Jüdische Medizinethik

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Lebens-Wert
Schwangerschaftsabbruch, Stammzellforschung und
Präimplantationsdiagnostik: Wie Judentum und andere
Weltreligionen bioethische Fragen beantworten
11.05.2006 – von Anke Ziemer
von Anke Ziemer
Die Biowissenschaften entwickeln sich rasant, und ihr Potential, die Lebensqualität
zu verbessern, wächst enorm. Neue medizinisch-technische Chancen konfrontieren
die Gesellschaft aber auch mit komplexen Fragen und können sie vor ethische
Dilemmata stellen. Mediziner sind in ihrem Auftrag „Heilen, aber nicht schaden“
besonders herausgefordert, da sie sich in ihrer täglichen Praxis mit Fragen der
Sterbebegleitung, der Forschung an Stammzellen oder der Organtransplantation
auseinandersetzen müssen. Deutsche Ärzte tragen zudem eine herausgehobene
Verantwortung. Waren sie es doch, die während der Nazizeit alle ethischen Maßstäbe
ausgeblendet, jüdische Kollegen als „nicht-arisch“ ausgegrenzt und aktiv an der
Vernichtung „unwerten Lebens“ teilgenommen haben. „Uns dessen bewußt, treten
wir heute mit großer Sorgfalt in die Diskussion über Ethik in der Medizin“, bekräftigt
Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer. „Hierzu
gehört, Kollegen anderer Religionen mit einzubeziehen, um erneute Ausgrenzung zu
vermeiden und den Blick anderer auf ethische Werte nicht zu verlieren.“
Da medizinische Forschung immer globaler stattfindet und somit nicht nur
staatliche, sondern auch kulturelle Grenzen überschreitet, ist die Diskussion über
ethische Standards ebenfalls auf gleicher Ebene nötig. Dieser Idee folgte ein
Podiumsgespräch über den „Wert des menschlichen Lebens: Ethische Grenzen in der
Medizin – aus der Sicht dreier Kulturen“, das der Bundesverband Jüdischer Ärzte
und Psychologen in Deutschland i.G. zusammen mit der Kassenärztlichen
Vereinigung Berlin unlängst veranstaltete. Dabei waren Dr. Beni Gesundheit,
Stammzellforscher am Hadassah University Hospital Jerusalem, Dr. Nadeem Elyas,
Gynäkologe und bis Februar 2006 Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in
Deutschland, und Professor Dr. Wolfram Höfling, Direktor des Instituts für
Staatsrecht der Universität zu Köln, eingeladen, die Positionen der jüdischen,
muslimischen und christlichen Kulturkreise zu grundlegenden bioethischen Fragen
vorzustellen.
In einigen Bereichen stimmen ihre Auffassungen überein, stellten die
Gesprächsteilnehmer schnell fest, etwa zu Fragen der Würde des Menschen, des
Lebensschutzes, der Zustimmung zur Organtransplantation und pränatalen
Diagnostik sowie des Verbots der aktiven Sterbehilfe. Beni Gesundheit erläuterte, daß
die jüdische Medizinethik auf der Halacha basiert, das heißt auf Tora, Talmud, den
späteren Kommentaren und den Schlußfolgerungen rabbinischer
Entscheidungsträger, Poskim genannt. Die religiös motivierte Medizinethik
unterscheidet sich von säkularer Ethik im Grundsatz dadurch, daß die ethischen
Werte auf den von Gott offenbarten Prinzipien und Verpflichtungen beruhen.
Aufgrund der langen rabbinischen Tradition ist sie die älteste existierende
Überlieferung, die auch heute für religiöse Juden normativen Charakter trägt. Die
Poskim, moderne Rabbiner und jüdische Medizinethiker, sind herausgefordert, in
der reichen jüdischen Literatur die entsprechenden Quellen zu medizinethischen
Fragen zu finden und deren Relevanz für die modernen klinischen Belange zu prüfen.
Die uneingeschränkte Würde des Menschen leitet sich demnach aus dem Prinzip ab,
daß Gott und Mensch „Zwillinge“ sind, wie es zum Beispiel im Schöpfungsbericht (1.
Buch Moses 1,26-27) oder im Talmud (Sanhedrin 46b) geschrieben ist. Gemäß dem
biblischen Text im 5. Buch Moses 21, 22-23 verliert selbst ein rechtmäßig
Hingerichteter seine Eigenschaft als Ebenbild Gottes nicht, sondern seine Leiche muß
würdevoll behandelt, also unverzüglich begraben werden. Im Gegensatz dazu war es
im christlichen Mittelalter üblich, daß Anatomen die Leichen von Erhängten für ihre
Forschung verwendeten. Aus historischer Verantwortung ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Würde des Menschen als unantastbar verankert. Nach
islamischer Auffassung leitet sich die Menschenwürde aus dem Koran ab, in dem es,
so zitiert Nadeem Elyas, heißt: „Und wir haben den Kindern Adams Ehre erwiesen, ...
und wir haben sie vor vielen von denen, die wir erschaffen haben, eindeutig
bevorzugt.“ Die Würde des Menschen zählt demnach mehr als alles andere.
In anderen Bereichen, etwa bei der Bestimmung vom Anfang des menschlichen
Lebens, zu Fragen der embryonalen Stammzellforschung, der
Präimplantationsdiagnostik und des Schwangerschaftsabbruchs blieben ihre
Positionen zum Teil unklar oder gingen weit auseinander. Aus jüdischer Sicht beginnt
biologisches Leben zwar mit der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter, die
„Beseelung“ tritt jedoch erst im Verlauf der Schwangerschaft ein. Der Embryo gilt
somit halachisch in den ersten Monaten nicht als der Mutter gleichwertiges
Menschenleben und wird etwa bei Lebensgefahr der Mutter vernichtet. „Es gibt
darüber eine heftige Diskussion, und das ist gut“, antwortete der Stammzellforscher
Beni Gesundheit auf die Frage, welchen Status der Embryo vor der Einnistung habe
und in welchem Rahmen Stammzellforschung zulässig sei. „Meiner Meinung nach ist
Stammzellforschung halachisch möglich, wenn dadurch Chancen auf Lebensrettung
eröffnet werden, denn die Medizin soll immer den Lebenden helfen.“ In dieser Frage
existiere jedoch eine Grauzone und die Rabbiner würden unterschiedlich
entscheiden. Nach muslimischer und auch nach christlicher Auffassung beginnt das
Leben mit der Befruchtung der Eizelle und erlangt in diesem Stadium bereits
menschliche Qualität. Während das deutsche Embryonenschutzgesetz keinerlei Stammzellforschung erlaubt, um jeglichem Mißbrauch
vorzubeugen, läßt der Islam Stammzellforschung zu, „wenn sie der Menschheit
nützt“, erklärt Nadeem Elyas.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) –Untersuchungen im Kontext einer
künstlichen Befruchtung, um zu entscheiden, ob ein Embryo in die Gebärmutter
eingepflanzt werden soll – ist nach jüdischer Auffassung nicht nur möglich, sondern
auch geboten, wenn sie ungewollt kinderlosen Paaren zu Nachwuchs verhilft oder
wenn beim Kind genetisch bedingte, schwere Krankheiten zu befürchten sind, etwa
die hauptsächlich bei aschkenasischen Juden vorkommende Stoffwechselkrankheit
Tay-Sachs. Im Vordergrund steht jeweils, großes Leid von den Eltern abzuwenden.
Auch nach islamischer Auffassung ist PID erlaubt, wenn sie Mißbildungen
verhindert, die zu einer Lebensunfähigkeit des Kindes führen würden. Für Wolfram
Höfling gibt es indes bezüglich der PID noch kein Land, in dem die Frage nach dem
Beginn des menschlichen Lebens, seiner „technischen Verfügbarkeit“ und der damit
verbundenen Würde befriedigend beantwortet wird.
Der Schwangerschaftsabbruch ist nach jüdischer Ethik bis zur Geburt akzeptabel,
wenn klare medizinische Indikatoren dafür sprechen. Ob auch psychosoziale
Indikationen dazu berechtigen, ist Gegenstand rabbinischer Kontroverse. Die
Mischna, Ohalot 7,6, besagt: „Wenn eine Frau schwer gebärt, zerschneidet man das
Kind im Mutterleib und holt es stückweise heraus, weil das Leben der Mutter dem
Leben des Kindes vorgeht. Ist aber der größte Teil schon herausgekommen, darf man
es nicht mehr verletzen, denn man darf nicht eine Seele für eine andere Seele
verdrängen.“ Im christlichen und auch im muslimischen Kulturkreis sind
Schwangerschaftsabbrüche nur sehr eingeschränkt möglich.
Nach einigen Jahren bioethischer Diskussion, die jeder Teilnehmer bereits absolviert
hat, waren sie sich einig, daß es die eine jüdische, christliche oder muslimische
Position nicht gibt, sondern immer eine Vielfalt von ihnen. „Es hängt davon ab, wen
man zu einem bestimmten Thema fragt“, berichtet Beni Gesundheit, der sich zu den
„texttreuen Juden“ zählt. „Viele Probleme werden durch die Medizintechnik heute
erst aufgeworfen, zu denen die Poskim die klassischen Quellen besonders
aufmerksam studieren müssen, um moderne ethische Richtlinien aus ihnen
abzuleiten.“
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