin Ute verwendet, d.h. es handelt sich um ein Hyponym zu wîp. Eine junge Adelige wird auch als juncfrouwe bzw. als magedîn bezeichnet. Im Neuhochdeutschen hat sich innerhalb der hierarchischen Struktur eine Wandlung vollzogen: frouwe wurde im späten Mittelalter zunehmend auch für nicht-adelige weibliche Personen verwendet, bis sich Frau schließlich als allgemeine Bezeichnung heute durchgesetzt hat. Weib wird nur noch selten verwendet und hat eine pejorative Bedeutung bekommen, ebenso wie sich auch die Bedeutungen der weiteren Bezeichnungen verändert haben. Abbildung 2. Wandel innerhalb eines sternförmigen Netzwerks a. Mittelhochdeutsch wîp weitere magedîn maget b. Neuhochdeutsch Frau frouwe Weib Magd Mädchen weitere HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 229 Eine ähnliche Art der Entwicklung über die Zeit hinweg lässt sich auch für grammatische Formen erkennen. Die englische Komparativform older ist gegenüber der frühen phonologisch regelmäßigen Form elder eine neuere Form. Sie ist aber zur prototypischen Komparativform geworden. Elder wurde auf die sehr spezifische kirchliche Bedeutung „nicht geweihte Person, die in der Kirche als Ratgeber dient“ oder auf die feststehenden Verwandtschaftsbezeichnungen elder brother/sibling/sister eingeschränkt. 9.3.2 Wandel über sternförmige Netzwerke hinweg Die Anzahl der phonetischen Realisationen, d.h. der Allophone eines gegebenen Phonems wie z.B. /t/, kann so groß sein, dass man Phoneme als Kategorien ansehen kann, die sich mit der Zeit intern oder über zwei oder mehr Netzwerke hinweg verändern können. Eine solche Entwicklung vollzieht sich derzeit in der englischen und amerikanischen Phonologie. Die Grenzen der Phonemkategorie /t/ verschieben sich so, dass bestimmte Allophone dieser Kategorie auch zu Mitgliedern anderer Kategorien werden können. Als prototypische Realisation von /t/ nehmen wir das unbehauchte [t] an, am Wortanfang vor einem Vokal wird [th] realisiert wie in tap [tHQp]. Direkt vor einem /k/, wie in cat-call, wird /t/ als Glottisverschlusslaut [/] + [t], also [kHQ/tkHÅl] realisiert und kann weiter auf den Glottisverschlusslaut [/] reduziert werden. In der Wortmitte kann /t/ zwischen zwei Vokalen wie in city als geschlagener Laut [R] gesprochen werden, wie in [sR], der Schlag kann in einer Umgebung wie pretty good [prR Ud] auch zur Nullform [pr Ud] reduziert werden, d.h. zu einer Form, die nicht realisiert wird, strukturell aber durchaus vorhanden ist. So entsteht folgende Situation: der laryngale Laut [/] wird in bestimmten Lautumgebungen als Realisation des alveolaren /t/ angesehen. Noch deutlicher wird die Verschiebung zwischen diesen Netzwerken, wenn wir berücksichtigen, dass der Schlag [R] nicht allein als intervokalisches /t/ wie in city vorkommt, sondern von einer Reihe von Sprechern des Englischen zwischen zwei Vokalen auch als Allophon des Phonems /r/ wie in very realisiert wird. Das sternförmige Netzwerk dieser Realisationen lässt sich wie in Abb. 3 darstellen. Abbildung 3. Sternförmiges Netzwerk für das englische Phonem /t/ tap[tHQp] th t/ t stop [stÅp] R city [sR] / [kHQ/kHÅl] cat-call [kHQ/tkHÅl] P pretty good [pr Ud] Ein typisches Beispiel für einen semantischen Wandel in einem lexikalischen Netzwerk ist das Adverb sehr, das im heutigen Deutsch „in hohem Maße“ bedeu- 230 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT tet (wie in sehr schön, sehr gut, etc.). Im Althochdeutschen und gelegentlich auch noch im Mittelhochdeutschen bedeutete sêro bzw. sêr allerdings noch „heftig schmerzend, schmerzhaft“. Im folgenden Vers aus der 4. Âventiure des Nibelungenliedes hat sêre noch diese Grundbedeutung von „schwer verletzt“, die wir heute noch in einigen wenigen Ausdrücken wie kriegsversehrt oder unversehrt finden. (11) 254 Der künec pflac síner geste vil groezlîche wol. der vremden und der kunden diu lánt wáren vol. er bat der sêre wunden vil güetlîche pflegen. dô was ir übermüeten vil harte ringé gelegen. (de Boor,1965:48) Abbildung 4. Lexikalischer Wandel über Netzwerke hinweg Ahd./Mhd. sêro/sêr Neuhochdeutsch sehr 1. „heftig schmerzend“ 4. „in hohem Maße“ 2. „starker Grad des Leidens“ 3. „allgemein starker Grad von etwas“ Dieser Wandel über Netzwerke hinweg beeinflusste in der Folge die Verwendung des mittelhochdeutschen Wortes fast, das zunächst zur Verstärkung eines Ausdrucks verwendet worden war (fast stark ‚sehr stark‘). Auch hier fand ein Wandel über Netzwerke hinweg statt: fast wurde in der Folge in der noch heute prototypischen Bedeutung „nahezu, annähernd“ verwendet, stand dann aber in onomasiologischer Konkurrenz zu der in dieser Bedeutung gebräuchlichen Form schiere. Dieser Bedeutungsaspekt von schiere ging mit der Zeit unter und besteht heute nur noch in wenigen Ausdrücken wie schier unmöglich etc. fort. In der Grammatik kann sich ein Wandel über Netzwerke hinweg auf zwei Arten vollziehen. Zum einen kann ein existierendes Netzwerk sich in zwei Teile aufspalten, zum anderen können umgekehrt zwei Netzwerke zu einem einzigen verschmelzen. In der Kategorie der mittelhochdeutschen Zahlwörter oder Numerale hat eine Aufspaltung stattgefunden: aus der rein lexikalischen Form ein entwickelte sich in einem Prozess der Grammatikalisierung mit der Zeit der unbestimmte Artikel ein, so dass die Form ein zwei Mitglieder aus unterschiedlichen grammatischen Kategorien vertritt. Umgekehrt können Kategorien auch miteinander verschmelzen. Sprachgeschichtlich gesehen trifft dies auf viele pronominale Kasus in den europäischen Sprachen zu. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte der englischen Personalpronomen wurde die dritte Person Singular Maskulinum him von der Akkusativform (direktes Objekt) hine deutlich unterschieden. Aufgrund HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 231 einer Reihe von Lautwandelerscheinungen wurden hine und him zu einer einzigen Form und verloren auch ihren distinktive Bedeutung. Als Ergebnis gibt es im Modernen Englisch ein Pronomen him, das nicht Subjekt und nicht Possessivpronomen ist, und in Kontrast zur Subjektform he und zur Possessivform his in einem stark reduzierten Paradigma steht. 9.3.3 Wandel innerhalb von Schemata Der Begriff „Schema“ bzw. „schematische Bedeutung“ wurde bereits im Zusammenhang mit der Analyse des Suffixes -er in Kapitel 3, Beispiel (13) verwendet und bei „Ereignisschema“ in Kapitel 4.2. Hier werden wir den Begriff Schema allgemein auf jede sprachliche Kategorie beziehen. Eine Kategorie umfasst nicht nur zentralere, prototypische und weniger zentrale bis marginale Mitglieder. Darüber hinaus lassen sich alle Mitglieder der Kategorie unter einer hoch abstrakten, schematischen Repräsentation zusammenfassen, welche die einzelnen Mitglieder in einer Kategorie zusammenhält. Angesichts der vielen verschiedenen Arten von Stühlen müssen wir über eine sehr abstrakte Vorstellung von dem haben, was einen Stuhl ausmacht. Eine solche Vorstellung mag etwa „Konstruktion, auf der man sitzen kann, und die funktional gebraucht wird“ sein, durch die alle Einzelbedeutungen zusammengefasst werden. Innerhalb solcher Schemata kann mit der Zeit ein Wandel auftreten. Zum einen kann ein Schema eine neue Gestalt bekommen. Zum anderen kann aber auch ein völlig neues Schema entstehen. Wir wollen die erste Art des schematischen Wandels, d.h. die Umordnung eines Schemas anhand je eines Beispieles aus der Grammatik illustrieren. Die zweite Art des Wandels in einem Schema verdeutlichen wir an einem Beispiel aus der Phonologie. An den Beispielen (12a-c) lässt sich gut erkennen, dass im Mittelhochdeutschen das Adjektivattribut dem Substantiv auch nachgestellt werden konnte, die Wortstellung also sowohl Substantiv + Adjektivattribut als auch Adjektivattribut + Substantiv sein konnte. Im Neuhochdeutschen hat sich die Stellung Adjektivattribut + Substantiv (12a'-c') verfestigt. Auch das mittelhochdeutsche Schema substantivisches Genitivattribut + Substantiv (12d-e) hat sich zum Neuhochdeutschen hin geändert (12d'-e'). (12) a. NL V.1,1: wunders vil geseit a'. Nhd.: viele Wunder bekannt b. NL V.1,2: von helden lobebaeren b'. Nhd.: von ruhmreichen Helden c. NL V.2,4: darumbe muosen degene vil c'. Nhd.: darum mussten viele Ritter d. NL V.1,4: von küener recken strîten d'. Nhd.: von Kämpfen kühner Ritter e. NL V.6,1: von zweier edelen frouwen nît e'. Nhd.: durch den Neid zweier adeliger Damen. Ein weiteres Beispiel für schematischen Wandel ist die Negation, die im Mittelhochdeutschen noch komplexer ist als im Neuhochdeutschen. Die Verneinung 232 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT wurde ursprünglich nur durch die Negationspartikel ne, en (durch Metathese entstanden), in bzw. n gebildet. Diese Partikel war aber so schwach betont (so genannte Schwachformen, siehe Kapitel 5), dass dann zusätzliche Negationswörter wie z.B. niht, nimmer, dehein etc. eingesetzt wurden. Niht entstand im Übrigen im Althochdeutschen durch die Verschmelzung zweier Schemata, nämlich aus der Negationspartikel ni und dem Substantiv wiht ‚Wesen, Etwas‘ als Verstärkung der schwach betonten Negationspartikel. Später trat dann niht vor dem Verb ohne die Partikel auf, was im Neuhochdeutschen zur prototypischen Negation wurde. (13) NL V.13,4 ir enkunde in dirre werlde leider nimmer gescehen. Nhd.: Ihr konnte auf dieser Welt kein größeres Leid geschehn. NL V. 31,2 Des enist mir niht ze muote, sprach aber Sivrit. Nhd.: Das habe ich nicht im Sinn, entgegnete Siegfried. Neue Schemata können sich auch entwickeln, indem sich eine Kategorie in zwei neue Kategorien aufspaltet bzw. umgekehrt sich zwei zu einer einzigen Kategorie vereinigen. In der Phonologie bezeichnet man diese Art des Wandels als Phonemisierung und meint damit die Bildung neuer Phoneme. In Kapitel 5 hatten wir bereits gesehen, dass man sich Phoneme als Lautkategorien vorstellen kann, in deren Mitte ein prototypisches Allophon steht, um das herum andere Allophone als Mitglieder derselben Phonemkategorie angeordnet sind. Das Phonem selbst kann nicht ausgesprochen werden, denn es handelt sich ja um eine schematische Vorstellung der Lautkategorie. Erinnern wir uns nochmals daran, dass alle Phoneme einer Sprache distinktiven Charakter haben, ihr Auftreten nicht aus ihrer Position in einer Abfolge von Lauten vorhersagbar ist und solche Lautfolgen sich in ihrer Bedeutung unterscheiden, wenn ein Phonem durch ein anderes ausgetauscht wird. (14) Die Konsonanten /p, t, k/ in der Entwicklung der germanischen Sprachen Gotisch Niederl. Ahd. Mhd. Neuhochdeutsch slêpan altsächsisch (Englisch) slapan (sleep) slapen slâffan slâfen schlafen itan etan (to eat) eten eZZan eZZen essen makon (to make) maken mahhôn machen machen pund pund (pound) pond phunt phunt Pfund haírtô herta (heart) hart herza herze Herz kaúrn korn (corn) koren chorn korn Korn Wenn ein neues Phonem gebildet wird, entsteht ein neues Schema, das zunächst nur ein für die Kategorie prototypisches Allophon haben mag. Das lässt sich an zwei Beispielen aus der Geschichte der germanischen Sprachen illustrieren. Vergleicht man englische und niederländische Wörter, die /p/, /t/, /k/ am Wortanfang, in der Mitte nach Vokalen oder im Auslaut haben, mit den entsprechenden HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 233 deutschen, so kann man heute noch gut erkennen, dass in der Entwicklung der germanischen Sprachen offensichtlich ein Lautwandel stattgefunden haben muss. Bezieht man ältere Sprachstufen wie das Altsächsische als Vorläufer des Englischen, das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche in den Vergleich mit ein, so ergibt sich das in (14) dargestellte Bild. Die gotischen und altsächsischen Beispiele in (14) geben den Stand vor dieser so genannten Zweiten Germanischen oder auch Althochdeutschen Lautverschiebung wieder. (15) Zweite Germanische Lautverschiebung Labiale Dentale Velare GERMANISCH Stimmlose Plosive ALTHOCHDEUTSCH Affrikata unbehaucht wird im Anlaut und im Inlaut nach Konsonant fest p t k behaucht pH tH kH pf ts kX Frikative nach Vokal ff f hh X ZZ s Zum Althochdeutschen hin haben sich die stimmlosen Verschlusslaute /p/, /t/, /k/ in bestimmten Lautumgebungen gewandelt: sie wurden zunächst zu stark behauchten Plosiven /pH/, /tH/, /kH/ die sich dann zu den neuen Affrikata /pf/, /ts/, /kX/ weiterentwickelten. Im Anlaut sowie im Inlaut nach Konsonant verfestigten sie sich, während sie nach Vokalen weiter zu den Doppelreibelauten /ff/, /ZZ/,/hh/ verschoben und dann zu den Frikativen /f/, /s/, /X/ vereinfacht wurden. Wir können also in der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen zwei große Lautverschiebungen feststellen, bei denen jeweils neue Laute entstanden sind, d.h. nach denen die Sprachen ein verändertes Konsonantensystem aufweisen. Die Erste Germanische Lautverschiebung führte zur Unterscheidung der germanischen Sprachen von den übrigen indoeuropäischen Sprachen. Durch die Zweite Germanische (oder auch Althochdeutsche) Lautverschiebung entstehen neue Affrikata und Frikative, durch die sich viele Wörter des Deutschen von Wörtern gleicher Abstammung aus den übrigen germanischen Sprachen wie Englisch und Niederländisch unterscheiden. In der Entwicklung der germanischen Sprachen lässt sich ein weiterer Prozess beobachten, der ebenfalls zur Entstehung neuer Laute führte und als Umlaut bekannt ist. Im Voralthochdeutschen und Althochdeutschen wurde durch bestimmte grammatische Affixe, die den hohen vorderen Vokal /i/ enthielten, durch Fernassimilation neue Vokale hervorgerufen. Solche Affixe kamen u.a. zur Bildung von Verkleinerungsformen (ahd. vogel + în > nhd. Vöglein), zur Steigerung von Adjektiven (germ. *lang + -iz-o/is-t-o > ahd. leng + -iro/-isto > nhd. länger/-est) und zur Pluralbildung (loch+ir > nhd. Löcher) auf. Nachfolgendes /i/ führte hier jeweils zur Assimilation eines hinteren Vokals in vorangegangener Silbe. Dieser wurde also zu einem vorderen Vokal, ohne dabei jedoch die Rundung zu verlieren, eben eine Eigenschaft, die ursprünglich überwiegend in Zu 234 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT sammenhang mit hinteren Vokalen stand. Später wurde dann das grammatische Affix /i/ in unbetonter Endsilbe, das ja Auslöser für die Verschiebung zum Vordervokal war, zu Schwa oder entfiel völlig (ahd. turi > Türe > Tür). Diese beiden Schritte werden in (16) zusammengefasst. (16) a. u > y / -i b. i > / ø # (Beachte: ø = null) (Das bedeutet: /u/ wird in der Lautumgebung von /i/ zu /y/, /i/ entfällt. Als Ergebnis dieser Veränderung wurden vordere gerundete Vokale nicht mehr länger durch die Lautumgebung hervorgerufen, sondern zu den eigenständigen neuen Phonemen /E/, /ø/, /y/. Wenn wir nun zu unserer Diskussion von sternförmigen Netzwerken und Schemata zurückkehren, so lässt sich Folgendes sagen: /y/ fiel nicht mehr länger in seine ursprüngliche Kategorie der vorderen Allophone des hinteren Vokalphonems /u/, in dem es ein eher unprototypisches Mitglied war, sondern wurde zum zentralen Mitglied eines neuen Netzwerks mit lautlichen Realisationen des neuen Phonemschemas. Auch in der Entwicklung der englischen Sprache sind Umlautbildungen eingetreten, wie bei den Pluralformen zu foot ‚Fuß‘ und goose ‚Gans‘, die sich über /foti/, /gosi/ zu /føt/, /gøs/ und dann weiter zu feet bzw. geese entwickelt haben. Doch hier handelt es sich lediglich um Reste alter Umlautbildungen, während der Umlaut im Deutschen in grammatischen Systemen Funktionen übernommen hat, so zum Beispiel zur Markierung des Plurals (Gast – Gäste), bei Verkleinerungsformen (Blatt – Blättchen) und zur Adjektivsteigerung (alt/älter/ältest). 9.3.4 Analogischer Wandel Die Sprecher einer Sprache haben ganz offensichtlich das Bestreben nach größtmöglicher Transparenz sprachlicher Formen und Konstruktionen, d.h. Formen sollen auch in größeren Einheiten immer noch erkennbar bleiben. Durch dieses Bestreben kann analogischer Wandel eintreten. Analogischer Wandel ist ein Prozess, bei dem einzelne Sprecher zwischen Lauten, Formen oder Konstruktionen Ähnlichkeiten wahrnehmen und diese einander angleichen. Analogischem Wandel geht immer eine mehr oder weniger bewusste Analyse der betreffenden Einheiten durch Muttersprachler voraus. Ein Beispiel findet sich bei der Entwicklung der Pluralmarkierungen vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Im Mittelhochdeutschen lassen sich mehrere Deklinationsklassen unterscheiden, die den Plural durch unterschiedliche Affixe markieren. Der Nominativ Plural von kint, wort und liet (Formen, die in die Deklinationsklasse der so genannten neutralen a-Stämme fallen) war diu kint, diu wort bzw. diu liet, der Plural des maskulinen Substantivs lîp lautete die libe. Im Laufe der Zeit veränderte sich die Bildung des Plurals in diesen Deklinationsklassen in Analogie zur Pluralbildung in der Klasse der neutralen iz/az-Stämme zu die Kinder, die Wörter, die Lieder bzw. die Leiber. Das in dieser Klasse neue Pluralmorphem -er, im Althochdeutschen ursprünglich -ir, führt bei umlautfähigem Stammvokal zusätzlich zur Umlautbildung: diu lant > die Länder, wodurch das neue Pluralmorphem [Umlaut] + er entstanden ist. HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 235 Andere Analogiebildungen sind nicht nur durch ein Bedürfnis nach Transparenz, sondern auch durch ein Bedürfnis nach einer Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Form und Bedeutung motiviert. Nehmen wir beispielsweise einmal die Arten analogischen morphologischen Wandels, die bei der Ersetzung einer unregelmäßigen Pluralbildung durch eine regelmäßige eine Rolle spielen. (der alte Plural kine durch neuenglisch cows) oder einer starken Form des Präteritums durch eine schwache (engl. lit wird tendenziell durch lighted ersetzt) eine Rolle spielen. In diesen Fällen liegt die Ursache für den Wandel teilweise in dem Bedürfnis nach Transparenz, teilweise aber auch nach einer eindeutigen, regelmäßigen Pluralmarkierung in dem einen Fall und nach einer eindeutigen Form des Präteritums im anderen Fall. Lautliche Analogiebildungen finden sich auch bei den so genannten Ablautreihen der starken Verben. In unserem Ausschnitt aus dem Nibelungenlied finden wir das starke Verb sterben (6,4), das zur Klasse III gehört: sterben – starp – sturben – gestorben. Im heutigen Deutsch heißt es aber sterben – starb – starben – gestorben. Das Präteritum Plural sturben wurde im Neuhochdeutschen in Analogie zum Präteritum Singular starp zu starben. Weitere Beispiele sind binden, band, bunden (Nhd.: banden) gebunden, bei dem das Präteritum Plural in Analogie zum Präteritum Singular gebildet wird und das Verb biegen, bouc (Nhd.: bog), bugen (Nhd.: bogen), gebogen, bei dem sowohl Präteritum Singular als auch Präteritum Plural in Analogie zum Partizip Präteritum gebildet werden. Analogiebildungen finden sich auch im Bereich der Syntax, z.B. wenn bestimmte morphologische Formen wie der Genitiv, der früher bei einigen Verben notwendig war, heute durch andere Kasus oder Ergänzungsmuster gebildet werden. An Beispielen wie (des) abends, (des) morgens, tagsüber, (des) nachts, die auch zu am Abend, am Morgen, den Tag über, in der Nacht wurden, sehen wir solche Überbleibsel alter Genitivverwendungen. Auch im Ausschnitt aus dem Nibelungenlied finden sich Beispiele, die heute nicht mehr verwendet werden: (17) a. V. 1,1: Nhd.: b. V. 7,3: Nhd.: c. V. 15,4 Nhd.: wunders vil geseit ‚vieler wunderbarer Taten berichtet‘ von vielen wunderbaren Taten berichtet ein ellens rîcher man reich an Tapferkeit daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt. durch die Liebe eines Mannes (genitivus subiectivus) durch die Liebe zu einem Mann (genitivus obiectivus) In (17a) und (17b) sieht man, dass mittelhochdeutsche Genitivkonstruktionen im Neuhochdeutschen oft durch präpositionale Ergänzungen im Dativ wiedergegeben werden. Diese Tendenz des Wandels hält auch im Gegenwartsdeutsch an: der Wagen seines Chefs > der Wagen von seinem Chef. In (17c) kann die Genitivkonstruktion auf zwei Arten übersetzt werden, entweder präpositonal mit Dativ oder mit substantivischem Genitivattribut. Dieses muss aber anders als im Mittelhochdeutschen dem Substantiv nachgestellt werden. 236 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT 9.4 Ursache und Vorhersagbarkeit sprachlichen Wandels Wir haben bisher an einer ganzen Reihe von Beispielen gesehen, dass Sprachen sich verändern und auch welche Arten des Sprachwandels auftreten können. Nun stellt sich die Frage nach den Ursachen für sprachlichen Wandel: Warum sollten sich Sprachen überhaupt verändern? Wenn wir nun noch an den Wandel unregelmäßiger Verben denken, können wir noch eine weitere Frage stellen: lässt sich vorhersagen wann sprachlicher Wandel stattfindet und in welche Richtung er gehen wird? Zunächst lässt sich ja vielleicht sehr einfach sagen, dass sich alle menschlichen Einrichtungen mit der Zeit verändern – warum also sollte Sprache hier eine Ausnahme bilden? Betrachtet man Zeugnisse menschlicher Sprache, so zeigt sich, dass sich beispielsweise die Sprachen Englisch, Französisch und Russisch zum heutigen Zeitpunkt in vielerlei Hinsicht von der jeweiligen Sprache, wie sie vor vier- bis sechshundert Jahren geschrieben wurde, unterscheiden. Sprachwandel kann zwar sehr langsam vonstatten gehen, jedoch über einen Zeitraum von einigen tausend Jahren hinweg so grundlegend sein, dass man die damalige Sprache heute fast gar nicht mehr verstehen kann. Wie kann es zu einer so starken Veränderung kommen, und was können die Ursachen gewesen sein? Ein Antwortversuch auf die Frage nach den Ursachen von Sprachwandel findet sich in den Arbeiten des amerikanischen Linguisten William Labov (1973), der als erster Sprachwandel mit Sprachvariation in Verbindung brachte (siehe Abschnitt 9.1). Er gründete seine Hypothese auf die Tatsache, dass es in Sprachen ständig einen gewissen Grad an Variation gibt, denn ebenso wenig wie die Sprecher einer Sprache sich nicht ständig mit denselben Wörtern und Sätzen auf dieselbe Weise äußern, artikulieren sie Wörter und Sätze nicht immer gleich. Einige dieser Äußerungs- und Aussprachevarianten werden mit bestimmten sozialen Gruppen in Verbindung gebracht. Alter und Geschlecht spielen dabei ebenso eine Rolle wie ein unterschiedlicher Grad an Bildung bzw. der jeweilige wirtschaftliche Hintergrund. Über diese Identifikation mit einer bestimmten sozialen Gruppe erhalten die Varianten ein gewisses Prestige. Dieses Prestige bezieht sich nicht notwendigerweise immer auf eine höhere soziale Schicht oder eine ältere, gesellschaftlich etablierte Altersgruppe. Die Aussprache und Verwendungsweise sprachlicher Einheiten wie Gras („Marihuana“) kann aus der Sprache von Punks, Drogendealern oder auch Gangstern stammen (vgl. den großen Einfluss des amerikanischen Gangsta-Rap). Unabhängig von den Gründen für das hohe Prestige einer Form wird deren Aussprache oder Verwendungsweise von anderen Sprechern übernommen. Sie breitet sich innerhalb einer Sprachgemeinschaft aus und besteht eine Weile neben anderen alternativen Varianten, hat aber großes soziales Gewicht. Gelegentlich bleibt diese Form bestehen, und andere Formen geraten dafür in Vergessenheit: in diesem Fall kann man von einem vollständigen Wandel sprechen. Das trifft zum Beispiel auf eine Variante eines amerikanischen Phonems zu, das man als retroflexes /r/ bezeichnet und das in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg verwendet wird. Inzwischen ist diese Variante auch in den Niederlanden populär geworden, und zwar unter Jugendlichen, die in den großen Städten HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 237 der Provinzen Süd- und Nordholland leben. Diese retroflexe Variante besteht nun neben dem allgemein verwendeten uvularen /r/; die Frage ist, ob sie weiterhin Bestand haben und sich evtl. noch ausbreiten wird. Mit einem weiteren Beispiel für Sprachwandel, bei dem das Prestige einer Variante eine Rolle spielt, beschäftigte sich Labov in einer seiner berühmtesten Studien zu den Aussprachevarianten unter den Bewohnern von Martha’s Vineyard, einer Insel vor der Atlantikküste von Massachusetts in Neuengland. Die Studie konzentrierte sich insbesondere auf den Grad der Zentralisierung des ersten Elements der amerikanischen Diphthonge [a] und [au], d.h. mit einer Aussprache in Richtung /Q / bzw. /E/ unter denjenigen Bewohnern der Insel, die sich das ganze Jahr über dort aufhielten. Diese Sprecher realisierten die Diphthonge mit einer stärkeren Zentralisierung als diejenigen unter den vielen Sommergästen, die auf der Insel Häuser besaßen oder gemietet hatten, den Rest des Jahres aber auf dem Festland lebten – und zwar durchaus in der näheren Umgebung von Martha’s Vineyard. Bei einer genaueren Untersuchung der sprachlichen Daten, die er unter den Einwohnern der Insel erhoben hatte, kam Labov u.a. zu dem Befund, dass der Grad der Zentralisierung der Diphthonge bei einer Gruppe jüngerer Sprecher größer war und mit dem Alter der Sprecher korrelierte. Er schloss daraus, dass die zentralisierte Varietät der Diphthonge an Prestige gewonnen haben musste: je jünger die Sprecher, desto wichtiger schien es für sie, möglichst wenig wie die Sommergäste zu klingen und so ihre starke Identifikation mit der Insel als ihrer Heimat zu signalisieren. An diesem berühmten Beispiel kann man sehr gut erkennen, wie eine ursprünglich zufällige und bedeutungslose Aussprachevariante ein gewisses Prestige gewonnen hat, indem sie mit einer bestimmten Gruppe in Zusammenhang gebracht wurde. Mit der Zeit hat sich diese Variante stark verbreitet und gegenüber anderen Aussprachevarianten durchgesetzt. In einem Teil seines Werkes weist Labov darauf hin, wie wichtig es ist, bei der Analyse von Phänomenen des Sprachwandels zwischen dem Auslöser für einen Wandel und der Verbreitung eines Elements innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft zu unterscheiden. Die meisten Studien Labovs beziehen sich eher auf die Verbreitung als auf die ersten Stufen eines Wandels. Keller (1994) erweiterte den Labovschen Ansatz der letztlichen Ursache für einen Sprachwandel um eine Theorie zu den Auslösern von Sprachwandel. Für Keller ist Sprache nicht mit einem natürlichen Phänomen zu vergleichen, das sich durch die Wirkung unbewusster und unbeabsichtigter Kräfte verändert, wie etwa ein Flusslauf, der sich durch Erosion oder als ein Ergebnis eines Erdbebens ändert. Auf der anderen Seite ist Sprache für Keller aber auch keine soziale Institution, die von ihren Sprechern absichtlich, wie etwa ein Gesetz verändert würde. Beim Sprachwandel handelt es sich vielmehr um ein „Phänomen der dritten Art“. Sprache verändert sich zwar im Gebrauch durch ihre Sprecher, dies geschieht aber unbeabsichtigt, gerade so wie etwa Verkehrsstaus entstehen. Niemand würde einen Verkehrsstau mit Absicht verursachen wollen. Aber die Handlungen der einzelnen Fahrer, die anderen Kräften unterworfen sind, wie etwa dem Bemühen, nicht auf den vor ihnen fahrenden Wagen aufzufahren, steuern alle zu der eigentlich nicht beabsichtigten Situation (des Staus) bei. 238 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Nach diesem Modell wird Sprachwandel also durch das Bemühen der Sprecher verursacht, mit anderen erfolgreich über etwas kommunizieren zu können. Dazu müssen sie eine Balance herstellen: einerseits muss die Äußerung für den Hörer in optimaler Weise verständlich sein, weswegen Sprecher sprachliche Formen verwenden, die nicht zu stark von der ihres jeweiligen Hörers abweichen. Andererseits muss die Äußerung auch neu und originell genug sein, um die Aufmerksamkeit auf das Gesagte zu lenken. Diese Suche nach Neuheit kann einen Anlass für sprachlichen Wandel darstellen. Als ein Sprecher des Deutschen zum ersten Mal erfolgreich den Ausdruck eine Idee begreifen (im Gegensatz zu einem physikalischen Objekt) verwendete, konnten andere Sprecher zwischen Ideen und Objekten genügend Ähnlichkeitsbeziehungen herstellen, um diese Innovation verstehen zu können. Gleichzeitig besaß diese Äußerung genügend Neuheit, so dass der Sprecher als besonders clever und redegewandt gelten konnte. An diesem Punkt können wir nun auf Labovs Modell zurückgreifen: der neue sprachliche Ausdruck wird zunächst von einzelnen Sprechern einer bestimmten sozialen Gruppe übernommen. Dann wird er auch von anderen Sprechern verwendet, die dieser gesellschaftlichen Gruppe genügend Prestige verleihen, so dass die Sprachverwendung dieser Gruppe als Vorbild dienen kann. Sprachlicher Wandel ist sehr schwer vorauszusagen, denn immer spielen vielfältige kognitive und gesellschaftliche Variablen eine Rolle. Zudem ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sprachliche Variation allein schon unmittelbar zu einem Wandel führt. Sowohl kognitive als auch andere Theorien über Sprachwandel sind daher bei der Frage nach der Vorhersagbarkeit eines möglichen sprachlichen Wandels sehr zurückhaltend – es sei denn, eine sprachliche Variation hat sich schon so stark durchgesetzt, dass eine solche Vorhersage bereits mit einer Beschreibung dieses Wandels einhergehen kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann niemand voraussagen, was mit dem retroflexen /r/ in Holland bzw. im Niederländischen geschehen wird. Ebenso problematisch ist die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem ein bestimmter Wandel möglicherweise stattfindet. Selbst wenn eine ganze Reihe von Umständen gegeben sind, die auf einen sprachlichen Wandel hindeuten, kann es sein, dass dieser Wandel über mehrere hundert Jahre hinweg nicht eintritt. So kann man beispielsweise rückblickend erkennen, dass im Lateinischen zukünftige Handlungen ursprünglich durch ein sehr stark schwankendes morphologisches System ausgedrückt wurden. Es gab zwei Möglichkeiten, dieses Tempus morphologisch zu markieren, die von der jeweiligen Art des Verbums abhing, und zwar zum einen durch ein Infix, zum anderen durch die Veränderung eines Vokals in Endung. Wie sich aus der Betrachtung schriftlicher Überlieferung ergibt, dauerte es aber viele Jahre, ehe dieser Wandel vollständig eintrat. Offenbar bereitete dieses eher umständliche doppelgleisige System den Sprechern des Lateinischen über Jahrhunderte hinweg keinerlei Schwierigkeiten, weder beim Erlernen noch bei seiner Verwendung. Eine sehr ähnliche Situation entstand im Englischen bei der Verwendung von do in interrogativen, negativen und emphatischen Sätzen. Diese Verwendung entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts: in der Sprache Shakespeares finden sich sowohl Fragesätze wie What read you? als solche mit do wie What do you read?. Erst gegen Ende des HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 239 18. Jahrhunderts setzte sich dieses neue System der Umschreibung mit do gegenüber dem alten dauerhaft durch. Der polnische Sprachwissenschaftler Kuryłowicz (1995[1945]) vergleicht das Auftreten analogischen Wandels mit einem Abwassersystem: Regenrohre, Rinnsteine und Kanäle können ein gutes System bilden; bevor es nicht zu regnen beginnt, wird zunächst einmal nichts geschehen. Die Regenrohre stünden dann für die verschiedenen Mechanismen sprachlichen Wandels und der Regen für eine Reihe sozialer und kognitiver Variablen, die einen bestimmten Wandel mit sich bringen können. Erst wenn diese beiden Aspekte in der richtigen Weise zusammentreffen, kann sprachlicher Wandel eintreten. 9.5 Zusammenfassung Die historische Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit Erscheinungen des Wandels in der Sprache. Sprachlicher Wandel kann nur vor dem Hintergrund sprachlicher Variation verstanden werden. Man kann eigentlich nicht von einer einheitlichen Sprache sprechen, sondern muss in Betracht ziehen, dass diese Sprache aus einer Reihe von sprachlichen Varietäten besteht, die man auch als Dialekte bezeichnet. Eine dieser Varietäten ist die Standardvarietät, die einen allgemeinen, gesellschaftlich akzeptierten Standard in der Syntax, Lexis und Lautung einer Sprache setzt (z.B. Hochdeutsch und die hochdeutsche Standardlautung). Neben der Standardvarietät beherrschen die meisten Sprecher eine oder mehrere Varietäten einer Sprache, die man in Regiolekte, Soziolekte, Ethnolekte oder altersspezifische Varietäten unterscheiden kann. Beim sprachlichen Wandel spielen u.a. altersspezifische Varietäten eine große Rolle. Jüngere Sprecher führen neue sprachliche Formen ein, während andere Formen, die von älteren Sprechern aktiv oder passiv beherrscht werden, mit der Zeit aufgegeben werden. Auch wenn sich Sprache in einem stetigen Wandel befindet, können wir 400 bis 800 Jahre alte Texte immer noch in großen Teilen nachvollziehen und verstehen. Die Sprecher einer Sprache verfügen über eine pandialektale Kompetenz, d.h. sie verstehen passiv mehr geographische und zeitliche Dialekte als sie selbst aktiv verwenden. In der Geschichte sind oft Völker von anderen erobert worden, was auch auf die von ihnen gesprochenen Sprachen Einfluss hatte. Der Einfluss von Erstsprachenverwendung und gewohnheitsmäßiger Verwendung grammatischer Muster auf die neue Sprache, die von den Eroberten gesprochen wurde, bezeichnet man als substralen Einfluss, die beeinflussende Sprache als das Substrat. Der Einfluss der Sprachen der Eroberer auf die Sprache der Eroberten heißt superstraler Einfluss, die beeinflussende Sprache ist das Superstrat. Die historische Sprachwissenschaft stützt sich auf zwei Methoden der Untersuchung. Die philologische Methode findet Anwendung, wenn Texte überliefert sind. Liegen für bestimmte Perioden und Sprachen keine schriftlichen Zeugnisse vor, können sprachliche Vorläufer immer noch rekonstruiert werden. Bei der Methode der internen Rekonstruktion werden sprachliche Formen in verschiedenen Sprachen miteinander verglichen. Man versucht dann, auf eine gemeinsame Vorstufe dieser Sprachen zu schließen. Diese Ursprachen können 240 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT zeitlich sehr weit zurückliegen, wie etwa das Urindoeuropäische, Urgermanische, Urromanische. Bei der Rekonstruktion nimmt man an, dass zwischen Sprachen genetische Verwandtschaft besteht. Darüber hinaus stützt man sich auf das Prinzip der regelmäßigen Lautentsprechung. Nach dieser Annahme treten Veränderungen regelmäßig im gleichen linguistischen Kontext auf. So lässt sich beispielsweise die Erste Germanische Lautverschiebung beschreiben, die auch als Grimmsches Gesetz bekannt ist. Solche Lautgesetze fassen eine ganze Reihe von Phänomenen in Aussagen über Regularitäten zusammen, die eher als Mehrheitsregeln denn als Gesetze im engen Sinn zu verstehen sind. Wenn die Rekonstruktionsmethode nicht auf mehrere Sprachen zur Rekonstruktion einer gemeinsamen Vorgängersprache angewandt wird, sondern innerhalb einer Sprache durch Vergleich der geschichtlichen Sprachstufen eine Vorstufe dieser Sprache rekonstruiert wird, dann spricht man von sprachinterner Rekonstruktion. Sprachlicher Wandel lässt sich auf allen sprachlichen Beschreibungsebenen, d.h. auf den Gebieten der Lexikologie, der Morphologie, der Phonologie und der Syntax, feststellen. Da sprachliche Kategorien als sternförmige Netzwerke darstellbar sind, lassen sich insbesondere diese Netzwerke in ihrer Entstehung bzw. Veränderung untersuchen. Innerhalb von Kategorien bilden wir als Sprecher einer Sprache ein Schema, d.h. eine abstrakte Repräsentation dieser Kategorie, die auf alle ihre Mitglieder zutrifft. Sprachlicher Wandel kann innerhalb von Netzwerken, über Netzwerke hinweg und innerhalb solcher abstrakter Schemata geschehen. Innerhalb von Netzwerken können kleinere phonetische Veränderungen durch Assimilation, Dissimilation und Metathese auftreten. Innerhalb eines Netzwerkes können die einzelnen Mitglieder verschoben werden, indem ehemals prototypische zu peripheren Mitgliedern werden und auch umgekehrt. Wandel über Netzwerke hinweg findet in einer Gruppe von Allophonen eines bestimmten Phonems statt. So hat zum Beispiel das englische Phonem /t/ folgende Allophone: den Glottisverschlusslaut /// (cat-call), den Schlag /R/ (pretty /pr/) oder sogar Nullformen wie in /prII/. Ein lexikalisches Beispiel für einen Wandel über Netzwerke hinweg ist das Adverb sehr. Es gehörte zunächst zum Begriffsfeld „Schmerz“ und hat sich zu der Bedeutung „in hohem Maße“ verändert. Im Bereich der Grammatik kann Sprachwandel etwa eintreten, indem sich eine bereits bestehende Kategorie in zwei oder mehr Kategorien aufspaltet (wenn zum Beispiel aus dem Numeral ein auch ein unbestimmter Artikel entsteht). Umgekehrt können zwei unterschiedliche Kategorien zu einer einzigen neuen Kategorie verschmelzen. Wandel von Schemata finden wir beispielsweise vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen bei der Wortstellung in Phrasen oder bei der Negation. Auf lexikalischer Ebene kann ein sternförmiges Netzwerk auf eine einzige Bedeutung anstatt von mehreren Bedeutungsaspekten reduziert werden. Es können auch neue Schemata entstehen. Die Entstehung neuer Phonemschemata bezeichnet man als Phonemisierung. Ein Beispiel ist die Umlautbildung, durch die z.B. der gerundete deutsche Vokal /y/ in Kühe entstanden ist. Sprachliche Formen können sich auch ändern, wenn Sprecher bestimmte Formen in Analogie zu anderen Formen bilden. Die Frage nach den Gründen und Anlässen von Sprachwandel lässt sich möglicherweise durch die Tatsache erklären, dass eine HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 241 bestimmte Variante an gesellschaftlichem Prestige gewinnt und in der Folge dann weite Verbreitung findet. So etwa, wenn die Bewohner von Martha’s Vineyard die ersten Elemente von Diphthongen mit einer starken Zentralisierung artikulieren, um sich so von den Sommergästen abzugrenzen. Doch auch wenn alle notwendigen Faktoren für einen Sprachwandel vorhanden sind, muss dieser nicht notwendigerweise auch eintreten. Sprachwandel wird durch das Bemühen von Sprechern ausgelöst, einerseits verständlich, andererseits aber auch so zu sprechen, dass genügend Aufmerksamkeit erregt wird. Dennoch kann sprachlicher Wandel niemals eindeutig vorher gesagt werden. 9.6 Leseempfehlungen Eine gut verständliche Darstellung zu den Ursachen von Sprachwandel ist Keller (1994). Weitere allgemeine theoretische Ansätze finden sich in Hock (1986), Hock & Joseph (1996) sowie Trask (1996). Labov (1973) setzt historische Lautwandelerscheinungen mit gegenwärtiger Sprachvariation in Verbindung. Kellermann & Morissey (ed.1992) bieten eine Sammlung kognitiv-linguistischer Ansätze. Winters (1992) untersucht den Zusammenhang zwischen Prototypen, Schemata und Syntaxwandel. Kuryłowicz (1945) vertritt einen sprachhistorischen Ansatz, welcher der kognitiven Linguistik sehr nahe steht. Eine sehr gute Einführung in das Mittelhochdeutsche gibt Weddige (1996). Eine überschaubare Darstellung sprachlicher Veränderungen vom Germanischen bis zum Neuhochdeutschen findet sich in Schweikle (1990). Eine klassische mittelhochdeutsche Grammatik ist Paul (1998), eine gut verständliche Einführung gibt Singer (1996). Überblicksartige Aufsätze zu methodischen und inhaltlichen Fragen der historischen Sprachwissenschaft finden sich in den Handbüchern Besch et al. (Hg.) (1984-1985) bzw. Besch et al. (Hg.) (1998-2000). 9.7 Aufgaben 1. Suchen Sie Beispiele für sprachliche Einheiten im Gegenwartsdeutsch, die Sie selber verwenden, die von Ihren Eltern und Großeltern aber nicht verwendet werden bzw. umgekehrt. Bei welchen Ausdrücken könnte sich ein Sprachwandel andeuten? 2. Betrachten Sie den folgenden Auszug aus einem so genannten Spruch des mittelhochdeutschen Dichters Walther von der Vogelweide aus den Jahren 1198-1201: Ich horte ein wazzer diezen und sach die vische fliezen ich sach swaz in der welte was, velt, walt, loup, ror unde gras. swaz kriuchet unde fliuget und bein zer erde biuget, daz sach ich, unde sag iu daz: der keinez lebet ane haz. keines von ihnen; Feindschaft 242 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT daz wilt und daz gewürme, die stritent starke stürme sam tuont die vogel under in; wan daz sie habent einen sin, si duhten sich ze nihte, si enschüefen starc gerihte. si kiesent künege unde reht, si setzent herren unde kneht. so we dir, tiuschiu zunge, wie stet din ordenunge! daz nu diu mugge ir künec hat, und daz din ere also zergat! bekera dich, bekere, die cirkel sint ze here, die armen künege dringent dich. Phillipe setze en weisen uf, und heiz si treten hinder sich! (Maurer, 1995:60f) ebenso; untereinander nur, dass sie; hier: Vernunft sie kämen sich für nichts vor wenn sie nicht deutsche Zunge: deutsches Volk Mücke kehre um die Kronreife sind zu mächtig die Krone a. Woran erkennen Sie, dass es sich um einen Text aus einer älteren sprachlichen Epoche des Deutschen handelt? Nennen Sie einige Phänomene. Versuchen Sie eine eigene Übersetzung. Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie dabei? b. Untersuchen Sie insbesondere die fett gedruckten Wörter aus dem obigen Ausschnitt mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuches, eines etymologischen Wörterbuches bzw. einer mittelhochdeutschen Grammatik. Vergleichen Sie diese mit dem Neuhochdeutschen. In welche Kategorien des Wandels lassen sich die Veränderungen einordnen? (i) Umstrukturierung innerhalb eines Netzwerks (ii) Wandel über Netzwerke hinweg (iii) Wandel in einem Schema durch Teilung (iv) Wandel in einem Schema durch Verschmelzung (v) analogischer Wandel. c. Betrachten Sie den folgenden Ausschnitt aus Walthers Spruch etwas genauer. In welche Arten von Tiere wird in beiden Ausschnitten die Tierwelt eingeteilt? Ich horte ein wazzer diezen und sach die vische fliezen ich sach swaz in der welte was, velt, walt, loup, ror unde gras. swaz kriuchet unde fliuget und bein zer erde biuget [...] Beziehen Sie den folgenden Ausschnitt mit ein: vische, würme, vogele, tier hânt ir reht baz danne wier. (Freidank, 5,13 nach Grimm WB 374,2) HISTORISCHE SPRACHWISSENSCHAFT 243 Schlagen Sie die unterstrichenen Wörter in einem mittelhochdeutschen Wörterbuch nach. Wie würden Sie diese Wörter ins heutige Deutsch übersetzen? Lassen sich Veränderungen in der Einteilung der Tierwelt erkennen? Betrachten Sie auch Zusammensetzungen wie: Walfisch, Lindwurm (mhd. lint ‚Schlange‘), Rentier (volksetymologisch zu rennen). 3. Betrachten Sie die folgenden Verbformen – unterstreichen Sie die Formen, die Sie selbst verwenden doppelt, diejenigen, die Sie passiv beherrschen, einfach, und versehen Sie Formen, die Ihrer Meinung nach fraglich bzw. nicht korrekt sind, mit einem Fragezeichen bzw. Sternchen. backen – backte/buk – gebacken fragen – fragte/frug – gefragt melken – melkte/molk – gemelkt/gemolken bewegen – bewegte/bewog – bewegt/bewogen hauen – haute/hieb – gehauen bellen – bellte/boll – gebellt/gebollen glimmen – glimmte/glomm – geglimmt/geglommen hängen – hängte/hing – gehängt/gehangen gären – gärte/gor – gegoren frieren – frierte/fror – gefriert/gefroren Lässt sich eine bestimmte Tendenz der Entwicklung erkennen? Trifft die Aussage zu, die so genannten schwachen seien die eigentlich starken Verben? Stützen Sie Ihre Überlegungen durch weitere Beispiele. 4. Inwiefern trifft auf die folgenden Beispiele das Grimmsche Gesetz zu? (a) (b) (c) (d) 5. Altindisch afras pad dva trayas Latein aere pes duo tres Englisch ages foot two three Deutsch Alter Fuß zwei drei Welche Art des Wandels wird jeweils durch die folgenden Beispiele illustriert? Latein in + legalis ⇒ neuhochdeutsch illegal lateinisches Adjektivsuffix -alem ⇒ glottal, palatal, velar altenglisch brid ⇒ neuenglisch bird lateinisch murmurare, engl. murmur ⇒ deutsch murmeln althochdeutsch ors ⇒ Ross Intellekt (lat. inter-lego) bzw. Englisch burn vs. German brennen. (h) englisch thunder vs. niederl. donder vs. deutsch Donner (i) Englisch cellar vs. dt. Keller vs. niederl. kelder (j) Englisch adventure vs. frz. aventure, mhd. âventuire (Abenteuer). (a) (b) (c) (d) (e) (f) 244 6. SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Vergleichen Sie die ur-westgermanischen Wörter mus und kuh im Englischen, Niederländischen und Deutschen. Welche ähnlichen bzw. unterschiedlichen Prozesse haben in jeder Sprache stattgefunden? (a) (b) (c) (d) Westgermanisch: Englisch: Deutsch: Niederländisch: mus – musi mouse – mice Maus – Mäuse muis - muizen kuh – kuhi cow – OE kine/NE cows Kuh – Kühe koe – koeien 7. Sammeln Sie im Alltag Belege für die Verwendung des Wortes geil. Vergleichen Sie die einzelnen Bedeutungsaspekte im heutigen Deutsch mit denen im Mittelhochdeutschen. Ziehen Sie hierzu ein Mittelhochdeutsches Wörterbuch und das Grimmsche Wörterbuch zu Rate. Lässt sich ein Sprachwandel erkennen? 8. Sammeln Sie im Alltag Beispiele (gesprochener und geschriebener Sprache) für die Verwendung der Konjunktionen denn und weil. Beschreiben Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf Satzstellung und Bedeutung. Ziehen Sie auch ältere und neuere Grammatiken des Deutschen zu Rate. Lassen sich mit der Zeit Veränderungstendenzen in der Verwendung (wie auch in der Bewertung in den Grammatiken) erkennen? KAPITEL 10 Sprachen im Vergleich: außersprachliche, klassifizierende, typologische und kontrastive Aspekte 10.0 Überblick In Kapitel 6 über kulturvergleichende Semantik hatten wir uns bereits mit einigen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturgemeinschaften beschäftigt, und zwar in Bezug auf Aspekte des Wortschatzes, der Grammatik sowie des sprachlichen Handelns. In diesem Kapitel wollen wir nun den Vergleich von Sprachen aus außersprachlicher, klassifizierender, typologischer und kontrastiver Perspektive in den Blick nehmen. Der Sprachvergleich ist auch von interdisziplinärem Interesse: im Einklang mit anderen Wissenschaften versucht man, genauere Vorstellungen über den Ursprung und die weltweiten Wanderungsbewegungen der menschlichen Spezies zu erhalten. Besonderes Interesse gilt zunächst dem Status von Sprachen. Wie kann man die Anzahl der Sprachen dieser Welt bestimmen? Wie kann man sicher sein, dass es sich bei einer Varietät um eine eigenständige Sprache und nicht um einen Dialekt handelt? Welche Sprachen sind die international bedeutendsten Sprachen der Welt? Welche Kriterien können für einen solchen Vergleich angelegt werden? Neben diesem Vergleich nach außersprachlichen Gesichtspunkten können wir Sprachen auch anhand von innersprachlichen Kriterien vergleichen und einordnen. Die Sprachtypologie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, welche Sprachen einer gemeinsamen Gruppe, einer Sprachfamilie bzw. einem Sprachstamm angehören. Auch wenn zwei oder mehr Sprachen nicht aufgrund gemeinsamer Abstammung miteinander verwandt sind, so können sie immer noch anhand von sprachwissenschaftlichen Kriterien bestimmten strukturellen Typen zugeordnet werden. Ein mögliches Kriterium für Universalien ist die Wortstellung im einfachen Satz. Bei diesen Vergleichen nimmt man an, dass alle Sprachen einer Reihe von grundlegenden Bedingungen unterliegen, die man als sprachliche Universalien bezeichnet. Sprachen werden nicht nur aus reinem Erkenntnisinteresse, sondern auch aus ganz praktischen Gründen miteinander verglichen. So lassen sich beispielsweise Erkenntnisse für das Fremdsprachenlernen und Übersetzen sowie für die Erstellung zweisprachiger Wörterbücher gewinnen. Diese praktisch ausgerichtete Variante des Sprachvergleichs fällt in den Aufgabenbereich der kontrastiven Sprach- 246 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT wissenschaft: hier werden zwei oder mehr Sprachen miteinander verglichen, indem man sie zueinander in Kontrast gesetzt. Eine kontrastive Vorgehensweise zielt meist auf sehr viel genauere Detailvergleiche hin als die sprachtypologische Untersuchungsrichtung. 10.1 Die Identifikation von Sprachen und deren Status 10.1.1 Sprachen identifizieren und zählen Bis heute lässt sich nicht genau bestimmen, wie viele Sprachen insgesamt auf der Welt gesprochen werden; man schätzt ihre Zahl auf ca. 5000 bis 6000. Angesichts dieser groben Schätzungen kann man sich durchaus fragen, wieso die Sprachwissenschaft hier nicht genauere Zahlen liefern kann. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens sind einige Teile der Welt wie Afrika und Australien sprachwissenschaftlich noch relativ unerforscht. Über viele der dort gesprochenen Sprachen liegen nur sehr dürftige oder überhaupt keine Daten vor, denn für sprachwissenschaftliche Untersuchungen wird neben viel Zeit und Geld auch ein besonderes Know-How benötigt. Erst vor kurzem hat man in einigen, bisher noch relativ unerforschten Gebieten dieser Welt eine große Anzahl neuer Sprachen entdeckt. So berichtet etwa Comrie (1987a), dass Neuguinea völlig unerwartet sprachwissenschaftliche Bedeutung erlangt hat, da hier offenbar ein Fünftel der Sprachen dieser Welt beheimatet sind. Viele dieser Neuentdeckungen konnten bisher immer noch nicht eindeutig bestimmt werden. Ähnliches gilt für eine Reihe afrikanischer und australischer Sprachen. Zweitens lässt sich in vielen Fällen auch nicht genau sagen, ob zwei benachbarte sprachliche Varietäten als voneinander abzugrenzende, eigenständige Sprachen einzuordnen sind, oder ob es sich um Dialekte einer einzigen Sprache handelt. Selbst in Europa, wo in dieser Hinsicht eigentlich keine Unklarheiten mehr bestehen sollten, sind diese Fragen nicht immer eindeutig geklärt, denn die Entscheidungen über den Status von Varietäten beruhen traditionell zumeist auf politischen und nicht auf sprachwissenschaftlichen Kriterien. 10.1.2 Sprachwissenschaftliche Kriterien zur Identifikation einer Sprache Das am häufigsten verwendete Kriterium zur Spracheinteilung war lange Zeit die gegenseitige Verständlichkeit von Varietäten. Wenn sich die Sprecher zweier Varietäten gegenseitig verstehen können, so geht man davon aus, dass sie Dialekte ein- und derselben Sprache sprechen. Können sie einander aber nicht verstehen, so sprechen sie wahrscheinlich verschiedene Sprachen. Da aber die offiziellen Amtssprachen in Europa (d.h. jede Sprache, die von einem europäischen Staat als Nationalsprache anerkannt wird) wie gesagt nicht aufgrund von sprachwissenschaftlichen Kriterien festgelegt wurden, lassen sich selbst in den uns sehr gut bekannten europäischen Regionen ganz offenkundige Widersprüche in der Abgrenzung von Sprachen erkennen. Im deutschsprachigen Raum sind beispielsweise Norddialekte für Sprecher von Süddialekten kaum zu SPRACHEN IM VERGLEICH 247 verstehen – und umgekehrt. Italiener aus der Alpenregion benötigen Untertitel, wenn sie den in Mafiafilmen gesprochenen Dialekt verstehen wollen. Die Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden ist zwar auch die Grenze zwischen den offiziellen Landessprachen Deutsch und Niederländisch – sie verläuft aber mitten durch ein Gebiet, in dem die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Deutschen und Niederländer sich sehr wohl verstehen können, wenn sie ihren jeweiligen Dialekt sprechen. Auch bei den scheinbar eindeutig von einander abgrenzbaren skandinavischen Sprachen ist das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit durchaus erfüllt. Dänen und Norweger können beispielsweise einander gut verstehen, auch wenn sie ihre jeweilige Landessprache sprechen. Dennoch unterscheidet man zwischen Dänisch, Norwegisch, Schwedisch usw. und spricht nicht von schwedischen, norwegischen oder dänischen Dialekten des Skandinavischen. Offenbar kann man mit dem Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit Sprachen bzw. Dialekte bestimmen, die linguistisch gesehen relativ nah beieinander liegen. Verständlichkeit als einziges Kriterium zur Bestimmung von Sprachen ist noch in einer weiteren Hinsicht problematisch: man muss ja eine andere Sprache nicht vollständig verstehen können, um sich mit deren Sprechern verständigen zu können. Sicherlich lassen sich hier Grade der Verständlichkeit feststellen, die davon abhängen dürften, wie vertraut die Sprecher einer Sprachvarietät A mit einer Varietät B sind und wie stark der Wunsch und das Bedürfnis danach sind, die anderen zu verstehen. Es gibt Situationen, in denen nur einer von beiden Partnern die Sprache des anderen verstehen kann, was z.B. bei Niederländern und Deutschen oft der Fall ist. Das Problem der Sprachgrenzen und der gegenseitigen Verständlichkeit lässt sich lösen, indem man die Sprachen auf einem Dialektkontinuum ansiedelt. Selbst wenn zwei benachbarte Dialekte auf dem Dialektkontinuum zwei unterschiedlichen offiziellen Sprachen zugeordnet sind, können sie doch für Sprecher beider Dialekte verständlich sein. Zwei weit voneinander entfernt stehende Dialekte, die derselben offiziellen Sprache zugeordnet werden, müssen nach diesem Modell für die Sprecher beider Dialekte nicht notwendigerweise auch wechselseitig verständlich sein. In Übersicht 1 lassen sich anhand der Aussprache des Satzes Wie geht‘s dir jetzt? durchaus Hinweise für ein Dialektkontinuum entdecken, das geographisch gesehen von der Nordsee bzw. Ostsee bis ins südliche Tirol reicht. Übersicht 1. Unterschiedliche Aussprache von „Wie geht’s dir jetzt“ geschriebener (Sub)standard Bayerisch wia geht’s da jetzat? Hochdeutsch wie geht’s dir jetzt? Plattdeutsch wo geit di dat nu? Niederländisch hoe gaat het met u? Dänisch hvordan har du det nu? Norwegisch hvordan har du det no? Aussprache via ts da ietsat vi˘ e˘ts diå iEtst vo˘ ait di dat nu˘ hy˘ xa˘t h´t met y voådan ha˘ du de˘ nu˘ vurdan har dy de˘ no˘ 248 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Neben einem geographischen lässt sich auch ein zeitliches, d.h. historisches Kontinuum annehmen. Einige Sprachen gehen mit der Zeit unter, während andere sich aus einem früheren Stadium zu einer neuen Sprache entwickeln. Latein hat sich beispielsweise im Laufe der Jahrhunderte in viele verschiedene romanische Sprachen verzweigt und ist schließlich selbst als gesprochene Sprache ausgestorben. Eine Sprache gilt als ausgestorben, wenn sie von niemandem mehr gesprochen wird. Der Sprachtod muss aber nicht abrupt mit dem Tod des letzten Sprechers dieser Sprache eintreten. Viel häufiger vollzieht er sich als schleichender Übergang innerhalb einer Gemeinschaft von Sprechern, die nach und nach ihre alte Sprache aufgeben, indem sie immer stärkeren Gebrauch von einer neuen Sprache machen. Es kann also durchaus ein Stadium geben, in dem die alte Sprache weiterhin von einer gewissen Anzahl von Sprechern noch beherrscht, aber immer seltener verwendet wird. Wie können wir umgekehrt den Entstehungszeitpunkt einer neuen Sprache festlegen, wenn diese sich allmählich als Varietät einer bestehenden Sprache entwickelt hat? In dieser Frage ist die Sprachwissenschaft noch nicht zu einer einheitlichen Antwort gelangt. Wir betrachten die romanischen Sprachen als Abkömmlinge des Lateinischen, aber zur gleichen Zeit erkennen wir nur eine hellenische Sprache an (nämlich das moderne Griechisch). Obwohl Griechisch eine viel längere Entwicklung durchlaufen hat, wurde es – anders als Latein – nicht durch verschiedenste Substrata beeinflusst (siehe Abschnitt 9.2). Sprachen zu identifizieren und zu zählen erweist sich also als sehr schwierige Aufgabe, selbst wenn mit ihr darauf spezialisierte Sprachwissenschaftler betraut sind. Bereits vorhandene Datensammlungen müssen erweitert und vervollständigt werden, die Bestimmungskriterien sind nicht präzise genug, und es gibt keine eindeutigen Richtlinien dafür, wie diese anzuwenden sind. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir noch sehen, dass die Bestimmung und damit auch die Klassifikation von Sprachen wiederum von den Fortschritten und Ergebnissen soziolinguistischer und diachronischer, d.h. sprachgeschichtlicher Forschung abhängt. 10.1.3 Der politische und internationale Status von Sprachen Mit dem sechzehnten Jahrhundert brach in der Geschichte die Moderne an, und ein neues Konzept des Staates entstand. Es wurde durch große und mächtige Herrscher wie Heinrich VIII. von Britannien, François I. von Frankreich und Karl V. und seinen Sohn Philip II. von Spanien geprägt. Sprache und Religion bildeten wichtige Säulen in dieser Konzeption des Staates unter dem Motto „ein Königreich, eine Sprache, eine Religion“. Diese Konzeption wirkt bis heute fort: Einige Sprachen haben eine so große öffentliche und politische Bedeutung, dass die Entscheidung über die offizielle Sprache eines Landes fast ausschließlich von der Politik gefällt wird – eher selten werden in dieser Frage Sprachwissenschaftler zu Rate gezogen. Manche Länder erkennen traditionell nur eine Sprache als offizielle Amtssprache an. Die französische Sprachenpolitik hat sich selbst zu Zeiten des Kolonialismus stets an dieser Maxime orientiert. Einige Länder haben hingegen mehr als nur eine offizielle Sprache, darunter Großbritannien, Spanien, Belgien und die Schweiz, andere bil- SPRACHEN IM VERGLEICH 249 ligen sogar Varietäten den Status eigenständiger Sprachen zu, die in wieder anderen Ländern lediglich als Dialekte eingestuft würden. In Europa trifft das beispielsweise auf Letzeburgisch zu, das von vielen Sprachwissenschaftlern als ein Dialekt des Deutschen eingestuft wird. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Dialekten verfügt Letzeburgisch aber über eine reiche literarische Tradition und wird überall in den Medien und insbesondere im Fernsehen verwendet. Es ist deshalb in seinem Status nicht mit einem deutschen Dialekt gleichzusetzen. Dennoch beruht die Förderung des Letzeburgischen als dritter offizieller Sprache der gesamten luxemburgischen Nation auf einer rein politischen Entscheidung der luxemburgischen Regierung. Durch diese Förderung wird es gleichzeitig auch von der Europäischen Union als offizielle Sprache anerkannt. In verschiedenen Staaten Asiens haben die Varietäten des Malaiischen sowohl Dialekt- als auch offiziellen Sprachstatus. In Malaysia findet die alltägliche Verständigung in der einen oder anderen Varietät des Bazaar Malay statt; die übergeordnete offizielle Sprache ist Standardmalaiisch oder Bahasa Malaysia. In Indonesien haben die Politiker schon lange vor der Unabhängigkeit beschlossen, nicht eine der größeren nationalen Sprachen – z.Β. Javanisch mit 70 Millionen Sprechern – als offizielle Amtssprache zu wählen, sondern eine indonesische Standardform des Malaiischen zu schaffen. Diese Form wurde allgemein akzeptiert und wird nun als Bahasa Indonesia bezeichnet. Wenn eine Sprache den offiziellen Status als Amtssprache eines Landes hat, so sagt das zwar wenig bis nichts über ihre statistische Relevanz aus. Auf lange Sicht werden aber durch ihren institutionellen Gebrauch zusätzliche Regeln etabliert, und auch der Wortschatz erfährt eine erhebliche Bereicherung. In vielen Ländern, in denen Minoritäten sprachliche Autonomie zugestanden wird, gibt es deshalb bestimmte Sprachengesetze, die regeln sollen, in welchem gesellschaftlichen Kontext welche Sprache verwendet werden soll und welcher Status den einzelnen dort gesprochenen Sprachen zukommt. Auf globaler Ebene führt der Vergleich von Sprachen zu der Frage, welche die bedeutendsten Sprachen der Welt sind. Die Antwort hängt wiederum ganz davon ab, welche Kriterien man anlegt. Ist die Zahl der Sprecher einziges Kriterium, so lassen die Sprachen Asiens alle übrigen Sprachen weit hinter sich (Übersicht 2). Übersicht 2. Die meistgesprochenen Sprachen der Welt Mandarinchinesisch 885 Indonesisches Malaiisch 193 Arabisch 139 Englisch 450 Bengalisch Assam 181 Japanisch 126 Spanisch 266 Portugiesisch 175 Französisch 122 Hindi/ Urdu 233 Russisch 160 Deutsch 118 (Sprecher in Millionen; nach Grimes 1996) Kommen aber noch weitere Kriterien hinzu – wie etwa die Anzahl der Länder, in denen eine Sprache offiziellen Status hat, die Anzahl der Kontinente, auf denen sie gesprochen wird, oder die Wirtschaftskraft des Ursprungslandes – so sieht die Rangliste der international bedeutendsten Sprachen schon völlig anders aus. Der 250 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Reihenfolge in Übersicht 3 liegt das Kriterium „Amtssprache in wie vielen Ländern“ zugrunde. Übersicht 3. Die international bedeutendsten Sprachen der Welt Sprache Englisch Französisch Arabisch Spanisch Portugiesisch Deutsch Indonesisches Malaiisch Amtssprache in Ländern 47 30 21 20 7 5 4 Erstsprachler in Millionen.+ 300 68 139 266 175 118 193 Anzahl der Kontinente 5 3 2 3 3 1 1 Bruttosozialprodukt Ursprungsland in Millionen Dollar* 1,069 Großbritannien 1,355 Frankreich 38 Verein. Arab. Emirate 525 Spanien 92 Portugal 2,075 Deutschland 167 Indonesien (+ Angaben nach Grimes 1996; * Angaben nach Fischer Weltalmanach 1997; erster Rang nach dem jeweiligen Kriterium fett gedruckt) 10.2 Die Verbreitung von Sprachen und deren Klassifikation 10.2.1 Die Entstehung und Verbreitung von Sprachen Der Sprachvergleich ist eines der wichtigsten Forschungsinstrumente, mit deren Hilfe sich Antworten auf einige grundlegende Fragen nach dem Ursprung, der Natur und der Evolution der menschlichen Spezies finden lassen. Haben Sprache und Menschheit zeitlich und räumlich gesehen denselben Ursprung? Nach Jean Aitchison (1996) liegt dieser Ursprung östlich der Großen Seen Ostafrikas im heutigen Kenia und ist zeitlich vor zirka 200,000 Jahren anzusetzen. Viele Jahrtausende lang war die menschliche Sprache nur dort beheimatet. Vor ca. 50.000 Jahren begannen sich die Sprachen dann weiterzuentwickeln und breiteten sich sehr schnell aus. Von Ostafrika zogen die Menschen in Wanderungsbewegungen ins westliche, südliche und nördliche Afrika und von dort aus nach Europa und Zentralasien, Südasien und Neuseeland. Eine andere Gruppe zog nach Nordasien, über die Beringstraße nach Alaska, Nord-, Mittel- und Südamerika. Aus Zentralasien wanderten später immer mehr Menschen westwärts und nach Europa. Das Resultat dieser letzten großen Wanderungsbewegungen ist die indoeuropäische Sprachfamilie – eine der größten Sprachfamilien der Welt. Abbildung 1 gibt einen allgemeinen Überblick über diese Wanderungsbewegungen. ATLANTIK AFRIKA EUROPA OZEAN INDISCHER ASIEN AUSTRALIEN PHILIPPINEN AMERIKA NORD- OZEAN NEUSEELAND PAZIFISCHER JAPAN Beringstraße AME RIKA SÜD- AMERIKA MITTEL- GRÖNLAND SPRACHEN IM VERGLEICH 251 Abbildung 1. Wanderungsbewegungen 252 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache und der Wiege der Menschheit beschäftigen sich neben der Sprachwissenschaft auch viele andere Wissenschaften wie die Physiologie, die Ethologie (die das Verhalten von Tieren untersucht), die Evolutionstheorie, Anatomie, Anthropologie, Geographie und auch die Neurobiologie. Durch einen interdisziplinären Forschungsansatz, der entsprechend weitgefächerte Ergebnisse liefert, hofft man, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Sprachwissenschaftler verfolgen mit dem Vergleich von Sprachen mindestens drei wesentliche Ziele: • einen allgemeinen Überblick über sprachliche Kategorien und Strukturen zu gewinnen; • Hypothesen über den Ursprung und über die Evolution der menschlichen Sprache zu überprüfen; • Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie weit die Möglichkeiten der deskriptiven Grammatik reichen, d.h. für wie viele Phänomene sie eine Erklärung bieten kann. 10.2.2 Die Klassifikation von Sprachen Die Sprachwissenschaft hat eine reichhaltige Tradition, Sprachen in Sprachfamilien einzuordnen. Mit dieser Familienmetapher kommt eine Leithypothese dieses sprachwissenschaftlichen Forschungszweiges zum Ausdruck: analog zu Verwandtschaftsbeziehungen in einer menschlichen Familie werden zwischen einer Reihe von Sprachen Abstammungsbeziehungen angenommen. Sprachen, die eine große Zahl von Gemeinsamkeiten auf den Gebieten der Phonologie, Lexikologie, Morphologie und Syntax aufweisen, gehen der Abstammungshypothese zufolge auf einen gemeinsamen Vorläufer zurück. Eine Reihe indischer Sprachen (z.B. Hindi), Griechisch, Latein, die iranischen, slawischen, keltischen, romanischen und germanischen Sprachen sind alle Mitglieder der großen indoeuropäischen Sprachfamilie. Die Zuordnung zu Sprachfamilien gründet sich auf sprachgeschichtliche Forschungen und die Rekonstruktion älterer Sprachstufen (so genannter Ursprachen). Sie orientiert sich an Lautverschiebungen und/oder strukturellen Veränderungen, die sich durch die Sprachgeschichte ziehen und zur Differenzierung der Sprachen geführt haben (vgl. Kapitel 9). Die moderne Sprachtypologie stützt sich nicht mehr nur einzig auf das Konzept der Sprachfamilie, sondern verwendet eine komplexere Taxonomie. Auf der höchsten Stufe der Taxonomie steht ein Phylum, d.h. eine Menge von Sprachen, die mit keiner anderen Menge auf dieser Stufe verwandt ist. Auf der nächsttieferen Stufe der Klassifizierung stehen Sprachstämme, d.h. Mengen von Sprachen, die unterschiedlichen Sprachfamilien zuzuordnen sind, aber entfernt miteinander verwandt sind. Das Konzept der Sprachfamilie spielt in dieser Taxonomie weiterhin eine zentrale Rolle, denn es hebt die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Familie hervor. In einer Reihe von Fällen – so etwa im Indoeuropäischen – fallen die ohnehin schwer abzugrenzenden Ebenen Phylum, Stamm und Familie zusammen. Für komplexe Sprachsituationen in Afrika, Asien und auf dem amerikanischen Kontinent sind diese Unterscheidungen hingegen unentbehrlich (siehe als Beispiel Übersicht 4 mit einer Darstellung des größten Phy- SPRACHEN IM VERGLEICH 253 lums der Welt, Niger-Kongo). Sprachfamilien werden in Sprachzweige (z.B. der westeuropäische Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie), Zweige in Sprachgruppen (die romanische bzw. germanische Gruppe des westeuropäischen Zweiges) und Gruppen eventuell weiter in Untergruppen eingeteilt. Diese Kategorien werden in Übersicht 4 am Beispiel einiger afrikanischer Sprachen dargestellt. Man erkennt, dass bei den Bantusprachen die Klassen „Familie“ und „Zweig“ zusammenfallen. Bantu ist zwar entfernt verwandt mit anderen Sprachen des Niger-Kongo-Stamms, doch der Bantusprachstamm selbst umfasst lediglich eine einzige Sprachfamilie. Diese Familie besteht aber wiederum aus viel mehr Zweigen, als hier dargestellt werden können. Jeder dieser Zweige gliedert sich wiederum in viele Gruppen und Untergruppen. Übersicht 4. Taxonomische Ebenen der Sprachklassifikation (Beispiel aus Afrika) (nach Moseley/ Asher 1994:292) Niger-Kongo (vgl. Übersicht 5) Phylum Stamm: Ubongi Benue-Kongo Familie: Bantoid Zweig Bantu Gruppe: Untergruppe: Ndebele Tsonga Zulu Venda Adamawan Nguni Xhosa Gur usw. Sotho Swazi Übersicht 5 gibt einen Überblick über einige Aspekte der Beziehung zwischen einer Reihe von Sprachen dieser Welt. In diesem Zusammenhang wird nun der Begriff „Phylum“ besonders wichtig. Die Klassifizierung der ersten Gruppe afrikanischer Sub-Sahara-Sprachen als drei verschiedene Phyla zeigt an, dass zwischen diesen (Niger-Kongo, Khoisan und Nilo-Saharanisch) keine genetische Verwandtschaft besteht. Daraus lässt sich folgern, dass diese Völker bereits lange vor der Geburtsstunde der Sprache (nach Aitchison (1996) zwischen 200.000 und 50.000 v. Chr.) in diese Teile Afrikas gezogen waren. Mit der zweiten Gruppe von Sprachen im Mittleren Osten und in der nördlichen Hälfte Afrikas verhält es sich ganz anders: sie alle gehören einem einzigen, dem Afroasiatischen Stamm an (Stamm fällt hier mit Phylum zusammen); die Familien und Sprachen in dieser Gruppe, sind entfernt verwandt oder relativ eng verwandt (Somali, Hebräisch und Arabisch). Der Afroasiatische Sprachstamm ist zugleich die einzige unter den sechs Sprachgruppen, die entfernt verwandte Mitglieder hat (Comrie 1987b:155). Mit Ausnahme dieser zweiten Menge wurden 254 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT also alle Mengen in Übersicht 5 eher aufgrund von geographischen Kriterien eingeteilt. Die Einteilung in Nostratische Sprachen (siehe hierzu Pedersen 1923) spiegelt einen älteren Ansatz in der Sprachenklassifikation wider. Viele Sprachwissenschaftler glaubten, alle Sprachen der Welt müssten zueinander in irgendwelchen Abstammungsbeziehungen stehen. Bevor man in der modernen Forschung zur Sprachenklassifikation irgendeine Aussage über die mögliche Verwandtschaft von Sprachen wagt, müssen allerdings erst handfeste empirische Nachweise vorgelegt werden können. Übersicht 5. Klassifikation der wichtigsten Sprachengebiete dieser Welt 1. Sub-Saharische Sprachen 1.1 Niger-Kongo-Phylum, z.B. Bantoid-Familie 1.2 Khoisan-Phylum, z.B. Khoekhoe-Zweig, z.B. Nama 1.3 Nilosaharisches Phylum, z.B. Nilotische Familie 2. Afrika und Mittlerer Osten: Afroasiatischer Stamm 2.1 Kuschitischer Zweig, Kuschitische Familie z.B. Somali; einige Äthiopische Sprachen 2.2 Altägyptisch und Koptisch † 2.3 Semitische Familie, z.B. Arabische Gruppe, Hebräisch, Aramäisch 2.4 Berber-Familie 2.5 Tschadische Familie, z.B. Hausa 3. Nostratische Sprachen 3.1 Indoeuropäisches Phylum (siehe Übersicht 6) 3.2 Kartvelisches Phylum: Südkaukasisch, Georgisch 3.3 Uralisches Phylum, z.B. Finnisch, Estnisch, Lappisch, Ungarisch 3.4 Altaisches Phylum, z.B. Turkische Gruppe (z.B. Türkisch), Mongolische Gruppe 4. Austrische Sprachen 4.1 Austro-Asiatisches Phylum, z.B. Mon-Khmer-Untergruppe 4.2 Drawidisches Phylum, z.B. Tamil, Telugu 4.3 Sino-Tibetisch, z.B. Chinesische Familie, Tibetobirmanische Familie 4.4 Koreanisch, Japanisch 5. Australasiatische und Pazifische Sprachen 5.1 Austronesisches Phylum (800 Sprachen), z.B. Malaiischer Stamm, Indonesisch, Javanisch 5.2 Papuasprachen (750 Sprachen in Papua-Neuguinea) 5.3 Australisches Phylum (250 Sprachen), z.B. Pama-Nyungan-Stamm, (z.B. Mbabaram) 5.4 Polynesische Gruppe 6. Amerindische Sprachen 6.1 Nordamerikanische Sprachen (einige Familien bzw. Stämme) 6.1.1 Eskimo-Aleutische Familie 6.1.2 Athabaskanische Familie, z.B. Navaho 6.1.3 Wakashanische Familie, z.B. Kwakiutl, Nootka 6.1.4 Uto-Aztekischer Stamm, z.B. Hopi 6.2 Mesoamerikanische Sprachen, z.B. Maya-Familie 6.3 Südamerikanische Sprachen SPRACHEN IM VERGLEICH 255 Übersicht 5 ist sozusagen ein Kompromiss zwischen diesen beiden Auffassungen: es kann der Übersicht halber nützlich sein, einige geographisch begründete Mengen aufzunehmen, ohne sich damit gleich auf eine irgendwie geartete Abstammungsbeziehung zwischen den einzelnen Sets innerhalb einer solchen geographisch begründeten Menge festlegen zu müssen. In Übersicht 6 wird das indoeuropäische Phylum dargestellt, das lediglich aus einem Stamm und einer Familie, aber aus zwei Hauptzweigen besteht: dem Satem- und dem Kentum-Zweig. Satem steht dabei für „hundert“ im Altiranischen, einem Mitglied des östlichen Zweigs, Kentum für „hundert“ im Lateinischen, einem Mitglied des westlichen Zweigs des indoeuropäischen Phylums. Die Bezeichnungen Kentum und Satem repräsentieren Unterschiede aufgrund von Lautverschiebungen. Auf der Grundlage erhaltener Schriften wurde die urindoeuropäische Form *k'mto rekonstruiert. /k'/ steht für einen palatalen Verschlusslaut (/k/ ist ein velarer Verschlusslaut). Dieser palatale Verschlusslaut /k'/ wurde zum palatalen Reibelaut /S/ und später dann zu /s/ in den Satem-Sprachen. In den Kentum-Sprachen wurde das palatale /k'/ hingegen zu einem velaren /k/ wie im Griechischen hekaton und im Lateinischen centum. Aus /k/ wurde später in den meisten germanischen Sprachen /h/ (siehe die Erläuterungen zum Grimmschen Gesetz in Kapitel 9). Die indoeuropäische Sprachfamilie wird also mit verschiedenen anderen Phyla in die Menge der nostratischen Sprachen eingeordnet, ohne damit zwischen diesen genetische Verwandtschaft anzunehmen. Aus Übersicht 6 lässt sich zudem erkennen, dass in der indoeuropäischen Sprachfamilie die Kategorien „Phylum“, „Stamm“ und „Familie“ zusammenfallen. Sie bilden ein Phylum, das mit keiner anderen Menge von Sprachen verwandt ist. Es handelt sich um einen Stamm und eine Familie, die mit den übrigen Sprachen noch nicht einmal entfernt verwandt ist. Nach der älteren Auffassung in der Sprachklassifikation würden die vier Mitglieder dieser Menge der nostratischen Sprachen in Übersicht 5 zumindest als Stämme angesehen, d.h. als entfernt miteinander verwandte Sprachfamilien. Für nahezu alle Gruppen der indoeuropäischen Sprachen werden – gestützt auf empirische Daten – Abstammungsbeziehungen angenommen. Aufgrund umfangreicher schriftlicher Zeugnisse ist es den Sprachtypologen gelungen, die Evolution der verschiedenen Zweige, Gruppen und Untergruppen zu rekonstruieren – ähnlich wie es in Kapitel 9 für die beiden germanischen Lautverschiebungen dargestellt wurde. I N D O E U R O P Ä I S C H K E N T U M S A T E M Phylum Stamm Familie 3.1.2.5 Germanisch 3.1.2.4 Keltisch 3.1.2.3 Romanisch 3.1.1.6 Albanisch 3.1.2.1 Hellenisch 3.1.2.2 Latein Ostromanisch Iberoromanisch Galloromanisch Rätoromanisch Gälisch Kymrisch Ostgermanisch Nordgermanisch Westgermanisch Ostslawisch Westslawisch Südslawisch Albanisch Griechisch Rumänisch, Italienisch, Sardisch Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch Französisch, Provenzalisch Litauisch, Lettisch Russisch, Belorussisch, Ukrainisch Polnisch, Tschechisch, Slovakisch Bulgarisch, Serbokroatisch, Slovenisch, Mazedonisch Albanisch Griechisch Hindi, Nepali, Bengali, Sanskrit †, Persisch, Kurdisch Einzelsprachen Irisch, Schottisch, Gälisch Walisisch, Bretonisch, Kornisch † Gotisch † Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch, Färöisch Englisch, Friesisch, Niederländisch, Afrikaans, Hochdeutsch, Niederdeutsch, Letzeburgisch, Jiddisch Gruppen/Untergruppen 3.1.1.5 Balto-Slawisch 3.1.1.2 Anatolisch 3.1.1.3 Tochasisch 3.1.1.4 Armenisch 3.1.1.1 Indoiranisch Zweige 256 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Übersicht 6: Die indoeuropäische Sprachfamilie SPRACHEN IM VERGLEICH 257 Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen müssen aber nicht schon auf Verwandtschaft hindeuten. Sie gelten immer dann als rein zufällig, wenn es sich um Einzelerscheinungen in geographisch und/oder historisch voneinander entfernten Sprachen handelt. Comrie (1987a:8) diskutiert ein Beispiel aus einer Sprache der australischen Ureinwohner, die Mbabaram heißt (siehe Übersicht 5; 5.3). In dieser Sprache gibt es ein Wort dog mit der Bedeutung „Hund“ – ebenso wie im Englischen. Dass es sich um ein Lehnwort aus dem Englischen handelt, kann aber mit Sicherheit ausgeschlossen werden – insbesondere weil die Form dog mit einer uraustralischen Form hinreichend etymologisch belegt und erklärt werden kann. Es wäre deshalb verfehlt, aufgrund dieser lexikalischen Einzelerscheinung eine genetische Verwandtschaft zwischen Mbarabam und Englisch annehmen zu wollen. Nun ist dieser spezielle Fall eher unproblematisch, denn man weiß sehr viel über Englisch und dessen Entwicklung. Nicht immer aber sind Sprachen so gut dokumentiert wie das Englische. In solchen Fällen kann die Entscheidung darüber, ob solche Ähnlichkeiten für die Klassifikation bedeutsam oder ob sie rein zufällig sind, sehr schwierig sein. 10.3 Sprachtypologie und sprachliche Universalien Die Sprachtypologie ist eine „sprachwissenschaftliche Disziplin, die auf die von genetischen Aspekten unabhängige Feststellung übergreifender Merkmale [...] abzielt“ (Glück (Hg.) 2000:587,2). Innerhalb der Sprachtypologie gibt es verschiedene Ansätze, von denen wir hier mit der Universalienforschung nur einen auswählen. Auch wenn zwischen Sprachen unterschiedlicher Sprachphyla große Unterschiede bestehen, sind doch allen Sprachen bestimmte Grundzüge gemeinsam, die man als sprachliche Universalien bezeichnet. In den Kapiteln über kulturvergleichende Semantik und über Pragmatik haben wir bereits einige Universalien kennen gelernt: in Kapitel 6 wurden universale Konzepte (siehe Übersicht 2) als Bedeutungsatome in einem „Alphabet des menschlichen Denkens“ vorgestellt. Aus dieser Hypothese kann man nun ableiten, dass sich in einer jeden Sprache zuallererst eine kleine Anzahl grundlegendster Konzepte (so genannte Primitiva) herausgebildet haben. Welche sprachliche Form oder Wortklasse ein solches Primitivum in einer bestimmten Sprache annimmt, ist dabei ohne Belang. Die Konzepte „ich“ und „du“ müssen nicht als Pronomen, sondern können auch als gebundenes Morphem auftreten: etwa als Suffix -i im Lateinischen veni ‚ich kam‘ oder -is in venis ‚du kamst‘. In der amerindischen Sprache Nootka gibt es beispielsweise keine Substantive. Die Referenz auf den Sprecher („ich“) oder den Hörer („du“) wird sprachlich – ebenso wie im Lateinischen – durch das Anhängen von grammatischen Morphemen an das Verb ausgedrückt Verallgemeinernd lässt sich festhalten: universale Konzepte werden entweder in Form von lexikalischen Einheiten oder als Affixe ausgedrückt. Es handelt sich um ideationale Universalien. Da Sprache in erster Linie der Kommunikation zwischen Menschen dient, lassen sich auch eine Reihe interpersonaler Universalien annehmen, mit denen Menschen in jeder Sprache ihre Kommunikation 258 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT regeln. Die Maximen der Konversation, zumindest die der Qualität, Quantität und Relevanz (Kapitel 7.3.1), könnten hypothetisch als interpersonale oder pragmatische Universalien angenommen werden. So interessant und eindringlich diese Beispiele für sprachliche Universalien auch sein mögen, ihnen fehlt jegliche interne Komplexität, d. h. es handelt sich lediglich um eine Reihe von Einzelaussagen, die mit genügendem Forschungsaufwand in den 5000 bis 6000 Sprachen dieser Welt auf ihre Gültigkeit hin überprüft und dann bestätigt oder verworfen werden könnten. Demgegenüber interessiert sich die Sprachtypologie traditionell für komplexere Universalien. Sie versucht, alle Elemente aus einem allgemeinen Vorrat an Lauten, Wörtern, Morphemen und syntaktischen Strukturen aufzulisten, die sich in den Sprachen dieser Welt finden lassen, und erst dann eine Aussage darüber zu treffen, in welcher Kombination oder Abfolge diese in den verschiedensten Sprachen zum Ausdruck von Bedeutung ausgewählt werden – wenn sie überhaupt gewählt werden. Diese Vorgehensweise lässt sich sehr schön am klassischen Beispiel der Farbbezeichnungen darstellen. Zunächst war man der Ansicht, dass Farbbezeichnungen zu den sprachspezifischsten, arbiträrsten Elementen der Sprache gehörten. Die amerikanischen Anthropologen Berlin und Kay (1969) untersuchten daraufhin eine große Anzahl von Sprachen aus allen Teilen der Welt und fanden eine bemerkenswerte Regelmäßigkeit in der Verteilung der sprachlichen Konzeptualisierungen von Farben (siehe auch Heider 1972). Wenn es in einer Sprache Bezeichnungen für Farben gibt, dann gibt es mindestens zwei wie „schwarz“ und „weiß“ bzw. „dunkel“ und „hell“. Wenn es drei Bezeichnungen gibt, so ist die dritte Bezeichnung „rot“, bei vier oder fünf Bezeichnungen kommen entweder „gelb“, „grün“ oder beide hinzu. Die sechste Farbbezeichnung ist „blau“, die siebte „braun“ und die folgende entweder „violett“, „rosa“, „orange“, oder „grau“. Diese Ergebnisse lassen sich wie in Übersicht 7 zusammenfassen: Übersicht 7. Lexikalische Universalien: Verteilung der grundlegenden Farbbezeichnungen Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 rot gelb und/oder grün weiß < schwarz < Stufe 4 < blau Stufe 5 < braun Stufe 6 < grau rosa orange violett Offensichtlich tritt für uns Menschen die Opposition zweier Extreme („hell“ und „dunkel“) unter allen anderen möglichen Unterscheidungen besonders stark hervor, d.h. sie ist die prominenteste Grundlage für den Aufbau von Farbkategorien. In Sprachen, die nur Entsprechungen für „schwarz/weiß“ oder „dunkel/hell“ haben, ist dieser Kontrast prominenter als die Unterscheidung zwischen den einzelnen Farben, die sich ja wiederum nach der für uns hervorstechendsten Unterscheidung entweder als „hell“ (rot, gelb, orange) oder „dunkel“ (grün, blau etc.) einordnen lassen. SPRACHEN IM VERGLEICH 259 Neuere Untersuchungen (Kay et al. 1991) zeigen allerdings, dass die grundlegenden Farbbezeichnungen nicht notwendigerweise in der oben dargestellten Abstufung vorkommen; beispielsweise können die vier Farbbezeichnungen auf der sechsten Stufe auch bereits vor früheren Stufen auftreten. Auch wenn die Verteilung noch nicht bis ins letzte Detail geklärt ist, lässt sich aber doch ein gewisses Prinzip in der Entwicklung dieser Bezeichnungen erkennen. Ein ähnliches Prinzip kann auch für den Aufbau des Vokalsystems in einer Sprache angenommen werden. In jeder Sprache wird zumindest zwischen zwei Vokalen unterschieden. Man kann nun einen Schritt weiter gehen und folgende Hypothese formulieren: wenn eine Sprache nur über zwei Vokale verfügt, so handelt es sich um Vokale, die im stärksten Kontrast zueinander stehen: /a/ und entweder /u/ oder /i/. Gibt es drei, so handelt es sich um /a,i,u/. Bei vier Vokalen kommt entweder /e/ oder /ç/ hinzu; bei fünf sind diese /i,a,u,e,ç/. Analog zu den Forschungsergebnissen zu den Farbbezeichnungen lässt sich nun die Hypothese aufstellen, dass der Aufbau von Vokalsystemen in allen Sprachen ebenfalls dem Kontrastprinzip folgt. Übersicht 8. Phonologische Universalien: Verteilung der Grundvokale /i,u/ i /e/ < /a/ /ç/ e a u ç Bei diesen fünf Lauten handelt sich um die Kardinalvokale, wie sie in Kapitel 5 über Phonologie besprochen wurden. Eine ganz ähnliche Ordnung hat man in der Morphologie für Affixe gefunden: die häufigste Wahl fällt auf Suffixe, gefolgt von Präfixen, dann Infixen. Als vierte lassen sich hypothetisch Zirkumfixe annehmen (wie in gearbeit-et), die auch als diskontinuierliches Morphem bezeichnet werden (siehe Übersicht 9). Übersicht 9. Morphologische Universalien: bevorzugte Affixe Suffix < Präfix < Infix < Zirkumfix In der Vergangenheit wurden in der Sprachtypologie überwiegend syntaktische (grammatische) Universalien untersucht. Greenberg (1966) fasst alle Erkenntnisse zusammen, die man bereits vor 40 Jahren gewonnen hatte. Zunächst stellt er die Ergebnisse einer Untersuchung der Wortstellung in Sätzen (SVO, SOV etc.) in den verschiedensten Sprachen dar. Hinter Greenbergs Universalien steht ein Ansatz, der dem Prototypenmodell sehr ähnlich ist. Mit seiner Untersuchung richtet er die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die so genannten Ausnahmen. Wie für alle Kategorien, so wird auch für Universalien vielmehr angenommen, dass es zentrale Fälle und Randerscheinungen gibt. Die möglichen Wortstellungen lassen sich wiederum in einer Präferenzhierarchie anordnen. Die folgende Anordnung fasst Greenbergs (1966:107) Ergebnisse für 30 Sprachen zusammen. 260 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Übersicht 10. Syntaktische Universalien: Bevorzugte Wortstellungen SVO (13) < SOV (11) < VSO (6) < VOS < OVS (Die Zahlen in Klammern geben an, in wie vielen der 30 untersuchten Sprachen die entsprechende Wortstellung auftritt; die Sprachen gehören den unterschiedlichsten Sprachstämmen an. S = Subjekt, V = Verb, O = Objekt.) Diese Ergebnisse lassen sich wie folgt verallgemeinern: SVO und SOV sind die prototypischsten Möglichkeiten der Wortstellung. VSO ist weniger zentral, aber immer noch sehr häufig anzutreffen. Diese drei Wortstellungsmuster haben eines gemeinsam: das Subjekt steht jeweils vor dem direkten Objekt. Auch von den in den Sprachen dieser Welt auftretenden Wortstellungsmustern werden einige gegenüber anderen deutlich bevorzugt. Diese Anordnungen sind Ausdruck bestimmter konzeptueller Relationen in Ereignisschemata (siehe Kapitel 4). Einige Relationen (SVO, SOV) sind offenbar prominenter als andere, wie etwa der Energietransfer von einem Agens zu einem Patiens oder die Kontrollbeziehung eines Besitzers oder Erfahrenden über ein Patiens. Das entgegengesetzte Muster, bei dem das Objekt dem Subjekt vorangeht, ist eine Randerscheinung: VOS findet sich in der amerindischen Sprache Cøur d’Alène, VOS und OVS in den amerindischen Sprachen Siuslaw bzw. Coos (Greenberg 1966:110). Greenbergs Ansatz des Vergleichs ist – wie gesagt – dem Prototypenmodell nicht unähnlich. Insbesondere seine Darstellung der 45 Universalien in einer Liste lässt das deutlich werden (1966:110). Seine Darstellung enthält eine ganze Reihe von Einschränkungen wie nahezu immer, mit überwiegend großer Auftretenswahrscheinlichkeit (überzufällig) usw. Greenberg versucht also nicht, für eine Sprache ein bestimmtes Wortstellungsmuster zu bestimmen, sondern beschreibt jeweils prototypische Muster der universalen Kategorie Wortstellung. In Übersicht 11 werden lediglich vier der ersten fünf Universalien aus dieser Liste wiedergegeben (Greenberg 1966:110). Übersicht 11. Syntaktische Universalien 1. In deklarativen Sätzen mit nominalem Subjekt und Objekt dominiert eine Wortstellung, bei der das Subjekt dem Objekt vorangeht. [2. ist nicht mehr länger gültig und wird deshalb hier ausgelassen] 3. Sprachen, in denen die VSO-Stellung dominiert, sind immer präpositional. 4. Mit überwiegender Häufigkeit (überzufällig) sind Sprachen mit SOV Stellung postpositional. 5. Wenn in einer Sprache die Stellung SVO dominant ist und der Genitiv auf das ihn regierende Nomen folgt, dann folgt auch das Adjektiv auf das Nomen. Die Universalien Nr. 3,4,5 in Übersicht 11 bezeichnet man als implikative Universalien. Eine bestimmte Ordnung aus den Elementen S, V und O impliziert eine bestimmte Anordnung anderer Elemente in anderen Phrasen, etwa die Stel- SPRACHEN IM VERGLEICH 261 lung einer Präposition, die theoretisch gesehen entweder vor dem Nomen (präpositional) oder nach dem Nomen (postpositional) stehen kann. Steht in einer Sprache das Verb vor dem Objekt (VO) wie im englischen climb the tree, dann wird höchstwahrscheinlich auch die Präposition im Satz vor dem Nomen stehen wie in up the tree. Wenn aber in einer Sprache wie Ungarisch SOV vorherrscht, dann wird wahrscheinlich die Präposition auf das Substantiv folgen, wie in ‚den Baum auf‘. Aus Nr. 3 und 4 in Greenbergs Liste geht hervor, dass VSO mit präpositionaler Stellung, SOV aber mit postpositionaler Stellung einher geht. Dies wird am Beispiel des Satzes Zoltan a fa allat fut ‚Zoltan der Baum unter läuft (er)‘ deutlich, in dem die Präposition (alatt) auf die Nominalphrase folgt (a fa alatt ‚der Baum unter‘, d.h. „unter dem Baum“). Analog dazu steht das Verb fut in Endstellung. Wenn nun Sprachen solche implikativen Universalien teilen, so lässt sich daraus nicht notwendigerweise auch gleiche Abstammung ableiten. Postpositionale Stellung ist nicht nur eine Gemeinsamkeit von Sprachen des uralischen Phylums wie Ungarisch (siehe Tabelle 5; 3.3.), sondern auch von Sprachen des altaischen Phylums wie der türkischen Gruppe und den mongolischen Sprachen, ja selbst von Japanisch und Koreanisch. Auf dieser Grundlage war in der Sprachtypologie der Versuch unternommen worden, all diese Sprachen als Mitglieder des altaischen Phylums einzuordnen. Doch sind diese Merkmale als Grundlage für die Annahme von genetischer Verwandtschaft nicht ausreichend. Übersicht 12 fasst die verschiedenen Arten von Universalien noch einmal zusammen. Übersicht 12: Verschiedene Arten von Universalien Universalien einzelne Universalien ideationale Universalien interpersonelle Universalien Semantische Primitiva Konversationsmaximen 10.4 implikative Universalien Phonologie Morphologie Lexikologie Basisvokale bevorzugte Affixarten grundlegende Farbtermini Syntax bevorzugte Wortstellung Kontrastive Linguistik Die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Sprachen führt zu wichtigen Annahmen für die theoretische Linguistik und die interdisziplinäre Forschung. Sprachliche Universalien sind ebenso wie die Einteilung in Gruppen von Sprachen das Ergebnis sprachvergleichender Untersuchungen, die oft den Vergleich von vielen hundert Sprachen umfassen. Da sich diese Richtung der vergleichenden Sprachwissenschaft auf generelle Ähnlichkeiten und die Einordnung in Sprach 262 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT gruppen konzentriert, haben solche Untersuchungen nie zum Ziel, eine kontrastive Grammatik der beiden Sprachen zu erstellen. Die kontrastive Linguistik beschränkt sich hingegen eher auf den Vergleich zweier oder einiger weniger Sprachen und kann so sehr detailliert und, falls erwünscht, vollständig überprüfen, inwieweit bestimmte grammatische Aspekte in beiden Sprachen zu finden sind. Diese Art des Vergleichs deckt oft mehrdimensionale Entsprechungen auf und führt zu neuen kognitiven Perspektiven. Doch die kontrastive Linguistik hat sich nicht nur aus diesen theoretischen Gründen heraus entwickelt. Sie hat stets auch praktische Anwendungsaspekte im Blick und versucht, Hilfen zum Lernen von Fremdsprachen, zur Übersetzung sowie zur Erstellung von zweisprachigen Wörterbüchern zu bieten. 10.4.1 „Vergleichend“ oder „kontrastiv“? Wir wollen hier einmal exemplarisch ein sehr häufig auftretendes sprachliches Muster des Englischen betrachten und es dann mit anderen Sprachen vergleichen. Die Verlaufsform des Verbs drückt im Englischen den internen Verlauf von Ereignissen aus. Für einen Vergleich mit anderen europäischen Sprachen müssen wir nun nach Formen suchen, die der englischen Verlaufsform entsprechen, d.h. wir wollen die Morphologie des Verbs in verschiedenen Sprachen unter diesem Gesichtspunkt vergleichen. Während des Vergleichs erkennen wir bereits deutlich, dass nur sehr wenige Sprachen dieselbe Funktion in nahezu derselben Art und Weise zum Ausdruck bringen können: (1) Verlaufsformen und Entsprechungen a. Englisch: What are you doing? I am writing a card. ‚Was bist du tuend? Ich bin schreibend eine Karte‘. b. Niederl.: Wat ben je aan het doen? Ik schrijf een kaart. ‚Was bist du an dem Tun? Ich schreib eine Karte‘. c. Deutsch: Was machst du (gerade)? Ich schreibe eine Karte. c'. Ugs.: Was machst du (gerade)? Ich bin eine Karte am Schreiben. d. Italienisch: Cosa stai facendo? Sto scrivendo una cartolina. ‚Was bleibst-du tuend? Bleib-ich schreibend-ich eine Karte‘. oder: Cosa fai? Scrivo una cartolina. ‚Was tust-du? Schreib-ich eine Karte‘. Die Übersetzungen von What are you doing? zeigen, dass in den Sprachen Englisch, Italienisch und auch Niederländisch bei Verlaufsformen bzw. dem Gerundium deutlich größere Ähnlichkeiten bestehen als zwischen Englisch und Hochdeutsch. Im Hochdeutschen ist der innere Verlauf von Ereignissen noch nicht völlig grammatikalisiert und kann nur durch die Präsensform des Verbs + gerade dargestellt werden kann. Umgangssprachlich ist auch noch die Konstruktion Objekt + am + Infinitiv möglich (Ich bin gerade eine Karte am Schreiben). Wenn wir nun unsere Analyse auch auf weitere semantische Funktionen der englischen Verlaufsform ausweiten, dann lassen sich schon nicht mehr so große Ähnlichkeiten finden. Im Englischen kann die Verlaufsform auch Intentionalität SPRACHEN IM VERGLEICH 263 ausdrücken – im Italienischen und den germanischen Sprachen (außer Englisch) steht Intentionalität in keinem Zusammenhang zu Konstruktionen der Verlaufsform oder des Gerundiums: (2) a. Englisch: I am not taking the train today. ‚Ich bin nicht nehmend den Zug heute‘. d. Deutsch: Heute nehme ich den Zug nicht. c. Niederl.: Ik ga vandaag niet de trein nemen. ‚Ich geh heute nicht den Zug nehmen‘. b. Italienisch: Non intendo pendere il treno oggi. ‚Nicht intendiere-ich nehmen den Zug heute‘. Wir können jetzt auch von anderen Funktionen des Gerundiums im Italienischen wie etwa dem Ausdruck der „Zeitdauer“ ausgehen und vergleichen, ob diese in den englischen und niederländischen Verlaufsformen ebenfalls zu finden sind und welche Möglichkeiten zum Ausdruck der „Dauer“ eines Ereignisses im Deutschen bestehen. (3) a. Englisch: He has been crying for an hour. ‚Er hat gewesen weinend seit einer Stunde‘. b. Italienisch: Sta piangendo da un'ora oder: ‚Bleibt-er weinend seit einer Stunde‘. oder: Piange da un'ora. ‚Weint-er seit einer Stunde‘. c. Niederl.: Hij weent al een uur. ‚Er weint schon eine Stunde‘. Hij is al een uur aan ‚t wenen. ‚Er ist schon eine Stunde am Weinen‘. Hij heeft al een uur geweend. ‚Er hat schon eine Stunde geweint‘. Hij is al een uur aan‘t wenen geweest. ‚Er ist schon eine Stunde am Weinen gewesen‘. d. Deutsch: Er weint (schon) seit einer Stunde. oder: Er weint jetzt (schon) eine Stunde. Er hat eine Stunde lang geweint. Ugs.: Er ist schon 'ne Stunde am Weinen. Die verschiedenen Bedeutungsaspekte der englischen Verlaufsform können wie in Übersicht 13 in einem sternförmigen Netzwerk dargestellt werden: 264 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Übersicht 13. 5. (weitere Bed.) Sternförmiges Netzwerk für die englische Verlaufsform 1. innerer Verlauf des Ereignisses 2. intentionale Handlung 4. (weitere Bed.) 3. Ereignisdauer Wir haben mit dem Vergleich eines morphologischen Musters, nämlich der englischen Verlaufsform, begonnen, mussten aber dazu wenigstens zwei unterschiedliche semantische Funktionen („interner Verlauf eines Ereignisses“ und „zeitliche Dauer“) berücksichtigen, um es ausführlicher erklären zu können. Zudem wurde deutlich, wie partiell und auch wie trügerisch Entsprechungen im Vergleich mehrerer Sprachen sein können. Das italienische Präsens – ebenso wie das niederländische und deutsche – kann sowohl den inneren Verlauf als auch die Dauer eines Ereignisses zum Ausdruck bringen – das englische present tense lässt dies jedoch nicht zu. Wenn wir bei unserer Betrachtung vom Deutschen ausgegangen wären, so wären wir sicherlich nicht dazu gekommen, die semantischen Kategorien innerer Ablauf und Dauer zusammenzulegen. Es erscheint also angebracht, sowohl ähnliche als auch unterschiedliche Muster über Sprachen hinweg in den Vergleich einzubeziehen – obwohl eher der zweite Aspekt zu einem tatsächlichen Zuwachs an sprachlichem Wissen führt. Durch eine kontrastive Vorgehensweise können relevante sprachliche Aspekte auf vielen Gebieten der Sprache entdeckt werden. Die kontrastive Linguistik ist deshalb auch ein wichtiger Forschungszweig der Sprachwissenschaft. 10.4.2 Methodologische Aspekte der kontrastiven Linguistik In den fünfziger Jahren betrachtete man die kontrastive Linguistik ursprünglich als einen Teil des behavioristischen Ansatzes in der Wissenschaft und verband ihn folglich mit dem behavioristischen Modell des Sprachenlernens. Man nahm an, dass beim Fremdsprachenlernen alle Merkmale der Zielsprache, die sich wesentlich von der Muttersprache oder Ausgangssprache unterscheiden, ernste Hürden für den Lernprozess darstellen würden und dass insbesondere beim Lernen dieser Aspekte der Fremdsprache besondere Anstrengungen unternommen werden müssten. Es hatte den Anschein, als könne man Fehler beim Erlernen einer Fremdsprache voraussagen. Diese These musste korrigiert werden, als infolge empirischer Untersuchungen die Beziehung zwischen der Struktur einer Sprache und den auftretenden Schwierigkeiten beim Erlernen dieser Sprache deutlicher wurden. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass die geistige Anstrengung, die zum Erlernen einer Sprache unternommen werden muss, nicht daran gemessen werden kann, wie stark sich Ausgangs- und Zielsprache voneinander unterscheiden. Die Sprachbeherrschung kann auch durch Fehler beeinträchtigt sein, die eher kleine bis minimale sprachliche Unterschiede betreffen als große. Es ist eben nicht ein und dasselbe, ob man eine Sprache beschreibt oder die Zustände und Prozesse zu ergründen versucht, die im Kopf eines Fremdsprachenlerners vonstatten gehen. Solche Fehleinschätzungen des Behaviorismus haben die kont SPRACHEN IM VERGLEICH 265 rastive Linguistik, wie sie bis zu den siebziger Jahren praktiziert wurde, teilweise in Misskredit gebracht. Doch zeigen empirische Untersuchungen ebenfalls, dass beim Fremdsprachenlernen jede zuvor erworbene sprachliche Struktur und die bereits erworbenen sprachlichen Kategorien berücksichtigt werden müssen. Wenn sich ein Lerner mit neuem sprachlichem Material auseinander setzt, so muss er unweigerlich vorhandene Kategorien, Schemata und Prototypen auf allen Ebenen seiner Sprachkompetenz verändern, d.h. vorhandene mentale Situationen werden auf spezifische Daten einer Fremdsprache angewendet. Hieraus ergibt sich auch die Notwendigkeit kontrastiver Studien: es werden Instrumente benötigt, mit deren Hilfe man der Frage nachgehen kann, welche Arten von Unterschieden sich wo finden lassen, um diese für Fremdsprachenlerner und Übersetzer zugänglich zu machen. Sprachen lassen sich auf unterschiedliche Art und Weise miteinander vergleichen: man kann dabei von Kategorien der traditionellen Grammatik ausgehen, von einer Liste von Wörtern oder Satzgliedern, von Aspekten des Wortschatzes oder von einer Sammlung von Texten. Je nach dem theoretischen Rahmen, in dem man sich beim Vergleich bewegt, werden Entsprechungen oder Unterschiede auf unterschiedliche Art und Weise hervorgehoben und erklärt. Wir sind bei unseren Vergleichen von einem morphologischen Muster in der englischen Sprache ausgegangen und haben zu bestimmen versucht, welche konzeptuellen Kategorien damit assoziiert werden. Wir hätten ebenso gut von den konzeptuellen Kategorien ausgehen und beispielsweise der Frage nachgehen können, wie innerer Verlauf und Dauer eines Ereignisses im Englischen, Italienischen, Niederländischen und Deutschen morphologisch realisiert werden. Das Ergebnis einer solchen Vorgehensweise ist in Übersicht 14 zusammengefasst. Übersicht 14. Sprachliche Formen zum Ausdruck des „inneren Verlaufs“ bzw. der „Dauer“ von Ereignissen „innerer Verlauf“ a. Englisch b. Italienisch c. Niederländisch d. Deutsch „Dauer“ Verlaufsform Perfekt der Verlaufsform (+ adverbiale Bestimmung der Zeitdauer) Gerundium/Präsens (Gerundium) Perfekt (+ adv. Best. des Zeitpunktes) + adverbiale Bestimmung der Zeitdauer Verlaufsform/Präsens Präsens/Perfekt/Perfekt in der Verlaufsform (+ adv. Best. des Zeitpunktes) + adverbiale Bestimmung der Zeitdauer Präsens Präsens/Perfekt + adv. Best. des Zeitpunktes + adverbiale Bestimmung des Zeitpunktes Für das Fremdsprachenlernen oder für das Übersetzen scheint es weiterhin angemessen, Instrumente zu entwickeln, die auf vertrauten sprachlichen Elementen wie Wörtern, Satzgliedern, besonders ausgewählten Wortfeldern und Texttypen aufbauen. Informationen zum Vokabular sollten das Ergebnis einer ausgedehnten Überprüfung der Verwendungsweisen einer bestimmten sprachlichen Einheit 266 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT oder eines idiomatischen Ausdrucks (sowohl als Stichwort als auch als mögliche Übersetzung) sein. Bei dieser Arbeit kann man sich nicht allein auf die sprachliche Kompetenz von Wörterbuchautoren oder auf Studien zur Lexik verlassen. Diese Quellen müssen durch ein sorgfältig aufgebautes und ständig aktualisiertes Korpus (oder eine Reihe von Korpora) ergänzt werden, d.h. durch große Sammlungen geschriebener und gesprochener Texte, die sich auf so viele Varietäten der betroffenen Sprache beziehen wie nur eben möglich. Das Aufgabenfeld der kontrastiven Linguistik erfordert die Analyse von zwei Arten von Korpora. Idealerweise beginnt man mit so genannten Parallelkorpora, in denen sich Texte mit Übersetzungen in zwei oder mehr Sprachen finden. Diese Texte können automatisch Abschnitt für Abschnitt oder sogar Satz für Satz gegenübergestellt werden. Zweitens stützt man sich auf Vergleichskorpora, in denen sich zumindest ungefähre Entsprechungen für einen Eintrag in zwei oder mehreren verschiedenen Sprachen finden lassen (z.B. Paulussen 1995). In einem ersten Schritt der kontrastiven Analyse wird dann nach möglichen Varianten eines einzelnen Wortes oder Satzgliedes innerhalb einer Sprache gesucht. Dabei kann sich ergeben, dass einige Wörter und idiomatische Ausdrücke eventuell nicht mehr vorkommen, andere neu entstanden und einige bisher überhaupt noch nicht in die Analyse mit einbezogen worden sind. Einige Ausdrücke treten statistisch gesehen so selten auf, dass sie praktisch vernachlässigt werden können wieder andere haben eine sehr spezielle Bedeutung, die nur in sehr seltenen Verwendungskontexten relevant ist Bei der Analyse von Ausdrücken aus einem Sprachenkorpus zeigt sich auch, dass Wörter oder Äußerungen bestimmte Konnotationen hervorrufen, d.h. andere Bedeutungen und typische emotionale Reaktionen mit assoziieren wie z.B. eine negative Wertung, Enthusiasmus, soziale Distanz, Tabus etc. Der nächste Schritt ist ein Vergleich. Wenn wir bereits wissen, wo wir mit unserer Suche nach äquivalenten Ausdrücken in der anderen Sprache suchen müssen, dann versuchen wir, dort im selben Umfang Daten über Varianten des Ausdrucks und deren Kollokationen zu finden. Unter Kollokationen versteht man typische Kontexte, in denen ein Wort oder ein idiomatischer Ausdruck vorkommt. Wenn wir noch nicht wissen, wo wir mit unserer Suche beginnen sollen, dann gehen wir parallele oder vergleichbare Texte zu dem Text durch, den wir in der Ausgangssprache des Vergleichs analysiert haben, bis wir zumindest ein annäherndes Bedeutungsäquivalent gefunden haben, mit dem wir unsere Betrachtungen beginnen können. Wenn wir genügend neue Informationen gesammelt haben, dann werden in einem dritten Schritt die daraus resultierenden Datenmengen zueinander in Beziehung gesetzt. Auf dieser Stufe beginnt erst der eigentliche Vergleich. 10.4.3 Einige Verbalphrasen des Englischen und Deutschen im Vergleich Verben bezeichnen die Relationen zwischen den Teilnehmern eines Ereignisses. In Kapitel 4 haben wir gesehen, dass Verbalphrasen die Grundlage für die syntaktische und semantische Klassifikation von Ereignisschemata und Satzmustern bilden. Alle grundlegenden Satzmuster können als Variationen von Phrasen SPRACHEN IM VERGLEICH 267 verstanden werden, die durch das Verb bestimmt sind. Wenn man die Kombinationsmöglichkeiten zwischen einem Verb und den mit diesem kombinierbaren Nomen (insbesondere in der Funktion als Subjekt und Objekt) untersuchen will, so müssen alle Satzmuster aufgelistet werden, in denen dieses Verb auftreten kann. Wir wollen nun ausgehend vom englischen Verb to count untersuchen, welche deutschen Verben die Bedeutungsaspekte dieses Verbs abdecken. Für diesen Vergleich müssen wir uns hier auf eine Reihe stark vereinfachter Beispiele beschränken. „Zählen“ und „Rechnen“ sind zentrale menschliche Aktivitäten. In hoch entwickelten Kulturen haben die theoretischen und empirischen Wissenschaften sehr präzise, allgemeine Definitionen für alle mentalen Operationen entwickelt, die mit dem „Zählen/Rechnen“ in Zusammenhang stehen. Man könnte deswegen erwarten, im Wortschatz europäischer Sprachen klar abgegrenzte Gruppen von nominalen und verbalen Ausdrücken sowie mehr oder weniger unmittelbare Bedeutungsentsprechungen zu finden. (4) a. The porter counted our bags. b. Der Gepäckträger zählte unsere Taschen. (5) a. I count to three before screaming. b. Ich zähle bis drei, dann schreie ich. (6) a. There were fifty dogs, counting the puppies. b. Es waren fünfzig Hunde, wenn man die Welpen mitrechnet/mitzählt. (7) a. He still counts as a child. b. Er zählt noch als Kind. b'. Er wird doch noch als Kind gerechnet. (8) a. I do not count him as a friend. b. Ich würde ihn nicht gerade zu meinen Freunden rechnen/zählen. (9) a. Your feelings count little with him. b. Deine Gefühle zählen doch kaum für ihn. (10) a. Do not count on me. b. Auf mich kannst du nicht zählen/Rechne nicht mit mir. Anhand dieser Beispiele erkennen wir schnell, dass einige Bedeutungsaspekte von to count im Deutschen durch zählen, andere durch rechnen und manche sogar sowohl durch zählen als auch durch rechnen ausgedrückt werden. Beide Verben werden durch Partikel oder Präpositionen wie mit, zu, auf etc. erweitert. Das Deutsche macht also von seiner gegenüber dem Englischen größeren morphologischen Flexibilität Gebrauch, um die vielen Bedeutungsaspekte, die im Englischen durch das Verb to count abgedeckt werden, auszudrücken. Übersicht 15 zeigt zunächst anhand eines sternförmigen Netzwerks die Bedeutungsaspekte von to count sowie die sieben Satzmuster auf, in denen es auftritt. 268 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Übersicht 15. Sternförmiges Netzwerk für to count b. count to three (5a) „bis drei zählen“ c. „einschließen“ (6a) counting the puppies a. count things (4a) a. „Dinge zählen“ e. „wert sein“ count little (9b) d. „eingeordnet sein“ count as a child (7a) d'. count sb. as a friend (8a) „zuordnen“ f. „sich auf jd. verlassen“ (10a) count on sb. Bei unserem Vergleich gehen wir davon aus, dass zwischen zwei oder mehr Verben aus zwei zu vergleichenden Wortfeldern in den zu vergleichenden Sprachen dann eine unmittelbare Entsprechung besteht, wenn wir für Subjekt und Objekt (oder eine Ergänzung) dieselbe Rollenkonfiguration von Teilnehmerrollen vorfinden. Wie die folgende Liste an Beispielen zeigt, ist diese Voraussetzung hier bei allen englischen und deutschen Vergleichspaaren zu den sechs Bedeutungsaspekten annähernd erfüllt. Wir können aber auch feststellen, dass die sechs verschiedenen Bedeutungsaspekte von to count im Deutschen durch zusätzliche Präpositionen ausgedrückt werden, was im Englischen nur zum Teil der Fall ist. Wir wollen hier die Beispiele nochmals in verkürzter Form betrachten: (4) count objects ‚Dinge zählen‘ Agens + Patiens (5) count to three ‚bis drei zählen‘ Agens + Ziel Bei (4) count objects finden wir als Teilnehmerrollen je ein Agens und ein Patiens, bei count to three/bis drei zählen ein Agens und ein Ziel, auf das hin gezählt wird. Dies sind auch die prototypischen Bedeutungsaspekte der Verben count bzw. zählen. In den drei folgenden Fällen wird to count hingegen jeweils in erweiterten Bedeutungen verwendet: in (6) im Sinne von „mit einbeziehen“ und in (7) bzw. (8) von „in eine Kategorie einordnen“. (6) counting the puppies ‚die Welpen mitrechnen/mitzählen‘ (impliziertes) Agens + Patiens. (7) somebody counts as a child ‚jemand zählt als Kind‘ Patiens + Essiv (8) count somebody as a friend ‚jemanden zu seinen Freunden rechnen/zählen‘ Agens + Patiens + Essiv SPRACHEN IM VERGLEICH 269 Bedeutung (7) „count as“ kann auf zweierlei Weise realisiert werden, nämlich entweder durch ein intransitives Satzmuster mit Patiens + Essiv (im Deutschen mit zählen als) oder durch ein transitives Satzmuster mit Agens + Patiens + Essiv in they count him as a child. Auch ein Passiv he is counted as a child ist möglich. Beide Bedeutungsaspekte (6) und (8) können im Deutschen sowohl durch rechnen als auch durch zählen ausgedrückt werden. Anders bei (7): hier ist nur zählen möglich. Das könnte wie folgt erklärt werden: Zählen ist im Vergleich zu Rechnen eine ‚einfache, sozusagen mechanische Aktivität‘, die prototypisch an eine feste, vorgegebene Abfolge (von Zahlen) gebunden ist. Das deutsche zählen gibt die wörtlichen Bedeutungsaspekte von count wieder. Bei den übertragenen Bedeutungen, die durch intransitive Muster ausgedrückt werden (Er zählt noch als Kind, das Tor zählt nicht etc.) wird der Blick insbesondere darauf gelenkt, ob etwas in dieser Abfolge berücksichtigt wird oder nicht. Die Rolle eines aktiven Agens fällt aufgrund der ‚automatischen‘ Abfolge weg. Bei Er zählt noch als Kind liegt der Fokus darauf, dass ein bestimmter Punkt in der Abfolge von Lebensjahren noch nicht erreicht ist. Bei Das Tor zählt nicht ist der Blick auf die Anzahl der Tore gerichtet. Im Gegensatz zu zählen bezeichnet rechnen eine höhere mentale Aktivität, bei der prototypisch mehrere Faktoren nach bestimmten Regeln oder Kriterien miteinander verknüpft werden, um ein Ergebnis zu erhalten. Bei dieser Aktivität ist ein aktives Agens nicht wegzudenken. Die übertragenen Bedeutungen von rechnen können daher nur in transitiven Kontexten ausgedrückt werden, d.h. in solchen Kontexten, in denen unbedingt ein aktives Agens nötig ist. Anders als im Deutschen ist dieser Aspekt im Englischen ganz offensichtlich nicht gesondert lexikalisiert. Auch für die beiden letzten Bedeutungsaspekte von to count (9) und (10) lassen sich entsprechende übertragene Bedeutungen der deutschen Verben zählen und rechnen finden: Bei (9) ist – wie in (7) – kein aktiv handelndes Agens am Ereignis beteiligt. Deshalb ist auch hier nur zählen, nicht aber rechnen möglich: (9) count little ‚kaum zählen‘ Patiens + (Prozessor) Die Rolle des Erfahrungszentrums oder Prozessors in (9) muss nicht direkt ausgedrückt werden, sondern wird in diesem übertragenen Sinn immer implizit mitverstanden. Die Bedeutung von count on somebody/something in (10) kann im Deutschen sowohl durch rechnen als auch durch zählen ausgedrückt werden. (10) count on somebody/something ‚auf jemanden/etwas zählen; mit jemandem/etwas rechnen‘ Agens + Ziel Wir haben hier das englische Verb to count als Ausgangspunkt für unsere Analyse gewählt und mit den Bedeutungsaspekten von zählen und rechnen verglichen. Wenn wir die Analyse vom deutschen zählen oder rechnen aus begännen, müssten wir natürlich auch weitere englische Verben wie to calculate, to compute oder to reckon in den Vergleich mit einbeziehen. Es wäre zudem sicherlich 270 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT hilfreich, zunächst sternförmige Netzwerke für beide Verben zu entwerfen und dann miteinander zu vergleichen (siehe die Aufgaben 10.5 und 10.6). Auch wenn es mithilfe von Analysen der Rollenkonfigurationen möglich wird, Ähnlichkeiten und Entsprechungen in den Kategorisierungen durch Verben aufzudecken, hat diese Vorgehensweise auch ihre Grenzen. Einzelfälle, die nicht als Muster produktiv sind, lassen sich so nicht vergleichen. Sie werden als idiomatische Ausdrücke bezeichnet. Ein solches Beispiel ist der deutsche Ausdruck rechnen mit, der dem englischen count on entsprechen kann wie in mit einer Erbschaft rechnen / count on a heritage, aber anders als das englische to count auch negative Konnotationen haben kann wie in mit dem Schlimmsten rechnen (expect the worst), es ist mit starken Regenfällen zu rechnen (heavy rain is expected). Obwohl die negative Konnotation von rechnen mit „mögliches Eintreffen eines negativen Ereignisses“ als ein Erfahrungsschema mit der Rollenkonfiguration Erfahrungszentrum + Patiens analysiert werden kann, handelt es sich nicht um ein reguläres Satzmuster, sondern um einen idiomatischen Ausdruck. Diese Betrachtungen illustrieren lediglich einen kleinen Teil dessen, was durch eine kontrastive Analyse schon einiger weniger Verben im Englischen und im Deutschen gezeigt werden kann. Selbst in so grundlegenden semantischen Bereichen wie „count“ zeigt sich, dass die Bedeutungsaspekte des englischen Verbs to count im Deutschen von den Bedeutungen zweier unterschiedlicher Verben (nämlich zählen und rechnen) entsprechen. Diese Entsprechungen lassen sich auf die zugehörigen Rollenkonfigurationen hin untersuchen. Andererseits hat die Analyse an einem Beispiel gezeigt, dass es in jeder Sprache eine große Anzahl von idiomatischen Ausdrücken und idiomatischen Verwendungsweisen von Verben und anderen Wörtern gibt, die einzigartig sind und sich nicht sinnvoll auf Rollenkonfigurationen hin untersuchen lassen: diese Ausdrücke spiegeln keine produktive Verwendung von Rollenkonfigurationen wider. Es handelt sich vielmehr um ad hoc gebildete Ausdrücke, die man deshalb als idiomatische Ausdrücke bezeichnet. Das Modell der Rollenkonfigurationen hat also einen großen heuristischen Wert. So lässt sich zeigen, welche Verwendungsweisen eines Verbs produktiv und regelmäßig, und welche in hohem Maße idiosynkratisch sind. Nichtsdestotrotz machen diese idiomatischen Verwendungsweisen einen wesentlichen Teil einer Sprache aus. Auch die Beziehungen zwischen produktiven und idiosynkratischen Bedeutungen von Wörtern lassen sich in sternförmigen Netzwerken darstellen. 10.5 Zusammenfassung Sprachen werden aus vielerlei wissenschaftlichen Interessen miteinander verglichen. Zunächst einmal gibt es ein eher faktisches Interesse: wie viele Sprachen gibt es auf der Welt, und welche Kriterien müssen angelegt werden, wenn man sie als eigenständige Sprachen identifizieren und zählen will? Gegenseitige Verständlichkeit ist dabei kein sehr zuverlässiges Kriterium, denn auf einem Dialektkontinuum kann es auf zwei benachbarte Dialekte zutreffen, selbst wenn diese zu unterschiedlichen Sprachen gehören, während entfernte Dialekte einer bestimmten Sprache das Kriterium evtl. nicht erfüllen. Auch der Status von Spra- SPRACHEN IM VERGLEICH 271 chen, d.h. die Frage, ob eine Varietät als regionaler Dialekt oder als offizielle Sprache eingestuft wird, geht häufig auf politische Entscheidungen zurück. Wenn aber eine Varietät erst einmal als Amtssprache institutionalisiert wurde, kann sie sowohl lexikalisch als auch grammatikalisch stark erweitert und durch Sprachengesetze in ihrer Verbreitung durchgesetzt werden. Ein zweiter großer Bereich des Sprachvergleichs zielt auf die Verbreitung und Klassifikation von Sprachen. In interdisziplinär ausgerichteter Forschung werden der Ursprung, die Entwicklung und die Verbreitung der Menschheit und ihrer Sprachen untersucht. Diese werden auf der Grundlage entweder vorhandener oder nicht vorhandener genetischer Verwandtschaft eingeordnet. Abstammungsbeziehungen zwischen Sprachen werden durch die Einordnung in Sprachfamilien und die Rekonstruktion von Protosprachen wie z.B. Urindoeuropäisch untersucht. Die Rekonstruktion ist möglich, wenn es gelingt, historische Lautverschiebungen oder strukturelle Veränderungen (grammatischen Wandel) aufzudecken, die zur Sprachdifferenzierung geführt haben. Moderne Sprachtaxonomien gehen nicht mehr nur von Sprachfamilien aus, sondern sind um weitere Kategorien und Ebenen erweitert worden. Auf der höchsten Ebene einer solchen Taxonomie steht ein Sprachphylum, d.h. eine Menge von Sprachen, die mit keiner anderen Menge von Sprachen verwandt ist, sondern geographisch oder historisch definiert wird. Sprachphyla bestehen aus Sprachstämmen, deren Mitglieder entfernt miteinander verwandt sind. Sprachstämme können wiederum aus einer oder mehreren Sprachfamilien bestehen. Ein Beispiel ist die indoeuropäische Familie. Eine Sprachfamilie besteht aus Sprachzweigen, die wiederum aus Gruppen und Untergruppen bestehen. Ein dritter Bereich des Sprachvergleichs ist die Sprachtypologie. Diese Disziplin untersucht Gemeinsamkeiten in verschiedenen Sprachen. Eine Richtung in der Sprachtypologie stützt sich auf sprachliche Universalien, die sich in allen Bereichen von Sprachen finden lassen. Auf der lexikologischen und morphologischen Beschreibungsebene finden sich ideationale Universalien, die unter anderem semantische Primitiva umfassen. Auf der Ebene sprachlicher Interaktion finden sich auch interpersonale pragmatische Universalien. Neben diesen substantiellen Universalien finden sich auf allen Beschreibungsebenen der Sprache auch noch implikative Universalien. Schließlich gibt es neben dem interdisziplinären, dem eher soziologischen und dem typologisch orientierten Sprachvergleich noch einen kontrastiven Ansatz. Die kontrastive Linguistik beschäftigt sich mit dem Vergleich zweier oder mehrerer Sprachen und ist dabei an der Praxis orientiert. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen sollen Hilfen zum Fremdsprachenlernen, zu Übersetzungsprojekten und zur Erstellung von zweisprachigen Lexika bieten. Beim kontrastiven Ansatz kann mit einer sprachlichen Form in der Ausgangssprache des Vergleichs begonnen werden (etwa der Verlaufsform im Englischen). Man untersucht dann, welche Verwendungsweisen diese Form hat bzw. welche Bedeutungen mit ihr zum Ausdruck gebracht werden. Schließlich betrachtet man, wie diese Bedeutungen in der Zielsprache bzw. den Zielsprachen ausgedrückt werden, d.h. ob sich vergleichbare morphologische Formen finden lassen oder durch welche Beschreibungen vergleichbare Vorstellungen zum Ausdruck gebracht werden. 272 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Zum Vergleich werden alle Kollokationen eines Wortes oder einer Wortgruppe, d.h. alle Verwendungsumgebungen aufgelistet – und zwar für alle zu vergleichenden Sprachen. Durch den Vergleich dieser sprachlichen Einheiten, z.B. anhand der repräsentierten Rollenkonfigurationen, kann genau bestimmt werden, in welchem Maße die Einheiten voneinander abweichen oder übereinstimmen. Wenn sich die sprachlichen Einheiten nicht mehr auf Rollenkonfigurationen hin untersuchen lassen, kommt man in einen Bereich von Einzelfällen, denen keine verallgemeinerbaren Merkmale innewohnen. Sie machen einen wichtigen und weiten Bereich der idiomatischen Sprachverwendung aus und werden als idiomatische Ausdrücke bezeichnet. 10.6 Leseempfehlungen Politisch bzw. wirtschaftlich orientierte Sprachvergleiche finden sich in Comrie (1987a), (1987b) und Coulmas (1995). Aitchison (1996) und Beakin (1996) sind ausgezeichnete Einführungen in die interdisziplinäre sprachvergleichende Forschung nach dem Ursprung der menschlichen Sprache. Soziologische Sprachvergleiche). Die Geschichte der Sprachenklassifikation stellen Hoenigswald (1973) und Robins (1973) dar. Ein aktueller Sprachenatlas mit hervorragender Darstellung ist Moseley & Asher (1994). Eine Einführung in die Sprachtypologie ist Ramat (1987). Einen schon „klassischen“ Überblick bietet Shopen (1983). Klassiker der Universalienforschung sind Greenberg (ed.1963), (1966) sowie (ed.1973). Spätere Arbeiten konzentrierten sich mehr auf semantische Universalien, so z.B. Comrie (1981) sowie Goddard & Wierzbicka (ed.1994). Eine gute Einführung in die kontrastive Linguistik ist James (1980). Eine stärker theoretisch ausgerichtete Darstellung bietet Krzeszowski (1990). 10.7 Aufgaben 1. In vielen Teilen der Welt werden Varietäten des Englischen gesprochen. Oftmals erfüllen diese Varietäten nicht das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit. Kann man hier noch von einer einzigen englischen Sprache reden? Vergleichen Sie diese Situation mit den germanischen Dialekten aus Übersicht 1. 2. Zeichnen Sie die wichtigsten Sprachstämme, Sprachfamilien, Sprachgruppen und Einzelsprachen aus Übersicht 5 in die Weltkarte in Übersicht 1 ein. 3. Warum werden Englisch und Französisch in Übersicht 3 als die bedeutendsten Weltsprachen aufgeführt? Worin unterscheiden sie sich untereinander bzw. von Arabisch und Spanisch? Und warum kann Chinesisch mit seinen vielen Dialekten als Sprache mit der größten Anzahl an Sprechern nicht als Weltsprache gelten? 4. Analysieren Sie den folgenden Textabschnitt auf konzeptuelle Metaphern hin. Welches Modell von Sprache lässt sich an diesen Metaphern erkennen? Nehmen Sie dazu Stellung. SPRACHEN IM VERGLEICH 273 Vom Leben der Sprache. Es ist eine an allen Sprachen, die wir durch längere Zeiträume hindurch verfolgen können, gemachte Beobachtung, daß sie in einer stätigen, fortwährenden Veränderung begriffen sind. Die Sprachen, diese aus lautlichem Stoffe gebildeten, höchsten aller Naturorganismen, zeigen ihre Eigenschaft als Naturorganismen nicht nur darin, daß sie, wie diese, sämmtlich in Gattungen, Arten und Unterarten u.s.s. sich ordnen, sondern auch durch ihr nach bestimmten Gesetzen verlaufendes Wachstum. Welcher Art ist nun das Wachsthum der sprachlichen Organismen, wie verläuft das Leben einer Sprache? [...] Der landläufigen Annahme, die Veränderung der Sprache finde hauptsächlich durch den Einfluß der Sprachen anders redender Völker statt, mit denen in bewegten Geschichtsperioden nahe Berührung stattfindet, ist nur in sehr beschränktem Maße Richtigkeit zuzugestehen; die Veränderungen, welche durch Aufnahme fremder Worte, selbst fremder Analogien, in den Sprachen stattfinden, sind verschwindend unbedeutend gegen die, die ganze Sprache umgestaltenden Vorgänge, die von innen heraus, durch nothwendige Prozesse eintreten. [...] Demnach unterscheidet sich das Leben der Sprache durchaus nicht wesentlich von dem aller anderen lebenden Organismen, der Pflanzen und Thiere. Es hat wie diese eine Periode des Wachsthums von den einfachsten Anfängen an zu den zusammengesetzten Formen und eine Periode des Alterns, in welcher sich die Sprachen von der erreichten höchsten Stufe der Ausbildung allmählich mehr und mehr entfernen und in ihrer Form Einbuße erleiden. Die Naturforscher nennen dieß die rückschreitende Metamorphose. (Schleicher 1973[18743], 33ff.) 5. Welchen Sprachfamilien gehören die drei europäischen Sprachen (a) Griechisch, (b) Finnisch und (c) Walisisch an? Wie heißt die Familie oder sogar der Zweig, und welche anderen Sprachen gibt es in dieser Familie? (ziehen Sie hierzu die Übersichten 5 bzw. 6 zu Rate.) Können Sie aufgrund dieser Informationen einen Stammbaum zeichnen? Beispiel: Deutsch stammt vom Westgermanischen ab, ebenso wie Niederländisch und Englisch, was sich so darstellen lässt: Germanisch Westgermanisch Deutsch Niederl. Nordgermanisch Ostgermanisch Englisch 6. Welche der in Tabelle 6 aufgeführten Sprachen haben offiziellen Status in einer Region bzw. einem Land, welche nicht? Unterstreichen Sie alle nicht-offiziellen Sprachen. Ziehen Sie eventuell Ammon (Hg. 1994) oder Haarmann (1993) zu Rate. 7. Im Folgenden sehen Sie einige deutsche Beispiele für die Verwendung von zählen und deren englische Entsprechungen. (i) Deutsch a. Wir müssen noch die Kinder (durch)zählen. b. Meine Enkel kann bis 100 zählen. c. Es waren 50 Personen, die Kinder mitgezählt. d. Meine Familie zählt 30 Personen. e. Für ihn zählt nur das Geld. f. Dieses Tor zählt nicht. 274 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT (ii) Englisch a. We must still count the children. b. My grandson can count till 100. c. There were 50 people, counting the children. d. That family comprises 150 members. e. Money is the only thing that matters to him. f. That goal is not valid. Vervollständigen Sie anhand der Beispiele in (i) das folgende sternförmige Netzwerk für zählen, das in den ersten drei Bedeutungsaspekten mit dem Netzwerk für das englische Verb to count übereinstimmt (siehe Übersicht 14). (b) bis hundert zählen (c) die Kinder mitgezählt (a) Gegenstände zählen (d) (e) (f) b. c. 8. Haben die drei Bedeutungsaspekte (d, e, f) in beiden Sprachen dieselbe Rollenkonfiguration? Weshalb werden die drei Bedeutungen (d, e, f) nicht mittels to count ins Englische übersetzt? Im Folgenden sehen Sie einige deutsche Beispiele für die Verwendung von rechnen und deren englische Entsprechungen. Vervollständigen Sie anhand der Beispiele in (i) das folgende sternförmige Netzwerk für rechnen (e,f,g). (i) a. b. c. d. e. f. g. Unser Sohn kann schon sehr gut rechnen. Ich muss mit jedem Pfennig rechnen. Ich rechne mit einem Schaden von 50.000 DM Wie hoch ist die Rechnung? Ich rechne ihn nicht zu meinen Freunden. Ich rechne mit einem Verlust in Höhe von 6.000 DM. Mit ihm kann man immer rechnen. (ii) a. b. c. d. e. f. g. Our son is already good at arithmetic. I‘ll have to calculate sharp to make both ends meet. I estimate the damage at 50,000 DM. How much do you charge for that? I do not count him as a friend. I reckon with/take into account a loss of 6,000 Mark. He is someone you can count on. SPRACHEN IM VERGLEICH 275 (d) (c) (b) (e) jdn. zu seinen Freunden rechnen (a) (g) mit jdm. rechnen (f) mit Verlust rechnen LITERATURVERZEICHNIS Admoni, Wladimir. 1990. Historische Syntax des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Aitchison, Jean. 19912. Language Change: Progress or Decay? Cambridge: Cambridge University Press. Aitchison, Jean. 1996. The Seeds of Speech. Language Origin and Evolution. Cambridge: Cambridge University Press. Ammon, Ulrich (ed.) 1994. English only? In Europa/ in Europe/ en Europe. Tübingen: Niemeier. Andersen, Henning. 1973. Abductive and deductive change. Language 49: 765-793. Austin, J.L. 1962. How to Do Things with Words. 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Basisebene 41 Baumdiagramm 96 Bedeutung 2, 15 schematische 69, 231 transparente 63 verblasste 63 Bedingung hinreichende 4, 39 notwendige 39 Begriffsfeld 40 behavioristisches Modell 264 Besitzer 91 Besitzschema 91 Betrachtzeit 103 Bewegungsschema 92 Bezeichnendes 31 Bezeichnetes 31 Binnenperspektive 104, 105 D Darstellungsfunktion 194 definite Ausdrücke 199 Deiktika 6 deiktische Ausdrücke 6 deiktisches Zentrum 6, 103 Deixis 6, 198 deklarativer Satz 101 Derivate 56 Derivation 56 Derivationsaffix 65 288 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT Derivationsmorpheme 56 Derivationsmorphologie 56 Determinativkompositum 64 Dialekt 216 Dialektkontinuum 247 Diphthonge 123 des Deutschen 124 direkte Sprechakte 183 direktes Objekt 85 Dissimilation 226 distanzierende Imagestrategien 184 Distribution eines Phonems 129 E egozentrische Perspektive 7 einfache Wörter Siehe Simplizia Einheiten kleinste bedeutungstragende 54 Elision 131 elliptische Sätze 13 Empfänger 11, 94 endophorische Referenz 198 Endrand bei Silben 127 Entität 15, 87 Ereignis 86 Ereignisschemata 87 Ereigniszeit 103 Erfahrung 15, 90 Erfahrungszentrum Siehe Experiens Ergänzung 12 im Satz 97 Erstglied 60 Erstspracherwerb 206 Essiv 88 Essivlokativ 88 Ethnolekt 216, 218 Ethnozentrismus 146 etymologische Schreibung 113 exophorische Referenz 198 Experiens 91 F Face Siehe Image Fernassimilation 233 flektierte Formen 55, 57 Flexion 55 Flexionsaffix 65 Flexionsmorphem 76 Flexionsmorpheme 55, 57 Flexionsmorphologie 57 Formationsmorphem Siehe Derivationsaffix freie Morpheme 54 freie Variation 125 Frequenz 116 Fugenelemente 60 Funktion darstellende 194 identifizierende 198 interpersonelle 194 nicht-identifizierende 200 textuelle 194 Funktionsverb Siehe Hilfsverb Funktionswörter 55, 76 G Gebärdensprache 5 gebundene Morpheme 54 gedankliche Einheit Siehe Entität Gegenwart 103 Geglücktheitsbedingungen 170 Generalisierung 38 Genus 77 Glottis 114 Grammatik 85 Grammatikalisierung 70, 204 grammatische Kategorien 17, 19 grammatische Morpheme 54 Grimmsches Gesetz 224 H Handlungsschema 90 hierarchische Beziehungen im Satz 95 Hilfsverb 11 historisches Kontinuum 248 Hochdeutsch 216 Höflichkeit 12 Homographe 113 INDEX 289 Homonymie 29 Homophone 113 Hyperonym 43, 64 Hyponym 64 Hyponyme 43 hypotaktische Relationen 205 I ideationale Relationen 206 Identität 181 Idiolekt 216 idiomatisch 64 idiomatische Ausdrücke 270 idiosynkratische Verwendung 270 Ikon 2 ikonisch 24 ikonisches Zeichen 2 Ikonizität 9 Image 182 Imagearbeit 182 Imagestrategien distanzierende 184 solidarisierende 183 Imperativ 101 Implikatur 177 konventionelle 178 konversationelle 177 Implikaturen konversationelle 203 indefiniter Ausdruck 198 Index 2 indexikalisches Prinzip 6 indexikalisches Zeichen 2 Indikativ 102 indirekte Sprechakte 183 Indoeuropäische Sprachfamilie 223 Inferenzen 195 Infixe 57 Informationsgesuche 166 informative Sprechakte 165, 166 Inhaltswörter 55 interaktionale Universalien 176 interdisziplinärer Forschungsansatz 252 Internationales Phonetisches Alphabet Siehe IPA interpersonelle Basis 182 interpersonelle Funktion 163, 194 interpersonelle Relationen 206 Intonation 131 intransitives Satzmuster 97 intrinsische Orientierung 7 IPA 114 K Kardinalvokale 121 primäre 121 sekundäre 122 Kasus 77 kataphorische Referenz 198 Kategorie grammatische 17 lexikalische 17 Kategorien 15 grammatische 19 sprachliche 15 Kentum-Sprachen 255 Kernereignis 105 Kernmorpheme 55 Klammerform 73 klassische Definition 39 Kohärenz 196, 197 referentielle 197 relationale 197 Kohärenzrelationen 197, 201 negative 204 positive 204 Kohäsion 196 kohäsive Elemente 196 Kollokation 266 Kommunikation nonverbale 192 Kommunikationssysteme tierische 3 kommunikative Absicht 164 kommunikative Funktion 100 Komparationsmorphem 76 Kompetenz pandialektale 217 komplementäre Verteilung 126 komplexe Wörter 55 Komposition 55 Kompositionsfuge 60 Kompositionsstruktur 290 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT eines Satzes 96 Kompositum 55 Konnektoren 202 Konnotation 266 Konsonanten 117 silbische 128 Konsonantenhäufung 128 konstitutive Sprechakte 166 Konstruktion 16 Kontiguität 2, 3, 36 Kontinuum Abstraktheits- 79 Dialekt- 247 historisches 248 Konvention 3 konventionelle Implikatur 178 konventionelle Präsupposition 172 konversationelle Implikatur 177 konversationelle Implikaturen 203 konversationelle Präsupposition 172 Konversationsmaximen 173 Missachtung der 179 Konversion 72 Konzept 15 konzeptuelle Domäne 40 Kopf eines Kompositums 60 Kopfform 73 Kopulativkompositum 64 Koreferenz 199 Körpersprache 4, 192 Korpus 42, 266 Kultur 19 kulturelle Präsupposition 172 kulturelle Schlüsselwörter 149 kulturelles Skript 154 kulturspezifische Wörter 148 L Laute stimmhafte 115 stimmlose 115 Lautverschiebung 252 Lehnwort 59 lexikalische Elaboration 148 lexikalische Kategorie 17 lexikalische Morpheme 54 lexikalischen Lücke 44 M marginale Mitglieder 19 markiert 102 Maxime der Modalität 175 Maxime der Qualität 174 Maxime der Quantität 174 Maxime der Relevanz 174 menschliche Sprache 5 mentalen Zustand 164 Metapher 37 konzeptuelle 44 Metaphorisierung 37 Metathese 227 Methode der internen Rekonstruktion 219 philologische 219 Metonymie 36 konzeptuelle 44 Minimalpaar 125 Mitglieder marginale 19 prototypische 18 von Kategorien 18 Modalität 102 deontische 102 epistemische 102 Modalverben 102 Modalwörter 102 Modifikator 60 Morpheme 54 freie 54 gebundene 54 grammatische 54 lexikalische 54 morphophonologische Schreibung 113 motiviert 11, 14 Motiviertheit 14, 63 N negative Höflichkeitsstrategien Siehe distanzierende Imagestrategien Netzwerk INDEX 291 sternförmiges 35 Netzwerke Aufspaltung 230 Umordnung 227 Verschmelzung 230 Nominalphrase 62 nonverbale Kommunikation 192 Normalfall 10 Nostratische Sprachen 255 Nullform 229 Nullmorphem 77 Numerus 19, 77 O obligative Sprechakte 165, 166 Obstruenten 116 Onomasiologie 29 onomasiologische Konkurrenz 59, 62 onomasiologische Verfahrensweise 29 Orientierung anthropozentrische 8 intrinsische 7 P pandialektale Kompetenz 217 Parallelkorpora 266 Paraphrase reduktionistische 146 parasprachliche Ausdrucksmittel 192 parataktische Relation 205 Patiens 87 Perfekt 104 performative Sprechakte 165 performatives Verb 169 Perspektive egozentrische 7 Perspektivierung 201 phatische Kommunikation 164 Philologie 219 Phonation 114 Phonem 124 phonematische Transkription 126 Phoneme 113 Phonemisierung 232 Phonetik 112 phonetische Symbole 114 phonetische Transkription 126 Phonologie 113 phonologische Schreibung 113 Phylum 252 Pluralmorphem 12 Pluralmorpheme 55 Polysemie 28, 29 positive Höflichkeitsstrategien Siehe solidarisierende Imagestrategien Possessivkompositum 65 Prädikatsphrase 97 Präferenzhierarchie 259 Präfigierung 57 Präfix 57 Präsens 104 Präsupposition 172 konventionelle 172 konversationelle 172 kulturelle 172 Präteritum 104 Prestige 236 Prinzip der Abfolge 9 der Quantität 12 der regelmäßigen Lautentsprechung 224 des Abstandes 11 indexikalisches 6 symbolisches 13 Prinzip der Höflichkeit 179 Produktivität 63 Prominenz 28 von Referenten im Text 199 Prominenzeffekt 41 Prototypeneffekte 34 prototypisch 19 prototypische Mitglieder 18 Prozess der Linearisierung 95 Q Quantitätsprinzip 12 292 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT R reduktionistische Paraphrase 146 Reduplikation 12 Referenten 30 referentielle Kohärenz 197 referentielle Überspezifizierung 200 Referenz 100 anaphorische 198 endophorische 198 exophorische 198 kataphorische 198 Regiolekt 216 Reihenbildung Siehe Produktivität Rekonstruktion 252 Rekonstruktionsmethode 223 relationale Kohärenz 197 relationale Unterspezifizierung 203 Relationsmorphem Siehe Flexionsaffix Relativität sprachliche 142 Repräsentation eines Textes 195 Rollenkonfiguration 268 Rückbildung 73 S Satem-Sprachen 255 Satz 84 Satzbetonung Siehe Intonation Sätze elliptische 13 Satzkonstituenten 95 Satzmodus 101 deklarativer 185 imperativischer 185 interrogativer 185 Satzmuster 97 ditransitives 98 Ergänzungsmuster 98 intransitives 97, 98 kopulatives 98 transitives 97, 98 transitives Ergänzungsmuster 98 Satzstellung interrogative 101 Schallfüllegipfel Siehe Sonorität Scheinentlehnung 58 Schema 69 schematische Bedeutung 231 schematischer Wandel 231 Schreibung etymologische 113 morphophonologische 113 phonologische 113 Schwachformen 133 Schwanzform 73 semantische Primitiva 145 semasiologische Verfahrensweise 28 Semiotik 3 semiotisches Dreieck 31 Sequenzrelation 205 Set 15 Silben 127 offene 129 Silbenbetonung 130 Silbenkern 128 Simplizia 55 Skript 196 kulturelles 154 Small Talk 164, 182 solidarisierende Imagestrategien 183 Sonoranten 116 Sonorität 127 Sonoritätshierarchie 128 Soziolekt 216 spätes Indefinitum 200 Spezifizierung 37 Sprachdeterminismus 140 Sprache 15 menschliche 5 Sprachengesetze 249 Sprachfamilie 252 indoeuropäische 223 Sprachgruppe 253 sprachinterne Rekonstruktion 225 sprachliche Form 2 sprachliche Interaktion 164 sprachliche Kategorien 15 sprachliche Relativität 142 sprachliche Universalien 257 INDEX 293 sprachliche Variation 216 Sprachstamm 252 Sprachtod 248 Sprachvergleich 261 Sprachwandel Auslöser von 237 letztliche Ursachen 237 Ursachen 236 Sprachwandel. 216 Sprachzweig 253 Sprechakt 100, 164 Sprechakte direkte 183 imagebedrohende 183 indirekte 183 Informationsgesuche 166 informative 165, 166 konstitutive 166 obligative 165, 166 performative 165 Sprechakttypen 164 Sprechzeit 103 Standardlautung 216 Standardvarietät 216 sternförmiges Netzwerk 35, 38 Stimmbänder 114 Stimme 115 stimmhafte Laute 115 Stimmhaftigkeit 117 Stimmlippen Siehe Stimmbänder stimmlose Laute 115 Stimmritze Siehe Glottis strukturelle Veränderungen 252 Subjekt 8, 85, 97 Substantivkomposita 60 Substrat 218 Suffigierung 57 Suffix 57 Superstrat 218 Symbol 3 Symbole phonetische 114 symbolisches Prinzip 13 symbolisches Zeichen 3 Synonymie 30 Synonymwörterbuch 29 syntaktische Gruppe 55 syntaktische Reduplikation 153 Syntax 84 T Taxonomie hierarische 43 Sprechakt- 165 Teilnehmer 86 Teilnehmerrollen 87 Tempus 19 Text 192 Textlinguistik 192 Textrepräsentation 195 Textsegmentierung 200 Textsorte 203 textuelle Funktion 194 Tonhöhe 116 Tonhöhenverlauf 131 Tonsprache 131 transitives Satzmuster 97 Transkription phonematische 126 phonetische 126 U Übereinkunft Siehe Konvention Umgangslautung 131 Umlaut 233 Umsetzung Siehe Konversion Universalien ideationale 257 implikative 260 interaktionale 176 interpersonale 258 pragmatische 258 sprachliche 257 unmarkiert 102 unscharf 19 Untergruppen von Sprachen 253 Urindoeuropäisch 225 Ursprachen 252 Ursprungsdomäne 37 Ursprung-Weg-Ziel-Schema 92 294 SPRACHE UND SPRACHWISSENSCHAFT V Varietät 216 Verankerung 76, 100 Verankerungselemente 100 Verben schwache 223 starke 222 Verbendung 55 Verbkomposition 61 Verbmodus 102 Verbreitung von Sprachwandelerscheinungen 237 Verbstamm 55 Vergangenheit 103 Verlaufsform 105 Verständlichkeit gegenseitige 246 Verteilung komplementäre 126 Vokalablaut 222 Vokale 117, 120 des Deutschen 123 gerundete 121 ungerundete 121 Vokalreduktion 133 Vokalviereck 121 Volksetymologie 14, 63 volksetymologische Interpretation 63 Vorgangsschema 88 W Wandel analogischer 234 schematischer 231 Wortarten 20 Wörter 28 einfache 55 komplexe 55 kulturspezifische 148 Wortfeld 40 Wortkreuzung 73 Wortkürzung 73 Wortstellung 10, 101 Wortverschmelzung Siehe Wortkreuzung Z Zeichen 2, 15 ikonisches 2 indexikalisch 2 symbolisches 3 Zeichensystem 3 Zentralisierung von Vokalen 237 Zentralitätseffekte 34 Zentrum deiktisches 6 Zieldomäne 37 Zielsprache 264 Ziel-vor-Ursprung-Prinzip 94 Zirkumfixe 57 Zukunft 103 Zusammensetzung Siehe Komposition Zweitglied 60