Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung

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SERIE EUROPA  EUROPE SERIES
Konflikttheorie und
Gesellschaftsbildung
Europäische Integration durch
soziale Konflikte
Thilo Fehmel
Georg Vobruba
No.1/2014
Thilo Fehmel
Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung.
Europäische Integration durch soziale Konflikte
Thilo Fehmel
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Leipzig
Research fellow at the Institute for Sociology at the University of Leipzig
[email protected]
Serie Europa – Europe Series
ISSN: 2193-8318
Institut für Soziologie
Universität Leipzig
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Deutschland
Institute for Sociology
University of Leipzig
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Germany
Zusammenfassung
Die derzeitige Verschärfung von innereuropäischen sozialen Konflikten wird überwiegend mit Sorge betrachtet. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Sorge zum Anlass, den sozialen Konflikt im Sinne Georg Simmels als Grundlage von Vergesellschaftung und Gesellschaft zu rehabilitieren. Zunächst werden grundlegende Argumente für Bedingungen zusammentragen, unter denen Konflikte sozialintegrative
Wirkungen haben können. Dann werden die aktuellen Entwicklungen in Europa zu
den konflikttheoretischen Überlegungen in Beziehung gesetzt. Dabei geht es um die
Frage, ob die Krise der Europäischen Integration die soziale Integration Europas
behindert oder begünstigt.
Summary
The currently intensified intra-European social conflicts are predominantly viewed
with concern. This paper intends to mitigate this concern by referring to Georg
Simmel, who considered social conflicts as a specific base of socialization and society. First, fundamental arguments for conditions are gathered under which conflicts
can have socially integrative effects. Then the current developments in Europe will
be related to the conflict-theoretical considerations. This involves the question of
whether the crisis of European integration is constricting or stimulating the social
integration of Europe.
Der Beitrag erscheint in:
Fehmel, Thilo; Lessenich, Stephan; Preunkert, Jenny (Hg.) (2014): Systemzwang und
Akteurswissen. Theorie und Empirie von Autonomiegewinnen. Frankfurt/Main:
Campus (i.E.).
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
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Dieser Beitrag widmet sich zwei Themen. Er handelt von sozialen Konflikten, und er
beschäftigt sich mit europäischer Vergesellschaftung. Und er stellt zwischen beidem
einen Zusammenhang her.
Für viele Beobachter summieren sich die multiplen europäischen Krisen zu einer Krise
der europäischen Integration; dabei werden zunehmend soziale Konflikte thematisiert.
Nach einer langen Phase ihrer national organisierten Einhegung weiten sich soziale
Konflikte in dem Maße aus, in dem Problemlagen entgrenzt, denationalisiert werden.
Im Zuge der fortschreitenden Transnationalisierung sozialer Beziehungen werden soziale Konflikte vermehrt im postnationalen Raum ausgetragen; der Prozess der Europäischen Integration wird zunehmend politisiert (Lepsius 1999; Hooghe, Marks 2009). Politisierung ist ein Indikator konflikthafter Strukturen (Mouffe 2007: 35); sie macht Konflikte sichtbar und deren Ursachen zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung.
Das Spektrum der (sozialwissenschaftlichen) Bewertungen dieser Entwicklungen ist
breit. Einige Beobachter erwarten, dass die in der Krise der Europäischen Vergemeinschaftung offensichtlich werdenden sozialen Konflikte das ohnehin „dünne
Reservoir an gefühlten Gemeinsamkeiten in der und für die EU“ noch weiter minimieren. Daraus leiten sie die Empfehlung ab, die europäische Verflechtung „ein
Stück weit zurück“ zu nehmen und den Subsidiaritätsgedanken zu stärken (vgl.
Immerfall 2013: 203ff.), letztlich also Abgrenzungsbemühungen mit Renationalisierungseffekten zu fördern. Andere Beobachter sehen gerade in den Krisen Europas,
der dadurch begünstigten Politisierung des Krisenmanagements und der darin zum
Ausdruck kommenden Transnationalisierung sozialer Konflikte einen möglichen
Integrationsschub hin zu europäischer Demokratisierung (Zürn 2013) und zu europäischer Vergesellschaftung (Vobruba 2013). Sozialer Konflikt statt soziale Integration oder
aber soziale Integration durch sozialen Konflikt – das sind die gegensätzlichen Auffassungen
zu den Chancen europäischer transnationaler Vergesellschaftung.
Eine Einschätzung in dieser Frage setzt die theoretische Auseinandersetzung mit
sozialen Konflikten voraus. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrages (Kapitel I. bis
V.) werden daher zunächst grundlegende Bedingungen zusammengetragen, unter
denen Konflikte sozialintegrative Wirkungen haben können. Von sozialintegrativen
Wirkungen soll in Anlehnung an Galtung (1970) dann die Rede sein, wenn Konflikte
zu assoziativen Strukturen, zu dauerhaft konstruktiven gegenseitigen Beziehungen –
zu Simmels (1894: 58) oft zitierten „positiven wechselseitigen Verhaltungsweisen“ –
zwischen Akteuren führen oder diese, sofern sie bereits bestehen, nicht zerstören.
Sozialdesintegrativ wären demgemäß Konflikte dann, wenn sich in ihrer Folge dissoziative Strukturen herausbildeten, also bestehende soziale Kontakte reduziert, wechselseitige soziale Beziehungen geschwächt und soziale Akteure voneinander isoliert
würden. Derartige dissoziative Folgewirkungen sind nicht per se schlecht – es gibt
Konstellationen, in denen die Separierung und Isolierung von Konfliktgegnern sinnvoll ist. Vergesellschaftung ist das jedoch nicht.
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Ziel des zweiten Teils des Beitrages (Kapitel VI. und VII.) ist es dann, auf Basis der
gewonnenen theoretischen Erkenntnisse zu sozialen Konflikten die angesprochenen,
gegenwärtig als verschärft wahrgenommenen Konfliktstrukturen in Europa zu bewerten und insbesondere daraufhin zu untersuchen, inwieweit diese wie auch die
Krise Europas der europäischen Vergesellschaftung zu- oder abträglich sind.
I.
Moderne Gesellschaften sind Konfliktgesellschaften. Mehr noch: Folgt man Georg
Simmel (1992a [1908]), dann sind Konflikte eine zentrale Form der Vergesellschaftung. Durch Auseinandersetzungen treten Akteure in soziale Beziehungen ein und
interagieren miteinander. Durch die Wahrnehmung von Meinungs- und Interessenunterschieden bilden sich soziale Gruppen, und sie grenzen sich kommunikativ voneinander ab, indem sie sich aufeinander beziehen. Wenn sich die Meinungsunterschiede nicht darauf beschränken, unterschiedliche soziale Positionen zu reflektieren,
sondern darauf hinauslaufen, dass mindestens eine der beteiligten Seiten anstrebt,
ihren relativen Status zu verändern, also ihren Zugang zu Macht oder zu knappen
Ressourcen zu verbessern, dann wird aus simpler sozialer Ungleichheit ein einer Lösung zustrebender sozialer Konflikt. Konflikte sind aus dieser Perspektive Triebfedern sozialen Wandels. Sie stellen etablierte soziale Ordnungsgefüge infrage und lösen die damit verbundene Erwartungssicherheit auf.
Erst in der Moderne sind die Voraussetzungen dafür gegeben: Meinungsunterschiede
gelten nicht als Ausdruck sozialer Pathologie; Auseinandersetzungen und offene Interessenverfolgung sind als Prinzip akzeptiert; Versuche von Akteuren, die jeweils
eigenen Anschauungen als allgemeingültige Handlungsbegründungen durchzusetzen,
sind als grundsätzlich legitim anerkannt, müssen sich aber andererseits auch Kritik,
Infragestellung und die Konfrontation mit Gegenentwürfen gefallen lassen. Solche
Auseinandersetzungen können heftig sein. Aber eine Gefahr für den Bestand einer
Gesellschaft muss von derartigen modernen Praktiken nicht zwingend ausgehen.
II.
Anders als strukturfunktionalistische Theorien der sozialen Integration gehen soziologische Theorien des sozialen Wandels davon aus, dass Konflikte in modernen, pluralistischen Gesellschaften produktiv und konstruktiv sind bzw. es unter bestimmbaren
Bedingungen sein können. Um diese Bedingungen soll es im Weiteren gehen.
Die integrative Wirkung sozialer Konflikte lässt sich mit vier Theoremen erklären.
Erstens: Mit dem Grad der funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft steigt
auch die Zahl von Zugehörigkeiten eines Individuums. Im Zuge dieser Pluralisierung
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von Zugehörigkeiten nimmt zugleich die Wahrscheinlichkeit von sozialen Konflikten
zu. Dabei handelt es sich jedoch in der Regel um sich überschneidende Konflikte, die
aus den Mehrfachzugehörigkeiten der Akteure resultieren (Coser 1965). Mehrfachzugehörigkeiten relativieren die Bedeutung – und verringern so die Intensität – sozialer
Konflikte entlang einer einzigen, (vormals) zentralen Achse (Hirschman 1994); sie
verhindern Großpolarisierungen mit größerem Destabilisierungs- und Desintegrationspotential. Je größer und vielfältiger die Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und sozialen Gruppen sind, desto eher sind relationale Positionen
innerhalb eines einzelnen von vielen möglichen Interessengegensätzen Konfliktgegenstand (Simmel 1992b [1908]: 846), und nicht grundsätzliche Fragen der Gesellschaftsorganisation.
Zweitens: Die Möglichkeit funktionaler Differenzierung moderner Gesellschaften wie
auch die dadurch eröffnete Möglichkeit der Pluralisierung von Zugehörigkeiten verdankt sich dem Umstand, dass ein zunehmender Anteil von sozialen Konflikten innerhalb einer Gesellschaft teilbare Materien zum Gegenstand hat (Hirschman 1994).
Zumeist behandeln solche Konflikte Fragen der Verteilung des Sozialprodukts zwischen verschiedenen sozialen Gruppen; es sind also Verteilungskonflikte, Konflikte
um das Mehr-oder-Weniger eines teilbaren und verteilbaren Gutes. Spiegelbildlich
dazu sinkt mit fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierung der Anteil kategorischer Konflikte des Entweder-Oder, deren Gegenstand unteilbare Materien und unvereinbare Werte sind, etwa entlang rivalisierender ethnischer, linguistischer oder
religiöser Gruppenzugehörigkeiten (Aubert 1972). Diese Gruppenzugehörigkeiten
werden auch in der Moderne nicht bedeutungslos, aber sie gehen auf in den erwähnten Mehrfachzugehörigkeiten, werden dadurch relativiert und mit den Verteilungslösungen von Verteilungskonflikten mehr oder weniger stark und mehr oder weniger
dauerhaft deaktiviert. So gesehen können die sich im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung vollziehenden Säkularisierungsprozesse als grundlegende Transformation
von Wertkonflikt- in Verteilungskonfliktstrukturen interpretiert werden (Taylor
2012). Verteilungskonflikte, also Konflikte um teilbare oder um verhandlungs-, ausgleichs- und ggf. substitutionsfähige Ressourcen oder politische Ziele sind leichter
beizulegen und daher deutlich weniger destabilisierend als Wertkonflikte, also Konflikte um unteilbare Materien. Verteilungskonflikte lassen sich per Kompromiss lösen. Kaum etwas ist so sozialintegrativ wie ein Kompromiss, für Simmel (1995
[1905]: 338) „eine der größten Erfindungen der Menschheit“.
Eine keineswegs triviale, aber oft übersehene unabdingbare Voraussetzung für die
Lösung von Verteilungskonflikten ist die Existenz eines anerkannten und dem hohen
Differenzierungsgrad moderner Gesellschaften angemessenen Verteilungsmediums.
Als dafür besonders gut geeignet hat sich Geld erwiesen. Geld ermöglicht Modernisierung: es ist „das Band, das die maximale Ausdehnung der […] Gruppe mit der
maximalen Differenzierung ihrer Mitglieder, nach der Seite der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit, wie nach der qualitativ-arbeitsteiligen Differenzierung, in Bezie-
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hung setzt“ (Simmel 1992b [1908]: 832). Mit Geld lassen sich soziale Konflikte durch
Teilung, also besonders leicht lösen. Das wiederum treibt funktionale Differenzierung
und Interessenheterogenisierung voran, und reduziert das Risiko gesellschaftsgefährdender Konflikte.
Auch Macht ist teilbar, allerdings auf komplexere Weise. Anders als die Verteilung
von Geld oder knappen Ressourcen ist die Verteilung von Macht eher sozialer Effekt
als politische Strategie. Mit zunehmendem Grad der funktionalen Differenzierung
einer sozialen Struktur verliert die Annahme der Machtsummenkonstanz theoretisch
wie empirisch an Plausibilität; d.h. es nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass Lösungen von Konflikten um Macht oder Einfluss die Form eines Nullsummenspiels annehmen. Des Einen Machtzuwachs muss sich nicht aus des Anderen Machtverlust
ergeben. Stattdessen kann die Steigerung wechselseitiger Interdependenzen „dazu
führen, dass die Macht [der beteiligten Akteure] aufeinander zunimmt, jeder einzelne
also mächtiger und abhängiger zugleich wird“ (Luhmann 2013: 38). Macht ist demnach keine knappe Ressource im Sinne eines nicht vermehrbaren Gutes; deshalb
auch ist Macht für Konvertierung und Kompensation im Rahmen kompromisshafter
Verteilungslösungen weniger gut geeignet als beispielsweise Geld (ähnlich: Dworkin
2011: Kap. 4). Hinzu kommt: Mit der Pluralisierung von Zugehörigkeiten gewinnt
der prinzipielle Umstand an Bedeutung, dass die generalisierte Ausübung von Einfluss sachlich und sozial begrenzt, d.h. auf bestimmte Inhalte und Handlungskontexte sowie auf angebbare Akteure und deren Positionen und Rollen bezogen ist (Dahrendorf 1958; Luhmann 2013: 61f.). Allmacht, also die bei wenigen Stellen zentralisierten Möglichkeiten generalisierten Einflusses auf alle Handlungskontexte aller Akteure eines sozialen Zusammenhangs, wird vor dem Hintergrund fortschreitender
sozialer Differenzierung zu einer zunehmend kostspieligen – und damit zunehmend
unwahrscheinlichen – Angelegenheit. Im Ergebnis verteilt sich Macht über Andere
auf immer mehr Akteure, zugleich nimmt im Zuge der Modernisierung von Gesellschaften die sachliche und soziale Reichweite einer jeden einzelnen dieser Machtbeziehungen ab. Damit sinkt auch die Bedeutung des singulären Machtkonfliktes für
die Stabilität einer Gesellschaft.
Drittens: Soziale Konflikte können integrativ wirken, wenn sie nach allseits anerkannten Regeln ausgetragen werden (Dahrendorf 1972: 41), und wenn es im Falle von
Verteilungskonflikten akzeptierte Verteilungsmechanismen gibt. Festlegungen zur
Reichweite des Konfliktes und seiner Lösung, Vorgaben zur Zulässigkeit von Methoden der Konfliktaustragung, kurz: die Verfahrensregeln der Konfliktaustragung
sorgen dafür, dass Konflikte und ihre Lösungen bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar und berechenbar sind, also nicht gesellschaftsgefährdend. Dazu gehört auch
die Existenz der „Figur des durchsetzenden Dritten“ (Knight 1997: 60), also einer
Instanz, die die Austragung eines Konfliktes überwacht und deren Intervention und
Sanktion von den Konfliktbeteiligten akzeptiert wird. In diesem Sinn ist die Teilung
von Macht, etwa in der Form konstitutioneller Gewaltenteilung, nicht sozialer Ef-
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fekt, sondern politische, autopaternalistische Strategie (Holmes 1994). Dieses Setting
aus Verfahrensregeln, Verteilungsmechanismen und Überwachungsinstanz nenne ich
Konfliktrahmen. Innerhalb geltender, faktisch durchgesetzter und anerkannter Konfliktrahmen können Konflikte mit hoher Intensität ausgetragen werden, ohne die
soziale Ordnung in ihrer Gesamtheit zu gefährden. Konfliktrahmen können vielfältige Formen annehmen. Allgemein aber gilt: Mit dem Übergang von vormodernen zu
modernen, von überschaubaren zu komplexen Gesellschaften geht die Funktion der
Konfliktrahmung von Moral und Sitte zu Recht und Gesetz über.
Viertens: Soweit ich sehe, ist man sich in den Sozialwissenschaften uneins über das
Prinzip, das der Ausbreitung des Rechts als Konfliktrahmen zugrunde liegt. Zwar
folgt die Ausdehnung des Rechts einem evolutionären Muster: Ohne dass es gesellschaftlichen Akteuren bewusst würde oder werden müsste, geht die fortschreitende
Integration moderner Gesellschaften aus dem steten Erfahrungszuwachs im Umgang
mit Konflikten hervor (Dubiel 1997). Zugleich spielen aber starke Initiativimpulse
eine wichtige Rolle für die Etablierung von Konfliktrahmen: Konfliktrahmen entstehen in Tragödien, in Krisenzeiten. Oder mit den Worten Alfred North Whiteheads
(2000 [1927]): „Der erste Schritt zur soziologischen Weisheit besteht darin, anzuerkennen, dass die wichtigsten Fortschritte in der Zivilisation Prozesse sind, die die
Gesellschaften, in denen sie stattfinden, beinahe zerstören.“ Nur selten (bzw.: immer
seltener) sind damit Gesellschaften in toto gemeint. In funktional differenzierten
Gesellschaften heißt das aber zumindest für gesellschaftliche Teilsysteme: Krisen
begünstigen die Erschaffung und Verfeinerung von Konfliktrahmen. Unabdingbare
Voraussetzung von Konfliktrahmen mit Mitteln des Rechts ist im Übrigen die Manifestation der zugrunde liegenden Konflikte, also deren Wahrnehmung oder Antizipation durch involvierte Akteure. (Dahrendorf 1958) Nur manifeste Konflikte sind der
Konfliktregulierung, der Konfliktrahmung zugänglich.
In welchem Ausmaß soziale Konflikte sozial integrativ oder desintegrativ wirken,
hängt also ab
 vom Grad gesellschaftlicher funktionaler Differenzierung und von der Zahl der
sich überlagernden – und neutralisierenden – Zugehörigkeiten eines Akteurs
(strukturelle Dimension),
 von Konfliktmanifestoren (Krisen, Katastrophen oder anderen Impulsen und critical junctures) und vom manifesten Charakter des Konfliktes (kognitive Dimension),
 davon, ob die am Konflikt Beteiligten den Gegenstand des Konfliktes als teilbar
oder nicht teilbar wahrnehmen und ob diesen Interpretationen entsprechend
Kompromiss-Lösungen des Konfliktes möglich sind oder nicht (inhaltliche Dimension), und
 davon, ob für diese manifesten Konflikte anerkannte Konfliktrahmen existieren
bzw. ob die im Konflikt miteinander interagierenden Akteure in der Lage sind,
entsprechende Konfliktrahmen zu etablieren (institutionelle Dimension).
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strukturelle Dimension
- Grad der fkt. Diff.
- Pluralität von Zugehörigkeiten
kognitive Dimension
- Konfliktmanifestation
- Konfliktwahrnehmung und -deutung


KONFLIKT


inhaltliche Dimension
- Teilbarkeit des Konfliktgegenstandes?
- Möglichkeit von Kompromissen?
institutionelle Dimension
- Existenz / Möglichkeit von Konfliktrahmen?
- Einfluss informeller Regeln?
- Figur des durchsetzenden Dritten?
Abb. 1: Konfliktdimensionen
III.
Mit dieser Einteilung in vier Konfliktdimensionen, so denke ich, lässt sich grundsätzlich jeder soziale Konflikt analysieren. Aber es bleiben offene Fragen. Ich konzentriere mich im Weiteren auf die Frage, wie genau eigentlich Konfliktrahmen entstehen –
und wie sie sich wandeln.
Geht man davon aus, dass Konflikte Verteilungskonsequenzen haben, dann liegt es
nahe, dass Akteure nicht nur in derartigen Konflikten nach Distributionsgewinnen
streben. Sie streben auch danach, schon bei der Gestaltung eines relevanten Konfliktrahmens für derartige Konflikte Regelungen durchzusetzen, die dauerhaft Verteilungsvorteile in Aussicht stellen, indem sie die Möglichkeiten potentieller Konfliktgegner einschränken – und zwar nicht nur situativ, sondern strukturell (Knight 1997:
70)! Es leuchtet ja sofort ein, dass zum Beispiel Konflikte um die konstitutionellen
Grundlagen einer politischen Gemeinschaft, also um einen basalen Konfliktrahmen,
eine größere Tragweite haben als ein einzelner Konflikt, der im Rahmen dieser Verfassung ausgetragen wird. Daran zeigt sich: auch Konfliktrahmen sind Gegenstand –
und Ergebnis – von Konflikten. In diesen Konflikten geht es grundsätzlich um zweierlei. Es geht einerseits darum, Regeln der zukünftigen Konfliktaustragung festzulegen; anderseits um die Frage, welchem Akteur eigentlich die Kompetenzen des
„durchsetzenden Dritten“ zugewiesen werden, also die Kompetenzen der Konfliktüberwachung und der Durchsetzung der Konfliktregeln.
Nimmt man die Möglichkeit von Konflikten um Konfliktrahmen ernst, dann ergeben sich Anschlussfragen. Die Festlegung eines Konfliktrahmens dient dem Etablieren eines typischen Musters des Umgangs mit einer Vielzahl gleichartiger einzelner
Konflikte. Insofern hat sie deutlich weitreichendere Folgen als die Festlegung einer
einzelnen Konfliktlösung. Es ist daher zu erwarten, dass die Einigung auf einen Konfliktrahmen um Vieles schwieriger ist als die Lösung eines einzelnen konkreten Konf-
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liktes. Damit drängt sich erstens die Frage auf, ob Konfliktrahmen eigentlich teilbare
oder nichtteilbare Konfliktgegenstände sind. Da von einem teilbaren Konflikt dann
die Rede sein soll, wenn für die Konfliktparteien ein anerkanntes und handhabbares
Verteilungsmedium zur Kompromissfindung existiert, sind hier also Ressourcen gefragt, mit denen Konflikte um Konfliktrahmen beigelegt werden können. Nun ist
zwar nicht theoretisch ausgeschlossen, dass es bei der Gestaltung von Regelsystemen
zur Einhegung von Konflikten Kompromisse geben kann, und dass Konfliktrahmen
selbst eine verhandlungsfähige, substitutionsfähige Ressource sind. Allerdings ist
gerade aufgrund ihrer Funktion, Konflikte wiederholt und dauerhaft zu strukturieren, die
Wahrscheinlichkeit vergleichsweise groß, dass Konfliktrahmen eher den Charakter
unteilbarer Materien haben. Das heißt aber auch, dass es sozialdesintegrative Wirkungen haben kann, wenn ihre Etablierung und Eingliederung in ein größeres, insgesamt
ausgleichendes Institutionensystem nicht gelingt.
Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Wahrnehmung von Knappheit oder
Verfügbarkeit von Ressourcen nicht nur die Schärfe einzelner Konflikte, sondern
auch die Gestaltung und Weiterentwicklung von Konfliktrahmen maßgeblich beeinflusst. Welche Bedeutung der Wahrnehmung von Ressourcen zukommt, verdeutlicht
etwa ein kurzer vergleichender Blick auf Europa und die Vereinigten Staaten: Dass es
im Jahrhundert der Industrialisierung nach ca. 1850 in den USA nicht zu vergleichbaren, jedenfalls nicht vergleichbar scharfen Klassen- und Verteilungskämpfen wie in
Europa kam, lässt sich mit der in Amerika (nicht aber in Europa) bestehenden Möglichkeit des räumlichen Ausweichens bei Konflikten erklären. Das immer weitere
Vordringen ins Landesinnere im 19. Jahrhundert zielte nicht zuletzt auf die Erschließung neuer Ressourcen als Reaktion auf die sozialen Konflikte in den industriellen
Zentren der nordamerikanischen Ostküste. In Europa zwangen die sozialen Konflikte im Zuge der Industrialisierung hingegen zu Konfliktregeln, die den unterschiedlichen Verteilungsansprüchen und der fehlenden Möglichkeit räumlichen Ausweichens
Rechnung tragen mussten (Offe 2005: 189ff.).
Für die Konfliktforschung ergibt sich aus diesem Beispiel zweitens die Frage, ob unter
Bedingungen knapper werdender Ressourcen anders über Konfliktrahmen gestritten
wird als unter Bedingungen großzügig verteilbaren Wohlstandes. Genauer gefragt:
Liegt in knapper werdenden Ressourcen das Potential einer Demodernisierung dergestalt, dass aus Verteilungskonflikten Wertkonflikte werden und dass im Zuge dieser Entwicklung auch Konfliktrahmen zunehmend infrage gestellt werden? Plausibel
ist das durchaus; und es liegt nahe, dass in einer Zeit, in der wohl die Wahrnehmung
von Wohlstandsverlusten überwiegt, diese Frage an Bedeutung gewinnt. Mit zunehmender Knappheit einer Ressource steigt zunächst die Schärfe des Verteilungskonfliktes, ab einem bestimmten Punkt dann aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte soziale Gruppen von der Verteilung dieser Ressource gänzlich ausgeschlossen werden. Die Erfahrung zeigt, dass die Gruppen, die über die Macht verfügen,
andere von der Verteilung der knappen Ressource auszuschließen, diesen Ausschluss
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nicht mit Argumenten des relativen Bedarfs (Mehr-oder-Weniger bzw. Minderbedürftigkeit), sondern mit Argumenten der kategorialen Zugehörigkeit (Entweder-Oder
bzw. Minderwertigkeit) rechtfertigen. Zugehörigkeitsdeutungen und -entscheidungen
orientieren sich an gemeinsam geteilten kulturellen Werten, zugleich werden diese
zugehörigkeitsdefinierenden Werte zum handlungsleitenden Ausschlusskriterium
(Walzer 1992). Der Ausschluss von der Verteilung eines Gutes wird also mit einem
Wertargument begründet – und in diesem Sinne ist unter den Bedingungen knapper
werdender Ressourcen und sehr ungleich verteilter Allokationschancen die Umwandlung von sozialintegrativen Verteilungs- in u.U. sozialdesintegrative Wertkonflikte
vorstellbar. Damit geraten dann zwangsläufig auch die Konfliktrahmen unter Druck,
innerhalb derer vormals die Verteilungskonflikte ausgetragen wurden.
Das führt drittens zur Frage: Gibt es eigentlich eine Figur des durchsetzenden Dritten
für Konflikte um Konfliktrahmen? Über welche Befugnisse müsste dieser verfügen,
damit Konflikte um Konfliktrahmen geordnet ablaufen und – nicht zuletzt – konsensual einen durchsetzenden Dritten für den fraglichen Konfliktrahmen selbst festlegen? Diese Fragen deuten einen infiniten Regress an. Ich vermute, dass es diese Feststellung war, die Whitehead und andere zur Betonung der initiierenden Katastrophe
veranlasst hat. Zweifellos begünstigen schwerwiegende politische und gesellschaftliche Krisen den Einfluss externer Akteure. Diese können dann im Stile des durchsetzenden Dritten und mit entsprechender Macht ausgestattet Institutionensysteme
radikal umbauen, also auch Konfliktrahmen etablieren oder vollkommen neu ausrichten, ohne dabei allzu viel Rücksicht auf frühere institutionelle Strukturen und
Erfahrungshaushalte nehmen zu müssen. Die unterschiedlichen NachkriegsEntwicklungen in West- und Ostdeutschland infolge ihrer Aufteilung auf getrennte
Machtsphären externer Akteure zeigen dies beispielhaft. Und in historischen Abhandlungen zum Entstehungskontext des deutschen Grundgesetzes, eines zentralen
Konfliktrahmens, wird nie der Hinweis vergessen, unter welch prägendem Eindruck
die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung angesichts der Erfahrungen
mit der kurz zuvor überwundenen Diktatur standen.
IV.
Keineswegs immer aber geht der Etablierung eines Konfliktrahmens eine derart tiefgreifende Katastrophe voraus. Verbreiteter dürfte der Fall sein, dass die Schaffung
formaler Konfliktrahmen, zumindest partiell, ein Prozess der Kodifizierung informeller Regeln ist. Auch dieser Übergang verläuft alles andere als reibungslos: Taylor
(1996, Kap. 25) zufolge sind moderne Gesellschaften gerade deshalb Konfliktgesellschaften, weil sie geprägt sind vom Widerstreit zwischen vormodernen, theistischen
Moralquellen und neuzeitlichen (Rechts-)Normen, die vermeintlich rationalen Charakters sind, vielfach aber Restbestände vormodernen Denkens mitführen. Formale
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
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Konfliktrahmen basieren auf ihnen zugrunde liegenden informellen Werten, Überzeugungen, Regeln. Die Chance, dass de jure existierende, kodifizierte Konfliktregeln
auch faktisch durchgesetzt sind und dass sie das (Konflikt-)Verhalten gesellschaftlicher
Akteure strukturieren, steigt in dem Maße, in dem sie mit bestehenden informellen,
tradierten, internalisierten gesellschaftlichen Regeln korrespondieren (Voigt 2013).
Die Pluralisierung von Zugehörigkeiten individueller oder kollektiver Akteure wirkt
zwar gesellschaftsbildend, weil in ihrem Zuge die Zahl sozialer Konflikte zu-, die
Bedeutung des einzelnen Konflikts jedoch abnimmt. Das setzt allerdings voraus, dass
sich aus dieser Zugehörigkeitspluralisierung manifeste, also den Akteuren bewusste
Konflikte ergeben. Denn nur dann ergibt sich auch ein politischer Druck zur Konfliktregulierung und zur Etablierung von Konfliktrahmen. Dies führt zu der Einsicht,
dass längst nicht jede weitere Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Zugehörigkeiten zu neuen, gar manifesten Konflikten führen muss. Das gilt insbesondere dann,
wenn bereits Konfliktregeln und Verteilungsmechanismen existieren, mit denen
prinzipiell auch neue oder veränderte Konfliktkonstellationen bearbeitet werden
können. Dass sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung individuelle Rollen
vervielfältigen, erzwingt also nicht unbedingt neue Konfliktrahmen, denn die Rahmen
für die möglichen Konflikte, in die das Individuum aufgrund seiner – zunehmenden
– Zugehörigkeiten gerät oder geraten kann, existieren ja oft bereits.
Daraus folgt (gleichsam als Entgegnung auf und in Ergänzung von Simmel): Nicht
neue Konflikte per se, sondern die Wahrnehmungen bestehender Konfliktrahmen als
unangemessen und ungeeignet für die Regulierung der neuen Konflikte erhöhen den
Druck zur Anpassung existierender oder zur Schaffung neuer Konfliktrahmen. Auslöser dieser Wahrnehmung kann einerseits exogenes Geschehen sein, das unerwartet
die Konfliktbedingungen massiv modifiziert und damit einen etablierten Konfliktrahmen in Frage stellt. Handlungstheoretisch interessanter ist jedoch der endogene
Fall, dass Konfliktrahmung selbst soziale Konflikte erzeugt oder restrukturiert, was
weitere Konfliktrahmung erforderlich macht – Regulierungswirkungen werden Anlass
zu neuen Regulierungsmotiven. Der zunehmende Bedarf an Konfliktregulierung ist
also Folge vorheriger, über kurz oder lang unzureichender Konfliktregulierung. Georg
Vobruba (2012) nennt diesen Mechanismus defizitäre Institutionalisierung. Dieser
Mechanismus ist weder teleologisch noch folgt er einer funktionalistischen Gesetzmäßigkeit im Sinne von spill over. Denn ob und wie der Bedarf an endogen veranlasster Konfliktregulierung befriedigt wird, ist eine empirische Frage. Zu deren Beantwortung sind subjektiv interpretierte situative Interessenkonstellationen und
Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen: Institutionenwandel ist die Folge der Verschiebung von Verhandlungsmacht (Knight 1997: 188). Die Revision eines Konfliktrahmens ist eine Reaktion auf seine wahrgenommene Ineffizienz. Das Ergebnis der
Revision ist eine Restrukturierung der Konfliktbeziehung, nicht aber zwangsläufig auch
eine aus Sicht aller Beteiligten effizientere Konfliktregulierung.
12
SERIE EUROPA No. 1/2014
V.
Unabhängig davon, wie man die gestellten Fragen beantwortet und die angesprochenen Punkte weiterverfolgt: In ihrer Gesamtheit machen sie aufmerksam auf einige
kategoriale Unterschiede zwischen einfachen Konflikten einerseits und Konflikten
um Konfliktrahmen andererseits. Es ist daher sinnvoll, zwischen Konflikten erster und
zweiter Ordnung zu unterscheiden. Aus dem Umstand, dass – wie beschrieben – auch
Konfliktrahmen Gegenstand und Ergebnis von Konflikten sind, ergibt sich ein dynamisches Modell eines Konfliktzyklus, das sich in die folgenden Phasen unterteilen
lässt:
Wir haben es in Phase 1 zu tun mit der Manifestation eines Konfliktes, also mit der
Entstehung eines Konfliktes erster Ordnung. Im Zuge der Konfliktlösung kommt es
in Phase 2 zur Wahrnehmung des Bedarfs an dauerhafter Einhegung des Konfliktes,
also an der Etablierung eines Konfliktrahmens. Beim Versuch der Einhegung zeigen
sich in Phase 3 unterschiedliche Positionen, es manifestiert sich also ein Konflikt um
den Konfliktrahmen bzw. ein Konflikt zweiter Ordnung. Phase 4 umfasst die Lösung dieses Konfliktes zweiter Ordnung und die Etablierung eines Konfliktrahmens,
dies ist also die Phase der Institutionalisierung. Im Laufe der Zeit verändern sich in
Phase 5 die Verteilungseffekte des Konfliktrahmens, vielleicht verändert sich auch
nur die Bewertung der Verteilungseffekte durch einzelne Akteure. Ursache dieser
Veränderungen können die Verknappung teilbarer Ressourcen sein, die Veränderung
von Interessen, die Verschiebung von Machtverhältnissen oder auch der Wandel von
Zugehörigkeiten. Als Folge dieser Veränderungen kommt es in Phase 6 zur Entwicklung neuer Konflikte oder zur Re-Manifestation eines bislang befriedeten Konfliktes,
also zu einem Konflikt erster Ordnung. Im Zuge dieser Entwicklung erweist sich in
Phase 7 der bestehende Konfliktrahmen als defizitär; betroffene Akteure nehmen ihn
als immer weniger angemessen wahr, sie stellen ihn zunehmend in Frage; das führt
zu Konflikten um den Konfliktrahmen, also zu Konflikten zweiter Ordnung. Sofern
es gelingt, diesen Konflikt um den Konfliktrahmen zu lösen, kommt es in Phase 8
zur Anpassung des Konfliktrahmens (also zu ergänzender Institutionalisierung) –
und der gleichsam spiralförmige Zyklus beginnt über kurz oder lang mit Phase 5 von
vorn.
Insgesamt erweist sich damit: Konflikte erster und zweiter Ordnung gehen der
Institutionenbildung voraus – und früher oder später auch aus ihr hervor! Um auf
Simmel und auf meine grundlegende Eingangsfrage zurückzukommen: Konflikte wirken
dann vergesellschaftend, wenn sie zur Herausbildung, Institutionalisierung und Weiterentwicklung von
Konfliktrahmen führen.
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
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VI.
Vor dem Hintergrund der generellen Überlegungen bis hierhin – der Differenzierung
grundsätzlicher Konfliktdimensionen einerseits und der Entwicklung des Modells
eines Konfliktzyklus andererseits – wende ich mich nun dem eingangs aufgeworfenen Problem europäischer Vergesellschaftung zur. Sind wir auf dem Weg zu einer
europäischen Gesellschaft? Welche Bedeutung haben soziale Konflikte in diesem
Zusammenhang? Und welche Rolle spielt dabei die Krise Europas?
Das Projekt der europäischen Integration war über Jahrzehnte hinweg nahezu ausschließlich ein politisches Projekt der Institutionenbildung zum Zwecke der Marktschaffung. Mit fortschreitender politischer und / oder ökonomischer Integration Europas entwickeln und verstärken sich, spätestens seit dem Vertrag von Maastricht,
zwangsläufig auch interdependente grenzüberschreitende Beziehungen zwischen
sozialen Akteuren. Exakt das war und ist die übergreifende Intention des Projektes
Europa und all seiner einzelnen Integrationsprojekte. Die Schaffung des SchengenRaumes oder der Euro-Zone, die Initiierung des Bologna-Prozesses, die Durchsetzung der Unionsbürgerschaft, der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder der Niederlassungsfreiheit sind prägnante Beispiele. Ihnen ist das Potential gemeinsam, die nationale Schließung von Teilsystemen und Protektionsräumen (Arbeitsmärkten, Sozialsystemen, Währungsräumen, Gütermärkten, politischen Institutionensystemen etc.)
aufzuheben oder zu relativieren. Sie erhöhen auf je spezifische Weise die Chancen
auf grenzüberschreitende soziale Beziehungen, Relationierungen und Interdependenzen (Wobbe 2009). Sie errichten so potentielle europäische Sozialräume. Eine Vielzahl von Bewegungen und Handlungen sozialer Akteure in diesen Sozialräumen – als
grenzüberschreitend mobile Arbeitskräfte, Konsumenten oder Studierende, als europaweit agierende Unternehmen, als europaweit asylsuchende Drittstaatsangehörige,
als Wähler eines gemeinsamen europäischen Parlaments oder als Nutzer einer gemeinsamen Währung – hat grenzüberschreitende Handlungsfolgen. Damit werden
zugleich Unvereinbarkeiten von Interessen, Zielen, Mitteln, Verhaltensweisen oder
Einstellungen sozialer Akteure wahrscheinlicher, die in ihrer Ausdehnung bzw.
Reichweite die etablierten nationalen Konfliktrahmen überschreiten. Das heißt: Zu
einem großen Teil werden aus potentiellen wechselseitigen transnationalen sozialen
Beziehungen faktische in dem Maße, wie sie manifeste soziale Konflikte – und damit:
neue Regelungsbedürfnisse – hervorrufen. Mehr noch als die bloßen Verdichtungen
sozialer Beziehungen können die damit einhergehenden Konflikte zu europäischen
Integrationsschüben werden.
Das Konfliktpotential ist nicht in allen europäischen Sozialräumen gleich stark ausgeprägt. Es ist in jenen Sozialräumen relativ gering, in denen entweder nur vergleichsweise wenige Akteure agieren (Beispiel: europäischer Hochschulraum) oder in
denen das Handeln der Akteure von nur minderer Bedeutung für die Lebenswelt
dieser Akteure ist (Beispiel: europäischer Raum der politischen Partizipation). Groß
14
SERIE EUROPA No. 1/2014
ist das Konfliktpotential hingegen, wenn viele Akteure betroffen sind, und wenn es
um viel geht (zum Beispiel in der Euro-Zone oder in den Protektionsräumen für
Produktmärkte, Arbeitsmärkte und Sozialsysteme). Diese „neuen“, grenzüberschreitenden Konflikte sind – in der oben eingeführten Terminologie – Konflikte erster
Ordnung. Sie entstehen als Folge vorheriger Institutionenbildung auf europäischer
Ebene (Schengen-Raum, Euro-Zone, Europäischer Binnenmarkt etc.), die sich im
Laufe der Zeit bzw. unter bestimmbaren Bedingungen als unzureichend für die
transnationale Verteilung der Institutionalisierungsfolgen erwiesen hat. Aus diesen
Wahrnehmungen entwickeln sich unterschiedliche Bedürfnisse nach ergänzender
Institutionalisierung, und im Rahmen von Konflikten zweiter Ordnung wird verhandelt, inwieweit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen supranational regulativ entsprochen wird (Zürn 2013).
Die Einwände gegen diese Einschätzung der Möglichkeiten supranationaler ergänzender Institutionalisierung sind ebenso bekannt wie gewichtig: Es gibt kein den nationalen Systemen vergleichbares europäisches Parteiensystem, kein europäisches Wahlsystem und keine politische Öffentlichkeit mit europäischer Reichweite. Es gibt kein
europäisches System zur Strukturierung der Arbeitsbeziehungen, kein gemeinsames
Staatsverständnis und keine Einigkeit über Politikstile. Stattdessen gibt es all dies in je
national unterschiedlichen Varianten (vgl. für viele Bach 2009). Diese Befunde sind
für die europäische Vergesellschaftung in der Tat ein neuralgischer Punkt. Denn es
ist keineswegs ausgemacht, dass die Manifestation und Intensivierung grenzüberschreitender sozialer Konflikte automatisch auch zu grenzüberschreitend organisierten Konfliktlösungsstrategien und gar zu grenzüberschreitend geltenden Konfliktaustragungsregularien führt. Europäische Integration durch europäisches Recht (Münch
2008a) ist nur eine Möglichkeit. Eine andere besteht im Versuch, die sozialen Folgen
der zunehmenden Konflikte als Nebenprodukt der europäischen Integration – fast
möchte man sagen: wie gewohnt – innerhalb nationaler Rahmen zu bearbeiten. In
diesem Falle adressieren soziale Akteure ihre Konfliktregelungserwartungen gerade
nicht an die europäische Ebene, stattdessen richten sie ihre Forderungen nach Konfliktentschädigung und Integrationsfolgenkompensation an die nationale Ebene
(Jessop 2010). Grenzüberschreitende soziale Konflikte werden also entschärft, indem
sie in nationale Sozial- und Umverteilungssysteme umgeleitet werden. Leistungsfähige nationale Sozial- und Umverteilungssysteme sind aus dieser Sicht Interdependenzunterbrecher; sie trennen die sozialen Relationen, die sich im Zuge der politischen
Integration Europas bilden. Europäische Vergesellschaftung ergibt sich daraus nicht.
(Inwieweit dieses Trennverfahren zur Zufriedenheit aller Erwartungsträger gelingt,
ist freilich eine empirische Frage; im Kontext der gegenwärtigen Krisen wird auf
diese Frage der Leistungs- und Kompensationsfähigkeit der nationalen Umverteilungssysteme zurückzukommen sein.)
Dessen ungeachtet ist die Chance vergleichsweise groß, dass jeder weitere Schritt innerhalb des beschriebenen Wechselspiels aus transnationalen Konflikten erster und
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
15
zweiter Ordnung die wechselseitigen grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen
Akteuren assoziativ verdichtet. Das ist deshalb so, weil im Zusammenspiel der oben
eingeführten vier Konfliktdimensionen im europäischen Kontext grundsätzlich recht
günstige Bedingungen vorliegen. Mit Blick auf die strukturelle Dimension der Gesellschaftsbildung durch Konflikt ist ein Zusammenhang von Belang, auf den bereits
Simmel (1992b [1908]) aufmerksam gemacht hat: die aus funktionaler Differenzierung
erwachsende Heterogenisierung innerhalb von Gruppen oder Gesellschaften führt zu
zunehmender Homogenität zwischen solchen Gruppen oder Gesellschaften. Dadurch
verwischen Gruppengrenzen, es „entstehen neue soziale Verbände, die vielfach über
die Gruppengrenzen hinausreichen“ und es vollzieht sich ein „Prozeß der Skalenvergrößerung“ (van der Loo; van Reijen 1992: 116). Europa ist dafür das Paradebeispiel:
Im Zuge der Europäischen Integration vervielfältigen sich nicht nur wie geschildert
individuelle Zugehörigkeiten zu transnationalen Sozialräumen, sondern es differenzieren sich generell die europäischen nationalen Gesellschaften im Zuge ihrer Modernisierung immer weiter aus – und werden sich damit strukturell immer ähnlicher (Münch
2008b; Fehmel 2013). Die Konsequenz: „die Differenzierung und Individualisierung
lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den
Entfernteren zu spinnen“ (Simmel 1992b [1908]: 795).
Dass das vollkommen konfliktfrei geschieht, ist unwahrscheinlich. Aber gemäß der
oben eingeführten inhaltlichen Dimension der Gesellschaftsbildung durch Konflikt ist
das der Bildung einer europäischen Gesellschaft keineswegs abträglich. Mit der Pluralisierung von Zugehörigkeiten in und durch Europa nehmen soziale Konflikte zu,
zugleich aber überlagern und überschneiden sie sich auch zunehmend und verlieren
allein schon dadurch an grundlegendem Dissoziierungspotential. Hinzu kommt, dass
es sich bei den erwähnten transnationalen sozialen Konflikten primär um Verteilungskonflikte handelt. Im grenzüberschreitenden Streit um Arbeits-, Absatz-, Konsumoder Studienmöglichkeiten und -bedingungen geht es nicht um miteinander unvereinbare Werte, sondern um das Mehr-oder-Weniger (ver)teilbarer – und damit: um
für Kompromisse zugängliche – Güter. Nochmals begünstigt wird diese Kompromissfähigkeit der Mehrzahl grenzüberschreitender Konflikte durch den Euro als gemeinsame, sozialraumstrukturierende Währung, also durch die Existenz eines Verteilungsmediums, das den Wechselkursmechanismus als Interdependenzunterbrecher
abgelöst hat und soziale Akteure in zuvor nicht gekannter Weise zwingt, sich grenzüberschreitend miteinander auseinanderzusetzen (Vobruba 2012).
Noch am ehesten wertebasiert ist das grenzüberschreitend interdependente politische
Handeln der Unionsbürger als Wähler eines gemeinsamen europäischen Parlaments
wie auch als Wähler nationaler Regierungen.1 Aber auch hier überwiegen die Chancen
1 So sind etwa die Ergebnisse der jüngsten Bundestagswahl oder auch Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu europäischen Maßnahmen gegen die Eurokrise der eigenen Betroffenheitswahrnehmung folgend in einigen europäischen Ländern mit mindestens ebenso großem Interesse
beobachtet worden wie in Deutschland selbst.
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der Sozialintegration die Gefahren der Dissoziierung. Kompromisslösungen zwischen
politischen Orientierungen sind nicht zuletzt aufgrund der Einübung des Umgangs mit
dieser Konfliktlinie in nationalen Rahmen die Regel. Divergente kulturelle Orientierungen äußern sich darüber hinaus in bestimmten, soziostrukturell erklärbaren Einstellungsverteilungen gegenüber Europäern anderer Nationalität. Inwieweit ablehnende bis
xenophobe Einstellungen Ausdruck kulturell überformter Verteilungskonflikte oder
Ausdruck originärer, verteilungsunabhängiger Wertkonflikte sind, lässt sich nur selten
klar bestimmen. Unbestritten aber gewinnt die Frage sozialer Diskriminierung angesichts zunehmender europäischer Binnenwanderung für die Erörterung der Chancen
europäischer Vergesellschaftung an Relevanz – und ihr wird supranational mit einem
institutionalisierten und regelmäßig zumindest nominal durchgesetzten Gleichheitsgrundsatz begegnet.
Damit rückt die institutionelle Dimension der Gesellschaftsbildung durch Konflikt ins
Blickfeld. In dem Maße, wie diverse Schließungsmechanismen nationaler Teilsysteme
und Protektionsräume aufgebrochen und ihrer Funktion als Interdependenzunterbrecher enthoben werden, in dem Maße steigt der Bedarf an transnationaler Konfliktrahmung. In und für die Europäische Union existiert ein ausgebautes Institutionensystem,
dem diese Funktion der Regulierung und Rahmung transnationaler Konflikte zukommt, und es gibt mit der Europäischen Kommission und mehr noch mit dem Europäischem Gerichtshof Akteure, die die Rolle der Figur des durchsetzenden Dritten
inne haben. Stärker als in national geformten Konfliktkulturen ist der zentrale Durchsetzungsmechanismus auf europäischer Ebene das Recht. Es basiert auf den europäischen Verträgen und ist damit „eine rationale, von Traditionen unabhängige, allein
auf die Funktion der Gewährleistung des geordneten Zusammenlebens freier Individuen bezogene Konstruktion“ (Münch 2008b: 21).
Das ist oft problematisch, und die regelmäßigen Kollisionen zwischen europäischer
Rechtsetzung und nationalen Rechtstraditionen sollen hier gar nicht beschönigt werden: Anders als üblicherweise nationale Rechtskulturen ist formales europäisches
Recht eben nicht das Resultat der Kodifizierung informeller Regeln. Man kann, soweit die Rechtsetzung eingespielte nationale Verteilungsmuster betrifft, daraus die
Forderung ableiten, nationale Protektionsräume zu schützen, um transnationale Verteilungskonflikte zu vermeiden (vgl. Lamping 2010; Immerfall 2013), muss sich aber
darüber im Klaren sein, dass diese Schließungsneigung renationalisierende, mithin
dissoziative Konsequenzen hat, die der europäischen Idee diametral entgegenstehen.
Hält man hingegen an der Grundintention des Projektes Europa, der Vertiefung
grenzüberschreitender Beziehungen zwischen sozialen Akteuren, fest, dann sind kodifizierte Konfliktregeln erforderlich, die gerade das transnationale (Konflikt-)Verhalten gesellschaftlicher Akteure strukturieren. Solange aber auf europäischer Ebene der
Zustand rudimentärer Parlamentarisierung und Politisierung (Bach 2009) anhält,
kommt die Erarbeitung dieser Konfliktregeln primär dem Europäischen Gerichtshof
zu. Und gerade weil – bzw.: solange – es kein den nationalen Systemen vergleichbares
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
17
europäisches politisches System der Konfliktregulierung gibt, ist die oft beklagte politische Macht des Europäischen Gerichtshofes so groß: es fehlt die glaubwürdige Drohung, dass seine Entscheidungen durch Politik revidiert werden könnten (Höreth
2013). Soll dem abgeholfen werden, wäre also nicht nationale Schließung, sondern
transnationale Politisierung zu fordern. Ich komme darauf zurück.
Die Überlegungen zu den strukturellen, inhaltlichen und institutionellen Voraussetzungen einer europäischen Gesellschaftsbildung durch Konflikte zusammenfassend zeigt
sich: Als unvermeidbare Nebenfolge der europäischen Integrationsprojekte nehmen
transnationale soziale Konflikte zu, sie haben ganz überwiegend den Charakter von
Verteilungskonflikten und es bestehen günstige institutionelle Bedingungen für das
Wechselspiel aus Konflikten erster und zweiter Ordnung. In dem Maße, wie die politisch-ökonomische Integration Europas zu sozialen Konflikten führt, die einen über
den Nationalstaat hinausgehenden Konfliktrahmen erforderlich machen, in dem Maße
vollzieht sich europäische Vergesellschaftung. Europa wird zum Konfliktraum.
VII.
Eine Konfliktdimension blieb im Kontext europäischer Vergesellschaftung bislang
undiskutiert. Voraussetzung der sozialintegrativen Konfliktrahmung und -regulierung
ist die Manifestation der zugrunde liegenden Konflikte. Konflikte sind manifest,
wenn sie von involvierten Akteuren selbst als solche wahrgenommen oder antizipiert
werden, wenn die Konfliktinvolvierten im Wesentlichen bekannt sind und wenn
mindestens ein Konfliktbeteiligter seinen Bedarf an einer Konfliktlösung artikuliert
und ggf. eine entsprechende Forderung der Konfliktregulierung an einen durchsetzenden Dritten adressiert. Das ist Gegenstand der kognitiven Dimension der Gesellschaftsbildung durch Konflikt.
Besonders deutlich wahrnehmbar sind Konfliktkonstellationen in bedrohlichen sozialen Situationen, in denen bei gegebenen situativen Anforderungen die zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien als unzureichend empfunden werden und
sich unter dem Eindruck zu knapper Ressourcen subjektive Erfahrungen des individuellen und kollektiven Kontrollmangels ausbreiten. Die multiplen Krisen der europäischen Integration entsprechen diesem Muster. Eine Krise ist mit Friedrichs (2007:
14) die wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters.
Institutionelle Ineffizienzen sind wie gezeigt nicht ungewöhnlich, sie rufen im Normalfall inkrementelle Anpassungsversuche hervor. Zu Krisen werden institutionelle
Ineffizienzen, wenn sie unter den Bedingungen besonders abrupter und/oder besonders massiver Veränderungen (der Wahrnehmung) von Verteilungseffekten eines
Konfliktrahmens zu Reaktionen und Gestaltungsversuchen führen, die von relevanten betroffenen Akteuren aus dem einen oder anderen Grund als inkonsistent wahr-
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genommen werden. Grundsätzlich gilt: Inkonsistenzen stoßen Deutungswandel an,
ermöglichen über neue Interpretationsmuster institutionelle Innovation und schaffen
auf diese Weise neue Gelegenheitsstrukturen zur Verfolgung von Interessen. In diesem Sinn sind Krisen Umbruchphasen, in ihnen aktualisieren sich gesellschaftliche
Verhältnisse. Ebenso grundsätzlich gilt aber auch: In solchen Konstellationen
herrscht ein Überschuss an Situationsdiagnosen und interessengeleiteten Handlungsempfehlungen; zugleich herrscht gesteigerter Rechtfertigungsbedarf für jede dieser
Krisendiagnosen und jede dieser Handlungsempfehlungen. Krisen zeichnen sich also
aus durch institutionell unterbestimmte Handlungsbedingungen einerseits, durch
konkurrierende Interpretationen bezüglich der angemessenen institutionellen Regulierung, zuweilen auch bezüglich der Legitimität der sie tragenden Akteure andererseits (Vobruba 2013). In den Begrifflichkeiten der vorangegangen Darlegungen sind
Krisen Phasen, in denen Konfliktrahmen besonders nachdrücklich zur Disposition
stehen. Aus konflikttheoretischer Perspektive ergeben sich Krisen aus der Häufung
und Intensivierung von Konflikten zweiter Ordnung.
Für die Europäische Union scheinen solcherart definierte Krisen der bevorzugte
Integrationsmodus zu sein (Kühnhardt 2009). Und genau das lässt sich in Europa
auch zurzeit beobachten. Die gegenwärtige komplexe Konstellation der europäischen
Staatsschulden- und Währungskrise nahm ihren Anfang nicht allein in den Schockwellen, die die Immobilienkrise in den USA aussandte, sondern erst im Zusammenspiel mit der defizitären Institutionalisierung der europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion selbst. In ihren institutionellen und sozialen Folgen geht die Eurokrise aber inzwischen über Fragen der Währungs- und Fiskalpolitik weit hinaus und
macht konfliktuöse soziale Relationen manifest, die in der WWU von Beginn an strukturell angelegt sind. Darum soll es in den abschließenden Überlegungen gehen.
Die Geschichte der Schulden- und Währungskrise lässt sich zerlegen in viele einzelne
Sequenzen von Konflikten um Konfliktrahmen, bei denen unterschiedliche grundlegende Ideen und Ideologien miteinander um politische Dominanz konkurrieren –
und darum, die Verteilungswirkungen konkreter Konflikte dauerhaft zu strukturieren
(Preunkert, Vobruba 2012). Verhandelte Fragen waren bzw. sind etwa: Welches
Ausmaß soll die politische Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank haben?
Sollen sich die Staaten der Eurozone gemeinsam (mit Eurobonds) oder je separat (zu
dann sehr unterschiedlichen Bedingungen) am Kapitalmarkt refinanzieren? Erfordert
die einheitliche Währung eine einheitliche Fiskalpolitik oder nicht? Und wer ist eigentlich befugt zur Bewertung der Zahlungsfähigkeit von Staaten?
Nicht alle dieser und anderer Fragen sind neu, aber sie überschreiten in ihrer verschärften Umstrittenheit im Zuge der Finanzkrise die Wahrnehmungsschwelle der
Öffentlichkeit. Sie markieren innerhalb des oben eingeführten Zyklus-Modells die
Phase der Infragestellung etablierter Konfliktrahmen. Gleichwohl kann man mit einigem Recht davon ausgehen, dass der Großteil sozialer Akteure in der Eurozone
solchen technischen Fragen eher indifferent gegenübersteht. Was ihnen aber weniger
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
19
gleichgültig ist, sind die Anschlussfragen, die sich aus den gefundenen Antworten
und politischen Reaktionen auf die genannten Entscheidungsprobleme ergeben. Das
sind Fragen wie: Soll die Rettung maroder Banken zu Lasten ihrer Gläubiger oder zu
Lasten der Steuerzahler gehen? In welchem Kompetenzverhältnis stehen europäische
Finanzstabilisierungsinstrumente und nationale Budgethoheiten? Ist den Staatsschuldenproblemen einiger Euroländer wirksam mit Austeritätspolitik oder sinnvoller mit
Investitionspolitik zu begegnen? Und wenn die Entscheidung zugunsten austeritätspolitischer Maßnahmen fällt: was heißt das für wen konkret?
Jede einzelne dieser Entscheidungen ist nicht nur Ausdruck und Impuls institutionellen Wandels (Hofmann, Wessels 2013), sondern hat auch erhebliche Verteilungseffekte, die sich unter den Bedingungen knapper oder für knapp gehaltener Ressourcen
in Verteilungskonflikten manifestieren. Der Zwang zum Schuldenabbau treibt in den
stark krisenbetroffenen Euroländern nicht nur aggressive arbeitsmarkt- und sozialpolitische Abbauszenarien voran. Er führt auch zum rezessionsfördernden Wegbrechen
der betroffenen Staaten als wirtschaftliche Akteure, und die dadurch massiv zunehmende Arbeitslosigkeit wird durch den (faktisch erzwungenen oder vorauseilend gehorsamen) Abbau öffentlicher Beschäftigung nochmals verschärft. Die Unsicherheiten auf den Finanzmärkten erschweren in der gesamten Eurozone die Kreditaufnahme der Unternehmen – mit negativen volkswirtschaftlichen Konsequenzen. Und
in den besonders krisenbetroffenen Staaten verschlechtern die Finanzmarktbedingungen und die rigiden Problemlösungsstrategien der Banken – einhergehend mit
zunehmender Arbeitslosigkeit und Einkommensverlusten – auch die Chancen privater Haushalte, eingegangene Schulden zu bedienen; Privatinsolvenzen oder auch
Wohneigentumsverluste in großem Umfang sind die Folge. Die Niedrigstzins-Politik
der EZB wiederum, mit der auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den krisenbetroffenen Euro-Volkswirtschaften reagiert wird, entfaltet ihre Wirkung unterschiedslos in der gesamten Eurozone mit der Folge, dass es (neben privaten) vor allem institutionellen Anlegern wie etwa Rentenfonds oder Lebensversicherungsgesellschaften
nahezu unmöglich ist, das ihnen anvertraute Kapital rentabel, sicher und zugleich
gesetzeskonform zu investieren.
Bei aller Differenz: Die sozialen Folgen der politischen Entscheidungen im Zuge der
Staatsschuldenkrise sind also dramatisch. Darin stecken Gefahren und Chancen. Die
Gefahren ergeben sich aus dem regelmäßig bestätigten Befund, dass in krisenhaften,
bedrohlichen Situationen und in Phasen drastisch verschärfter wirtschaftlicher Unsicherheiten dem Bedürfnis nach Kontrollgewinn nicht zuletzt durch Intensivierung
ethnozentrischer Einstellungen und Handlungsneigungen Rechnung getragen wird
(Fritsche et al. 2011). Konflikttheoretisch ausgedrückt: in solchen Situationen steigt
die Wahrscheinlichkeit wertegeladen begründeter sozialer Abgrenzung und Dissoziation. Vor diesem Hintergrund sind Aufforderungen wie jene Giorgio Agambens
(2013) zur (Re-)Separierung und Besinnung auf kulturelle Eigenheiten zumindest
grob fahrlässig. Denn sie erschweren die Einigung auf gemeinsame trans- und supra-
20
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nationale Konfliktrahmen. Stattdessen sollten Verteilungskonflikte als Verteilungskonflikte benannt und nicht zu – ungleich schwerer handhabbaren und tendenziell
sozialdesintegrativen – Wertkonflikten stilisiert werden.
Damit zu den Chancen, die sich aus den dramatischen sozialen Folgen des Krisenmanagements ergeben: Diese Dramatik begünstigt zugleich ihre Politisierung. Nationale
Regulierung wird deutlich stärker als vor der Krise zum Gegenstand nachdrücklicher
politischer Interessenbekundung sozialer Akteure; der Legitimationsbedarf des Krisenmanagements steigt stetig und in dem Maße, in dem seine Verteilungseffekte offensichtlich werden. Zugleich wird augenfällig, dass im Kontext der gegenwärtigen
Krise und infolge der darauf reagierenden Austeritätspolitiken die Leistungs- und
Kompensationsfähigkeiten der Umverteilungsarrangements der am stärksten krisenbetroffenen Staaten drastisch abgenommen haben. Nationale Sicherungssysteme
können nicht mehr als Interdependenzunterbrecher fungieren. Stattdessen suchen
nun soziale Akteure verstärkt grenzüberschreitend und supranational nach Adressaten für ihre Sicherungserwartungen und Regulierungsbedürfnisse. Das heißt: auch
supranationale Regulierung wird deutlich stärker als vor der Krise zum Gegenstand
politischer Interessenbekundung sozialer Akteure (Zürn 2013). Dieser Nachdruck
kann verschiedene Formen annehmen, aber er zeigt Erfolg: Erste Anzeichen einer
institutionalisierten Sozial- und Transferunion, die über Regionalförderungen und
dergleichen hinausgeht, sind unübersehbar – genannt seien das Projekt einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung oder grenzüberschreitende Ausbildungssysteme zum Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. Gerade
sozialpolitische Maßnahmen als Konfliktrahmen, als eine spezifische Form des Umgangs mit – und der Regulierung von – Verteilungskonflikten können gesellschaftsbildende Effekte haben, sie können „die Triebkraft eines Vergesellschaftungsprozesses [sein], der sich als beständig fortschreitendes Wechselspiel der Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung sozialer Beziehungen und Beziehungsmuster darstellt“ (Lessenich 2008: 36).
Indem die Krise der Europäischen Integration zu einer Politisierung der politischen
und ökonomischen europäischen Integration führt, erzwingt sie die Austragung
transnationaler sozialer Konflikte und damit über kurz oder lang die Schaffung und
Verfeinerung supranationaler Konfliktrahmen mit assoziativen, gesellschaftsbildenden Effekten. Sie macht Europa als Konfliktraum erfahrbar. Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass die gegenwärtige Krise in Europa ein Vergesellschaftungsschub hin zu einer klarer erkennbaren europäischen Gesellschaft sein
kann. In einer Entwicklung, die geprägt ist vom Wechselspiel zwischen Konflikten
erster und zweiter Ordnung, kann sie als Trendbeschleuniger fungieren – und so die
soziale Integration Europas vorantreiben.
Fehmel: Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung
21
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Die Eurokrise. Konsequenzen der defizitären
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auch online unter http://www.uni-leipzig.de/~leus/
Die SERIE EUROPA wendet sich an alle sozialwissenschaftlichen
Disziplinen. Gegenstand der Reihe sind langfristige wie auch aktuelle
Probleme der EU und Europas und die Rolle Europas im globalen Kontext. Beiträge der SERIE EUROPA sind Vorab-Publikationen, die später
in Fachzeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht werden sollen. 
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