Ethische Rechtfertigung der Stammzellforschung in Deutschland

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Ethische Rechtfertigung der
Stammzellforschung in Deutschland
Prof. Dr. Ludwig Siep
Philosophisches Seminar der Universität Münster
Ehemaliger Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung
Festvortrag anlässlich der Veranstaltung der
Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES)
„10 Jahre Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland“
am 06.09.2012 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
(BBAW)
Prof. Dr. Ludwig Siep
Ethische Rechtfertigung der Stammzellforschung in Deutschland
Zur ethischen Rechtfertigung der Stammzellforschung in Deutschland
Man kann in der Ethik, der Reflexion und Begründung moralischer Gebote
und Werte, einen deduktiven Typus von einem hermeneutischen unterscheiden.
Der erste sucht in der Vernunft, der Natur oder übernatürlichen Offenbarungen
Prinzipien der Moral, zu deren Erkenntnis und Gültigkeit reale historische
Prozesse der menschlichen Kultur irrelevant sind. Das Musterbeispiel dafür ist
Kant. Aber auch der utilitaristische Grundsatz der Verbesserung der Freude/Leid
Bilanz bei allen Betroffenen einer Handlung oder Handlungsregel ist nicht an
historischen Prozessen orientiert. Empirisch bedeutsam ist für ihn allenfalls die
offenkundige Abneigung empfindungsfähiger Lebewesen gegen Schmerz. Der
andere Typus der Ethik geht von einer Untersuchung dessen aus, was Menschen
zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen für gut, erstrebenswert,
erlaubt und gerechtfertigt gehalten haben. Zu diesem Typus gehören in der
Philosophiegeschichte immerhin Aristoteles und Hegel, in der Gegenwart etwa
Michael Walzer, bis zu einem gewissen Grade auch John Rawls und die
weltweit dominierenden Medizinethiker Beauchamp und Childress.
Wenn man diesem Ethiktypus in Bezug auf die Normgebung und Normpraxis
in der deutschen Stammzellforschung folgt, dann fragt man nicht, gegen welche
zeitlosen moralischen Gebote bestimmte positive Gesetze und die nach ihnen
erlaubten Verhaltensweisen etwa der Forscher verstoßen haben könnten. Es geht
stattdessen um die innere Logik dieser Gesetze und die Rechtfertigung, die sie
haben könnten. Dazu muss man nicht, wie die Geschichtsphilosophie des 18.
und 19. Jahrhunderts, davon ausgehen, dass im kulturellen Prozess der
Normänderungen ein vernünftiger Fortschritt waltet. Es könnte ja sein, dass
diese Gesetze und Verhaltensweisen sich als unvernünftig erweisen, oder aber
als mehr oder minder gelungener Versuch einer historischen Problemlösung.
Man hat dem deutschen Stammzellgesetz ja geradezu Doppelmoral vorgeworfen
oder einen politischen Kompromiss ohne moralische Legitimation. Die Prämisse
des hermeneutischen, verstehenden Verfahrens ist aber, bis zum Beweis des
Gegenteils ein principle of charity walten zu lassen, ein Wohlwollen, das bis
zum Beweis des Gegenteils unterstellt, die zu verstehenden Texte und
Handlungen seien sinnvoll und mit guten Gründen zu rechtfertigen.
Sicher war das Stammzellgesetz ein politischer Kompromiss zwischen zwei
ursprünglich weiter auseinander liegenden Lagern der generellen Ablehnung
und der weitergehenden Freigabe. Aber während ein politischer Kompromiss ein
Resultat des Verhandelns ist, bei dem man lediglich im Auge behalten muss,
was eine politische Gruppierung erreichen will und wie viel Abstriche an einer
Forderung den eigenen Mitgliedern zugemutet werden kann, muss eine
moralische Rechtfertigung nach den normativen Gründen für die zustande
gekommen Verbote und Erlaubnisse fragen. Wenn es sich dabei um das Resultat
einer Güterabwägung und einer Einschränkung von zwei nicht gleichzeitig und
in gleichen Maße zu realisierenden Gütern oder normativen Prinzipien handelt,
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dann muss eine plausible Antwort auf die offenbar bei der Abwägung
verwandten Gewichtungsregeln gegeben werden können.
Eine solche Rekonstruktion der ethischen Gründe für Gesetze eines
nationalen Parlamentes, denen gerade eine Abgrenzung gegen andere
Rechtsordnungen zugrunde liegt, beruht auf zwei Prämissen: Einmal, dass
zwischen Moral und Recht sowohl Differenzen wie Gemeinsamkeiten bestehen.
Und zweitens, dass auch verbindliche Setzungen von Normen mit moralischem
„Hintergrund“ partikular, auf besondere Rechtsgemeinschaften bzw. Staaten
begrenzt sein können. Zu beidem kann ich hier nur wenig sagen. Zum Verhältnis
von Recht und Moral genügt es, an die traditionelle, vor allem bei Kant präzise
formulierte Unterscheidung zu erinnern: das Recht enthält Normen, die mit
legaler physischer Gewalt erzwungen werden können – die Moral ist nicht
erzwingbar, weil sie auf Überzeugung und Gewissen beruht. Geteilte moralische
Überzeugungen liegen aber in vielen Fällen den Entscheidungen über
erzwingbare Rechtsnormen in nationalen oder über-nationalen Gesetzgebungen
zugrunde.
Wenn das der Fall ist, kann eine Ethik, die Gründe solcher Gesetzgebungen
„rekonstruiert“, nicht im strikten Sinne universalistisch sein. Die Moral ist zwar
insofern universalistisch, als sie für alle Menschen gilt, alle gleich behandelt und
jedem einsichtig sein muss, der sich auf einen unparteiisch wohlwollenden
Standpunkt versetzt. Aber was zu einer bestimmten Zeit in einer Rechtsordnung
normiert wird, kann sich mit guten Gründen von anderen Normsetzungen
unterscheiden. Zum einen, weil es in vielen Fragen unterschiedliche
Auffassungen des „für alle Richtigen“ gibt. Zum anderen, weil es gute ethische
Gründe dafür gibt, eine Normgebung von Parlamenten souveräner Staaten zu
respektieren, jedenfalls solange sie als Grundrechte schützende Rechtsstaaten zu
betrachten sind. Die Debatte über die europäische Konvention zum Schutz der
Menschenrechte in Medizin und Biowissenschaften hat etwa gezeigt, dass es
gemeinsame Normen für einen großen Kulturraum, aber auch Spielraum für
einzelstaatliche Normsetzungen geben kann – sogar in so grundsätzlichen
Fragen wie dem Schutz des beginnenden Lebens.
Die Güter, die den deutschen gesetzlichen Regelungen und Verfahren in
Bezug auf den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen zugrunde
lagen, sind zweifellos der Lebensschutz, die Forschungsfreiheit und die
staatliche Förderung des Schutzes der Gesundheit. Der Rechtscharakter dieser
Güter als individueller, einklagbarer Ansprüche kann hier weitgehend offen
bleiben.
Beim Lebensschutz ist zu unterscheiden zwischen dem Schutz einer
befruchteten Eizelle gegen ihre Verwerfung oder Zerstörung und dem indirekten
Schutz, der darin besteht, nicht durch Mitverursachung oder Billigung
(„complicity“) der in anderen Rechtsgebieten erlaubten Zerstörung von
Embryonen die eigenen Bürger zu gefährden. Die deutschen Gesetze, anders als
etwa die in der Schweiz erlassenen, erlauben die Zerstörung eines Embryos auch
dann nicht, wenn dieser keine Lebenschance durch Implantation in einen
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mütterlichen Uterus mehr hat. Wenn das mit den Gesetzen zum Abbruch der
Schwangerschaft zusammenpassen soll, dann müssen die letzteren durch eine
Art Notwehrrecht der Schwangeren begründet sein. Der Anspruch der Mutter
auf Schutz ihre eigene Gesundheit kann ja den Lebensschutz sogar des weit
entwickelten Fötus überwiegen. Das Recht der Forschungsfreiheit und der Suche
nach Mitteln zum Gesundheitsschutz dagegen bleibt nach dem Stammzellgesetz
dem Lebensschutz der befruchteten Eizelle, selbst der ohne Überlebenschance,
prinzipiell nachgeordnet. Ob sich die deutschen Regelungen zum
Schwangerschaftsabbruch nach dem Prinzip eines rechtfertigenden Notstandes
konsistent interpretieren lassen, soll hier den Juristen überlassen bleiben.
Wichtig ist aber, dass ein solches Recht bei den Stammzellregelungen nicht in
Anschlag gebracht wurde – weder auf Seiten der Forscher noch auf den der auf
Stammzelltherapien oder Medikamente hoffenden gegenwärtigen oder
zukünftigen Patienten.
Nicht nur die Zerstörung eines Embryo, sondern auch der Import der damit
verbundenen embryonalen Stammzellen nach Deutschland ist gesetzlich nicht
zulässig, außer in den durch das Stammzellgesetz spezifizierten
Ausnahmefällen. Was ist der Grund des Verbotes? Dass der deutsche
Gesetzgeber damit das Lebensrecht der in anderen Ländern rechtmäßig
verworfenen Embryonen schützen wollte, scheint eher unwahrscheinlich. Das
wäre eine Bevormundung fremder Staaten, die in deutschen Augen ihren
Schutzpflichten nicht nachkommen. Zugleich wäre die Unterscheidung
zwischen universaler Moral und staatlicher Rechtssetzung in einem Gesetz
infrage gestellt, das gerade auf der Unterscheidung zwischen Recht im
Herkunftsland und im „Importland“ fußt. Plausibler erscheint mir daher die
Annahme, dass der Gesetzgeber durch nachträgliche Billigung oder sogar
indirekte Verursachung für solche Handlungen den Lebensschutz im
allgemeinen, und daher auch für die eigenen Bürger geschwächt sah. Primär
geht es dabei allerdings um die in Deutschland existierenden Embryonen, denn
das Gesetz wurde laut Titel zur „Sicherstellung“ der Ziele des deutschen
Embryonenschutzgesetzes erlassen.
Bei einer solchen Schwächung des Lebensschutzes gibt es aber offenbar
Grade, denn der Import wurde ja nicht ausnahmslos verboten. Die Frage ist nahe
liegend, aufgrund welcher Überlegungen solche Graduierungen vorgenommen
werden. Fragt man rein empirisch, ob durch deutsche Nachfrage nach
embryonalen Stammzellen weltweit die Zerstörung von Embryonen angeregt
wird, so kommt man wohl eher zu einer negativen Antwort: Bei hunderten
schon existierenden Stammzelllinien und in die Millionen gehenden entsorgten
Embryonen aus Reproduktionskliniken weltweit, ist die deutsche Nachfrage
wohl kaum bemerkbar. Auch soll der Stichtag ja verhindern, dass solche
Nachfrage für zukünftigen Embryonenverbrauch überhaupt kausal wirksam sein
kann. Hier kommt es allerdings auf die angenommenen Kausalketten an: Dass
das Stammzellgesetz, erst recht nach der Verschiebung des Stichtages, ein
generelles Interesse deutscher Forscher an Stammzellimporten zum Ausdruck
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bringt, ist nicht von der Hand zu weisen. Wir befinden uns offenbar im Bereich
von empirischen Annahmen, sogar über Wahrscheinlichkeiten, die nur in einer
Ethik der Folgenabschätzung zulässig sein können.
Wenn solche indirekten Lebensschutzmaßnahmen aber für geboten galten,
was ist überhaupt der Grund der Zulässigkeit von Ausnahmen? Offenbar eine
Reihe von Rechten und Gütern, die dem indirekten Lebensschutz zwar generell
nachgeordnet wurden, ihn in einzelnen Fällen aber überwiegen können. Für
diese Fälle wurden Kriterien angegeben und zu ihrer Anwendung eine EthikKommission eingesetzt. Die Kriterien, oft abgekürzt mit Hochrangigkeit,
Vorklärung und Alternativlosigkeit wiedergegeben, sollten sichern, dass es beim
Status der Ausnahme bleibt. Inwieweit das bei über siebzig genehmigten
Projekten der Fall ist, kann ebenfalls nur mit unsicheren Abschätzungen
beurteilt werden.
Die Ausnahmereglung des Stammzellgesetzes geht, wie gesagt, nicht auf
einen rechtfertigenden Notstand zurück. Auch wenn man gegenwärtigen und
zukünftigen Kranken einen erheblichen Anspruch auf die Ermöglichung und
Förderung aussichtsreich erscheinender medizinischer Forschung zusprechen
kann, der Status eines Notstandes, der Ausnahmen von Geboten zum Schutz
eines elementaren Grundrechts rechtfertigen könnte, kommt ihnen kaum zu.
Daher scheint mir auch das Argument, die Forschung an embryonalen
Stammzellen sei nur in einem kurzen Zeitraum nötig und zugelassen, der sich
seit der Entwicklung der induziert pluripotenten Stammzellen bereits zu
schließen beginne, nicht überzeugend. Eine solche vorübergehende
Ausnahmeerlaubnis wäre nur in temporären Notsituationen gerechtfertigt, von
denen aber auch überzeugte Vertreter der Stammzellforschung kaum ausgehen
können.
Es bleibt also nur die Annahme, dass die ausnahmsweise Genehmigung des
Imports auf einer Güterabwägung beruht. Die indirekte Form des
Lebensschutzes durch Vermeidung der Billigung und Mitverursachung von
Embryonentötung in anderen Rechtsräumen ist offenbar abwägbar gegen die
Forschungsfreiheit, den Anspruch auf Krankheitsbekämpfung und evtl. auch
andere Vorzüge des Gemeinwohls aufgrund der Durchführung hochrangiger
innovativer Forschung in Deutschland. Güterabwägungen dieser Art passen
nicht in den Rahmen strenger Pflichtenethiken, wenngleich auch Güterethiken
unbedingte Verbote enthalten können.
Welche subtilen Abwägungen schon bei der Bestimmung des indirekten
Lebensschutzes nötig sind, haben wir gesehen. Bei den anderen betroffenen
Gütern ist es nicht anders. Die Forschungsfreiheit ist zwar ein Grundrecht, das
nur bei Konflikt mit anderen Grundrechten unter Wahrung des Wesensgehaltes
der betroffenen Grundrechte einzuschränken ist. Der Lebensschutz von
Forschungsobjekten gehört zweifellos zu solchen Grenzen – Forschung, die
Menschen bewusst das Leben nimmt, verstößt sicher gegen Grundrechte und
Menschenwürde. Einen solchen Konflikt hat der Gesetzgeber offenbar nicht
gesehen, wo es sich um Stammzellen aus Linien bereits zerstörter Embryonen in
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anderen Rechtsräumen handelt. Aber die indirekte Schwächung des
Lebensschutzes in Deutschland durch nachträgliche Billigung und evtl.
zukünftigen Anreiz zur Zerstörung wurde für so gewichtig angesehen, dass sie
die Forschungsfreiheit grundsätzlich überwiegt. Kann die Forschungsfreiheit
aber dann ein Ausnahmerecht zur Einfuhr begründen? Offenbar nur, wenn man
die Grade der Gewichtung sehr fein justiert.
Wie steht es mit dem Recht der gegenwärtigen und zukünftigen Kranken?
Man kann auch darin ein Grundrecht sehen, das eine staatliche Schutzpflicht
auslöst, aber keines, das die Tötung von Menschen rechtfertigt. Das haben die
Kritiker an einer Art „Vampirmedizin“ zu Recht geltend gemacht. Der Vorwurf
an die Regelungen in Nachbarstaaten war aber gänzlich deplaziert, denn dort
wurde ein Lebensrecht des Embryos vor der Implantation ja mit eigener
gründlicher Rechtfertigung (etwa in Großbritannien durch die WarnockKommission) gerade verneint.
Der Import von embryonalen Stammzelllinien nach Deutschland wird auch
nicht als Mitwirkung an einer solchen Zerstörung verstanden. Sie hat in anderen
Ländern im Einklang mit deren Rechtsordnung stattgefunden. Die importierten
Zellen stammen aus Zelllinien nicht mehr lebensfähiger Embryonen. Durch den
Import und die Forschung kann man also legal über Mittel verfügen, die
eventuell einmal vielen schwerkranken Menschen helfen. Darin liegt nach
ethischer Tradition auch keine Doppelmoral: Die Möglichkeit der Hilfestellung
kann die Inkaufnahme einer uns selber verbotenen Tat, die in einem anderen
Rechtsraum erlaubt ist, überwiegen. Das setzt allerdings voraus, dass wir
grundlegende Rechtsbegriffe mit ihnen teilen – abgehackte Hände oder Organe
Hingerichteter zu importieren, kann nach den deutschen moralischen und
rechtlichen Kriterien nicht erlaubt sein. Wo die Grenzen der Gemeinsamkeit von
moralischen und rechtlichen Normen anzusetzen sind, ist freilich auch wieder
eine schwierige Frage. Offenbar liegt die Entsorgung nicht mehr implantierbarer
Embryonen für den deutschen Gesetzgeber nicht jenseits dieser Grenzen.
Aus der Sicht einer rekonstruktiven Ethik liegt der deutschen Gesetzgebung
und den ausführenden Verfahren, an denen die ZES einen hoffentlich wichtigen
Anteil hatte, also eine Güterabwägung zugrunde:
Auf der einen Seite der Waagschale liegt das Gewicht eines indirekten
Lebensschutzes durch Vermeidung der Billigung und nicht völlig
auszuschließenden Mitverursachung von Handlungen, die in unserem
Rechtsraum als Tötung gelten. Ich lasse dabei offen, wie der in Deutschland
übliche Vorgang zu beurteilen ist, vor Abschluss der Befruchtungskaskade
eingefrorene befruchtete Eizellen, die nicht mehr implantiert werden können, zu
entsorgen – also vor allem die Frage, ob beim Auftauen die Vereinigung der
Kerne nicht zum Abschluss kommt und damit Embryonen im Sinne der
deutschen Gesetze entstehen.
Auf der anderen Seite der Waagschale liegen die Güter der
Forschungsfreiheit, der möglichen Hilfe für Kranke und der Leistungsfähigkeit
der Medizin und Arzneimittelentwicklung in Deutschland. Keines dieser Güter
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allein, aber auch nicht alle zusammen, können die Waagschale zum Sinken
bringen. Sie rechtfertigen ja auch zusammen nicht generell den Import. Sie
bringen die Waage aber offenbar zu einem gewissen Schwanken um den
Gleichgewichtszustand: In der Regel sinkt die Schale des indirekten
Lebensschutzes tiefer, aber in besonderen Fällen kann das anders sein.
Ethisch gerechtfertig ist die Forschung an embryonalen Stammzellen in
Deutschland also durch einen komplizierten Abwägungsprozess zwischen
Gütern. Auf der Grundlage eines strengen, erfahrungsunabhängigen Prinzips
vom Schlage des kategorischen Imperativs oder eines schlicht verstandenen „du
sollst nicht töten“ lässt es sich kaum rechtfertigen. Die von einer solchen Ethik
Überzeugten haben dem Gesetz nur aus politischen Gründen zustimmen können,
weil die Demokratie eben Kompromisse verlangt und weil man dadurch noch
Schlimmeres im Sinne der eigenen Überzeugung verhindern kann – auch das
schon wieder eine Folgenabwägung.
Es bleibt aber das Problem der Ausnahmeregelung. Die praktische Frage nach
10 Jahren Stammzellforschung in Deutschland ist: Handelt es sich überhaupt um
Ausnahmen? Praktisch haben fast alle Antragsteller zeigen können, dass ihre
Forschungen hochrangig und alternativlos waren – vielfach allerdings erst nach
Rückfragen und gelegentlich auch nach Änderungen in den vorgesehen
Projekten. Vielleicht sind eine Reihe überflüssiger Forschungen schon durch die
Hürde des Verfahrens abgeschreckt worden. Es ist also sozusagen mit dem
kostbaren Material nur Wichtiges für die Grundlagenforschung getan worden.
Aber die Regeln zur Rechtfertigung von Ausnahmen haben einen relativ breiten
Strom der Spitzenforschung fließen lassen, jedenfalls wenn man das Potential in
Deutschland in einer so komplizierten Materie in Rechnung stellt. Es handelt
sich kaum um individuelle Ausnahmen von in aller Regel gültigen Verboten.
Ein Notstand, der solche Ausnahmen rechtfertigt, war ja auch nicht sichtbar.
Wenn es um die Wahrscheinlichkeit der „Komplizenschaft“ geht, wäre es
vielleicht sinnvoller gewesen, eine Einzelfallprüfung vorzuschreiben, ob ein
Import wirklich zum Anreiz des Embryonenverbrauchs beiträgt. Was das Gut
der Forschung angeht, handelt es sich, wie die Praxis gezeigt hat, eher um
Regelfälle. Eine an Genehmigungen gebundene Erlaubnis des Imports zu
Zwecken der Forschung generell hätte möglicherweise die gleichen Folgen
gehabt.
Eine Weise der Einschränkung der Ausnahmen habe ich bisher noch nicht
erwähnt: Sie besteht in den Inhaltsbestimmungen der Forschung. Zulässig ist sie
als „Grundlagenforschung oder zur Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei
der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur
Anwendung beim Menschen“ (§ 5 StZG). Wenn diese Beschränkung eng
ausgelegt wird, erweist sie sich heute als problematisch.
Einmal, weil die ersten klinischen Versuche inzwischen in andern Ländern
stattfinden, zum anderen, weil die aussichtsreichste Anwendung der
Stammzellforschung in Deutschland wohl im Bereich der Wirkstoffprüfung und
Arzneimittelentwicklung liegt. Die Grenzen zwischen Grundlagenforschung,
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klinischer Forschung, Entwicklungsforschung usw. sind in der modernen
Medizin fließend. Sie liegen auch kaum zwischen der rein wissenschaftlichen
und der „kommerziellen“ Forschung und Entwicklung, wie das EuGH-Urteil zur
Patentierung vermuten lassen könnte. Nach diesem Urteil auf der Grundlage der
europäischen Biopatentrichtlinie ist die Verwendung von Embryonen im
Zusammenhang der Patentierung für kommerzielle Verfahren generell
menschenwürdewidrig. In der Forschung ist sie dagegen nicht ausgeschlossen,
jedenfalls dann nicht, wenn die Verfahren für Embryonen Nutzen bringen
könnten – ob das Gericht an den derzeit utopischen Fall des Individualnutzens
denkt, ist nicht ganz klar.
Gerade die europäische Forschungspolitik fördert die Verzahnung von
Forschung und Anwendung, akademischer und industrieller Forschung und
Entwicklung. Forschung in präventiver, diagnostischer und therapeutischer
Absicht ist von der Entwicklung von Therapien und Wirkstoffen nicht
abtrennbar. Wo medizinische und pharmazeutische Entwicklung aber zumindest
teilweise privatwirtschaftlich organisiert und finanziert wird, muss es legitime
Gewinninteressen geben. Wenn die Hilfe für Kranke genauso viel oder noch
mehr wiegt als die Forschungsfreiheit, dann kann „Kommerzialisierung“ kein
grundsätzliches Hindernis für die Zulassung sein.
Die ethische Rechtfertigung für die Gesetze und Verfahren der deutschen
Stammzellenforschung ist nach meinem Verständnis also eine ziemlich
komplizierte Güterabwägung. Vieles wäre klarer, wenn man sich für einen
stufenweisen Zuwachs der Rechte in der Frühphase biologisch menschlichen
Lebens entscheiden könnte, wie in einigen anderen Ländern. Es spricht ja auch
vieles dafür, dass man eine solche graduelle Konzeption braucht, um die
gesamte Regelung des vorgeburtlichen Lebensschutzes in Deutschland ohne
Wertungswidersprüche verstehen und rechtfertigen zu können. Aber die
Denkfigur des „im Prinzip verboten, aber in vielen sogar nach Regeln
erkennbaren Ausnahmen erlaubt“, erfreut sich in der deutschen Normgebung
großer Beliebtheit. Auch der Ruf nach der Ethik-Kommission verdeckt oft nur,
dass es im Grunde nicht um Einzelfallbewertung von ungewöhnlichen
Ausnahmen geht, die auf Notsituationen beruhen. Allenfalls kann man erwarten,
dass die Kommissionen, wie jetzt bei der PID-Gesetzgebung, durch viele
Einzelfallentscheidungen erst allgemeinere Standards herausfinden. Im Falle der
Stammzellforschung hat das Gesetz sie aber weitgehend vorgegeben.
Auch die ZES hat in der Anwendung viele Implikationen des Gesetzes geklärt
und auf Probleme aufmerksam gemacht, vor allem in den Schlussabschnitten
ihres jährlichen Tätigkeitsberichts, oder in Fachkolloquien neben der
Antragsberatung. Insofern hat sie die Aufgabe erfüllt, für die EthikKommissionen in einem Bereich rapider wissenschaftlicher und technischer
Entwicklungen besonders geeignet sind: die des institutionalisierten
Lernprozesses in Bezug auf Normen. Hingegen verrät der Versuch des
Gesetzgebers, eine Kommission einzusetzen, die in Einzelfällen
Güterabwägungen vornehmen soll, zugleich den Abwägungsspielraum aber
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durch die Bindung der „ethischen Vertretbarkeit“ (StZG § 9) an gesetzliche
Formulierungen (§ 5) zurückzunehmen, eher unvereinbare Absichten.
Es bleibt mir der Verdacht, dass unter den Gesetzgebern viele sind, die nach
außen eine Gesinnungsethik der strengen Verbotsgesetze wahren wollen,
während sie doch Regeln ganz anderer Art zustimmen, nämlich solchen, die
subtile Güterabwägungen und Folgenabschätzungen zur ethischen Grundlage
haben. Man hilft sich dann mit den Formulierungen, so etwas sei vorübergehend
nötig gewesen, salopp gesagt „ein bisschen Einschränkung des Lebensschutzes,
die bald wieder vorbei ist“. Noch salopper: Die iPS-Forscher sollen helfen, auf
eine kurzzeitige Sünde bald wieder verzichten zu können. Noch ein paar Jahre
dienen die embryonalen Stammzellen zum Vergleich mit den reprogrammiert
pluripotenten, dann kann man das Fenster wieder schließen und das Gewissen
beruhigen. Aber die Sünde, wenn sie denn eine wäre, ist nicht einmal durch eine
Notsituation berechtigt, wie es die berühmte Notlüge immerhin ist. Wenn man
die normativen Grundlagen der deutschen Stammzellforschung verstehen und
widerspruchsfrei rechtfertigen will, muss man sich schon zu einer ziemlich
komplizierten Güterabwägung bekennen, bei der auch der Lebensschutz von
frühen Embryonen mit auf der Waagschale liegt,
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